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Am letzten Tag des Sommerhalbjahrs nahm Freddie nachmittags den Zug von Oxford nach London. Sie hatte Miss Fainlight versichert, dass Tessa sie am Bahnhof Paddington abholen würde, aber als Tessa nicht auf dem Bahnsteig stand, wunderte sie das nicht weiter. Sie tauchte einfach allein in die miefigen Tiefen der Untergrundbahn hinunter. 

Sie fuhr mit der Hammersmith-and-City-Linie bis Moorgate und stieg dort in die Great Northern and City Railway um. Ihren kleinen Koffer zu Füßen saß sie da, wiegte sich mit dem Schlenkern des ratternden Waggons und genoss es, aus der Schuluniform heraus zu sein und sechs Wochen Ferien vor sich zu haben. 

Freddie war gern in London. Ihr gefielen die Robustheit und die Zielstrebigkeit, die sie in der Stadt spürte, und sie liebte es, sich vorzustellen, wie viel Aufregendes und Interessantes sich hinter den schmutzigen Häuserfassaden abspielte. Sie genoss den Gegensatz zwischen ihrem Londoner Leben und ihrem Schulalltag. In der Schule war der Tag bis ins Kleinste aufgeteilt, jede Stunde mit irgendeiner Aufgabe gefüllt. In London war ihr Tagesablauf ohne feste Struktur und nie vorhersehbar, nahm oft überraschende Wendungen. Jede dieser beiden unterschiedlichen Lebensweisen entsprach einem Teil von ihr und sie hielt sie streng getrennt. 

Vom U-Bahnhof aus ging Freddie am Highbury Place entlang zu dem imposanten roten Backsteinbau mit den herrschaftlichen Wohnungen, von denen Tessa eine gemietet hatte. Der Portier, der sie im Foyer begrüßte, erbot sich, ihren Koffer nach oben zu bringen. Freddie schlug das Angebot lächelnd aus, der Koffer sei überhaupt nicht schwer, worauf der Portier sich damit begnügte, ihr die Aufzugtür zu öffnen. 

In der zweiten Etage angekommen, betrat sie die Wohnung. Sie wusste sofort, dass Tessa nicht da war. Man spürte es immer, wenn Tessa zu Hause war; Freddie fragte sich manchmal, ob sie irgendwie die Luft in Schwingungen versetzte. Im Flur stellte sie den Koffer ab und schaute sich um. Die Wohnung war ordentlich aufgeräumt, also musste das Mädchen am Morgen da gewesen sein. 

Ihr Zimmer war so, wie sie es verlassen hatte, als sie zu Beginn des Halbjahrs in die Schule zurückgekehrt war. Tessa hatte ihr versprochen, dass niemand außer ihr das Zimmer je würde benützen dürfen. 

Nach einigem Kramen in der Küche fand Freddie einen Laib Brot und ein Glas Erdbeermarmelade und strich sich ein Brot. Tessa aß wie ein Spatz, hielt sich praktisch nur mit Kräckern, Trauben und Käsehäppchen am Leben, aber für Freunde hatte sie Gott sei Dank immer etwas in der Speisekammer. Tessa hatte Taillenweite 56, Freddie nur knapp drei Zentimeter mehr, was nicht schlecht war, fand sie, wenn man bedachte, dass sie aß, was ihr unter die Finger kam. Sie war in letzter Zeit sehr gewachsen, vielleicht setzte der Brotpudding, mit dem sie in der Schule vollgestopft wurden, deshalb nicht an. 

Vorsichtig, damit keine Marmelade auf den weißen Teppich tropfte, streifte Freddie durch die Wohnung, um sich wieder mit ihr vertraut zu machen. An den Wänden im Wohnzimmer hingen ein paar neue Fotos von Tessa in eleganten Kleidern und extravaganten Hüten. Auf einem stand sie in einem Teich, auf einem anderen streichelte sie, ganz in Schwarz und Weiß gekleidet, ein Zebra. In der rechten unteren Ecke des Zebrafotos stand: ›In tiefer Verehrung für einen strahlenden Stern, Max Fischer‹. Auf dem Kaminsims lagen mehrere Ansichtskarten, die Freddie ungeniert herumdrehte und las. ›Paris ist nicht dasselbe ohne Dich.‹ – ›Grauenvolle Stadt, es gießt in Strömen und das Hotel ist eine Zumutung.‹ Und, rätselhaft: ›Ich habe das Schachbrett gefunden.‹ 

