9

 

Am dreiundzwanzigsten August wurde in Moskau der Nichtangriffspakt zwischen Deutschland und der Sowjetunion unterzeichnet. Die beiden Unterzeichner garantierten sich gegenseitig Neutralität im Kriegsfall. Das gab, wie die Bewohner des Mayfield-Hofs in einer erregten Diskussion beim Abendessen feststellten, Deutschland praktisch die Erlaubnis, Polen anzugreifen. 

Die Mickleboroughs fuhren über das Wochenende zu Freunden nach London. David Mickleborough wollte sich freiwillig zum Militär melden, falls man ihn dort haben wollte. John und Romaine Pollen waren bereits nach Amerika abgereist. Sie seien Pazifisten, erklärten sie, und wollten nicht in anderer Leute Krieg verwickelt werden. 

Rebecca machte zum Abendessen Lammkoteletts mit Gemüse und brachte Connor Byrne einen zugedeckten Teller in die Scheune. Nachdem sie selbst gegessen und aufgeräumt hatte, setzte sie sich an den Küchentisch und zeichnete das Geschirr auf dem Abtropfbrett. 

Nach einer Weile kam Connor, um den Teller zurückzubringen. Seine ausgebeulte Cordhose und das karierte Hemd waren weiß bestäubt von seiner Arbeit mit dem Stein. Er war zu groß für den niedrigen Raum und musste beim Abspülen seines Tellers und Bestecks den Kopf einziehen. 

»Du kochst hervorragend, Rebecca. Danke dir.« 

Über ihre Schulter hinweg sah er sich ihre Zeichnung an. »Gefällt mir«, sagte er. »Das hat Kraft. Aber müssen es immer Töpfe und Pfannen und Scheuerbürsten sein, Rebecca?« 

»Ich fürchte, ja. Mein Weg ist damit gepflastert. Die Götter und Göttinnen überlasse ich dir.« 

Er lachte. »Wo sind die anderen?« 

Sie sagte es ihm und fügte hinzu: »Und Noel und Olwen sind ins Pub gegangen, um sich zu betrinken.« 

»Ah, gute Idee. Ich trinke vielleicht auch einen. Wie ist es mit dir, leistest du mir Gesellschaft?« 

»Gern.« 

Connor ging hinaus und kehrte nach wenigen Minuten mit einer Flasche zurück, in der noch ein Rest Whisky war. Nachdem er ihnen eingeschenkt hatte, stellte er sich mit seinem Glas an die Tür und schaute zum Tal und zur untergehenden Sonne hinaus. 

»Man kann es sich nicht vorstellen, nicht wahr?«, sagte er. 

Rebecca erinnerte sich an Fotografien der zerstörten Stadt Guernica. »Was wirst du tun, Connor?«, fragte sie. 

Er kam in die Küche zurück und setzte sich an den Tisch. »Ich werde nach Irland zurückgehen. Mein Schiff fährt in zwei Tagen.« 

»So bald schon?« 

»Irland wird sich aus einem Krieg heraushalten. Unsere Nation ist zu jung. Und zu arm. Und ich möchte bei meinem Sohn sein.« 

»Du hast einen Sohn?« 

»Ja. Er heißt Brendan. Er ist zehn Jahre alt und lebt bei seiner Mutter in Galway.« 

Außerordentliche Ereignisse hatten die Barrieren durchbrochen, die sie beide um sich herum errichtet hatten – der drohende Krieg, die Abwesenheit der anderen Hofbewohner. »Das wusste ich nicht«, sagte sie. 

»Na ja, wer prahlt schon gern damit, dass er seine Frau und sein Kind verlassen hat.« 

»Das tut mir leid. Es muss schwer für dich sein.« 

»Und du, Rebecca? Hast du Kinder?« 

Sie schüttelte den Kopf. 

»Fehlen sie dir?« 

»Mein Mann wollte keine Kinder.« Nein, das war ein Ausweichen. Sie versuchte es noch einmal. »Ich dachte, ich wollte keine Kinder. Aber heute bedaure ich es manchmal, keine zu haben. Erzähl mir von deinem Sohn Brendan, Connor.« 

Er lächelte. Es war ein schönes Lächeln, das sich langsam entfaltete. 

»Ich habe ein Foto.« Er klappte eine abgewetzte lederne Brieftasche auf und reichte ihr das Bild. 

Es zeigte einen kleinen Jungen mit widerspenstig lockigem Haar an der Hand einer Frau, die neben ihm stand. 

