11

 

Die Villa di Belcanto thronte auf einer Anhöhe in der hügeligen Landschaft südlich von Florenz. Im fünfzehnten Jahrhundert waren die ursprünglichen Gebäude, zu denen ein viereckiger Turm gehört hatte, zu einem weitläufigen Herrenhaus mit einem rechteckigen Innenhof und einer Loggia vereinigt worden. Im neunzehnten Jahrhundert hatten Olivia Zanettis Vorfahren den Besitz noch mit einem englischen Garten, einer Kastanienallee und verschiedenen Nebengebäuden verschönert. Jahrhundertelang Wind und Sonne ausgesetzt, waren die Mauern zu dem hellen, blass rosa schimmernden Braun von Haselnusseis ausgebleicht. Die ehemals leuchtenden Farben des Wappenschilds über dem mächtigen Torbogen, ein Achteck, in dem ein verdrießlich dreinblickender Greif hockte, waren abgeblättert oder zu fahlen Grau- und Beigetönen verblasst.  

Auf der einen Seite des Herrenhauses dehnten sich Ackerland, Weingärten, Olivenhaine und Maisfelder. Die dichten Eichen- und Kastanienwälder auf den Hügeln jenseits des Tals waren von Schluchten durchzogen. Die fattoria, der größte und wichtigste der zum Gut gehörigen Höfe, lag nicht weit vom Herrenhaus entfernt. Die etwa ein Dutzend anderen, kleineren Pachthöfe waren über ein weit größeres Gebiet verstreut. Um die fattoria gruppierten sich Stallungen, eine Molkerei, Werkstätten, eine Wäscherei und mehrere Häuser. 

Auf dem Gut wurden Pferde, Schweine, Milchvieh, Hühner, Gänse und Kaninchen gehalten. Obst und Gemüse wuchsen im Nutzgarten, in der Molkerei wurde Käse hergestellt und die Bienenstöcke lieferten Honig. Im Herbst wurden Schweine geschlachtet und ihr Fleisch wurde zu Schinken und Würsten verarbeitet. Mehr als fünfzig Leute arbeiteten auf dem Gut Belcanto : Köchin, Haushälterin, Schneiderin und andere Angestellte im Herrenhaus, der Verwalter, Stefano, der mit seiner Familie auf der fattoria lebte, und die Bauern mit ihren Familien auf den umliegenden Höfen. 

Im Frühjahr schwollen die Bäche an und über die Felder legte sich der grüne Schimmer des jungen Weizens. Wenn die Tage länger wurden, trieben weiße Wolkenberge hoch oben am azurblauen Himmel dahin. Bis zum Mittsommer hatten sich die Maiskolben goldgelb gefärbt und die Weinbeeren hingen klein, hart und grün an den Reben. Die Bauern beobachteten besorgt den Himmel, aus Angst vor Hagel oder schweren Regengüssen, die die Ernte vernichten könnten. Dann kam die Erntezeit, wenn der Weizen in Garben auf Ochsenwagen geladen und in die sicheren Scheunen eingefahren wurde. Der Mohn an den Feldrainen wurde welk und seine Blütenblätter verfärbten sich bläulich. Auf dürren Stoppelfeldern huschte eine Maus in eine Hecke, um der sengenden Sonne zu entkommen. Im Hochsommer schluckte die Hitze die Farben der Landschaft, bis alles Grün aufgesogen und im August jeder Grashalm fahlbraun gedörrt war, während die Hügel in grau-blauem Dunst versanken. 

Im September spülten Regengüsse den Staub vom Laub der Weinreben und der Oliven und reinigten die Luft. Später wurden Tomaten, Feigen und Pfirsiche im Hof der fattoria zum Trocknen ausgelegt, Kürbisse und Melonen reiften in der Sonne. Lange Leinen voller Maiskolben spannten sich zwischen den Bäumen wie riesige Bernsteinketten. Zur Weinlese wurden die prallen rötlichen und grünen Beeren in dicken Trauben eingebracht. Zwischen den Weinstöcken rannten Kinder hin und her und sammelten das scharlachrote Laub, das an das Vieh verfüttert wurde. Abends wurde mit einem Festschmaus und Tanz gefeiert.  

Als Letztes wurden im November die Oliven geerntet. Außer Säuglingen und Gebrechlichen fuhren alle auf dem Gut zu den Hainen hinaus und pflückten die Früchte in Körbe, die um den Bauch getragen wurden. Ein kalter Wind raschelte im grau-grünen Laub der Ölbäume. Aus der ersten Ernte wurde das edelste Öl gewonnen, das extra vergine. Das ›Fallobst‹ gelangte in die zweite Pressung. Aus der dritten Pressung wurde Seife hergestellt, Schalen und Kerne wurden zerkleinert und, zu Platten geformt, als Brennstoff oder Düngemittel verwendet. Das Olivenöl wurde in bauchigen Terrakottafässern in den kühlen Kellern gespeichert, abseits vom Wein, damit die Aromen rein blieben. 

Im Winter blies die Tramontana von den nördlichen Bergen herab, ein scharfer, kalter Wind, der selbst durch die dicken Mauern des Herrenhauses zu dringen schien. Schneestürme fegten über das Land und bedeckten die knorrigen Weinstöcke und die Hausdächer mit Weiß. An solchen Tagen war es, wie Tessa erfuhr, unmöglich, sich zu erinnern, was Wärme war, unmöglich zu glauben, dass es Zeiten gegeben hatte, wo sie die Kühle schattiger Winkel gesucht hatte wie eine Eidechse in den Ritzen einer Steinmauer. 

Olivia Zanetti war jetzt Anfang sechzig. Groß und dünn, mit scharf hervorspringender Nase erinnerte sie Tessa dem Alter und der äußeren Erscheinung nach an die Kunstmäzenin und Lebedame Ottoline Morell, der sie einmal beim Rennen in Ascot vorgestellt worden war; doch ihr fehlten deren extravagante Persönlichkeit und Eleganz. 

Von ihrem Büro aus, das im Erdgeschoss des Herrenhauses lag, leitete Olivia die Gutsgeschäfte. In den Lederbänden auf den Regalen waren Erträge, Saat- und Erntezeiten, Wetterverhältnisse, Ausgaben und Einkommen bis ins kleinste Detail niedergelegt. Im zweirädrigen Einspänner fuhr Olivia auf steinigen, ungeteerten Straßen und Feldwegen zu wöchentlichen Inspektionen ihrer Pachthöfe. Zur Schlachtzeit wählte sie zusammen mit dem Schweinehirten die Tiere aus, zur Olivenernte band sie sich einen Korb um und pflückte mit den anderen. Wenn einer der Gutsangestellten erkrankte, ließ sie den Arzt holen. 

Sie war strenggläubig und ging jeden Morgen zur Messe. Ihr Glaube war ein tätiger Glaube, auf Verantwortungsgefühl und Pflichterfüllung gegründet. In ihren Beziehungen zu anderen war sie bei aller Fürsorglichkeit und Großzügigkeit streng, mied Vertraulichkeiten und zeigte ihre Zuneigung allenfalls durch einen gelegentlichen Kuss auf die Wange oder eine kurze Handberührung. Tessa vermutete, dass angeborene Zurückhaltung und ihr Glaube an die Bedeutung christlicher Nächstenliebe Olivia bestimmt hatten, ihre – Tessas – knappe Erklärung für den falschen Namen und die gefälschten Papiere mit einem bloßen Nicken und einem kurzen »Gut, ich verstehe«, zu akzeptieren. 

Nicht lange nach Italiens Kriegseintritt bestellte Olivia den Maurer und den Zimmermann, um im Keller und auf dem Dachboden Verstecke für Lebensmittel und Wertsachen schaffen zu lassen. Sie reiste mehrmals nach Florenz und versuchte, ihren Einfluss geltend zu machen, um eine Anordnung zur Beschlagnahme von Ernteerträgen zu ändern oder die Einberufung eines Sohnes oder Ehemanns aus den Bauernfamilien zu verhindern. Sie schrieb täglich an Sandro, der an der dalmatinischen Küste stationiert war, und an Guido in Nordafrika. 

In einem Haus in der Nähe der fattoria hatte Olivia Zanetti eine Schule für die Kinder des Guts eingerichtet und in einem Nachbargebäude eine Krankenstation mit vier Betten. Gleich nach ihrer Ankunft im Herrenhaus hatte Olivia mit Tessa gesprochen. Ob es ihr gut gehe und wie Frederica zurechtkomme. Dann war sie zum Geschäftlichen übergegangen und hatte gefragt, welche Art Arbeit Tessa am liebsten übernehmen würde. Sie könne beispielsweise in der Krankenstation oder in der Schule helfen. Tessa entschied sich für die Schule. Die Krankenstation war Faustinas Domäne, und sie wollte keinesfalls jemandem auf die Zehen treten.  