Tessas Schlafzimmer war groß und hell und hatte ein Erkerfenster mit Blick auf eine von Platanen beschattete Straße. Freddie ließ sich auf das breite Doppelbett mit dem muschelförmigen Betthaupt fallen und seufzte genussvoll. Ein großer Teil ihres Lebens bestand aus der Sehnsucht nach Dingen, die sie nicht haben konnte: leckeres Essen, schöne Kleider, Champagner, Zigaretten, Fahrten in einem Sportwagen. Sie hatte auch andere Sehnsüchte, die sie nicht einmal in Worte fassen konnte, die ihr aber hin und wieder im Text eines Liedes oder in einer Passage eines Romans treffend zusammengefasst schienen. 

Ihr Blick fiel auf ein Päckchen auf dem Toilettentisch, und sie glitt vom Bett. Neben dem Päckchen lagen, von einer goldenen Puderdose beschwert, eine Fünf-Pfund-Note und ein gefaltetes Blatt Papier, auf dem ›Freddie‹ stand.  

›Schatz, wärst du so lieb und würdest das für mich abgeben?‹, hatte Tessa geschrieben. ›Das Geld ist fürs Taxi. Gib das Päckchen nur Julian persönlich.‹ Das letzte Wort war dreifach unterstrichen. ›Komm dann nach ins Ritz, wir sind dort zum Tee. Kann es kaum erwarten‹ – wiederum mehrfach unterstrichen – ›dich zu sehen.‹ 

Das Päckchen war an Julian Lawrence adressiert. Als Freddie es schüttelte, hörte sie es leise klappern. 

Sie trat vor Tessas Schrank und begann, die Bügel auf der langen Kleiderstange herumzuschieben. Tessa hätte nichts dagegen gehabt – Tessa lieh ihr immer ihre Sachen. Freddie entschied sich für ein enges Kleid mit Jäckchen aus schwarzem Baumwollsatin mit cremefarbenen Seidenborten. Sie legte ihr gelb-weiß kariertes Trägerkleid ab und zog das schwarze Ensemble über ihren dunkelblauen Schlüpfer, den weißen Büstenhalter und das weiße Hemdchen. Dann noch Seidenstrümpfe und ein Paar schicke hochhackige italienische Pumps.  

Sie setzte sich an den Toilettentisch. Glattes dunkles Haar umrahmte, halblang und seitlich gescheitelt, ihr sehr hellhäutiges Gesicht mit den dunkelbraunen Augen. Sorgfältig malte sie sich die Lippen und legte Puder auf. Sie musterte ihr Spiegelbild. Sie neigte dazu, das Kinn vorzuschieben und die Brauen zu runzeln, wenn sie angestrengt nachdachte, so wie jetzt. Sie entspannte ihre Züge, machte einen kleinen Flunsch und versuchte einen Augenaufschlag. Viel besser. Keine Spur mehr von dem Schulmädchen, sie sah gleich älter aus und erfahrener. War sie hübsch? Ja, eigentlich schon, dachte sie. 

Sie verstaute den Geldschein und das Päckchen in einer Lackledertasche und verließ, ausgerüstet mit einem Schirm, weil es draußen regnete, schließlich die Wohnung. 

Unten winkte der Portier einem Taxi und nannte dem Chauffeur die Adresse in Kensington, die auf dem Päckchen angegeben war. Dort angekommen bat Freddie den Taxichauffeur zu warten und trat in einen kleinen Vorgarten mit einem ausladenden Sommerflieder, von dessen dunkellila Blütenrispen der Regen tropfte. Neben der Haustür war ein Klingelschild mit vier Namen. Sie läutete bei ›Lawrence‹. 

Die Tür wurde geöffnet. 

Julian Lawrence war jung, sah gut aus und wirkte verschlafen. Das weiße Hemd über der grauen Hose stand am Hals offen, sein schwarzes Haar war zerzaust. 

