7

 

Tessa erholte sich nur langsam. Vom ersten Tag an gab sie sich die Schuld an Angelos Tod. Wäre sie eine bessere Mutter gewesen, wäre sie eine bessere Autofahrerin gewesen, wäre sie nicht so dumm und nachlässig gewesen. Trostloses Weinen, das Stunden dauerte, wechselte mit sprachloser Verschlossenheit, die Freddie mehr Angst machte als die Tränen. Oft verkroch sich Tessa in den Monaten nach dem Unfall in ihrem Bett und blieb dort mit geschlossenen Augen, ohne ein Wort zu sprechen, liegen. Früher so unternehmungslustig, wollte sie jetzt keinen Schritt vor die Tür. Ihre Stimmungen wechselten von Tag zu Tag. 

Sie war immer schon schlank gewesen, aber jetzt war sie beängstigend dünn und zart. Sie schnitt sich die langen hellen Haare ab und trug sie halblang mit einem Pony, um die zackige rote Narbe auf der Stirn zu kaschieren. Obwohl sie sich körperlich erholte, blieb sie in ihrem Wesen verändert. Sie war stiller, nicht mehr so gesellig und neigte weit stärker dazu, sich abzukapseln. Selten sprach sie von Angelo oder ihrem Leben vor dem Unfall. Wenn Freunde zu Besuch kamen, zeigte sie vielleicht ein Lächeln, aber ihr Blick war wie erloschen. 

Freddie war zum Ende des ersten Halbjahrs von der Schule abgegangen, alle Studienpläne vergessen. Zunächst nahm sie Gelegenheitsarbeiten an, bei denen sie nur abends gebraucht wurde, sodass sie tagsüber bei Tessa bleiben konnte, während die Freunde ihr abwechselnd an den Abenden Gesellschaft leisteten. Dann stellte Miss Fainlight, mit der Freddie in losem Kontakt geblieben war, die Verbindung zu einer Miss Parrish her, die in Endsleigh Gardens, nahe beim Russell Square wohnte. Miss Parrish engagierte Freddie als ihre Assistentin, und sie arbeitete von nun an für eine Zeitschrift namens ›The Business Girl‹, die Artikel und praktische Ratschläge für die alleinstehende, berufstätige Frau veröffentlichte. 

Die Arztrechnungen hatten längst Tessas weniges Geld verschlungen, Schmuck musste verkauft werden. Jeder Penny, den Freddie nach Hause brachte, zählte. Fortan wurden die Strümpfe gestopft, wenn sie Löcher hatten, abgetretene Schuhe zum Schuster gebracht, und Freddie ging, wenn irgend möglich, zu Fuß, um das Fahrgeld zu sparen. Die Wohnung in Highbury hatte sie aufgegeben, als Tessa noch im Krankenhaus lag; sie wusste, dass sie sich die Miete nicht mehr leisten konnten, und fürchtete, die Erinnerungen, die mit der Wohnung verbunden waren, könnten Tessa quälen. Ray hatte Freddie eine seiner Wohnungen angeboten, mietfrei, aber sie hatte höflich abgelehnt. Sie würden das schon schaffen, sie würden eben vernünftig haushalten. Ihr war klar, dass das in absehbarer Zukunft so bleiben würde, also konnten sie sich auch gleich daran gewöhnen. Tessa würde nie mehr als Mannequin und Fotomodell arbeiten; es war sogar möglich, dass sie überhaupt nicht wieder arbeiten würde. Immerhin nahm Freddie Rays Angebot an, sich bei der Suche nach einem neuen Zuhause helfen zu lassen, und er hatte in South Kensington etwas für sie aufgetrieben. Die neue Wohnung, in der zweiten Etage eines großen Gebäudes georgianischen Stils, war viel kleiner als die in Highbury, nur zwei Zimmer und ein gemeinsames Bad, aber sie war hell und sonnig und hatte einen hübschen Blick auf grüne Gärten. 

Ende August entführte Ray Tessa auf eine Reise nach Südfrankreich. Ansichtskarten von Zwischenaufenthalten auf der gemächlichen Fahrt durch Frankreich trafen ein. Je weiter südlich die Orte auf den Ansichtskarten lagen, so schien es Freddie, desto öfter blitzte in den kurzen Mitteilungen etwas von der alten Tessa auf. Ein Anflug von Humor in der Beschreibung eines amerikanischen Ehepaars, dem sie in Lyon begegnet waren, und, aus Marseille, die Karikatur einer eleganten Französin mit einem Zwergpudel in der Handtasche. Auf einer Karte aus Nizza war eine weitere kleine Zeichnung, von Ray, fest schlafend in einem Liegestuhl am Strand, einen Strohhut über das Gesicht gekippt. 

Zum ersten Mal seit einem halben Jahr wagte Freddie zu hoffen. An dieser Hoffnung hielt sie beharrlich fest, trotz der sich zuspitzenden politischen Situation, trotz der allgemeinen Angst während der Sudetenkrise, als Europa am Abgrund eines Krieges stand. Sie klammerte sich daran, als in den Londoner Parks Gräben ausgehoben wurden und auf den Dächern hoher Gebäude Fliegerabwehrkanonen wie dicke schwarze Krähen hockten, als Neville Chamberlain Ende September nach München flog und bei seiner Rückkehr auf dem Flughafen Croydon triumphierend das Blatt Papier schwenkte, das, wie er behauptete, »Frieden in unserer Zeit« garantierte. 

Die ersten Herbstnebel fielen Anfang November sachte und grau über die Stadt. Freddie nahm nach der Arbeit die Untergrundbahn nach South Kensington und ging den Rest des Nachhausewegs zu Fuß, immer wieder mit der Hand nach einer Hausmauer oder einem Geländer tastend, als wollte sie sich vergewissern, dass hinter dem Schleier die Gebäude noch vorhanden waren. 

Sie hatte gerade ihre Schlüssel aus der Tasche geholt, als sie hinter sich eine Autotür zuschlagen hörte. Sie drehte sich um. Ray kam aus dem Nebel auf sie zu. 

»Ihr seid wieder da! Oh, Ray! Wie geht es dir?« Freddie spähte mit zusammengekniffenen Augen in den Nebel. »Wo ist Tessa?« 

»In Italien«, sagte er. 

»In Italien?« 

»Ja, tut mir leid. Darf ich hereinkommen?« 

»Natürlich.« 

Italien, dachte sie, als sie die Treppe hinaufgingen, aber zu Ray sagte sie nur: »Wartest du schon lange?« 

»Eine halbe Stunde vielleicht.« Er fröstelte. »Es ist ja eiskalt.« 

In der Wohnung machte Freddie Feuer und setzte Wasser auf. »Heißt das, dass Tessa in Italien jemanden besucht?«, fragte sie. »Ich dachte, sie wollte mit dir zurückreisen. Wie kommt sie jetzt nach Hause? Und wann kommt sie?« 

»Ich glaube«, sagte er, seinen Mantel aufknöpfend, »sie hat vor zu bleiben.« 

»Was?« Wasser schwappte auf den Boden, als sie ungeschickt Tee aufgoss. Sie wischte es mit dem Taschentuch auf. 