»Er sieht aus wie du«, sagte sie. 

»Findest du? Aber Aoife ist auch dunkel.« 

»Ist das der Name deiner Frau? Sie ist hübsch.« Sie reichte ihm das Foto zurück. 

»Ja, das ist sie.« Er schob die Brieftasche wieder ein und trank einen Schluck Whisky. »Ich hätte gar nicht heiraten sollen. Keine Frau will einen Mann, der den ganzen Tag nur Steine klopft. Und nichts anderes im Kopf hat. Dem es egal ist, wo er lebt, was er verdient und was er besitzt, wenn er nur seine Steine hat. Ich war mir immer selbst genug, wenn ich nur arbeiten konnte. Aber Aoife war es nicht genug. Sie fand, ich solle mir eine richtige Stelle suchen. Die Bildhauerei war für sie keine richtige Arbeit. Eine Zeit lang habe ich versucht, mich nach ihr zu richten, aber ich merkte, dass aus mir langsam jemand wurde, der ich nicht sein wollte. Da bin ich eben gegangen. Die beiden sind ohne mich besser dran. Aber ich bin nicht geschieden, und es wird auch nie eine Scheidung geben. Aoife ist strenggläubig, weißt du. Eine Ehe wird fürs Leben geschlossen.« 

»Dein kleiner Junge fehlt dir doch bestimmt.« 

»Ja, sehr. Und wenn es Krieg gibt, sollte ich in seiner Nähe sein. Ich werde nicht mehr mit meiner Frau zusammenleben, aber ich sollte wenigstens im Notfall für die beiden da sein. Und du, Rebecca – was hast du vor? Wirst du hierbleiben?« 

»Ich hoffe es.« Er hatte so offen wie nie zuvor mit ihr gesprochen, und sie fühlte sich zu gleicher Offenheit verpflichtet. »Mein Mann und ich lassen uns scheiden. Ich hätte es bei einer Trennung lassen können, aber Milo wollte die Scheidung. Vielleicht hat er jemand anderen gefunden. Ich weiß es nicht. Deshalb habe ich ihn verlassen – wegen der vielen anderen.« 

»Er muss dumm sein.« 

Der Blick, mit dem er sie ansah, verwirrte sie, und sie merkte, wie sie rot wurde. »Ja, das war er in mancher Beziehung«, sagte sie. »Aber er war auch hinreißend. Ich war nie zuvor einem Mann wie ihm begegnet. Er ist von einer ungeheuren Lebenslust.« Sie lächelte ein wenig bitter. »Ich habe ihm nicht genügt. Er hatte Geld und Erfolg und wurde von allen bewundert, und ich glaube, deswegen hatte er das Gefühl, sich alles nehmen zu können, was er haben wollte.« 

Connor zog eine Packung Senior Service aus seiner Hemdtasche und hielt sie ihr hin. Sie rauchten und tranken schweigend, dann sagte sie: »Ich habe ihn nicht wegen der anderen Frauen verlassen. Ich habe ihn verlassen, weil ich ihn nicht mehr liebe.« 

Connor sah sie aufmerksam an. Seine Augen waren dunkelblau mit kleinen goldenen Flecken, die ihr früher nie aufgefallen waren.  

»Ich vermute, die anderen Frauen hatten auch etwas damit zu tun«, sagte er. 

Der Whisky hatte eine angenehm entspannende Wirkung. Sie lachte. »Das ist wahr. Sie haben ihn mir nicht lieber gemacht. Aber merkwürdigerweise hat etwas, was ich selbst getan habe, meine Liebe zu ihm zerstört.« 

»Wie lange wart ihr verheiratet?« 

»Neunzehn Jahre.« 

Er pfiff durch die Zähne. »Eine lange Zeit.« 

»Am Anfang war es schön. Ich habe Milo abgöttisch geliebt. Für mich war er der Erlöser.« 

»Ich glaube, wir müssen uns selbst erlösen, meinst du nicht?« 

»Ja, wahrscheinlich. Ich versuche es immer noch.« 

Wenn er lächelte zogen sich seine Augenwinkel zu kleinen Fältchen zusammen. »Bist du deshalb hier, Rebecca – um Buße zu tun?« 

»Mir gefällt es hier. Man braucht sich nur umzusehen – einfach herrlich. Das Cottage, in dem ich im letzten Herbst war – das war Buße.« 