Tessas Zimmer im zweiten Stockwerk des Hauses war ein hoher weiß getünchter Raum mit einem Bett, einem Stuhl, einem Waschtisch und einem Kleiderschrank mit eingeschnitzten Wappen. Schlagläden hielten im Sommer die Sonne ab und dick gefütterte Damastvorhänge bewahrten im Winter die Wärme. Rund um den großen Innenhof des Hauses zogen sich die Arkaden einer Loggia, die Schutz vor Sonne und Regen bot. 

Nachts, wenn sie nicht schlafen konnte, schlich Tessa heimlich hinab in diesen Hof. An Sommerabenden verströmte der Garten dort einen besonderen Zauber. Es duftete nach Wachsblumen und Oleander, und die Zitronen an den Bäumen in den Terrakottatöpfen hingen schwer und golden im Mondlicht. Hoch oben flimmerten tausend Sterne am Nachthimmel. 

Frühstück, Mittag- und Abendessen nahm Tessa mit den Zanettis ein. Die Gespräche bei den Mahlzeiten drehten sich meistens um praktische Dinge – das Wetter, die Ernte, die Schwierigkeiten, dies oder jenes zu beschaffen –, ehe sie sich schwerer wiegenden Themen wie Politik, Religion oder Philosophie zuwandten. Die Frauen der Familie Zanetti zeigten sich bei solchen Diskussionen von einer kühlen Intelligenz, die ihnen erlaubte, jeden Gegenstand sachlich zu zergliedern, bis er in all seinen Facetten sichtbar wurde. Dabei fielen jedoch nie böse Worte, Türenknallen oder wütendes Davonstürmen gab es nicht. Tessas höflich erbetene Meinung wurde artig angehört und dann Stück für Stück auseinandergenommen. Am Ende legte Olivia ihre Serviette zusammen, faltete die Hände und sprach ein Dankgebet, bevor sie vom Tisch aufstand, um wieder an die Arbeit zu gehen. 

In der Schule fungierte Tessa als Assistentin Signora Granellis, die die jüngsten Kinder unterrichtete. Sie verteilte Papier und Buntstifte, half den Schülern beim Schreiben der ersten Buchstaben und wusch ihnen Gesichter und Hände.  

Faustina Zanetti hatte ein mageres, gelblich blasses Gesicht, und das weiche braune Haar fiel über intelligente graue Augen. Da Schule und Krankenstation nahe beieinander waren, legten Tessa und Faustina nach ihrem Arbeitstag den Weg zum Herrenhaus oft gemeinsam zurück. 

Als sie eines späten Nachmittags den steinigen Pfad hinaufgingen, sagte Faustina: »Wenn der Krieg vorbei ist, werde ich Ärztin. Ich studiere in Bologna oder Parma – oder vielleicht in Paris oder Edinburgh, wenn es sein muss.« Faustina zog die Nase hoch. »Ich wollte immer studieren, aber mein Vater hat es nicht erlaubt. Er fand, Frauen brauchten nicht auf die Universität zu gehen. Frauen heiraten, und basta.« Sie zuckte mit den Schultern. »Kann ja sein, dass Frauen wie du heiraten, Frauen wie ich jedenfalls nicht.« 

»Ich habe nie geheiratet«, sagte Tessa. »Ich wollte auch nie jemanden heiraten.« 

Faustina sah sie an, dann lachte sie prustend. »Bis auf den unglücklichen Signor Bruno.« 

»Bis auf ihn«, räumte Tessa lächelnd ein. »Und ich kann nicht behaupten, dass er groß betrauert wird.« 

»Ich möchte Chirurgin werden.« Faustina ging mit langen, schnellen Schritten weiter. »Dottore Berardi hat mich letztes Jahr bei einer Blinddarmoperation assistieren lassen. Er dachte, ich würde ohnmächtig werden, aber da hatte er sich getäuscht.« 

Vor ihrem Aufenthalt in der Villa di Belcanto hätte Tessa immer gesagt, sie ziehe das Leben in der Stadt dem auf dem Land vor. Sie hätte gesagt, traute Häuslichkeit finde sie langweilig, sie brauche Abwechslung und Vielfalt. Sie hatte es Guido übel genommen, dass er über ihren Kopf hinweg an seine Mutter geschrieben hatte; aber zugleich hatte sie eingesehen, dass das Leben in Florenz mit Kriegsbeginn für sie zu gefährlich geworden war. 

Auf dem Gut hatte man mit offiziellen Dingen wenig zu tun. In gewisser Weise fand der Krieg fern von dieser in sich abgeschlossenen Welt statt. In anderer Weise aber betraf er sie natürlich alle. Ehemänner, Söhne und Liebste waren eingezogen worden, in den Städten herrschte Lebensmittelknappheit, Benzinknappheit war überall. Von den einschneidenden Ereignissen des Krieges – Deutschlands Angriff auf die Sowjetunion im Juni 1941, der darauf folgende Kriegseintritt Russlands auf Seiten der Alliierten, die fortwährenden Kämpfe in der nordafrikanischen Wüste – erfuhren sie über Rundfunkmeldungen, die sie sich meist schweigend anhörten, während sie sich bemühten, die Fakten von der Propaganda zu unterscheiden. Jeder hatte um irgendjemanden Angst. 

Auf dem Kaminsims in der Villa di Belcanto stand eine Fotografie von Guido, Sandro und Faustina, aufgenommen im Garten des Palazzo Zanetti in Florenz. Faustina, im weißen Kleid und mit Strohhut, zeigte ein mürrisches Gesicht, Sandros Blick war ernst. Nur Guido, die Hände in den Hosentaschen, den Hemdkragen geöffnet, lächelte sorglos. 

Tessa war nie gläubig gewesen, wusste nicht einmal, ob sie getauft war, und wenn ja, welcher Kirche sie angehörte, aber sie betete für Sandro und Guido. Es konnte nicht schaden, und man konnte ja nie wissen. 

Im Januar 1942 kam ein kleines Mädchen namens Perlita in die Vorschulklasse. Ihre Mutter Emilia arbeitete in der Gutswäscherei. Am ersten Morgen stand Perlita mit großen dunklen Augen unter einem Vorhang schwarzer Haare stumm in der Garderobe, während die anderen Kinder ihre Mäntel oder Umschlagtücher ablegten und an die Haken hängten. Perlita, in Strickmütze, Mantel und Wollhandschuhen, machte keine Anstalten, sich auszuziehen. Wie eine Holzpuppe stand sie da, Angst in den Augen. 

Tessa half ihr behutsam aus ihren Sachen, nahm sie an der Hand und führte sie ins Klassenzimmer. Sie setzte sich neben Perlitas Pult und blieb dort sitzen, während Signora Granelli die Kinder unterrichtete. Das kleine Mädchen sprach kein Wort. Beim Singen mit den älteren Schülern zusammen klammerte sie sich nur stumm an Tessas Hand. Am Nachmittag bekamen die Kleinsten Malbogen mit Tieren zum Ausmalen und Ausschneiden. Tessa half Perlita, ihren Löwen auszuschneiden, weil die kleinen Hände nicht kräftig genug waren, um mit der Schere zu arbeiten. Als Tessa sie eine Weile allein ließ, um den anderen Kindern zu helfen, folgte Perlitas Blick ihr ängstlich. Wenn Tessa keine Hand frei hatte, hielt sie sich an ihrem Rock fest. Signora Granelli gab ihr den Spitznamen ›Tessas Schatten‹. 

Nach einer Woche sprach Perlita zum ersten Mal. Tessa klatschte und umarmte sie. Es war eine ganz andere Art von Triumph als früher, wenn sie ihr Bild auf dem Titelblatt der Vogue gesehen hatte. Anfangs sprach Perlita nur mit Tessa, aber mit der Zeit fasste sie auch Vertrauen zu Signora Granelli und den anderen Kindern. Eines Morgens, als die Kinder auf der Wiese tobten, die als Spielplatz diente, lief sie los, um mit den anderen zu spielen und schaute nur ab und zu zurück, um sich zu vergewissern, dass Tessa noch da war. Als der Frühling kam, machte Perlita beim Singen und bei den Tanzspielen eifrig mit. Aber sie würde nie eine Plaudertasche werden; sie war immer sparsam mit Worten. 

Im April verließ Signora Granelli die Schule, um in Pistoia ihren Bruder zu pflegen, der in Nordafrika verwundet worden war. Tessa übernahm den Unterricht in der Vorschule. Am Ende jedes Schultags half Perlita ihr bei Einsammeln der Wachsmalkreiden und legte sie ordentlich in die alte Keksdose, in der sie aufbewahrt wurden. »Alles fertig?«, fragte Tessa dann, und Perlita nickte ernst und schob ihre Hand in Tessas, wenn sie gemeinsam aus dem Klassenzimmer gingen. 