Sie rührte zwei Stück Zucker in Rays Tee und reichte ihm die Tasse. »Ich verstehe nicht«, sagte sie. »Was ist denn passiert?« 

Er trank einen Schluck Tee. »Die letzten Wochen waren wir in Menton. Ich hatte ein ganz ordentliches Hotel nahe am Wasser gefunden. Bis auf ein paar Spritztouren in die Umgebung sind wir kaum ausgegangen. Meistens haben wir am Strand gesessen, wenn es warm genug war, haben gebadet und sind ein bisschen gelaufen. Ich dachte, Tessa fühlte sich wohl. Ich hatte den Eindruck, dass es ihr besser ging und sie nicht mehr so angespannt wirkte. Du weißt ja, sie liebt die Sonne. Sie sah jedenfalls viel besser aus, Freddie, wirklich. Es war wahrscheinlich naiv von mir zu glauben, es brauchte nur ein paar Wochen Südfrankreich und ich würde die alte Tessa wiederbekommen, aber man hofft ja doch immer, nicht wahr? Kurz und gut, eines Tages, als wir beim Mittagessen saßen, fragte sie mich, wie weit es bis Italien sei. Als ich ihr sagte, dass die Grenze nur wenige Kilometer östlich liege, wurde sie sehr still. Ich fragte, was los sei, und sie sagte, nichts, sie sei nur müde. Am Nachmittag kam sie nicht aus ihrem Zimmer. Als wir uns abends in der Bar trafen, erklärte sie mir, sie hätte beschlossen, nach Italien zurückzugehen. Ich dachte, sie spräche von einem kurzen Urlaub, und sagte, ich würde mich erkundigen, ob es möglich sei, für ein paar Tage hinüberzufahren. Darauf erklärte sie mir, so habe sie das nicht gemeint, sie wolle wieder ganz dort leben.« 

»Oh, Ray!« Freddie konnte es nicht glauben. 

»Ich habe versucht, es ihr auszureden. Sie sagte, im Nachhinein sei sie überzeugt, dass sie nie nach England gepasst habe. Eine Weile habe sie sich eingebildet, es wäre das Richtige für sie, dann aber gemerkt, dass das eine Täuschung gewesen sei. Manche Leute, die sie für ihre Freunde gehalten habe, hätten seit ihrer Schwangerschaft nicht mehr mit ihr gesprochen, und andere hätten sie seit Angelos Tod keines Blickes mehr gewürdigt. Na, du weißt ja, wie manche Menschen sind. Sie wissen nicht, was sie sagen sollen, also sagen sie am Ende gar nichts. Aber sie hat Freunde hier, Freddie, wahre Freunde. Es gibt hier Menschen, die sie lieben.« Ray schnäuzte sich. »Wie gesagt, ich habe versucht, es ihr auszureden, aber sie behauptete, sie müsse weg, irgendwo hin, wo niemand sie kennt – wo niemand von Angelo gehört hat. Sie sagte, sie müsse neu anfangen. Ich versuchte, ihr klarzumachen, wie schwierig das werden würde – ich meine, wovon will sie denn leben, wo will sie unterkommen, noch dazu bei der gegenwärtigen politischen Lage in Italien. Mussolini ist nicht gerade ein Freund der Engländer, und ich habe gehört, dass einigen Landsleuten, die in Italien geblieben sind, das Leben in letzter Zeit ziemlich schwer gemacht wird. Am Ende hat sie mir versprochen, noch einmal darüber nachzudenken. Sie hat mir versprochen, nichts Unbesonnenes zu tun, verdammt noch mal. Und am nächsten Morgen war sie weg. Früh um fünf aus dem Haus und mit dem ersten Zug nach Italien. Sie hat mir einen Brief dagelassen. Du kannst ihn lesen, wenn du willst, Freddie.« 

Freddie überflog den Brief eilig. Tessa dankte Ray für seine Geduld, seine Güte und Großzügigkeit und bat ihn, ihr zu verzeihen. ›Ich weiß, dass meine Entscheidung richtig ist‹, hatte sie geschrieben. ›Ich habe lange überhaupt nichts mehr gewollt – außer natürlich die Zeit zurückdrehen –, aber das will ich jetzt: Ich will nach Hause.‹ In einem Zusatz am Ende des Briefs hatte sie geschrieben: ›Bitte sag Freddie, sie soll sich keine Sorgen machen. Ich schreibe ihr bald.‹ 

Freddie faltete den Brief und gab ihn Ray zurück. »Du kannst nichts dafür«, sagte sie. »Wir kennen doch Tessa. Sie tut, was sie tun will, und keiner kann sie umstimmen. Was hast du gemacht, als sie weg war?« 

»Ich bin zum Bahnhof gerannt. Ein junger Kerl am Schalter erinnerte sich an sie.« Er lächelte schief. »Typisch Tessa, nicht? Sie vergisst so leicht keiner. Als er mir sagte, dass sie eine Karte nach Genua gelöst hatte, beschloss ich sofort, hinterherzufahren und in Genua nach ihr zu suchen, um sie doch noch zur Vernunft zu bringen.« 

»Und? Hast du sie gefunden?« 

»Nein. Ich bin nie bis Genua gekommen.« Ray war voller Zorn. »Dieser verdammte Grenzbeamte war so unverschämt, dass ich ihm vor Wut beinahe eine verpasst hätte. Der Kerl wollte mir weismachen, mit meinem Pass stimmte etwas nicht – kapitaler Mist, der Pass ist völlig in Ordnung, der Bursche wollte sich nur wichtig machen. Also bin ich nach Menton ins Hotel zurückgefahren. Der Concierge war ein netter Mensch, er hat ein halbes Dutzend Hotels in Genua für mich angerufen. Nichts. Sie kann überall sein, Freddie.« Ray schwieg stirnrunzelnd. Dann sagte er: »Sie wollte nicht gefunden werden. Ich habe darüber nachgedacht, und ich weiß, dass sie nicht gefunden werden wollte. Ich hatte vor, sie noch einmal zu bitten, mich zu heiraten. Wie dämlich kann man eigentlich sein, hm?« 

Bald danach verabschiedete sich Ray. Das will ich jetzt, hatte Tessa geschrieben. Ich will nach Hause. Wie lange hatte sie schon daran gedacht, nach Italien zurückzukehren? War es ein spontaner Entschluss gewesen oder hatte sie sich schon längere Zeit mit dem Gedanken getragen? 

Freddie kam plötzlich eine Idee, ein Verdacht. Sie ging ins Schlafzimmer und zog die Schublade auf, in der Tessa ihren Schmuck verwahrte. Unter den klimpernden Armreifen und Cocktailringen stand das Lederkästchen mit dem Granatschmuck ihrer Mutter. Mit einem bangen Gefühl klappte Freddie den Deckel hoch, und da lagen die Steine mit ihrem dunkelroten geheimnisvollen Feuer. Ach Tessa, dachte sie. Von all ihren Schmuckstücken war Tessa das Granatcollier das teuerste gewesen. Andere Halsketten und Colliers hatte sie verkauft, um die Miete und die Arztrechnungen bezahlen zu können, aber nicht den Granatschmuck ihrer Mutter. Niemals hätte Tessa vergessen, ihn mitzunehmen. Hatte sie ihn ihr dagelassen, sozusagen als Trost? Oder vielleicht als Versprechen, dass sie doch eines Tages wiederkommen würde? 

Während Freddie sich ihr Abendessen machte, dachte sie über Tessas Brief an Ray nach. Ich will nach Hause, hatte sie geschrieben. Aber wo war dann Freddies Zuhause? Welchen der zahllosen Orte, an denen sie seit ihrer Geburt gelebt hatte, konnte sie wahrhaft so nennen? 

Ende November zog Rebecca auf den Mayfield-Hof. Das Anwesen, ein weitläufiger Komplex roter Backsteinbauten mit roten Schindeldächern, lag auf einem Hügelrücken im High Weald südlich von London, knapp zehn Kilometer von Tunbridge Wells entfernt. Es gehörte David und Carlotta Mickleborough. Davids Landschaftsbilder schmückten die Wände des Wohnhauses. Er hatte in Spanien gelebt, als der Bürgerkrieg ausgebrochen war, und sich den internationalen Brigaden angeschlossen, die aufseiten der spanischen Republik kämpften. Als er 1937 verwundet worden war, kehrten er und seine Frau mit den beiden kleinen Söhnen Jamie und Felix nach England zurück und kauften den Mayfield-Hof. 