»Schlimm, ja?« 

Sie sah wieder das kleine steinerne Haus vor sich, stolz und einsam. » Es lag mitten im Nirgendwo«, sagte sie, »in einem Moor in Derbyshire. Ich war mit einem Mann namens Harrison Grey hingefahren. Er entpuppte sich als völliger Versager. Wenn ich es mir heute überlege, glaube ich, er war nur wegen meines Autos an mir interessiert.« Sie zuckte mit den Schultern. »Wir haben einander benutzt, so einfach ist das. Ich war einsam, und er konnte nicht Auto fahren. Gegenseitige Ausbeutung, als Freundschaft getarnt. Er hat mich einfach dort oben sitzen lassen, und ich habe nie wieder von ihm gehört. Ich bekam eine dicke Bronchitis, schaffte es irgendwie nach London zurück, und als es mir wieder besser ging, erzählte mir meine Freundin Simone von diesem Hof. Ich habe Simone sehr gern. Es tut gut, eine Freundin zu haben. Solange ich mit Milo zusammenlebte, hatte ich nicht eine enge Freundin. Ich glaube, es lag daran, dass ich ihm nicht vertraut habe.« 

Connor goss ihr Whisky nach. »Ich war nie jemand, der sich dauernd nach anderen Frauen umgeschaut hat. Ich habe genug andere Schwächen. Aber warum bist du einfach von zu Hause weg? Hättest du nicht bleiben können?« 

»Ich habe nicht überlegt, ich bin einfach gegangen. Ich kann manchmal ziemlich drastisch sein.« 

»Ich habe mich oft gefragt, ob nicht unter dieser untadeligen Höflichkeit der Engländer eine gewaltige Wut steckt.« 

»O ja, ich hatte eine gewaltige Wut«, sagte sie leise. Sie blickte auf sein Glas. »Du trinkst fast gar nichts. Du schenkst immer nur mir ein.« 

»Weil ich früher gesündigt habe. Ich habe immer eine Flasche mit dem Zeug in meinem Zimmer stehen. Manchmal rühre ich es wochenlang nicht an, aber es soll mir eine Erinnerung sein.« 

»Woran?« 

»An das, was es aus mir machen kann. Ein grölendes, fluchendes, prügelndes Ungeheuer. Ich war unglücklich damals, aber das ist keine Entschuldigung.« Er klopfte seine Zigarette am Aschenbecher ab. »Es war mir ernst, als ich sagte, dass Aoife ohne mich besser dran ist. Den Jungen habe ich nie angerührt, aber manchmal kochte eine solche Wut in mir hoch, dass es mir selbst Angst machte. Ich habe an dem Tag mit dem Trinken aufgehört, als ich aus Irland wegging. Du tust mir also einen Gefallen, wenn du das austrinkst.« 

»Es ist guter Whisky.« 

Er lächelte. »Immer nur das Beste.« 

Die Sonne ging unter; durch die offene Tür sah Rebecca die langen blaugrauen Schatten der Bäume.  

»Ich habe unser Haus geliebt«, sagte sie. »Es lag knapp zehn Kilometer von Oxford entfernt, es war schön, dort zu leben. Es war früher mal eine Mühle – unten, am Ende des Gartens, gab es noch einen Mühlbach. Eine wunderbare Landschaft, so englisch, im besten Sinn. Das Haus war gewissermaßen mein Kunstwerk. Aber nach allem, was geschehen war, erschien es mir so eng mit unserer Ehe verbunden, dass ich nicht dortbleiben konnte. Das Haus ist inzwischen verkauft – der Vertrag wurde letzten Monat unterschrieben. Manchmal fehlt es mir, aber nicht so sehr, wie ich geglaubt hatte.« 

»Als du hier ankamst, dachte ich mir gleich, dass du hier aus dem Rahmen fällst.« 

»Warum sagst du das?«  

»Die meisten von uns leben von der Hand in den Mund.« 

Sie seufzte. »Ja, es stimmt, ich stehe finanziell ganz gut da, ich habe die Hälfte vom Erlös des Hauses bekommen und könnte mir irgendwo ein Haus oder eine Wohnung kaufen. Aber wo soll ich hin? Ich habe es mit London versucht, und es war furchtbar. Milo und ich haben ein sehr reges gesellschaftliches Leben geführt. Er ist Schriftsteller, und mein Leben richtete sich nach dem Stand seiner Arbeit. Lange Märsche, wenn er mit der Handlung beschäftigt war, absolute Ruhe, wenn er tief in seiner Geschichte steckte, Jubel, Trubel, Heiterkeit, wenn das Buch fertig war. Mit alldem war es vorbei, als ich ihn verließ. Ich fühlte mich ins kalte Wasser geworfen. Ich versuchte es mit dem Landleben – mein katastrophales Experiment mit Harrison. Ich – ich bin einfach zusammengeklappt. Ich habe das nie jemandem erzählt. Bronchitis hört sich viel besser an als Nervenzusammenbruch. Danach fürchtete ich mich davor, allzu viel allein zu sein.« 