Staubkörnchen schwebten im schräg einfallenden Licht, als Rebecca die Tür zum Haus ihrer Mutter in Abingdon öffnete. Die Luft drinnen war abgestanden und verbraucht, ein paar Briefe lagen auf den Fliesen. Rebecca stellte den Koffer ihrer Mutter neben den Schirmständer, hob die Post auf und legte sie auf den Flurtisch. 

Sie ging zum Wagen zurück. »So, da wären wir, Mama, endlich wieder zu Hause.« Sie hörte selbst, wie sie in den künstlich munteren Ton verfiel, der ihr seit der Krankheit ihrer Mutter zur Gewohnheit geworden zu sein schien. Sie vermutete, dass er auch ihrer Mutter auf die Nerven ging, denn sie seufzte resigniert, als Rebecca ihr aus dem Auto half. 

Das gesundheitliche Befinden ihrer Mutter hatte sich im Lauf des Frühjahrs ständig verschlechtert, und Ende Mai war schließlich eine Operation – eine Totaloperation – notwendig geworden. Da Meriel mitten im Schuljahr keinen Urlaub nehmen konnte, hatte Rebecca die Betreuung ihrer Mutter nach deren Entlassung aus dem Krankenhaus übernehmen müssen. 

Langsam gingen sie, Mrs. Fainlight auf Rebeccas Arm gestützt, den Weg zum Haus hinauf. Im Flur zog Mrs. Fainlight die Nase hoch und sagte: »Ach, du meine Güte. Du hättest doch wenigstens lüften können, Rebecca.« 

»Dazu hatte ich keine Zeit. Ich bin direkt zu dir ins Krankenhaus gefahren.« 

»Unverschämt von diesem Verein, dich bis zum letzten Moment festzuhalten.« 

Mrs. Fainlight nannte den Mayfield-Hof immer nur ›diesen Verein‹. Rebecca dachte daran, ihr zu erklären, dass sie bis zum letzten Moment auf dem Hof geblieben war, weil sie dort gebraucht wurde, um beim Anbau der Lebensmittel zu helfen, auf die das Land jetzt im Krieg angewiesen war. Aber sie unterließ es. 

Stattdessen sagte sie munter: »Sobald du bequem in deinem Bett liegst, putze ich einmal kurz durch, Mama. Es wird bald wieder blitzsauber sein.« 

Ihre Mutter zog die Handschuhe aus. »Ich fürchte, mit einmal kurz Durchputzen ist es nicht getan. Mrs. Roberts ist ein schlechter Ersatz für Gibson. Du hast keine Ahnung, wie schwierig alles ist.« 

Mrs. Fainlights Haushilfe, Gibson, seit Rebeccas Kindheit bei der Familie, war Ende 1941 gestorben. Rebeccas Suche nach einer Hilfe für ihre Mutter, die auch im Haus wohnen würde, hatte keinen Erfolg gehabt, zum Teil, weil die angebotene Entlohnung nicht an das heranreichte, was Frauen derzeit in den Fabriken verdienen konnten, und zum Teil, vermutete Rebecca, weil die Unfreundlichkeit ihrer Mutter bei den Vorstellungsgesprächen die wenigen Bewerberinnen, die sich meldeten, gleich abgeschreckt hatte. Schließlich war Mrs. Roberts engagiert worden, jeden Morgen drei Stunden zum Putzen und Wäschewaschen ins Haus zu kommen. Aber das Haus sah verlottert aus, dachte Rebecca, als sie ihrer Mutter die Treppe hinaufhalf. Die vielen Briefe auf dem Dielenboden – es sah aus, als wäre Mrs. Roberts schon eine ganze Weile nicht da gewesen. Sie würde mit ihr reden müssen. 

Im Schlafzimmer machte sie das Fenster auf, um frische Luft hereinzulassen. Während Rebecca den Koffer auspackte, saß ihre Mutter in dem roséfarbenen Samtsessel. Sie sah abgemagert und müde aus, und Rebecca empfand plötzliches Mitleid mit ihr. Ihrer Mutter beim Auskleiden und Überziehen eines Nachthemds zu helfen, war eine schwierige Angelegenheit. Mrs. Fainlights Vorstellungen von Sitte und Anstand waren edwardianisch, selbst der eigenen Tochter durfte kein Stück nacktes Fleisch gezeigt werden. Aber endlich war es geschafft, und ihre Mutter lag wohlbehalten in ihrem Bett, zu erschöpft, um noch zu streiten oder zu nörgeln.  

»Ich habe vom Hof ein paar Eier mitgebracht«, sagte sie. »Soll ich dir zum Mittagessen eines kochen, Mama?« Mrs. Fainlight nickte. 

Unten in der Küche kochte Rebecca ein Ei und stellte es in einem Eierbecher neben ein Butterbrot auf ein Tablett, dekorierte das Ganze mit ein paar Rosenknospen in einem kleinen Krug und trug es nach oben zu ihrer Mutter. Als sie eine Viertelstunde später mit einer Tasse Tee noch einmal hinaufging, waren Brot und Ei gegessen, und ihre Mutter schlief fest. 

Nachdem Rebecca selbst ihren Tee getrunken hatte, begann sie mit dem Hausputz. Während sie fegte und abstaubte und wischte, meldeten sich wieder die Schuldgefühle, die immer schon die Beziehung zu ihrer Mutter kennzeichneten. Es hatte vernünftig geschienen, Meriel die regelmäßigen Besuche im Krankenhaus übernehmen zu lassen und selbst in der Zeit danach einzuspringen, aber vielleicht war Vernunft nicht die angemessene Reaktion, wenn die eigene Mutter sich einer ernsten Operation unterziehen musste. Andererseits konnten David und Carlotta auf dem Hof nicht alles allein schaffen, zumal Carlotta schwanger war und sie im Augenblick nur auf eine der beiden Landhelferinnen zählen konnte, die der Staat als Ersatz für die Männer an der Front abstellte, weil die andere an den Masern erkrankt war. Ihre Arbeit auf dem Hof war kein Zeitvertreib, sondern dringend notwendige Hilfe. 

Aber sie wusste natürlich, mit welchem Widerwillen sie hierhergefahren war. Das Problem war nicht nur die schwierige Beziehung zu ihrer Mutter, sondern die tödliche Langeweile, die unweigerlich mit den Besuchen in Abingdon einherging. Als sie noch mit Milo verheiratet gewesen war, hatte sie selten mehr als einige Stunden hintereinander im Haus ihrer Mutter verbracht. Die Zeit schien stillzustehen in Hatherden – das war der Name des Hauses ihrer Mutter, ehern viktorianisch in seiner Einfallslosigkeit. Schon zwei Stunden in diesem Haus waren ihr früher eine Qual gewesen.  

Aber das war damals gewesen und dies war heute. Wenn sie eines in den letzten Jahren gelernt hatte, dann durchzuhalten. Sie war stärker geworden. Sie war gewöhnt, bei Kälte und Regen im Freien zu arbeiten, und sie war Einsamkeit gewöhnt – Einsamkeit war zu einem Teil ihres Lebens geworden. Die Aussicht, sechs Wochen mit ihrer Mutter zu verbringen, war jetzt bloß noch reizlos. Mayfield würde ihr fehlen. 

Der Krieg hatte vieles verändert. Von den Bewohnern des Mayfield-Hofs waren nur die Mickleboroughs und Rebecca geblieben. David Mickleborough, der aus gesundheitlichen Gründen beim Militär nicht angenommen worden war, steckte jetzt seine ganze Kraft in die Arbeit auf dem Hof. Sie mussten einen wirtschaftlich gesunden Betrieb auf die Beine stellen, sonst würde man ihnen den Hof wegnehmen. Beamte des örtlichen Kriegsausschusses für Landwirtschaft kamen regelmäßig vorbei, um zu prüfen, ob sie auch jeden Fleck Anbaufläche nutzten.  

Bei aller Arbeit nahm Rebecca sich dennoch Zeit zum Zeichnen. Es war ihr zur Gewohnheit geworden, etwas, das sie täglich brauchte. Sie fühlte sich nicht wohl, wenn sie nicht gezeichnet hatte. Sie erinnerte sich Connors neckender Bemerkung über die Wahl ihrer Themen – Müssen es immer Töpfe, Pfannen und Scheuerbürsten sein, Rebecca?. Ja, es waren immer noch Töpfe, Pfannen und Scheuerbürsten, wenn sie zu müde war, um sich etwas anderes einfallen zu lassen. 