David Mickleborough war ein Freund von Simone Campbell. Rebecca hatte über einen Monat bei Simone gewohnt, während sie sich von der schweren Bronchitis erholt hatte. Sobald sie sich wieder gesund gefühlt hatte, war ihr klar gewesen, dass sie sich eine dauerhaftere Bleibe suchen musste, und Simone hatte den Mayfield-Hof vorgeschlagen. »Die meisten der Leute, die dort leben, sind Künstler«, hatte Simone ihr erzählt. »Als Miete für ihre Werkstätten helfen sie auf dem Hof. Alle packen mit an – sie essen zusammen und greifen zu, wo es gerade nötig ist. Es ist alles ziemlich einfach und primitiv, aber die Landschaft ist ein Genuss, und für dich wäre es eine Chance, in Ruhe darüber nachzudenken, was du anfangen willst.« 

Rebecca fand, es höre sich fürchterlich an, aber aus Höflichkeit hielt sie den Mund. Außerdem – hatte sie denn eine Wahl? »Ich kann’s ja mal versuchen«, sagte sie und weil sie fürchtete, brummig geklungen zu haben, fügte sie hastig hinzu: »Danke, Simone. Das ist wirklich nett von dir.« 

In den Tagen vor ihrem Umzug auf den Mayfield-Hof brachte sie zum Dank in einer großen Putz- und Aufräumaktion Simones Haus in Ordnung. Als sie sich am Morgen ihrer Abreise von ihrer Freundin verabschiedete, sagte diese streng: »Aber sieh zu, dass du diesmal ordentlich auf dich aufpasst, damit du nicht wieder krank wirst. Und versprich mir, dass du dich nicht mehr mit hoffnungslosen Versagern wie Harrison Grey abgibst.«  

Sie gelobte es kleinlaut und versprach auch, Simone zu schreiben und sie zu besuchen, wann immer ihr Weg sie nach London führte. Dann lud sie ihre Besitztümer ins Auto und machte sich auf die Reise. Sie war weder aufgeregt noch erwartungsvoll, als sie sich mit der aufgeschlagenen Karte auf den Knien auf immer schmaler und ländlicher werdenden Straßen ihrem Ziel näherte, aber sie war fest entschlossen, das Beste aus dem zu machen, was der Hof zu bieten hatte. Ganz gleich, wie schwer es ihr werden würde, sie würde auf jeden Fall ein Jahr durchhalten. Wenn sie jetzt wieder scheiterte, würde sie das nur noch tiefer in Selbstanklage und Unzulänglichkeitsgefühle hineintreiben.  

Aber zu ihrer Überraschung gefiel ihr der Hof. Gewiss, es war alles ziemlich primitiv – die Wände ihres Zimmers waren nur teilweise verputzt und der Boden aus nacktem, in Fischgrätmuster verlegtem Backstein. Im Bad gab es nur kaltes fließendes Wasser, wenn man warmes brauchte, musste man es im Kessel heiß machen. Der Hof hatte einen eigenen Stromgenerator, der hin und wieder streikte, und Carlotta kochte auf einem altmodischen Eisenherd und wusch die Wäsche in einem großen Kessel. Aber das Haus hatte etwas Robustes und fest Geerdetes, das Rebecca ansprach. Sie hatte eine neue Liebe zum Einfachen bei sich entdeckt, und selbst die schwere körperliche Arbeit, die sie auf dem Hof erwartete, konnte sie nicht schrecken. 

Der Mayfield-Hof hatte zehn Bewohner. Neben den vier Mickleboroughs und Rebecca lebten dort Noel Wainwright, Landschaftsmaler wie David Mickleborough, und seine Frau Olwen, die Stoffkollagen machte, sowie John Pollen und seine Schwester Romaine, beide Mitte fünfzig, ruhig, ernsthaft und zurückhaltend. John war Töpfer; seine Schüsseln und Teller spiegelten die Farben der Landschaft von Sussex, erdiges Rotbraun, helles Creme und weiches Grau. Romaine Pollen, die nach einer Kinderlähmungserkrankung in der Kindheit hinkte, war Glasmalerin und benutzte zum Brennen ihrer Werke den Töpferofen ihres Bruders. 

Rebecca verstand sich gut mit ihren Mitbewohnern, aber sie vermied engeren Kontakt. So viel in ihr war noch wund, und es gab Dinge, für die sie sich schämte. Nähe hätte Erklärungen und Selbstprüfung verlangt, und vor beidem scheute sie zurück. Sie arbeitete auf dem Gemüsefeld, ein halber Morgen schwerer Lehmboden, mit dem sie ihre liebe Mühe hatte, und half bei der Renovierung des Wohnhauses. Hier kamen die alten Fertigkeiten, die sie sich damals beim Instandsetzen der Alten Mühle zusammen mit Milo erworben hatte, wieder zum Einsatz. Sie schmirgelte blätternden Lack von Türen und Fensterbrettern und strich sie neu. Eines Tages zeigte ihr David, wie man mauerte, und sie kniete den ganzen Vormittag im Dreck, mischte Mörtel an und legte die Ziegelsteine in gerader Linie an einer straff gespannten Schnur entlang aufeinander. Abends, nach dem Essen, setzte sie sich in ihr Zimmer und las oder schrieb Briefe. 

Der zehnte Hofbewohner lebte in einer ehemaligen Scheune etwas abseits von den Hauptgebäuden. Connor Byrne, ein Ire, der stets in einer abgetragenen staubigen Cordhose und einem alten Flanellhemd herumlief, war Bildhauer, ein großer, breitschultriger Mann mit schwarzem Haar und blauen Augen in einem wettergegerbten Gesicht, der selten lächelte und noch seltener sprach. Am Tag ihrer Ankunft auf dem Hof sah er sie nur kurz an, nickte und widmete sich wieder seinem Abendessen. Rebecca fragte sich, ob er Neuzugänge nicht mochte. Connor kam nur zu den Mahlzeiten aus seiner Scheune oder um David Mickleborough bei schweren Arbeiten zur Hand zu gehen. Er schaffte es, das ganze Abendessen hindurch zu schweigen. Wenn er tatsächlich einmal lächelte, waren Liebenswürdigkeit und ein Funke Humor in seinem Blick.  

Wenn sie auf dem Weg zum Gemüsefeld an der Scheune vorbeiging, hörte sie den Schlag des Meißels auf Stein. Im neuen Jahr hielt auf dem Hof ein Lastwagen mit einem Granitblock auf dem Anhänger. Sie sah zu, wie Connor und David mit improvisierten Winden und Flaschenzügen das steinerne Ungetüm in Connors Atelier beförderten. 

Eines Morgens schaute sie auf ihrem Weg an der Scheune vorbei zu einem Fenster hinauf und bemerkte ein helles Gesicht, das sich aus der Dunkelheit hob. Verwundert blieb sie stehen. 

Aus der Scheune rief Connor: »Möchtest du ihn sehen?« 

Rebecca zog die Tür einen Spalt auf. »Darf ich?« 

»Komm rein.« 

Sie trat in die Scheune, einen hohen Raum, in dem es sehr kalt war, kaum wärmer als im Freien. Alle möglichen Werkzeuge lagen auf roh gezimmerten Werkbänken. Der Granitblock stand auf Böcken. Ein monumentales graues Steingesicht mit harten Zügen blickte zu ihr hinunter. Sie hatte das Gefühl, dass der Stein hier lebendig wurde, dass das Geschöpf, das Connor bildete, langsam aus dem Stein heraustrat. 

»Wer ist er?«, fragte sie. 