»Ja, als du hier ankamst«, sagte er, »hast du sehr verletzt ausgesehen.« 

»Wirklich? Ich war völlig am Ende.« Sie trank von ihrem Whisky und merkte, ohne dass es ihr etwas ausmachte, dass sie ein wenig angetrunken war. »So, wie ich es erzähle, klingt es, als wäre Milo an allem schuld«, sagte sie. »Aber das stimmt nicht. Das Schlimmste, was passierte, war meine Schuld.« 

»Du brauchst es mir nicht zu erzählen, wenn du nicht willst, Rebecca. Wenn es der Whisky ist, der aus dir spricht, wirst du es morgen vielleicht bereuen.« 

»Ich werde es nicht bereuen.« 

Eine Feststellung, die sie überraschte. Aber er war ein stiller, zurückhaltender Mensch, und sie spürte, dass sie ihm vertrauen konnte. Sie fragte ihn das Gleiche, was sie den grauhaarigen Wanderer im Cottage gefragt hatte. »Glaubst du, man ist schuld, wenn infolge von etwas, das man getan hat, etwas Schreckliches passiert, auch wenn man es überhaupt nicht gewollt hat?« 

»Ich weiß nicht.« Connor schüttelte bedächtig den Kopf. »Das ist eine schwierige Frage. Glaubst du es denn?« 

»Ich habe viel darüber nachgedacht, seit ich hier bin, und ich glaube, dass ich zum Teil für etwas, das geschehen ist, verantwortlich bin.« Sie holte tief Atem. »Vor anderthalb Jahren entdeckte ich, dass Milo eine Geliebte hatte. Er hatte schon vorher immer wieder Freundinnen gehabt, und es hat mich jedes Mal sehr verletzt, aber diesmal war es besonders schlimm, weil ein Kind da war, ein kleiner Junge – Milos Kind. Er erklärte mir, er habe das Kind nicht gewollt. Er sagte, er wolle mich nicht verlassen. Ich dachte, ich könnte ihm verzeihen – nein, das dachte ich nicht, ich dachte, ich hätte gesiegt. Aber ich war wütend. Meine Wut – ich kann es nicht beschreiben.« 

»Wie ein wildes Tier«, sagte er, »das einen bei der Kehle packt.« 

»Ja. Genau. Also habe ich sie eines Tages angerufen – die Frau, Milos Geliebte. Ich behauptete, sie bedeute Milo nichts mehr. Er hätte längst eine andere.« 

»War das wahr?« 

»Nein. Ich hörte ihr natürlich an, wie fassungslos sie war – und ich genoss es.« Rebecca brach ab und trank noch einen Schluck Whisky. »Ein paar Tage später hörte ich, dass sie – die Frau, Tessa, und das Baby – einen Autounfall gehabt hatten. Sie überlebte, aber der kleine Junge starb. Er war noch nicht einmal drei Monate alt, Connor.« 

»Ach Gott.« Er seufzte tief auf. 

»Der Unfall passierte auf der Straße nach Oxford. Tessa wollte nach Oxford, da bin ich sicher. Ich habe genau nachgerechnet, sie muss kurz nach meinem Anruf losgefahren sein. Sie wollte zu Milo, um von ihm selbst zu hören, ob es stimmte, was ich ihr gesagt hatte. Sie ist wegen meines Anrufs nach Oxford gefahren.« 

»Bist du da sicher?« 

»So sicher, wie man sein kann. Mit absoluter Gewissheit werde ich es natürlich nie wissen. Das war am Anfang mit das Schwerste. Ich suchte nur nach Ausreden. Ich sagte mir, ich hätte schließlich den Wagen nicht gefahren, also sei es auch nicht meine Schuld. Ich hätte jedes Recht gehabt, zu tun, was ich getan hatte. Milo war mein Mann – sie hatte ein Kind mit meinem Mann, das war eine bodenlose Gemeinheit. Aber in Wahrheit habe ich es getan, weil ich sie hasste, Connor. Ich hasste sogar das Kind, Gott verzeih mir.« 

Er griff schweigend über den Tisch und nahm ihre Hand. Seine Finger waren warm und schwielig, seine Berührung beruhigte. Sie dachte, wie anders er doch war als Milo, der ihren moralische Zwiespalt lautstark erörtert und nach allen Seiten gedreht und gewendet hätte. Connors Schweigen sagte vielleicht mehr. 