Vor knapp zwei Jahren, im Spätsommer des Jahres 1940, war der Mayfield-Hof ins Auge eines Sturms geraten. Die Luftschlacht um England war über Kent und Sussex ausgetragen worden. Ein Bild hatte sich Rebecca unauslöschlich eingeprägt: Ein Flugzeug, aus dem Flammen schlugen, stürzte mit gellendem Pfeifen in Spiraldrehungen vom Himmel in den Birkenhain auf der Hügelkuppe, die vom Küchenfenster aus zu sehen war. Rebecca und David waren quer durch das Tal zu der brennenden Maschine hinaufgelaufen, sie mit der Heugabel in der Hand, weil sie dachte, sie könnte von Nutzen sein. Ganz sinnlos: Schon als sie sich dem Wäldchen näherten, stolperten sie über verbogene Metallsplitter der abgeschossenen Spitfire. Der Pilot, zwanzig Jahre alt, war in der Kanzel verbrannt. 

Sie hatte die Szene seither beinahe wie besessen immer wieder gezeichnet und gemalt, aus vielen unterschiedlichen Perspektiven. Manchmal wurde der Blick auf sie und David gelenkt, wie sie durch das Tal rannten, während das Flugzeug nur als grau verwischtes Detail in der Bildecke zu erkennen war. Eine andere Version zeigte ein schwarzes Gitterwerk von Bäumen vor einem brodelnden blutroten Himmel. Dieses Bild hatte sie in Öl gemalt; obwohl sie vom Umgang mit Ölfarben keine Ahnung hatte, musste sie hier mit ihnen arbeiten, um die Kraft und Dichte der Farben zu erreichen, die sie haben wollte. Sie hatte Connor geschrieben, sie glaube, sie suche nach der richtigen Weise, die Szene ins Bild zu setzen, und er hatte geantwortet, darum gehe es vielleicht gar nicht; vielleicht wolle sie darauf verweisen, dass über den Tod eines zwanzigjährigen Piloten in einem Wäldchen auf dem High Weald etwas gesagt werden müsse, immer wieder und immer wieder. 

Sie schrieb Connor Byrne regelmäßig nach Irland. Eine Zeit lang war sie unsicher gewesen, hatte gefürchtet, ihre Briefe könnten ihn langweilen, aber im Lauf der Monate und Jahre waren ihre Bedenken verschwunden. Er schien sich auf ihre Briefe ebenso sehr zu freuen wie sie sich auf seine. Mit Connor, dem sie das Schlimmste von sich anvertraut hatte, konnte sie ehrlich sein wie mit keinem anderen, nicht einmal ihrer Schwester. Ihre Briefe waren eine lebendige Verbindung mit einem Menschen, den sie, so merkwürdig es war, in seiner Abwesenheit besser kennengelernt hatte, und sie bedeuteten den allmählichen Abbau von Mauern. Sie und Connor hatten beide verletzt und waren beide verletzt worden; das hatten sie gemeinsam.  

Sie hatte in der Küche fertig geputzt und wollte gerade mit dem Wohnzimmer anfangen, als es draußen läutete. Die Nachbarin ihrer Mutter, Mrs. Ridley, stand vor der Tür. Rebecca bat sie ins Wohnzimmer und ging nach oben. Ihre Mutter saß aufrecht im Bett. 

»War das die Türklingel?« 

»Es ist Mrs. Ridley von nebenan«, erklärte Rebecca. »Sie wollte sich erkundigen, wie es dir geht. Sie sitzt unten und wartet.« 

Mrs. Fainlight war nervös. »Ich muss ins Bad.« 

»Ich kann sie bitten, später wiederzukommen, wenn dir das lieber ist, Mama.« 

»Nein, nein.« Mrs. Fainlight sah Rebecca plötzlich erschrocken an. »Du bist doch wohl nicht in diesem Aufzug an die Tür gegangen, Rebecca. Du siehst ja aus wie eine Arbeiterin.« 

»Ich bin eine Arbeiterin. Ich arbeite auf einem Bauernhof.« Aber ihre Mutter schien ehrlich entsetzt zu sein, deshalb fügte Rebecca, die in Cordhose und Baumwollbluse war, erklärend hinzu: »Ich war beim Putzen, Mama. Mrs. Ridley stört das sicher nicht.« 

»Und dabei hast du dich früher immer so hübsch angezogen. Du warst so ein hübsches Mädchen. Die Leute sind auf der Straße stehen geblieben und haben dich bewundert. Seit du bei diesem Verein bist, lässt du dich gehen. Als ob es nicht in deinem Alter auch so schwierig genug wäre, wieder einen Mann zu finden.« 

»Ich will keinen anderen Mann.« Rebecca hatte Mühe, ruhig zu bleiben. »Einer hat gereicht.« 

»Ich habe von Anfang an gewusst, dass er nicht gut genug für dich war«, bemerkte Mrs. Fainlight boshaft. 

»Milo?«, fragte Rebecca gereizt. »Da hast du recht gehabt. Soll ich dir ins Bad helfen?« 

Während Mrs. Ridley ihrer Mutter Gesellschaft leistete, ging Rebecca einkaufen. Es war ein schöner, heller Frühsommertag, Clematis hing tiefblau über Zäune, und ihre Gereiztheit legte sich auf dem Weg in die Ortsmitte. Im Krankenhaus hatte ihr der Arzt berichtet, dass man bei ihrer Mutter einen kleinen Gebärmuttertumor entdeckt hatte. Er hoffe, dass durch die Operation die Krankheit zum Stillstand kommen werde, aber … Er hatte den Satz nicht vollendet. Ihre Mutter schien überzeugt davon, dass sie wieder gesund werden würde. Rebecca hatte schon daran gedacht, dass ihre Mutter sie vielleicht nur nicht beunruhigen wollte, denn sie hatte immer schon ein Talent dafür gehabt, in schwierigen Situationen die Augen zuzumachen. Vielleicht war es also auch diesmal so. Was auch immer der Grund dafür sein mochte, dass sie es ablehnte, über ihre Krankheit zu sprechen, Rebecca fand, sie müsse es respektieren. Noch ein Punkt auf der langen Liste der Dinge, über die sie niemals miteinander redeten. 

Wieder zu Hause, begleitete sie Mrs. Ridley hinaus und räumte ihre Einkäufe auf. Ihre Mutter bewahrte ihre Lebensmittelkarte immer in der Handtasche auf. Als Rebecca die marineblaue Tasche öffnete, roch sie Gesichtspuder und Eau de Cologne, Düfte, die sie seit ihrer Kindheit mit ihrer Mutter verband. Als kleines Mädchen hatte sie es geliebt, mit der Handtasche ihrer Mutter zu spielen, Lippenstift, Puderdose, Notizbuch und den kleinen Drehbleistift mit der goldenen Quaste zu inspizieren. Die Handtasche war ihr als Schatzkammer weiblicher Geheimnisse erschienen. 

Mit diesen weiblichen Geheimnissen war es jetzt nicht mehr weit her. Da war ihre Mutter, krank und gebrechlich, und hier war sie, in Männerhosen und mit schwieligen Händen. Rebecca steckte die Lebensmittelkarte wieder ins Seitenfach der Handtasche und klappte sie zu. 

Mrs. Fainlight erholte sich langsam von der Operation. Nach den ersten Tagen bestand sie darauf, sich zum Frühstück anzuziehen und nach unten zu kommen. Nachmittags machte sie, wenn es schön war, im Liegestuhl im Garten ein Nickerchen, oder sie bewältigten gemeinsam den kurzen Gang zum Briefkasten am Ende der Straße. 

Mit der allmählichen Genesung regte sich auch wieder die Kritiklust ihrer Mutter. Bald gab es dies, bald das an Rebeccas Haushaltsführung und ihren Kochkünsten auszusetzen. Rebecca sei immer so ungeschickt und mache so viel Lärm, und ihr Getrampel könnte ja Tote erwecken. Das waren alte Vorwürfe, Rebecca kannte sie schon seit ihrer Jungmädchenzeit, als sie so stark in die Höhe geschossen war, dass sie schnell einen Kopf größer war als ihre Mutter und Meriel und im Vergleich zu ihnen Riesenfüße bekam. Mit fünfzehn und sechzehn hatte sie sich als plumper, tollpatschiger Trampel gefühlt, wo sie doch so gern klein und zierlich gewesen wäre. Erst als sie entdeckte, dass den Jungen ihre Größe gefiel und ihnen ihre Schuhgröße völlig schnuppe war, fühlte sie sich wohler. 