»Manannan mac Lir, der Meeresgott der Manx, der Bewohner der Insel Man. Er hat König Cormac von Irland den magischen Pokal der Wahrheit übergeben.« 

»Er sieht streng aus.« 

»Die Götter sollten streng sein, meinst du nicht, was hätten sie sonst für einen Sinn?« Connor bedachte sie mit einem überraschenden Lächeln, dann griff er zu Hammer und Meißel – ein klares Signal, dass er weiterarbeiten wollte, dachte sie und ging, um ihn nicht länger zu stören. Aber danach schaute sie auf ihrem Weg zum Feld fast immer bei Connor vorbei, um ihm eine Tasse Tee zu bringen und den steinernen Gott zum Leben erwachen zu sehen. Dunkel, nachlässig gekleidet und schweigsam war Connor das genaue Gegenteil von Milo mit seinem hellen Haar, der gepflegten Erscheinung und seiner Gesprächigkeit. Sie fühlte sich in seiner Gesellschaft wohl und kam gern auf einen Sprung bei ihm vorbei, um ihm bei der Arbeit zuzusehen. Er und sein steinerner Gott hatten etwas gemeinsam: eine Präsenz, eine stille Ruhe, die dennoch zu ihr sprach. 

Sie fuhr nur einmal, Ende Februar 1939, nach London, um sich beim Anwalt mit Milo zu treffen. Inzwischen war sie nicht mehr gewöhnt, sich zu schminken und elegant in Rock und Jäckchen zu kleiden. Jetzt trug sie Hosen und Pullover und band sich das Haar mit einem Tuch zurück. Während sie sich die Lippen malte, betrachtete sie forschend ihr Gesicht im Spiegel. Sie hatte sich verändert, dachte sie, aber sie wusste noch nicht, in welche Richtung. Milo hatte eingewilligt, bei der Scheidung die Schuld auf sich zu nehmen. Bei der Zusammenkunft wurden Dokumente aufgesetzt und finanzielle Entscheidungen getroffen. Dies also war nun die amtliche Demontage ihrer Ehe, dachte Rebecca, dieses höfliche Gespräch über Vermögen und Unterhalt. Immer wieder einmal sah Milo auf seine Uhr – vielleicht war er mit einer Frau verabredet. 

Draußen auf der Straße sprachen sie noch einen Moment miteinander. Milo hatte zugestimmt, ihr die Hälfte aus dem Verkaufserlös der Alten Mühle zu überlassen – Rebecca hatte den Eindruck, dass er das sehr großzügig fand. Sie sollte von diesem Bauernhof wegziehen, sagte er, und sich eine anständige Wohnung kaufen. Aber mir gefällt es auf dem Hof, hörte sie sich in dem gleichen störrischen Ton sagen, in dem sie im vergangenen Sommer in dem Häuschen in Derbyshire zu Harrison Grey gesagt hatte: Mir gefällt es hier. Milo zuckte mit den Schultern. Es seien noch Bücher und Kleider von ihr da – was er mit ihnen tun solle? »Schick mir meine Farben und meine Skizzenbücher«, sagte sie. »Der Rest kann eingelagert werden.« 

Dann trennten sie sich, und Rebecca fuhr zum Hof zurück. In ihrem Zimmer legte sie sich aufs Bett und ließ die Ereignisse des Tages noch einmal an sich vorüberziehen. Als es Zeit war, die Hühner zu füttern, zog sie sich um, stieg in ihre Gummistiefel und ging hinaus. 

War sie böse auf Milo? Hasste sie ihn oder liebte sie ihn immer noch? Sie dachte an die arme Alte Mühle, um die sich jetzt keiner kümmerte, die bald in fremde Hände übergehen würde, und sie dachte an ihre Sachen. Sie hatte Milo gebeten, sie einzulagern, weil sie sie nur an ihn erinnern würden. Also war doch noch etwas von ihrer Liebe zu ihm da. Nach allem, was sie mitgemacht hatte, ein Rest Liebe. 

Eine Woche später kam ein Paket mit ihren Malsachen und den Skizzenbüchern auf dem Hof an. Sie begann wieder zu zeichnen, größtenteils weil alle auf dem Hof sich irgendwie künstlerisch betätigten, sogar die Söhne von David und Carlotta: Sie zeichneten und malten, töpferten und bildhauerten. Sie zeichnete alles, was ihr vor die Augen kam. Sie zeichnete den Blick durch ihr Zimmerfenster, die Kontur von Feld und Hecke und welligen Hügeln, und die abendlichen Erlen mit den in den Wind geneigten Wipfeln. Sie zeichnete einen Stapel Bücher, eine Uhr und ein Knäuel von Strümpfen, das darauf wartete, gewaschen zu werden. Während sie auf dem Gemüsefeld arbeitete, beschäftigten sie Pläne, was sie am Abend zeichnen würde. 

Mitte März fuhr sie nach Tunbridge Wells, um ihre Bibliotheksbücher zurückzugeben. Auf dem Rückweg zum Auto sprang ihr die Schlagzeile an einem Zeitungskiosk ins Auge. Sie kaufte das Blatt und las es im Wagen. Die Deutschen waren in die wehrlose ›Rest-Tschechei‹ einmarschiert. Das Münchner Abkommen, im vorangegangenen September mit Hitler geschlossen und als Friedensgarantie gedacht, war gebrochen. Die Tschechoslowakei existierte nicht mehr. 

An einem sonnigen Samstagnachmittag saßen Freddie und Max in Liegestühlen im St. James’s Park, aßen Eis und hörten der Kapelle zu.  

»Jedes Mal, wenn ich Tessa schreibe«, bemerkte Freddie, »frage ich, wann sie wieder nach Hause kommt.« 

Max schälte sein Eis aus dem Papier und klemmte es zwischen zwei Waffeln. »Und was antwortet sie?« 

»Meistens nichts. Sie geht gar nicht darauf ein. Das ist der Nachteil von Briefen, man kann alles ignorieren, was der andere geschrieben hat.« 

»Wo ist sie jetzt? Immer noch in Bologna?« 

Freddie schüttelte den Kopf. »In Florenz. Sie hat vor, mindestens den Sommer über dortzubleiben. Sie arbeitet in einem Modegeschäft.« 

»Tessa hatte immer ihren eigenen Kopf. Wenn sie nicht nach England zurückkommen will, dann kommt sie auch nicht. Ich würde sagen, lass sie einfach, lass sie ihr eigenes Leben führen, aber …« 

»Aber was?« 

»Ach, diese Briten machen mich einfach wütend. Sie scheinen seit Jahren zu glauben, dass der Krieg dann ausbrechen wird, wenn es ihnen passt. Aber langsam wachen die Leute anscheinend auf. Chamberlain hat offenbar die Illusion aufgegeben, dass Hitler und Mussolini sich benehmen werden, wenn man höflich mit ihnen spricht. Ich fürchte, Tessa bleibt nicht mehr viel Zeit, wenn sie vor Kriegsausbruch nach England zurückkehren will.« 

Freddie war deprimiert. »Das habe ich ihr alles schon vorgehalten. Ich habe ihr geschrieben, dass es ein Risiko für sie ist, in Italien zu bleiben, und sie nicht einfach so tun kann, als existierte die Gefahr nicht. Sie hat mir geantwortet, sie sei lieber in Italien in Gefahr als in England in Sicherheit. Und außerdem sei sie, wenn es wirklich Krieg geben sollte, in Florenz wahrscheinlich besser aufgehoben als ich in London. Wegen der Bomben, verstehst du. Sie könnte recht haben.« 

»Wenn Deutschland uns den Krieg erklärt und Italien aufseiten der Deutschen in den Krieg eintritt, würde Tessa dort zur feindlichen Ausländerin werden. Das ist es, was mir Sorge bereitet.« 

Freddie sah ihn scharf an. »Fürchtest du das auch für dich, Max?« 

Max nahm seinen Fotoapparat und richtete ihn auf ein altes Paar, das etwas entfernt im Gras saß. Die Frau hatte einen Strohhut auf und der Mann hatte sich als Schutz vor der Sonne ein an den vier Zipfeln geknotetes Taschentuch über den Kopf gestülpt. 