Sie erkannte plötzlich, wie sehr sie sich zu ihm hingezogen fühlte, und erkannte zugleich, dass sie für eine ernsthafte Beziehung noch nicht bereit war.  

Sie drückte kurz seine Hand und zog die ihre zurück. »Ich habe Milo nie von dem Anruf erzählt«, fuhr sie fort. »Ich habe es nicht fertiggebracht. Ich schämte mich. Nach dem Unfall dachte ich zuerst, ich würde bei ihm bleiben. Er brauchte mich. Er hatte sein Kind verloren. Er hat immer bei mir Trost gesucht, wenn etwas nicht so lief, wie er es sich wünschte. Er hat sich in diesen Monaten von seiner besten Seite gezeigt, aber …« 

»Du hast ihn nicht mehr geliebt.« 

»Nein. Er ist nicht zur Beerdigung gegangen. Ich bin hingegangen, er nicht. Er sagte, er sei zu tief getroffen. Und er hat auch getrauert, um das Kind und um Tessa, das weiß ich. Aber wie feige von ihm, Connor, sich so zu verstecken. Aber dann … Er schien es einfach hinter sich zu lassen. Milos Fähigkeit, Schuld zu empfinden, war nie besonders ausgeprägt – es gab Zeiten, da habe ich ihn deswegen beneidet. Es war beinahe so, als ob das alles – die Affäre, das Kind – nie gewesen wäre. Ich fing an, ihn zu verachten. Ihn und natürlich auch mich selbst, für das, was ich getan hatte und dafür, dass ich ihn vorher nie so gesehen hatte, wie er wirklich war. Am Ende stand mein Geheimnis wie eine Wand zwischen uns, über die ich nicht hinüberschauen konnte.« Sie lächelte bitter. »Ich habe nicht nur das Kind getötet, ich habe auch meine Liebe zu Milo getötet.« 

»Du hast doch das Kind nicht getötet«, sagte er. »Das war der Unfall oder Gott, wenn man es so sehen will. Und es gibt Grenzen des Erträglichen.« 

»Ja, das habe ich am eigenen Leib erfahren.« Sie schob Connor ihr Glas zu, und er schenkte ihr die letzten Tropfen ein. 

»Ich habe das nie jemandem erzählt«, sagte sie. 

»Ich werde mit niemandem darüber sprechen.« 

»Und du verachtest mich jetzt nicht?« 

»Ich könnte dich nicht verachten, Rebecca.« Er lächelte sanft. »Du bist ein guter Mensch, das kann ich spüren.« 

Sie schüttelte den Kopf. »Nein.« 

»Gute Menschen tun manchmal schlimme Dinge. Du musst versuchen, dir zu verzeihen.« 

»Das kann ich nicht.« Sie stellte ihr Glas hin. »Aber danke, dass du mir zugehört hast.« 

Wieder lächelte er. »Ich habe immer gefunden, dass das mit das Beste an meinem Glauben ist, dass es jemanden gibt, dem man beichten kann.« 

»Bist du noch gläubig?« 

»Ich gehe nicht mehr zur Kirche.« 

»Das ist nicht dasselbe, Connor.« 

Er hob die Hände – es waren große Hände, breiter und länger als ihre eigenen, mit Steinstaub in den Fältchen. »Wie du weißt, habe ich meine eigenen Götter.« 

»Manannan mac Lir, der Gott des Meeres …« Sie ging ein wenig schwankend zum Herd, um Wasser aufzusetzen. »Damals in dem Cottage«, sagte sie, »dachte ich, ich hätte einen Engel gesehen.« 

»Einen Engel? Das ist ja interessant.« Er verschränkte die Arme auf der Brust und lehnte sich zurück. »Erzähl.« 