Mrs. Fainlight wollte jetzt zum Abendessen aufbleiben, obwohl sie um diese Tageszeit müde und übellaunig war. Rebecca gab sich Mühe, machte sich zum Essen die Haare und zog sich um, deckte im Esszimmer mit Tischdecke und Servietten. Es deprimierte sie, dass bei diesen Mahlzeiten – abgesehen von Bitten, das Salz herüberzureichen, oder von Fragen, ob das Essen schmecke, die mit widerwilliger Zustimmung beantwortet wurden –, nie ein Gespräch aufkam. Das Klirren des Bestecks, das Scharren eines Stuhls klangen unnatürlich laut in der Stille. Ihrer Mutter schien es ähnlich zu gehen, denn nach den ersten Abenden erlaubte sie, dass Rebecca zum Essen das Radio einschaltete. Selbst die niederschmetternden Nachrichten – die Einnahme Tobruks durch die Truppen der Achsenmächte in der dritten Juniwoche war besonders entmutigend – waren besser, fand Rebecca, als das gelegentliche Klirren der Gläser und das eintönige Ticken der Standuhr. 

In der ersten Woche schaute der Arzt jeden Tag vorbei, danach nur noch jeden zweiten Tag. Die Kirche ihrer Mutter sorgte dafür, dass Gemeindemitglieder sie regelmäßig besuchten. In ihrer Gesellschaft zeigte sich Mrs. Fainlight umgänglicher und weniger kritisch. 

Einer dieser Besuche war es, der ihren Streit auslöste – nein, ein Streit war es nicht gewesen, dachte Rebecca später, sondern ein Ausbruch lang unterdrückter Bitterkeit. Die Besucherin, eine gewisse Mrs. Macdonald, eine ernsthafte junge Frau mit vorstehenden Zähnen, vielleicht Mitte zwanzig, hatte ihren vierzehn Monate alten Sohn Peter mitgebracht, der gerade das Laufen gelernt hatte und vergnügt im Garten herumwatschelte, wo er sich in Babysprache über die Blumen und die Katze des Nachbarn freute. 

Als der Besuch gegangen war, schlief Mrs. Fainlight in einem Sessel im Wintergarten ein. Beim Erwachen eine Stunde später schimpfte sie Rebecca dafür aus, dass sie sie nicht geweckt hatte. 

»Ich dachte, die Ruhe täte dir gut, Mama.« 

»Du weißt, dass ich abends ewig keine Ruhe finde, wenn ich nachmittags zu lange geschlafen habe. Und du hast die Milch vergessen, sie steht noch draußen im Garten. Wirklich, Rebecca, ich finde das Geld nicht auf der Straße, und wir haben bald keine Marken mehr.« 

Rebecca ging in den Garten und holte das Tablett. Dann setzte sie in der Küche Wasser auf und brühte eine Kanne Tee. Als sie ihrer Mutter eine Tasse brachte, sagte diese mit argwöhnischer Miene: »Ich hoffe, du hast nicht die Milch verwendet, die du im Garten gelassen hattest.« 

»Natürlich nicht, Mama. Ich habe kalte genommen, aus der Speisekammer.« 

Rebecca trank ihren Tee in der Küche. Andere Mütter und Töchter hätten sich zusammengesetzt, dachte sie, und miteinander geredet. Neid und Bitterkeit schossen in ihr hoch. Sie musste irgendetwas an sich haben, überlegte sie, was ihre Mutter ständig ärgerte, vielleicht war es auch einfach eine fundamentale Unvereinbarkeit der Charaktere. Die drei Stunden bis zum Abendessen dehnten sich endlos vor ihr. 

Sie holte einmal tief Luft und ging in den Wintergarten. »Wollen wir eine Partie Karten spielen, Mama?« 

»Du weißt, dass ich vom Kartenspielen nichts halte, Rebecca.« 

»Nur zum Spaß. Ich meinte nicht, dass wir unsere lebenslangen Ersparnisse verspielen sollen.« 

Sie hatte es als Scherz gemeint, aber es klang sarkastisch. Ihre Mutter zog die Lippen zusammen. »Du weißt genau, dass du immer um Geld gespielt hast, als du noch mit Milo verheiratet warst.« 

»Um ein paar kleine Münzen.« 

»Na ja, es gibt immerhin einen gewissen Trost. Wenigstens lässt du jetzt das Glücksspiel sein.« 

Rebecca wurde ganz ruhig. »Einen Trost für die Scheidung, meinst du?« 

»Ja.« Mrs. Fainlight rutschte unbehaglich in ihrem Sessel hin und her. »Ich habe in der Gemeinde nichts davon erzählt. Ich hielt das für das Beste.« 

»Schämst du dich meiner, Mama?« 

»Es braucht doch niemand zu wissen.« 

»Schon gut. Ich verspreche dir, dass ich die alten Tanten von St. Andrews mit den schmutzigen Details verschone.« 

»Du brauchst nicht gleich aufzubrausen, Rebecca.« 

»Tue ich doch gar nicht. Ich stelle lediglich eine Tatsache fest.« 

Danach trat einen Moment gespanntes Schweigen ein. Mrs. Fainlight schien starr vor Zorn. Dann brach es aus ihr heraus. 

»Wenn wenigstens ein Kind da gewesen wäre. Dieser niedliche kleine Junge vorhin! Das wäre wenigstens eine kleine Entschädigung gewesen.« 

Auch Rebeccas Zorn kochte jetzt über. »Ein Kind?«, wiederholte sie. »Willst du wissen, warum es kein Kind gibt? Ich sag’s dir. Weil ich keine Kinder bekommen kann.« Ihre Stimme schwoll an. »Wir haben in unserer Ehe die Verhütung jahrelang auf die leichte Schulter genommen –« 

»Rebecca!« 

»– und nichts ist passiert. Milo hat jetzt ein Kind, wusstest du das?« 

Mrs. Fainlight sah erschrocken aus. »Nein«, flüsterte sie. 

»Ja, er hat ein Kind. Er hat wieder geheiratet, vor anderthalb Jahren. Ich habe es dir nicht erzählt, weil ich deine Häme kenne. Er hat eine Amerikanerin geheiratet und unterrichtet an einer amerikanischen Universität, und sie haben ein kleine Tochter, die Helen heißt. Es war meine Schuld, dass wir keine Kinder hatte, nicht Milos. Meine ganz allein.« 

Rebecca lief aus dem Wintergarten. Sie nahm ihre Jacke vom Haken und ging durch die Küche hinaus. Es kostete sie große Anstrengung, die Tür nicht hinter sich zuzuknallen. 

Hinter dem Garten lagen Felder. Durch ihre Tränen konnte Rebecca den wogenden Weizen des Felds, an dem sie vorbeiging, nur verschwommen erkennen. Ihr Hand zitterte, als sie sich die Nase schnäuzte. 

Von Milos Wiederverheiratung hatte sie von Milo selbst erfahren. Er hatte ihr geschrieben, dass er eine Frau namens Mona Greer heiraten werde, die er in Boston kennengelernt hatte, wo er jetzt unterrichtete. Rebecca vermutete, dass Mona Greer eine seiner Studentinnen gewesen war. 

Von dem Kind hatte sie durch Roger Thoday, Milos Verleger, erfahren. Sie war ihm eines Tages in der Buchhandlung Hatchards begegnet, als sie in London gewesen war, um Simone Campbell zu besuchen. Milo und Mona, hatte Roger erzählt, hatten eine kleine Tochter bekommen, die sie Helen genannt hatten. »Ich dachte, du würdest es nicht aus dem Klappentext eines Buchs erfahren wollen«, hatte Roger hinzugefügt. »Wobei es heutzutage verdammt schwierig ist, überhaupt etwas zu veröffentlichen. Und Milos letzte beide Bücher sind leider nicht so gut gegangen.« 

Ein Kind. Eine Tochter. Helen Rycroft. Sie hatte sich einzureden versucht, es mache ihr nichts aus. Milo habe nichts mehr mit ihr zu tun. Und wie typisch für Milo, hatte sie gedacht, sich nach Amerika davonzumachen, als das Leben hier durch den Krieg schwierig wurde. 

Als sie jetzt einen Feldrain entlangstolperte, fragte sie sich, ob es ihr nicht doch etwas ausmachte. Milo hatte eine angesehene Stellung an einer amerikanischen Universität, eine neue Frau und eine kleine Tochter. Ein Kind, das das verlorene Kind ersetzte. Während sie sich immer noch abstrampelte, hatte Milo sich ein neues Leben aufgebaut. Sie hatte nichts. 

Sie durchquerte ein kleines Waldstück und geriet auf einen Trampelpfad zwischen hohen Hecken, in denen Jelängerjelieber und Hundsrosen wuchsen. Es hatte die ganze Woche nicht geregnet, und der Matsch auf dem tiefgefurchten Weg war hart geworden. Rebecca ging weiter, und während sie bei jedem Schritt den harten Boden unter ihren Füßen spürte, vergingen allmählich Gekränktheit und Selbstmitleid. Sie hatte doch etwas. Sie hatte sogar sehr viel. Sie hatte eine Beschäftigung und eine Kunst, die ihr zunehmend mehr bedeutete. Sie liebte ihre Schwester und ihre Freunde. Sie hatte die briefliche Verbindung mit Connor, die ihr sehr wichtig war. Sie wusste nicht, was die Zukunft bringen würde, aber wozu auch? Heutzutage wusste das kaum jemand. 

