Meine Recherche-Reise nach Italien

 

Das erste Mal war ich vor mehr als zwanzig Jahren in Florenz. Ich reiste damals mit meiner Freundin Rosie, Lehrerin an einer Mädchenschule, während mein Mann sich zu Hause um unsere drei Söhne kümmerte. Eine Gruppe von Schülerinnen aus Rosies Schule besuchte die Stadt im Rahmen ihres Kunstgeschichteunterrichts, und Rosie und ich begleiteten sie. Schon auf der Zugfahrt von Pisa nach Florenz meinten wir in den Gesichtern der jungen Männer, hauptsächlich Fußballfans, die mit uns im Waggon reisten, die Züge von Medici-Fürsten zu erkennen. Und in Florenz selbst war überall, wohin man auch blickte, Wunderbares zu sehen – in den Museen und Kunstgalerien natürlich, aber auch auf den Straßen: ein gemeißeltes Wappenschild hoch oben an der Mauer eines Palazzo; ein gewaltiges Holztor mit einem Messingklopfer in Form eines Löwenköpfchens oder, in der Loggia auf der Piazza della Signoria, Perseus, die Finger tief ins Schlangenhaar der enthaupteten Medusa gegraben. Ich erinnere mich, dass ich völlig überwältigt und zugleich erschlagen war – was auch an den endlosen Wegen liegen kann, die Rosie und ich in der Hitze zurücklegten, weil wir unbedingt alles sehen wollten. 

Anfang März 2010 kehrte ich nach Florenz zurück, diesmal zusammen mit meinem Mann. Wir reisten mit der Bahn: mit dem Eurostar von London nach Paris, dem TGV von Paris nach Zürich, über die Alpen nach Mailand und schließlich von Mailand nach Florenz. Wir bewohnten eine kleine Wohnung in einem Palazzo in der Via Ricasoli gegenüber der Accademia, in der Michelangelos David steht. Die Stadt übte erneut ihren Zauber aus: Da waren sie wieder, die jungen Männer mit Gesichtern, die wie aus dem fünfzehnten Jahrhundert zu stammen schienen, in Jeans und Lederjacken, und rundherum Geschichte pur. Ich war nach Florenz gekommen, um für meinen Roman zu recherchieren, um Orte für die Wohnungen meiner Figuren und ihre Begegnungen zu finden und um mir die Geografie der Stadt und ihres Umlands zu vergegenwärtigen. Wir erkundeten die Straßen und Plätze; gingen über den Ponte Vecchio zu den Boboli-Gärten hinter dem Palazzo Pitti, wo Tessa, eine meiner Figuren, nach vielen Jahren der Trennung ihre erste Liebe wiedertrifft. Nach einem langen, kalten englischen Winter schien plötzlich die Sonne, und es war Frühling. 

Diesmal fiel mir auf, wie eng die Schönheit dieser Stadt mit Gewalt verknüpft ist – sie spricht aus dem Blut, das auf den Gemälden aus Christi Wunden quillt, und aus den Darstellungen der Heiligen, die allesamt mit grausamen Symbolen ihres Märtyrertums beladen sind. Dieser Teil Italiens war stets umkämpft, und vielleicht haben die konfliktreichen Jahre ihre Spuren hinterlassen. Von 1943 bis 1945 tobte in ganz Italien der Kampf zwischen den Armeen der Alliierten und der Achsenmächte, während gleichzeitig der Bürgerkrieg zwischen italienischen Faschisten und Partisanen das Land zerriss. 

Mit dem Bus fuhren wir auf gewundener Straße hinauf ins nördlich gelegene Fiesole mit seinen Ruinen aus römischer und etruskischer Zeit. Der Winter kehrte zurück; durch immer dichter werdende Regenschleier blickten wir von der Höhe hinunter auf die roten Dächer und Kuppeln von Florenz. Wieder in der Stadt kaufte ich mir für drei Euro bei einem Straßenhändler einen Schirm, und wir besichtigten bei Regen, der sich mit dem trägen, gelb-braunen Wasser des Arno mischte, den massigen Marmorbau des Doms in seiner dreifarbigen Pracht. Auf der Suche nach einem Ort, wo ich Tessas Wohnung ansiedeln konnte, durchforschten wir das Oltrarnoviertel, danach gingen wir den Weg ab, den meine Heldin Freddie nimmt, wenn sie, zusammen mit Jack Ransome, vom Bahnhof Santa Maria Novella aus auf der Flucht vor der Polizei durch Straßen und Gassen hetzt. Wir unternahmen eine Busfahrt ins Chianti, nach Greve, die uns an Schluchten und hochgelegenen Villen aus graubraunem Stein vorbei durch eine bewaldete Hügellandschaft führte. In einem kleinen Restaurant auf der Piazza des Städtchens aßen wir zu Mittag. An den Wänden hingen alte Schwarz-Weiß-Fotografien von Greve: Fast der einzige Unterschied zum heutigen Stadtbild war das völlige Fehlen motorisierter Fahrzeuge. 

An unserem letzten vollen Tag in Florenz besuchten wir das nahe unserer Unterkunft gelegene Kloster San Marco, um uns Fra Angelicos Andachtsfresken anzusehen. Die zahlreichen Kreuzigungsszenen und die Zellen mit den Reliquien des Fanatikers Savonarola gefielen mir weniger, aber die Verkündigung strahlte Ruhe und Heiterkeit aus. In einer ganz und gar florentinischen Loggia kniet der Engel mit seinen wunderbaren vielfarbigen Flügeln – so schön wie die eines Schmetterlings oder eines exotischen Vogels – vor Maria, um ihr die nahe Geburt ihres Kindes zu verkünden. Er hat wenig mit dem Engel gemein, dem Rebecca, eine meiner Figuren in »Der italienische Geliebte«, in einer Moorlandschaft Derbyshires zu begegnen glaubt. Aber Engel sind eben einfach geheimnisvolle Wesen und schwer zu erfassen.  

Judith Lennox