Der Auslöser klickte. »Ja, manchmal fürchte ich das«, sagte er. »Mein schlimmster Albtraum wäre es, nach Deutschland zurückverfrachtet zu werden. Genau das fragen wir uns, wir Ausländer, wenn wir unter uns sind. Wenn es Krieg gibt, werden die Briten uns dann nach Deutschland zurückschicken?«  

»Wenn sie das versuchen, Max, verstecke ich dich in meinem Schrank. 

»Danke, Freddie.« Die Kapelle begann einen Marsch von Sousa zu spielen. »Etwas weniger Martialisches wäre mir lieber«, sagte Max stirnrunzelnd. »Am meisten beunruhigt mich, dass ich nicht sicher bin, ob es Tessa im Grunde nicht egal ist, ob sie lebt oder stirbt.« 

Freddie fröstelte trotz der Sonnenwärme. »So etwas darfst du nicht sagen. Mir ist es bestimmt nicht egal, und wenn Tessa nicht von selbst nach Hause kommt, fahre ich hin und hole sie.« 

»Ja?« Max lächelte. »Bravo! Aber warte nicht zu lange.« 

Er richtete seine Leica auf sie und stellte den Sucher ein. »Du hast Eis an der Nase. Nein, wisch es nicht ab, es sieht sehr niedlich aus.« 

Wenn Tessa nicht von selbst nach Hause kommt, fahre ich hin und hole sie. Was Freddie mehr oder weniger spontan dahingesagt hatte, war ihr schon länger im Kopf herumgegangen und wurde schließlich zum festen Entschluss. Tessa musste nach Hause kommen. Und da Tessa ihre schriftlichen Bitten, nach England zurückzukehren, nicht ernst nahm, würde sie, Freddie, eben nach Florenz reisen und sie zur Heimkehr zwingen müssen. 

Zuerst musste sie das nötige Geld zusammenbringen. Sie sparte an allen Ecken und Enden und stellte einen Rückzahlungsplan auf, den sie ihrer Arbeitgeberin, Miss Parrish, präsentierte. Wenn Miss Parrish sich dazu entschließen könnte, ihr einen Vorschuss auf ihr Gehalt zu geben, würde sie ihn diesem Plan gemäß zurückbezahlen. Miss Parrish fragte Freddie, ob ihr klar sei, dass so ein Unternehmen sich schwierig gestalten könnte. Auch wenn die italienische Bevölkerung vielleicht nicht feindlich gegen die Briten eingestellt sei, könne das bei den amtlichen Vertretern des Staats sehr wohl der Fall sein. Freddie versicherte, sie werde selbstverständlich vorsichtig sein und nichts Unvernünftiges tun, aber sie habe Erfahrung, sie sei in ihrer Kindheit in ganz Europa herumgereist und später in den Schulferien mit ihrer Schwester mehrmals im Ausland gewesen. Sie büffle jeden Abend Italienisch, um ihre eingerosteten Kenntnisse der Sprache aufzufrischen, und sitze stundenlang über Fahrplänen der Bahn- und Schiffslinien. Miss Parrish warf ihr einen scharfen Blick zu und sagte dann: »Ich würde mit der Bahn reisen. Das ist weit angenehmer, und man wird nicht seekrank.« Am 22. Mai unterzeichneten Deutschland und Italien in Berlin einen Bündnisvertrag, den sogenannten Stahlpakt, der militärische Zusammenarbeit und unbedingte gegenseitige Unterstützung im Kriegsfall vorsah. 

Am folgenden Tag sprach Freddie noch einmal mit Miss Parrish, die ihr daraufhin eine Woche freigab. Eine Woche – vier Tage für die Hin- und Rückreise, also nur gerade drei Tage, um Tessa zu überreden, nach Hause zu kommen. Freddie kaufte sich bei Thomas Cook and Son ihre Fahrkarte, packte einen Koffer und reiste am letzten Tag im Mai aus England ab. 

Der Zug zur Küste, die Überfahrt über den Kanal, dann wieder mit der Bahn weiter, von Dieppe nach Paris. Sie fuhr mit der Métro quer durch die Stadt und trat die lange Nachtreise durch das Herz Frankreichs und über die Alpen nach Turin an, wo sie, angespannt vor Müdigkeit und ungeduldiger Erwartung, aus dem Wagen stieg und an einem Stand am Bahnhof Obst kaufte und einen Kaffee trank. Eine Stunde später saß sie in einem langsameren Zug, der durch das flache Land Norditaliens nach Bologna puffte und weiter nach Florenz.  

Es war später Nachmittag, als sie in der Stadt ankam. Der Bahnhof Santa Maria Novella, ein imposanter neuer Bau aus Glas und Stein, war voller Menschen. Sie musste die Augen zusammenkneifen, als sie aus der Halle ins helle Sonnenlicht trat. Ihr war plötzlich bang. Sie hatte Tessa nicht geschrieben, dass sie kommen würde, ein Instinkt hatte ihr geraten, es nicht zu tun. Aber was, wenn Tessa die Stadt bereits verlassen hatte? 

Als sie über die Piazza und hinunter zum Arno ging, legten sich ihre Ängste allmählich. Jeder Schritt weckte eine Erinnerung. Auf diesem Bürgersteig war sie hingefallen und hatte sich das Knie aufgeschrammt, und Mama hatte die Wunde mit ihrem Taschentuch verbunden. Da, in dieser schmalen Straße, war die Bäckerei gewesen, wo sie immer die mit Pudding gefüllten cornetti gekauft hatten, die sie und Tessa so gern aßen. Am Arno stützte sie die Ellbogen auf die Uferbrüstung und blickte über das Wasser. Das weiche Licht der untergehenden Sonne warf einen goldenen Glanz auf die Terrakottadächer und ließ den Fluss leuchten wie ein breites seidenes Band. Es war, als wäre die Luft selbst von Goldstaub durchwoben. 

Nicht mehr lange, und sie würde wieder mit dem einzigen Menschen auf der Welt vereint sein, der ihre Erinnerungen und Erfahrungen teilte, der sie seit ihrer Geburt kannte, sie liebte und beschützte, über dieselben Dinge lachte wie sie und ohne zu fragen verstand, dass sie ihre Vergangenheit ein bisschen nachbessern musste, um sie in eine für Außenstehende annehmbare Form zu bringen. Und wenn im vergangenen Jahr die Rollen gewechselt hatten und es ihre Aufgabe gewesen war, Tessa zu beschützen, warum nicht? Zur Abwechslung war eben sie einmal an der Reihe gewesen. 

Auf der Südseite des Flusses schaute sie auf den Stadtplan, während sie durch ein Gewirr von Straßen und Gassen ging. Schwere eisenbeschlagene Portale unter steinernen Bögen waren in die dicken, teilweise mit politischen Parolen beschmierten Hausmauern eingelassen und klobige Eisengitter, in denen Spinnweben hingen, schützten die Fenster der unteren Geschosse. Über einer Tür war ein in Stein gehauenes Wappen zu bewundern und in einer Nische halb versteckt eine Statue der Jungfrau Maria. Sie kam an einem mächtigen Palazzo mit kunstvollen Malereien in Schwarz und Silber vorüber, der hochmütig auf sie herabzublicken schien, und in einem Schaufenster entzündete die Abendsonne blitzende bunte Lichter im facettierten Behang eines Kronleuchters. 

Von der Via Maggio bog sie in eine nur wenige Meter breite Gasse unter hohen Mauern ab, die Sonne und Hitze fernhielten. Am Ende der Gasse konnte sie den schwarzen Umriss einer Gestalt erkennen, die ihr entgegenkam. Sie strengte die Augen an. Es war eine Frau, groß und schlank, mit Einkaufstüten beladen. 