Und was ihre Mutter anging … War es nicht möglich, dass ihre Mutter von Anfang an Schwächen bei Milo erkannt hatte, vor denen sie sich blind gestellt hatte? Und war es nicht auch möglich, dass die beißenden Bemerkungen ihrer Mutter schützender Fürsorge entsprungen waren – dass sich hinter Kritik und Genörgel Liebe verbarg? Rebecca schaute auf ihre Uhr. Es war viertel nach sechs. Was würde ihr Engel ihr jetzt raten? Sie versuchte, sich sein Gesicht ins Gedächtnis zu rufen, sein gütiges, mildes Lächeln. Er würde ihr raten, nach Hause zu gehen und das Abendessen zu machen, dachte sie. Und nicht nachzulassen in ihrem Bemühen, auch wenn sie und ihre Mutter Schwierigkeiten miteinander hatten.  

Sie nahm sich Zeit auf dem Weg zurück, zwischen den blühenden Hecken hindurch, quer durch das Waldstück und schließlich am Feldrain entlang zur Gartenpforte. 

Mrs. Fainlight stand in einer Schürze in der Küche am Spülbecken und schälte Kartoffeln. Sie hob den Kopf, als Rebecca eintrat. 

»Ich dachte, ich nehme dir das schon mal ab.« 

Rebecca erkannte das Friedensangebot. »Das ist lieb von dir, Mama«, sagte sie, »aber mute dir nur nicht zu viel zu.« 

Sie hängte ihre Jacke auf, dann wälzte sie die Makrele in Mehl und schnitt einen Frühkohl auf. Sie arbeiteten Seite an Seite, und nach einer Weile sagte ihre Mutter plötzlich: »Die Kartoffeln sind gar nicht mehr richtig fest. Ich bin in letzter Zeit überhaupt nicht mehr zufrieden mit Mr. Wrights Gemüse«, und Rebecca sagte: »Ich habe mir gedacht, ich könnte dir ein kleines Gemüsebeet anlegen, Mama. Hinten beim Kohlenschuppen ist genug Platz, und wenn ich wieder in Mayfield bin, könnte Meriel ab und zu zum Unkrautjäten vorbeikommen.« 

Später, als Mrs. Fainlight zu Bett gegangen war, setzte sich Rebecca an den Küchentisch und zeichnete die wilden Blumen, die sie auf dem Heimweg gepflückt hatte. Sie fühlte sich viel besser, während ihr Stift über das Papier glitt und ferne Musik, die aus irgendjemandes Radio im dunkler werdenden Sommerabend über die stillen Gärten getragen wurde, durch die offene Küchentür hereinwehte. 

Max’ Wohnung lag über einem Lebensmittelgeschäft in der Frith Street. Oben auf dem Treppenabsatz spielte ein kleiner Junge mit einem Spielzeugzug, den er ganz vertieft mit gedämpftem »Puff, Puff, Puff« auf dem Boden herumschob. 

Freddie klopfte. »Max? Ich bin’s. Ich weiß, dass du da bist.« Nichts rührte sich. Sie klopfte lauter. »Max! Mach auf.« 

Ein Riegel wurde klappernd zurückgeschoben. Der kleine Junge packte seinen Zug und rannte die Treppe hinunter. 

Dann öffnete sich die Tür. Max sah verärgert aus. »Bist du hergekommen, um mich zu kontrollieren?« 

»Ich bin hergekommen, um zu sehen, wie es dir geht.« 

»Ausgezeichnet, wie du siehst.« 

Er wollte die Tür schließen. Freddie schob den Fuß in den Spalt. Dahinter konnte sie sein Zimmer erkennen, Bücher, Papiere und Kleidungsstücke auf dem Boden verstreut, leere Flaschen auf dem Tisch. 

»Ach ja?«, sagte sie sarkastisch. »Man sieht’s. Du siehst grauenvoll aus, Max.« 

»Verzieh dich, Freddie. Such dir ein anderes Opfer zum Betütteln.« 

»Max!« 

»Verzieh dich einfach.« 

»Da kannst du lange warten.« 

Er kniff die Augen zusammen. »Soll das ein Akt der Barmherzigkeit sein?« 

»Ray hat mir erzählt, dass du und Marcelle euch getrennt habt.« 

»Ich bin sicher, du weißt genau, dass von wir keine Rede sein kann. Marcelle hat sich von mir getrennt.« Max verzog verächtlich den Mund, während er sie aus blutunterlaufenen Augen abschätzig ansah. »Es gibt Momente, da erinnerst du mich an Tessa. Die gleiche Unfähigkeit, der Realität ins Auge zu sehen.« 

Sie sagte nicht gleich etwas. Dann nickte sie. »Na schön, wenn du es so siehst.« 

Sie war an der Treppe, als sie ihn seufzen hörte. 

»Entschuldige, Freddie. Ich bin ein Ekel. Ich weiß nicht, warum du dich überhaupt mit mir abgibst. Bitte, komm rein. Ich mache uns einen Kaffee.« 

In Max’ Zimmer roch es nach kaltem Zigarettenrauch und Alkohol. Während er Wasser aufsetzte und nach sauberen Trinkbechern suchte, schaute Freddie durch das beschlagene Fenster hinaus in den strömenden Regen. Unten krochen die Schatten des späten Abends über die mit Brettern vernagelten Schaufenster der Geschäfte und die mit Sandsäcken verbarrikadierten Haustüren. Unter den heftigen Luftangriffen des Blitz hatte in der Stadt eine Aufgeregtheit geherrscht, eine fieberhafte Lebendigkeit, die aller Angst und allem Ungemach widerstanden hatte. Seit die Luftwaffe ihre Aufmerksamkeit den Weiten Russlands zuwandte, hatten die Angriffe auf London stark an Häufigkeit und Heftigkeit verloren, doch Kriegsmüdigkeit, Rationierung und graue Tristesse waren nicht verschwunden. 

»Was war los?«, fragte Freddie. 

Max zuckte mit den Schultern. »Nichts weiter. Wir haben uns gestritten. An Einzelheiten kann ich mich nicht erinnern. Es wird ungefähr so gewesen sein – ich habe irgendetwas gesagt oder getan, was sie geärgert hat, sie hat daraufhin aus irgendeinem nichtigen Anlass eine Szene gemacht, ich habe sie als verwöhnte Göre bezeichnet und sie hat gesagt, ich soll verschwinden. So etwas in der Art.« Max lächelte schief. »Lächerlich, dass ich mich von einer Frau, die halb so alt ist wie ich, zum Narren machen lasse.« 

»Das hat doch mit dem Alter nichts zu tun.« 

»Aber es sollte etwas mit Lebenserfahrung zu tun haben, meinst du nicht? Vom Verstand her habe ich immer gewusst, dass Marcelle und ich auf Dauer keine Chance haben. Ich weiß, dass ich für sie immer zweite Wahl war. Ich bin zu alt, zu hässlich, zu ausländisch.« Er wehrte ihre Erwiderung mit einer kurzen Handbewegung ab. »Nein, es ist wahr, Freddie.« 

Sie sah, dass seine Hand zitterte, als er das Kaffeepulver in die Becher gab. »Ach Max«, sagte sie. »Wie viel hast du getrunken?« 

»Zu viel. Nicht genug. Das ist mein Laster. Wir haben alle unsere Laster, Freddie. Auch du. Milch?« 

»Ja, bitte.« 

Er öffnete eine Flasche, roch daran und verzog das Gesicht. 