»Ich bin Frederica Nicolson«, sagte Freddie. »Wir sind uns schon einmal begegnet, im Tearoom bei Fortnum and Mason’s.« Sie hielt ihm das Päckchen hin. »Tessa hat mich gebeten, Ihnen das zu geben.« 

Mit misstrauischem Blick riss Julian das braune Papier auf und zog eine Perlenschnur heraus. »Herrgott noch mal«, sagte er ärgerlich. »Die will ich nicht haben. Hier, nehmen Sie sie wieder.« 

Er schleuderte Freddie die Perlen entgegen. 

Sie trat einen Schritt zurück. »Nein, Sie müssen sie nehmen, Mr. Lawrence. Tessa will es so.« 

Wütend schmiss er die Perlen und das zerdrückte braune Papier in den Sommerflieder. Dann ließ er sich auf die Türschwelle hinunterfallen und hielt sich stöhnend mit beiden Händen den Kopf. 

»Wie konnte sie mir das antun? Wissen Sie, wo sie steckt? Ich versuche seit Tagen, mit ihr zu reden.« 

»Ich treffe sie jetzt gleich im Ritz.« 

»Ist das Ihr Taxi?« 

Freddie nickte. Julian Lawrence sprang auf. »Gut«, sagte er. »Ich komme mit. Gehen Sie nicht weg. Ich bin gleich wieder da.« 

Er lief ins Haus und kam wenige Minuten später im Jackett und mit einer Krawatte in der Hand zurück.  

»Die Perlen«, sagte sie, als er ihr voraus den Weg hinunterging. 

»Zum Teufel mit den Perlen.« Er riss die Taxitür auf, und sie fuhren los. Die Perlen blieb im Sommerflieder hängend wie Regentropfen zurück. 

Auf der Fahrt nach Mayfair sprach er nur von Tessa. Von ihrer ersten Begegnung und ihrer kurzen Liebesbeziehung, von Tessas Schönheit und ihrer Grausamkeit. Freddie wollte ihm erklären, dass es niemals Tessas Absicht war, grausam zu sein, dass sie der Welt immer nur die Seite von sich zeigte, die sie gerade zeigen wollte, ihr Innerstes jedoch vor den meisten Menschen verbarg – aber was hätte es genützt? Das war Tessas Angelegenheit und außerdem würde es, so wie sie ihn beurteilte, völlig sinnlos sein. Sie fragte ihn stattdessen nach seiner Familie und seiner Arbeit und erfuhr, dass er aus Kent kam, gegenwärtig als Privatsekretär bei einem Industriekapitän beschäftigt war und in seiner Freizeit Flugunterricht nahm. 

»Fliegen ist einfach phantastisch«, erklärte er begeistert und fragte dann, was sie denn so mache. »Im Ernst?«, rief er ungläubig, als sie verlegen gestand, dass sie noch zur Schule ging. »Ich hätte Sie auf mindestens zwanzig geschätzt.« Was sie höchst befriedigend fand. 

Im Ritz wurden Freddie und Julian zu Tessas Tisch geführt. Miss Nicolson sei noch nicht da, erklärte der Ober, aber ein paar von Tessas Freunden hatten sich schon eingefunden. Zwei Männer und eine Frau saßen am Tisch. Die Männer kannte Freddie, der eine war Raymond Leavington, groß und stattlich mit gebräuntem Gesicht und rotblondem Haar, das an den Schläfen zu ergrauen begann, der andere ein spanischer Lyriker namens Antonio, der bei Ausbruch des Bürgerkriegs aus seinem Heimatland geflohen war. Sie begrüßte sie. 

»Hallo, Kleine. Endlich aus dem Gefängnis frei, hm?« Raymond stand auf und umarmte sie. »Du siehst sehr hübsch aus, Freddie.« Sein Schnurrbart kitzelte sie, als er sie küsste.  

Raymond war Immobilienhändler, er hatte Tessa die Wohnung in Highbury besorgt. Er war eigentlich immer gut gelaunt, solange die Rede nicht auf seine Frauen kam. Er war zweimal geschieden, seine erste Verflossene hieß Harriet, die zweite Diana. 

Er machte Freddie und Julian mit der jungen Frau am Tisch bekannt, einer Tänzerin namens Bee, zierlich und dunkel, mit einem Gesicht, dachte Freddie, das hätte hässlich sein können, wäre es nicht so lebendig und intelligent gewesen.  