»Freddie?«, rief Tessa und stellte die Tüten hin. »Oh, Freddie, bist du es wirklich?« 

Tessa bewohnte zwei Zimmer über einem Antiquariat. Im kleineren standen ein schmales Bett und eine Kommode. Vom Fenster aus blickte man in einen Hof mit Mülltonnen, leeren Weinflaschen und einem verrosteten Kinderdreirad. Im größeren, das nach vorn hinausging, gab es einen offenen Kamin, ein Sofa, einen Sessel und einen kleinen Tisch. In der Ecke standen ein Ölofen und der Küchenschrank, in dem Tessa Nahrungsmittel und Geschirr aufbewahrte. Das Licht, das durch das Fenster zur Gasse einfiel, tauchte das Zimmer in blasses Ocker. 

Während Tessa das Abendessen bereitete, stellte sie eine Frage nach der anderen. Warum Freddie ihr nicht geschrieben habe, dass sie komme. Ob sie allein gereist sei. Und wie sie gereist sei. Was, dritter Klasse, die ganze Nacht im Sitzen? Ach, Freddie, du Arme, ich schenke dir gleich ein Glas Wein ein, das wirkt Wunder. Wie es allen gehe. Wie es Max und Ray und Julian gehe. 

In Freddies Schilderung wurde die Reise, die so strapaziös und manchmal beängstigend gewesen war, zum Abenteuer. Die Geschichte von ihrer Fahrt mit der Pariser Métro, wo ein Mann, der ihr im Wagen gegenübersaß, sie unaufhörlich angestarrt und die Bahnhofstreppe hinauf verfolgt hatte, als sie an der Gare de Bercy ausgestiegen war, wirkte jetzt eher komisch als bedrohlich, und die schlaflose Nacht im Zug, wo sie zwischen einem laut schnarchenden dicken Bauern und einer Frau gesessen hatte, die pausenlos brummelnd einen Rosenkranz durch ihre Finger laufen ließ, jetzt mehr skurril als nervenaufreibend. An der Grenze waren italienische Polizisten durch den Zug gegangen und hatten nach den Ausweisen gefragt; sie habe versucht, so jung wie möglich auszusehen, erzählte sie Tessa, kein Lippenstift und kein Puder, dafür eine Schleife im Haar, stell dir das vor. Als der Beamte sich ihren Pass ansah, hatte sie so getan, als würde sie gleich zu weinen anfangen, worauf er ihr den Kopf getätschelt hatte und weitergegangen war. 

»Tessa«, sagte sie, und Tessa merkte wohl am Ton der Stimme sofort, worum es ging, denn sie erwiderte: »Ich weiß, warum du hergekommen bist. Du willst mich nach England zurückholen, stimmt’s? Aber darüber wollen wir jetzt nicht reden. Das tun wir morgen, wenn du ausgeschlafen hast.« 

Als sie nach dem Essen auf dem Sofa saßen, konnte Freddie kaum die Augen offen halten. Erinnerungen an ihre Reise wirbelten durcheinander – es hatte keinen Sinn – Tessa packte sie in eine Decke – sie kuschelte sich hinein und schlief ein.  

Sie hatte drei Tage, um Tessa zur Einsicht zu bringen. 

Sie aßen in einer kleinen Trattoria in der Nähe des Ladens, in dem Tessa arbeitete, zu Mittag. An der Wand prangte ein verblasstes Fresko mit Wolken und kleinen Putten. Eine Gruppe Geschäftsleute in Nadelstreifenanzügen unterhielt sich angeregt an einem Tisch bei der Treppe. Hin und wieder warf der eine oder andere einen Blick zu Tessa und Freddie hinüber. 

»Es tut mir leid, dass ich so einfach verschwunden bin«, sagte Tessa. »Aber wenn ich dir etwas gesagt hätte, hättest du doch versucht, es mir auszureden.« 

»Ganz genau.« Freddie spießte eine Tomatenscheibe auf. »Du hattest das geplant, stimmt’s?«  

»Geplant nicht direkt, aber ich hatte daran gedacht. Und als ich in Menton war, war es entschieden.« 

Tessa trug ein anthrazitgraues Baumwollkleid mit weißem Pikee an Kragen und Manschetten. Es war ein billiges Fähnchen, dachte Freddie, das Tessa, das Mannequin, niemals angezogen hatte. Aber an ihr wirkte es schick. 

»Ich hatte ein ganz schlechtes Gewissen wegen Ray«, sagte Tessa. »Hat es ihn sehr getroffen?« 

»Das kann man wohl sagen. Aber er hat inzwischen eine Frau kennengelernt, die beim Heimatsender arbeitet. Sie hat eine wahnsinnig vornehme Stimme und sagt Sachen an wie, ›Und nun ein Konzert mit Stücken von Wagner und Brahms, gespielt vom Symphonieorchester der BBC‹. Du bist also nicht unersetzlich.« 

Tessa lächelte. »Das habe ich auch nie geglaubt.« 

»Du hast den Granatschmuck doch absichtlich zurückgelassen, oder?« 

»Ich habe ihn für dich dagelassen. Ich dachte, du würdest besser auf ihn aufpassen als ich. Ich passe oft nicht gut genug auf.« Tessas Lächeln war verschwunden. Sie sah Freddie an und sagte: »Ich musste weg. Kannst du das nicht verstehen?« 

»Ja, ich habe mich gefragt, ob London dich zu sehr an Angelo erinnert.« Na also, sie hatte den Namen gesagt, diese Brücke hatte überschritten werden müssen, auch wenn sie Tessa damit vielleicht in neue Unruhe stürzte. 

»Angelo ist hier, in meinem Herzen. Für immer.« Tessa drückte die Faust auf ihre Brust. »Ich bin nicht Angelos wegen aus London weggegangen«, sagte sie dann. »Ich bin wegen seines Vaters gegangen. Er hat nach Angelos Tod nicht einmal angerufen oder geschrieben. Nicht ein einziges Mal, Freddie. Ich konnte die Vorstellung nicht ertragen, dass ich ihm irgendwo an einer Straßenecke begegnen würde und wir uns nichts zu sagen hätten. Oder er irgendein kluges, taktvolles Sprüchlein von sich geben würde. Das wäre tödlich für mich. Das verstehst du doch, Freddie?« 

»Ich verstehe nur, dass er uns voneinander getrennt hat. Und dafür hasse ich ihn. Sag mir doch endlich, wer es ist.« 

»Warum? Damit du weißt, wen du hassen musst?« 

Ja, dachte Freddie, warum nicht? Laut sagte sie: »Ich würde ihm klarmachen, was er angerichtet hat.« 

»Sprichst du von Rache?« 

Wollte sie Rache? »Ich würde es ausgleichende Gerechtigkeit nennen«, entgegnete sie. 

»Und welchen Sinn sollte das haben?« 

» Ohne ihn wäre das alles nicht passiert. Ohne ihn wärst du jetzt nicht hier.« 

»Aber hier geht es mir besser, Freddie.« Tessa beugte sich über den Tisch und umfasste Freddies Hand. »Ich würde nicht sagen, dass ich glücklich bin, aber ich weiß, dass ich mich besser fühle. Ich habe gewusst, dass ich noch einmal ganz neu anfangen muss. In London wäre das unmöglich gewesen. Ich wäre immer Tessa Nicolson geblieben, die einmal schön und berühmt war, oder Tessa Nicolson, die ein uneheliches Kind gehabt hat. Oder die arme Tessa, die ihr Kind verloren hat.« 

Die Geschäftsleute lachten wiehernd. Einer von ihnen schaute Freddie an und hob sein Glas. 