»Macht nichts«, sagte sie. »Ich trinke ihn auch schwarz.« 

Nachdem er ihr einen Becher gereicht hatte, begann er Kissen und Decken hochzuheben und seine Taschen zu durchwühlen. »Wo zum Teufel sind meine Zigaretten? Du hast nicht zufällig welche da, Freddie? Nein? Vielleicht hast du doch kein Laster.« Er fand endlich eine zerdrückte Packung und fingerte eine Zigarette heraus. »Ich weiß nicht, was Marcelle will«, sagte er leise. »Ich glaube, sie weiß es selbst nicht. Sie ist eine schöne, interessante Frau voller Probleme, die gern Streit anfängt. Ich meine, es ist ja nicht das erste Mal, dass es zwischen uns zum Bruch gekommen ist.« Er begann wieder zu suchen, diesmal nach Streichhölzern, warf Papiere und Kleidungsstücke zur Seite und verschlimmerte noch das Chaos im Zimmer. »Sie streitet, um sich von der Angst um ihren Vater abzulenken, das weiß ich. Und vielleicht, weil sie das Machtgefühl genießt. Neulich habe ich sie fotografiert. Sie hatte den Mantel mit dem Pelzkragen an. Sie sah aus wie die Schneekönigin. Vielleicht habe ich einen Eissplitter im Herzen.« 

»Du Armer.« 

»Überhaupt nicht.« Er riss ein Streichholz an. »Ich verdiene deine Teilnahme nicht, Freddie. Obwohl ich das alles weiß, begehre ich sie immer noch. Sie bricht mir das Herz. Wie gesagt, ich bin eine lächerliche Figur.« 

»Soll ich hier ein bisschen aufräumen?« 

»Kommt nicht infrage. Setz dich. Rede mit mir. Es gibt tausend andere Dinge, über die ich mich weit mehr grämen sollte, als über so ein dummes, selbstsüchtiges Geschöpf.« 

Freddie räumte einen Platz auf dem Sofa frei und setzte sich. »Aber so geht es eben nicht immer.« 

»Ich habe so viele Freunde und Verwandte in Deutschland, und ich habe keine Ahnung, was mit ihnen los ist. Ich weiß nicht, ob sie noch leben oder schon tot sind. Manchmal möchte ich um sie weinen. Aber die Wahrheit ist, dass ich viel mehr an Marcelle denke.« Er sah Freddie an. »Tut mir leid, was ich vorhin über Tessa gesagt habe. Ich bin eben ein verbitterter alter Kerl. Du weißt, dass ich Tessa sehr geliebt habe. Du hast wohl nichts von ihr gehört?« 

Freddie seufzte. »Ich habe den ersten Brief 1940 bekommen und sechs Monate später noch mal einen, der aber viel kürzer war. Beide kamen über eine Freundin von Tessa in Schweden und waren nicht sehr aufschlussreich. Sie schrieb nur, es gehe ihr gut und sie sei in Sicherheit. Sie nannte keine Namen. Sie hat wahrscheinlich Angst, andere in Schwierigkeiten zu bringen. Und seitdem, nichts.« Sie empfand, wie immer, wenn sie an Tessa dachte, ein schreckliches Gefühl von Verlust und Angst. »Aber ich weiß, was du meinst, Max. Ich rege mich auf, wenn ich im Bus keinen Platz bekomme oder wenn im Laden das Haarwaschmittel ausgegangen ist, das ich gerade brauche, dabei ist das Einzige, was mir wirklich wichtig ist, Tessa und dass es ihr gut geht.« Sie trank einen Schluck Kaffee. Er schmeckte bitter, nach Zichorie. Dann sagte sie: »Eigentlich bin ich gekommen, um dir auf Wiedersehen zu sagen.« 

»Du gehst weg?« 

»Ich bin nach Birmingham versetzt worden. Zur Ausbildung als Mechanikerin – sie wollen mir beibringen, wie man Flugzeuge baut.« 

»Du lieber Gott!« Er zog die Augenbrauen hoch. »Also kein Papierkram im Verteidigungsministerium mehr?« 

»Nein, das geht mir sowieso schon ewig auf die Nerven. Und da ich ungelernt und alleinstehend bin, kann man mich überallhin schicken. Eine ziemlich deprimierende Beschreibung, nicht?« 

»Und absolut ungenau.« Er sah sie liebevoll an. Seine Augen waren braun und freundlich. »Meinst du, der Flugzeugbau wird dir Spaß machen, Freddie?« 

»Ich hoffe es. Aber die Trennung von meinen Freunden wird mir sicher schwerfallen.« Sie lächelte ihn an. »Auch von schlechtgelaunten. Ich versuche, mich bei allen zu verabschieden, bevor ich fahre.« 

Er zündete sich eine frische Zigarette an. »Auch bei Marcelle?« 

»Ja, das habe ich eigentlich vor.« 

»Würdest du ihr einen Brief von mir mitnehmen?« 

»Max –« 

»Sie legt auf, wenn ich anrufe. Bitte, Freddie.« 

Er tat ihr ungeheuer leid. Sein dunkles Haar war an den Seiten ergraut und brauchte einen Schnitt. Die Augen waren bläulich umschattet. Das magere Gesicht wirkte kantig; er ähnelte, dachte Freddie, einer müden und zerrupften Krähe. 

»Ich tu’s natürlich, wenn du es willst«, sagte sie, »aber wäre es nicht besser zu warten, bis sie sich bei dir meldet?« 

»Du meinst, ich soll mich rar machen?« 

»Lass sie schmoren. Dann wird sie vielleicht lernen, dich mehr zu schätzen. Warum wartest du nicht, bis sie sich bei dir entschuldigt?« 

»Weil sie das nicht tun wird. Niemals. Das weiß ich.« Er sah tieftraurig aus und ein wenig beschämt. »Ich weiß, dass ich sie mehr liebe als sie mich. Und deshalb werde ich ihr nachlaufen wie ein treues kleines Hündchen, auch wenn sie mich dafür verachtet.« 

Sie konnte sich nicht verkneifen zu sagen: »Aber hat denn so eine Liebe überhaupt einen Wert?« 

»Wenn es nichts anderes gibt, ja.« 

Eine Viertelstunde später verabschiedete sich Freddie mit Max’ Brief in der Tasche. Sie fuhr mit der Untergrundbahn bis South Kensington und ging von dort zu Fuß weiter zum Cheyne Walk in Chelsea. Der faulige Ölgeruch des Flusses machte sich bemerkbar, als sie sich Marcelle Scotts Haus näherte. Zwei Bretter waren quer über die Haustür genagelt. Sie stieg die Außentreppe zum Kellergeschoss hinunter und klopfte ans Küchenfenster. 

Marcelle öffnete. Sie trug ein schwarzes Cocktailkleid, um den Hals eine Jadekette, die das Grün ihrer Augen spiegelte. »Freddie«, sagte sie und bot Freddie die Wange zum Kuss. 

Die Küche war groß und kalt. Am Spülbecken stand Betty Mullholland in einem blassblauen Unterrock und drehte sich die Haare ein, die sie vorher mit Zuckerlösung befeuchtete, damit die Locken besser halten würden. 

»Lewis liegt oben und schläft«, sagte Marcelle. 

Freddie erinnerte sich von dem Abend im Dorchester an Lewis Coryton, sein dunkles Haar und seine koboldhaften Züge.  

»Wir versuchen, ganz leise zu sein«, flüsterte Betty. »Der arme Lewis hat seit Wochen nicht geschlafen. Er dient auf einem Atlantikschiff, weißt du. Es muss ganz fürchterlich gewesen sein.« 

Freddie erzählte von ihrer Versetzung. Betty stieß einen kleinen Schrei aus und sagte, ja, sei es nicht schrecklich, sie sei auch versetzt worden, nach Plymouth, endlos weit weg von Frances, die auf einem Luftstützpunkt in East Anglia stationiert war. Dann ging sie nach oben, um sich anzukleiden. 

Marcelle stellte sauberes Geschirr weg. Freddie nahm Max’ Brief aus der Tasche. »Das soll ich dir von Max geben.« 

»Du hast ihn gesehen?« 

»Ja, ich komme von ihm.« Sie wartete darauf, dass Marcelle fragen würde, wie es Max ging. Als nichts kam, sagte sie von sich aus: »Es geht ihm nicht gut.« 

Marcelle stellte eine Suppenterrine in den Schrank und schloss die Tür. Dann riss sie den Umschlag auf. Sie überflog flüchtig das Geschriebene, ließ das Papier auf den Küchentisch fallen und räumte weiter Geschirr in die Schränke. 

»Sprichst du mit ihm?«, fragte Freddie. 

»Keine Ahnung. Vielleicht.« 

»Er vermisst dich.« 

»Eigentlich möchte ich nicht darüber reden.« 

»Aber ich möchte darüber reden 

»Es geht dich nichts an, Freddie«, sagte Marcelle leise. 

»Doch, tut es. Max ist mein Freund.« 

»Natürlich, das hatte ich vergessen. Max Fischer, der Busenfreund der Schwestern Nicolson.« Marcelles Stimme hatte einen spöttischen Unterton. 

Max hatte Tessa jahrelang geliebt, aber Freddie konnte sich nicht erinnern, ihn je so unglücklich gesehen zu haben wie er jetzt war. Der Unterschied, dachte sie, lag darin, dass Tessa nie grausam zu ihm gewesen war, jedenfalls nicht bewusst. 

Marcelle polierte Messer mit einem Geschirrtuch. Die Haare fielen ihr in weichen Locken auf die Schultern, und die Fingernägel waren in dem klaren Rot lackiert, das sie bevorzugte. Freddie fragte sich, wo sie jetzt im Krieg solchen Nagellack auftrieb – aber vielleicht hatte sie ihn gehortet und bewahrte in ihrem Schrank Dutzende leuchtend roter Fläschchen auf, die ihr reichen würden, bis wieder Frieden herrschte. 