Sie löffelte Kaffee in die Kanne und wartete, mit dem Rücken an den Herd gelehnt, bis das Wasser kochte. »Er hat nicht ausgesehen wie ein Engel. Keine Flügel, kein Heiligenschein. Er sah aus wie ein Wanderer. Zweifellos war er das auch. Wir haben dort oft Wanderer im Moor gesehen. Und ich war sehr krank und tagelang allein gewesen. Da verliert man das Zeitgefühl und bildet sich alles Mögliche ein, nicht? Aber wie er lächelte, so milde, das werde ich nie vergessen. Nachdem er verschwunden war, ging es mir besser. Ich wusste, was ich zu tun hatte – jedenfalls für die nächsten Tage.« 

»Hast du mit ihm gesprochen?« 

»Ja, ziemlich lange sogar. Er hat mir auch Ratschläge gegeben. Er sagte, ich solle zum Arzt gehen, was sehr vernünftig war, und dann sagte er, ich solle versuchen hinauszutreten. Ich hatte keine Ahnung, was er damit meinte, aber ich vermute, ich habe genau das getan. Ich bin aus meinem alten Leben hinausgetreten.« Rebecca goss das kochende Wasser auf den Kaffee. »Ich weiß nicht, wohin ich gehe, und vielleicht endet alles in einer Katastrophe, aber ich versuche es wenigstens.« Sie rührte den gebrühten Kaffee um und sagte leise: »Es war seltsam – aber nachdem er gegangen war, fand ich nicht einen einzigen Fußabdruck von ihm. Es hatte stark geregnet, und in dem Matsch hätten Spuren sein müssen. Da kam mir der Gedanke, dass ein Engel mich besucht hatte.« 

»Das ist ein schöner Gedanke«, sagte Connor. »Ein Engel, der über das Moor fliegt.« 

»Ja, nicht wahr? Ich denke oft an ihn. Wenn mir irgendetwas schwerfällt, versuche ich, mir vorzustellen, was er mir raten würde. Ich weiß, es ist albern, aber ich tu’s trotzdem.« Sie holte zwei Becher heraus und goss den Kaffee ein. »Ich weiß jetzt«, sagte sie, »dass ich mit dem leben muss, was ich getan habe. Und wenn ich in ein Tief falle, denke ich an ihn. Ich denke an meinen Engel.« 

Zwei Tage später reiste Connor ab. Sein unvollendetes Werk wurde in Sackleinwand eingehüllt, um nach Irland verschifft zu werden, wenn das durchführbar sein sollte. 

Bevor er aufbrach, klopfte er bei Rebecca, um sich zu verabschieden und ihr alles Gute zu wünschen. »Ich hätte dich gern besser kennengelernt«, sagte er zum Schluss. »Würdest du mir schreiben, Rebecca?« 

»Mit der größten Freude«, sagte sie. 

Dann gab er ihr einen Kuss auf die Wange und ging. 

Er fehlte ihr. Es überraschte sie, wie sehr. Der Hof schien leer ohne ihn. Er war ein stiller Mensch, dachte sie, aber er schien ihr ein tiefes Schweigen zurückgelassen zu haben. 

Am ersten September marschierten deutsche Truppen in Polen ein. Am selben Tag zerstörte die Luftwaffe einen großen Teil der polnischen Flugzeuge am Boden. Straßen, Eisenbahnen und Städte wurden bombardiert. England und Frankreich, die sich vertraglich verpflichtet hatten, Polen im Fall eines Angriffs beizustehen, erklärten Deutschland zwei Tage später den Krieg. 

Rebecca saß in der Küche des Mayfield-Hofs am Radio, als Neville Chamberlain verkündete, dass England sich nun mit Deutschland im Krieg befand. Als der Premierminister geendet hatte, schaltete David Mickleborough das Radio aus. Olwen Wainwright weinte, und ihr Bruder, der im Ersten Weltkrieg gekämpft hatte, sagte »Eine elende Schande«, stand auf und ging hinaus. Draußen in der Sonne rannten die beiden Jungen der Mickleboroughs mit ausgebreiteten Armen umher und brummten wie Flugzeuge. 

Rebecca ging in ihr Zimmer und schrieb Meriel einen Brief. Dann lieh sie sich ein Fahrrad und radelte nach Tunbridge Wells. Vor der Telefonzelle standen die Leute Schlange. Während sie wartete, überlegte sie, was sie gleich sagen würde. Was fürchtete sie mehr, fragte sie sich – dies oder den Krieg? 

Dann war sie an der Reihe und trat in die Zelle, um endlich das zu tun, was sie anderthalb Jahre vor sich hergeschoben hatte: Sie rief ihre Mutter an.