Tessa sagte leise: »Hier weiß niemand von Angelo und dem Unfall, ich habe mit niemandem darüber gesprochen und werde es vielleicht auch nie tun. Ich habe ein Dach über dem Kopf, ich habe Arbeit und ich komme zurecht, Freddie. Sei mir also bitte nicht böse.« 

»Ich bin dir nicht böse.« Sie wandte sich ab, weil sie fürchtete, sie würde anfangen zu weinen. »Du fehlst mir nur so sehr.« 

»Du mir auch. Du fehlst mir immer.« Tessa lehnte sich zurück und sah Freddie lächelnd an. »Du kannst jederzeit hier bei mir bleiben. Überleg es dir.« 

»Max hat gesagt, wenn es Krieg gibt, giltst du hier als feindliche Ausländerin.« 

Dieses Gespräch konnten sie nur im Schutz von Tessas Wohnung führen. Freddie, die am Nachmittag, während Tessa arbeitete, durch die Stadt gebummelt war, hatte in den Straßen von Florenz eine Atmosphäre des Argwohns und der Bedrücktheit gespürt. Im gleißenden Mittagslicht waren die in den blauschwarzen Schatten der Loggien und Gassen eingeschlossenen Erinnerungen an alte Feindschaften beinahe greifbar. 

»Ich spreche fließend Italienisch«, sagte Tessa. »Ich kann leicht als Italienierin durchgehen.« 

»Aber dein Pass –« 

»Ich schaffe das schon, Freddie. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen.« 

»Ich habe aber Angst. Ich habe Angst, dass du gar nicht erkennst, wie schwierig es für dich werden kann. Dass du nicht verstehst –« Sie brach ab, als sie Tessas Gesicht sah. 

Tessa arbeitete an einer Änderung an einem Kleid aus dem Laden, in dem sie beschäftigt war. Sie schnitt ein Fädchen ab, dann meinte sie: »Würdest du mir mal sagen, was schlimmer sein soll als das, was mir schon passiert ist?« 

»Ich wollte nicht –« 

»Doch, wolltest du. Du hast Angst, dass ich nicht auf mich selbst achten kann. Du hast Angst, dass ich nur aus einer Laune heraus hierhergekommen bin, ohne mir alles richtig zu überlegen. Habe ich recht?« 

»Nein.« Freddie blickte auf ihre Hände hinunter. Sie dachte an das, was Max an jenem Tag im Park zu ihr gesagt hatte. »Ich habe Angst, dass dir alles egal ist«, sagte sie leise. 

Tessa legte Nadel und Faden aus der Hand. »Ja, so war es lange Zeit, das ist wahr. Ich habe mir nur noch gewünscht, ich wäre mit Angelo zusammen gestorben.« 

Freddie wagte kaum, die Frage zu stellen: »Und jetzt?« 

»Ab und zu kommt es vor, dass mich etwas freut. Ich sitze auf der Piazza und spüre die Sonne in meinem Gesicht. Ich höre die Leute auf dem Markt miteinander reden, und eine Weile bin ich froh, dabei zu sein. Ich habe mir hier ein eigenes Leben geschaffen. Es ist ein kleines Leben, nicht zu vergleichen mit dem, das ich mir früher gewünscht habe, aber es passt mir. Ich habe Freunde, italienische Freunde, die mir im Notfall helfen würden. Wenn ich nicht hierbleiben kann, gehe ich aufs Land und verschwinde irgendwo in den Bergen.« 

Freddie war es zu heiß in dem kleinen Zimmer. Schweiß rann ihr den Nacken hinunter, und die Schultern, die sie sich bei ihrem langen Spaziergang in der Sonne verbrannt hatte, taten weh. »Wenn du hierbleibst«, sagte sie, »werde ich ständig Angst um dich haben. Wenn es Krieg gibt, werde ich Angst um dich haben. Ich werde jeden Tag um dich Angst haben.« 

»Das tut mir leid«, sagte Tessa sanft. »Das tut mir wirklich leid.« 

Sie nahmen einen Bus nach Fiesole. Die Straße wand sich den Hügelhang hinauf; Bougainvilleen und Oleander überzogen die hohen Mauern, hinter denen die Villen der Reichen standen. Auf dem Hauptplatz stiegen sie aus und gingen zu Fuß aus dem kleinen Ort hinaus zur Villa Millefiore, wo sie damals bei Mrs. Hamilton gewohnt hatten. 

Die Türen der Villa waren verschlossen, die Fensterläden vorgelegt. Auf einer Seite des Hauses führte ein schmaler, von Brennnessel und Winden überwachsener Fußweg am Park entlang abwärts. Sie gingen hintereinander, Tessa mit einem Stock voraus, um das hohe Unkraut auseinanderzuhalten. 

Die letzten Bäume zu beiden Seiten blieben zurück, und die Sonne brannte mit ihrer ganzen Glut auf den Weg. Sie zwängten sich durch eine Lücke im Eisengitter und gelangten in ein Lorbeerwäldchen. Das dunkle, ledrige Laub der hohen Büsche bildete ein Dach über ihnen, durch das Lichtsprenkel einfielen, und die bittere Würze des Lorbeers mischte sich mit dem staubigen Geruch ausgetrockneter Erde. Winzige graue Falter stiegen wie abgerissene Spinnwebfäden aus den Büschen. 

Hier im Lorbeerwäldchen, erinnerte sich Freddie, hatte Faustina Zanetti ihre alte Puppe begraben, und sie hatten sie trotz unermüdlicher Suche nie wiedergefunden. Lag sie immer noch hier, die porzellanblauen Augen auf ewig geschlossen, das gelbe Haar von Erde geschwärzt? Hinter dem Lorbeer war ein Stechpalmenwald. Runzlige braune Blätter bedeckten den Boden, und die stacheligen Äste griffen nach Ärmeln und Säumen. 

Aus dem Wald traten sie in den Park. Freddie sah blinzelnd in die Sonne. Die Kieswege waren von Gräsern und Unkräutern überwuchert. Die Arme auf die Mauer am Wasserbecken gestützt, sah Freddie in die tiefe, dunkle Schale hinunter. Es roch nach Fäulnis, und auf dem schlammigen grünen Wasser tief unten schwirrten Fliegen. Das Meeresungeheuer, von Girlanden aus khakibraunen Fadenalgen bedeckt, blickte, auf seiner Insel gefangen, grimmig auf sie herab. 

»Ich bin so gern hier geschwommen«, sagte Freddie. »Wir haben immer ausprobiert, wer am längsten den Atem anhalten kann. Weißt du noch?« 

»Guido. Guido war immer der Beste.« Tessa streckte sich rücklings auf der Mauer aus und gab sich, die Augen von einer dunklen Brille geschützt, der Sonne hin. 

Freddie erinnerte sich an Nachmittage an diesem Becken: Sonne, Hitze und die Zanetti-Jungen, Guido und Sandro, wie sie mit sonnenbraunen Armen das Wasser durchschnitten. Guidos dunkler Kopf, glatt und tropfend. 

Sie warf einen kleinen Stein ins Becken. »Glaubst du, es war schwierig für Mama, hier zu leben? Ich meine, es war ja nicht ihr Haus.« 

»Nicht sobald sie Domenico hatte.« 

Noch ein Steinchen – ein sanftes Platschen, ein Echo. »Ich habe Domenico gern gemocht«, sagte Freddie. »Er war viel netter als Mamas andere Liebhaber.« 

»Viel netter als Vater«, fügte Tessa hinzu. 