»Wenn er dir nichts bedeutet«, sagte sie, »wäre es dann nicht besser, es ihm klipp und klar zu sagen?« 

Marcelle drehte sich nach Freddie um. »Ich habe Max sehr gern.« Sie war ein wenig rot geworden. 

»Ich glaube nicht, dass gernhaben genug ist. Er liebt dich, Marcelle. Verstehst du nicht, so kann das nicht gut gehen. Das ist für den anderen schrecklich verletzend.« 

Die Küchentür wurde geöffnet. Lewis Coryton stand in einem rotseidenen Morgenmantel, der vermutlich Marcelle gehörte, blinzelnd im Flur. 

»Ich brauche unbedingt eine Tasse Tee«, sagte er. 

»Ich mache dir gleich welchen, Darling.« Marcelle ließ Wasser in den Kessel laufen. 

Lewis sah Freddie stirnrunzelnd an. »Ah, jetzt fällt’s mir ein, Freddie – äh – Freddie Nicolson.« 

»Hallo, Lewis.« Sie bot ihm die Hand. 

»Sie waren damals im Dorchester«, sagte er. »Sie hatten ein lange schwarzes Kleid an und dazu eine Kette mit dunkelroten Steinen – pflaumenrot.« 

»Wirklich, ein Gedächtnis wie ein Elefant, Lewis«, bemerkte Marcelle schnippisch. 

Es freute Freddie, dass Lewis sich an sie erinnerte. Sie hatte ihn damals sehr gut aussehend gefunden. Er sah immer noch gut aus, selbst mit seinem zerzausten Haar und dem albernen roten Morgenmantel. 

Betty kam wieder in die Küche gelaufen. »Meine Ohrringe? Hat jemand meine Ohrringe gesehen?« 

»Auf dem Fensterbrett«, sagte Marcelle. 

Betty steckte sich die Brillanten in die Ohrläppchen. »Kommst du mit, Freddie? Denny kommt auch. Und Clare, stimmt doch, Lewis? Was ist eigentlich mit den RAF-Jungs, die wir im Zug getroffen haben?« 

»Sie haben gesagt, dass sie kommen.« 

»Und Jack?«, fragte Betty. 

»Glaube ich nicht.« 

»Strümpfe«, murmelte Betty. »Irgendwo muss doch ein heiles Paar Strümpfe sein.« Sie rannte wieder nach oben. 

Marcelle goss eine Tasse Tee ein und reichte sie Lewis. Der sagte: »Ich sollte jetzt erst einmal baden. War nett, Sie wiederzusehen, Freddie. Sie sind doch heute Abend auch mit von der Partie?« 

Sie antwortet etwas Unverbindliches, und als Lewis verschwunden war, fragte sie Marcelle: »Du hast Jack gesehen?« 

»Meinen Cousin, meinst du? Ja, natürlich.« Marcelle, die den Tee einschenkte, runzelte die Stirn. »Ach so, du kennst ihn ja flüchtig. Das hatte ich vergessen.« 

»Er ist in London?« 

»Ja, seit Wochen. Wir haben uns königlich amüsiert. Ich bin ganz erledigt vom vielen Feiern.« Marcelles Stimme klirrte vor Kälte. »Ich hoffe, er verliebt sich in Frances. Er so blond und sie so rot, das würde doch bei den Kindern eine wunderbare Mischung geben, meinst du nicht?« Sie nahm Lippenstift und Puderdose aus ihrer Handtasche. »Möchtest du heute Abend auch mitkommen, Freddie? Ich finde bei mir bestimmt irgendetwas, was dir passt.« 

»Nein, danke, ich bin ziemlich müde. Ich glaube, ich gehe heute mal früh zu Bett.« 

Kurz danach ging Freddie. Es regnete immer noch, sie klappte ihre Kapuze hoch und schob die Hände in die Taschen. Zum ersten Mal konnte sie es kaum erwarten, aus London wegzukommen. Seit dem Abend im Dorchester hatte sie sich am Rand von Jacks und Marcelles Clique bewegt, aber nie wirklich dazugehört. Als sie jetzt durch den Regen marschierte, packte sie ein heftiger Widerwille gegen Marcelle. Obwohl ihr Verstand ihr sagte, dass Max an seinem Unglück zum Teil selbst schuld war, verachtete sie Marcelle für ihre Achtlosigkeit ihm gegenüber. Marcelle hatte etwas Distanziertes, das es ihr vielleicht leicht machte, andere zu verletzen. Und zeigte nicht Jack, der Marcelles Cousin war, einen ähnlichen Wesenszug? Damals, im Frühsommer 1939, war sie ihm nützlich gewesen; aber sobald er sie nicht mehr brauchte, hatte er sie fallen lassen. Vielleicht sollte sie sich nicht gekränkt fühlen, dass er sich, obwohl er in London war, nicht wie versprochen bei ihr gemeldet hatte; aber sie war gekränkt. Sie hatte ihre gemeinsame Flucht von Florenz nach Frankreich immer noch in lebhafter Erinnerung, aber er hatte das alles wahrscheinlich schon in dem Moment vergessen, als ihre Wege sich getrennt hatten. Auf dem Boot nach Frankreich hatte er zu ihr gesagt, Wir könnten zusammen verschwinden. Wie wäre es weitergegangen, wenn sie Ja gesagt hätte? Lebten sie dann jetzt vielleicht in Buenos Aires oder Valparaiso, wo er mit irgendwelchen zwielichtigen Geschäften das Geld verdiente, während sie mit einer Gardenie hinterm Ohr am Strand säße und Cocktails tränke? Oder hätte er nach ein, zwei Monaten alles abgeschüttelt, was auch nur im Geringsten nach Dauerhaftigkeit schmeckte, und wäre weitergezogen? 

Aber war sie denn so viel anders? Die Frage beunruhigte sie. 

Ihre Beziehung mit Angus war drei Monate nach ihrer ersten gemeinsamen Nacht zu Ende gewesen, als sie seinen Heiratsantrag abgelehnt hatte. Sie hatte ihn geliebt, aber sie hatte ihn nicht genug geliebt. Seither hatte sie verschiedene Affären gehabt – mit einem Soldaten, den sie beim Tanzen kennengelernt hatte, mit einem kanadischen Flieger, mit dem sie eines Tages im Bus ins Gespräch gekommen war –, aber diese Geschichten hatten alle nicht lange gedauert. Der Soldat war nach Devon versetzt und der Flieger über Deutschland abgeschossen worden. Am längsten hatte ihre Beziehung zu einem amerikanischen Journalisten gehalten, der nach London geschickt worden war, um über die Auswirkungen des Krieges auf Großbritannien zu berichten. Er, nicht sie, hatte Schluss gemacht. »Du bist ein nettes Mädchen, Freddie«, hatte er am Ende eines Abends zu ihr gesagt, »und ein sehr schönes dazu, aber ich habe immer das Gefühl, durch eine gläserne Wand mit dir zu reden. Ihr Engländer. Euch berührt anscheinend gar nichts, wie? Es ist beinahe so, als würdest du auf etwas warten, aber ich habe keine Ahnung, worauf. Jedenfalls bestimmt nicht auf mich. Du hast deine Mauern hochgezogen und verteidigst sie mit Zähnen und Klauen.« 

Wenn Tessa geglaubt hatte, man dürfe keinesfalls heiraten, hatte sie dann aus dem, was Tessa widerfahren war, den Schluss gezogen, man dürfe vor allem gar nicht erst lieben? Oder war es wirklich so, wie der amerikanische Journalist gesagt hatte, dass sie auf etwas wartete – ein Wiedersehen mit Tessa? –, und dieses Warten und Hoffen sie den größten Teil ihrer emotionalen Kraft kostete? 

Es hatte sie getroffen, dass Max nicht gesagt hatte, ›ich liebe Tessa‹, sondern ›ich habe Tessa geliebt‹, so als existierte sie nur noch in der Vergangenheit. Es traf sie, dass Ray, der Tessa einmal geliebt hatte, sie jetzt kaum noch erwähnte. Am schlimmsten traf es sie, dass nach drei Jahren der Trennung die Erinnerung an Tessa immer mehr zu verblassen schien, und selbst sie jetzt, wenn sie versuchte, sich ihre Schwester vorzustellen, immer häufiger die Bilder aus Zeitschriften und Magazinen vor sich sah. So als würde Tessa langsam erstarren, als wäre sie in jenem einen Moment ihres Lebens gefangen und von der Zukunft abgeschnitten.  

Wieder dachte sie, dass sie es kaum erwarten konnte, aus London wegzukommen. Sie wollte noch einmal anfangen, neue Menschen kennenlernen, neue Dinge tun. Sie warf die Kapuze ab und rannte die Treppe hinunter zur Untergrundbahn.