»Ich erinnere mich kaum an ihn. Manchmal hat er mir abends eine Geschichte vorgelesen.« 

»Ich weiß noch, wie er einmal einen Stuhl durchs Fenster geschmissen hat. Und Mama sich an der Hand geschnitten hat, als sie die Glasscherben aufsammelte.« Tessas Gesicht war der Sonne zugewandt, und als sie sich das Haar aus der Stirn strich, sah Freddie die zackige Narbe. »Wenn sie sich gestritten haben, dachte ich immer, es wäre meine Schuld, ich wäre nicht brav genug gewesen.« 

»Mama hat mir einmal erzählt, als sie Vater das erste Mal sah, habe sie gefunden, er sehe aus wie ein Seeräuber.« Freddie warf noch ein Steinchen ins Wasser. »Ich habe sie damals gefragt, warum sie jemanden heiraten wollte, der wie ein Seeräuber aussah.« 

»Als ich Angelos Vater das erste Mal begegnete«, sagte Tessa nachdenklich, »war er interessant und beim zweiten Mal amüsant. Beim dritten Mal habe ich mich in ihn verliebt.« Sie hob den Kopf mit den schwarzen Gläsern über den Augen, um Freddie anzusehen. »Man hat keine Wahl, Freddie. Es passiert einfach.« 

Freddie glaubte ihr das nicht. Sie vermutete, um sich zu verlieben, musste man es wollen, wenigstens ein bisschen. Es passierte einem nicht einfach wie ein Stolpern über den Bordstein – und selbst das konnte man vermeiden, wenn man achtgab. 

Du kannst jederzeit hier bei mir bleiben. Überleg es dir. Wenn Tessa nicht nach London zurückkam, würde sie eben bei Tessa in Florenz bleiben. Sie würden zusammen in den zwei Zimmer über dem Antiquariat wohnen, und sie würde sich, sobald ihr Italienisch gut genug war, eine Anstellung in einem Geschäft oder vielleicht einem Büro suchen. Abends würden sie im ockerfarbenen Licht in Tessas Zimmer zusammen essen. Sie würde sich daran gewöhnen, und nach einiger Zeit würde sie auch keinen Sonnenbrand mehr bekommen. 

Aber irgendwie war ihr nicht wohl dabei. Sie mochte es drehen und wenden, wie sie wollte, es überzeugte nicht. 

Die Wände der englischen Tea-Rooms waren voll mit politischen Schmierereien, und die Hotels, die Edens, Bristols und Britannias, hatten auf einmal neue Namen, italienische Namen. Die meisten Angehörigen der englischen Kolonie waren aus der Stadt geflüchtet, plötzlich gar nicht mehr gern gesehen und umworben wie früher. Manche von ihnen hatten Jahrzehnte in Florenz gelebt.  

Freddie konnte nicht richtig beurteilen, wie sehr Florenz sich verändert hatte, ihre Erinnerungen an die Stadt waren zu lückenhaft. Sie bestanden vor allem aus Momentaufnahmen und einzelnen Vignetten. Sie war ein Kind gewesen, als sie mit Tessa, ihrer Mutter und Mrs. Hamilton hier gelebt hatte, und ihr waren Dinge aufgefallen, die einem Kind auffallen. Vielleicht war das der springende Punkt. Sie war kein Kind mehr. Sie hatte ein Zuhause und Freunde und eine Arbeit, die ihr fehlen würden, wenn sie bei Tessa in Florenz blieb. Sie brauchte einen festen Ort, an den sie gehörte, sie war anders als Tessa, sie schwirrte nicht gern in der Weltgeschichte herum und hatte längst gelernt, sich überall einzufügen. Sie hatte nie um Aufmerksamkeit gebuhlt und verstand bis heute nicht recht, warum manche Menschen unbedingt aus dem Rahmen fallen und anders sein wollten. Sie fühlte mit denen, die anders waren, ohne es zu wollen – das Mädchen in der Schule zum Beispiel, das nach einem schlecht verheilten Beinbruch hinkte, oder die Frauen, die Briefe an Miss Parrishs Zeitschrift schrieben, lauter Frauen, an den Rand der Gesellschaft gedrängt, weil sie das Pech gehabt hatten, zu einer Zeit erwachsen zu werden, als der Krieg die Männer tötete, die ihre Ehemänner hätten werden können. Aber warum das Anderssein bewusst kultivieren? Sie sah keinen Sinn darin. Man konnte sich seine geistige Eigenständigkeit und innere Unabhängigkeit bewahren, ohne sich nach außen besonders von den anderen abzuheben. 

Mama war anders gewesen, und was hatte es ihr gebracht? Tessa war anders, aber ohne es darauf anzulegen, es war ein Teil ihrer Natur, und sie hatte deswegen gelitten. Tessa konnte sich von dem Leben in dieser Stadt vielleicht mitnehmen lassen – Tessa war immer weltoffen und abenteuerfreudig gewesen, ein exotischer Zugvogel –, sie, Freddie, konnte es nicht. Ihre helle Haut vertrug die Sonne nicht, die Hitze ermattete sie. 

Sie war Engländerin, war, ohne es zu merken, in den Jahren auf der Schule und in London zur Engländerin geworden, und deshalb würde sie, ganz gleich, was sie davon hielt, ganz gleich, was geschah und ob mit oder ohne Tessa, zurückfahren. Das hatte sie in den Tagen ihres Aufenthalts in Florenz erkannt – dass England ihre Heimat war, so wie Italien Tessas Heimat war, die sie nicht verlassen würde, ganz gleich, was Freddie sagte oder tat.  

Vor dem Bahnhof fuhren Autos vor, denen Beamte in Uniform und Geschäftsleute in schwarzen Anzügen und Hüten entstiegen, Männer mit den scharf gebogenen Nasen und den schmalen Lippen von Medici-Fürsten, die gelangweilt dastanden und warteten, während ihre Chauffeure und Sekretäre das Gepäck aus dem Wagen holten. Menschenmengen strömten in die Schalterhalle, Soldaten und Schulkinder, von Nonnen begleitet, Mütter, die ihre Kleinen in Kinderwägen über den glänzenden schwarzen Marmorboden schoben.  

Freddie, die nie gern zu spät kam, hatte so gehetzt, dass sie viel zu früh am Bahnhof waren. 

»Lass mich deine Karte doch umtauschen und dir einen Platz im Schlafwagen besorgen«, sagte Tessa. »Du kannst doch nicht die ganze Fahrt nach Paris sitzen.« 

»Nein, danke«, lehnte Freddie ab. »Lieb von dir, aber es macht mir nichts aus. Wirklich nicht.« 

»Hast du etwas zu lesen für die Reise – eine Zeitschrift?« 

»Ich brauche keine. Ich habe ein Buch. Außerdem sind sie sowieso alle auf Italienisch. Ich brauche nichts.« 

»Nein.« Tessa sah sie lächelnd an. »Natürlich nicht.« 

Freddie war dem Weinen nahe. »Doch, ich brauche dich 

Tessa nickte. »Ich weiß, Schatz.« 

»Du musst gehen.« Freddie schaute zur Bahnhofsuhr hinauf. »Der Laden –« 

»Zum Teufel mit dem Laden. Dann komme ich eben zu spät.« 

»Nein, Tessa. Geh lieber.« Freddie versuchte zu lächeln. »Sonst fange ich noch an zu heulen.« 

Tessa nickte rasch. Dann umarmten sie sich und hielten einander fest. 

»Du kommst zurecht?«, fragte Tessa. 

»Das weißt du doch.« 

»Schreib mir, Freddie.« 

»Versprochen. Aber du mir auch, Tessa. Oft«, sagte sie heftig. 

Dann ging Tessa. Die Soldaten und die reichen Männer mit ihrem Gefolge machten ihr Platz. Minutenlang stand Freddie wie erstarrt, dann drängte sie sich, von dem heftigen Verlangen ergriffen, einen letzten Blick auf ihre Schwester zu werfen, durch das Menschengewühl zum Ausgang und auf den Bahnhofsplatz hinaus. Und da war Tessa, die in ihrem laubgrünen Kleid den Bürgersteig entlangging und mit schnellem Schritt die Straße überquerte. Das letzte Bild, das für immer in ihrem Gedächtnis eingeschlossen sein würde. Dann bog Tessa in eine Seitenstraße ab und war verschwunden.