»Wo ist Tessa?«, wollte Julian sofort wissen. 

»Sie sagte, sie würde sich vielleicht verspäten.« Raymond schob Freddie die dreistöckige Etagere mit belegten Brötchen hin. »Lang zu. Champagner?« 

»Ja, bitte.« Sie wurde am 20. Juli siebzehn, in wenigen Tagen, und Tessa war nicht da, um Nein sagen zu können. 

Freddie aß von den Brötchen, trank Champagner und unterhielt sich mit Raymond über seine Geschäfte, während Antonio mit Bee flirtete und Julian finster und ungeduldig den Hoteleingang fixierte. Raymond bestellte noch einmal Brötchen und Gebäck und zur Feier von Freddies erstem Ferientag eine zweite Flasche Champagner. Freddie genoss die Gesellschaft der Erwachsenen und stellte sich vor, sie wäre reich wie Tessa und könnte jeden Tag Champagner zum Tee trinken. 

»Was macht die Schule?«, erkundigte sich Raymond. 

»Alles wie immer. Ich glaube, das gefällt mir am besten an der Schule, dass es immer dasselbe ist.« Freddie warf einen Blick auf die Hoteluhr. »Wenn jetzt Schule wäre, hätte ich gerade den Nachmittagsunterricht hinter mir und würde in unserem Haus Margarinebrote essen.« 

Raymond lachte. »Margarinebrote – in meiner Schule waren es Schmalzbrote. Komm, nimm ein Stück Kuchen, Freddie.« Seine Miene veränderte sich plötzlich. »O Gott, da ist Diana.« 

In einem smaragdgrünen Kostüm hielt Diana, Raymonds zweite Verflossene, quer durch den Tearoom schnurstracks auf sie zu. Freddie hatte den Eindruck, dass sie aus irgendeinem Grund ziemlich erbost war. Ohne Umschweife setzte sie sich neben Raymond und begann leise und gereizt auf ihn einzureden. Freddie wandte ihre Aufmerksamkeit dem Pianisten zu, der ›Let’s Face the Music and Dance‹ spielte, und sah der Frau am Nebentisch zu, wie sie ihren kleinen Mops mit Happen von ihrem Kuchen fütterte. 

Als Diana doch noch das Feld räumte, tupfte sich Raymond seufzend die Stirn, dann lächelte er plötzlich und sagte: »Da ist ja endlich unser Mädchen.« 

Tessa trug ein weißes Kleid mit Bolero und hatte das dunkelblonde, in der Mitte gescheitelte Haar an den Seiten zu zwei Gebilden hochgesteckt, die Freddie an Cremehörnchen erinnerten. Tessas winziges weißes Käppchen, seitlich an den Kopf gedrückt, schmückte eine Orchidee. 

»Hallo, ihr Lieben«, rief sie mit strahlendem Lächeln. »Es tut mir wirklich leid, dass ich mich verspätet habe.« Aber es hörte sich überhaupt nicht so an: Tessa verspätete sich regelmäßig, und es tat ihr nie auch nur im Geringsten leid. 

Julian sprang sofort auf und sagte: »Tessa, ich muss mit dir reden«, worauf Tessa mit leicht hochgezogenen Brauen kurz in Freddies Richtung blickte, um Begrüßung und genervte Entschuldigung zugleich anzudeuten. Julian fiel wild gestikulierend mit Klagen, »Ich kann das nicht länger ertragen«, und Vorwürfen, »Du scheinst überhaupt nicht zu merken, was du mir antust«, über Tessa her, aber nach einer Weile gelang es ihr, ihn so weit zu beruhigen, dass er nur noch dankbar lächelnd ihre Hand hielt. Freddie beobachtete die Szene interessiert, sie fragte sich oft genug, wie Tessa ihr kompliziertes Liebesleben im Griff behielt. 

Frischer Tee und frische Sandwiches. Tessa knabberte an einem Gurkenscheibchen. Eine halbe Stunde später fuhren die Schwestern in die Wohnung zurück, um sich für den Abend umzukleiden. Im Taxi erzählte Freddie von Tennisturnieren und ihren Prüfungen und Tessa schilderte den Verlauf der vergangenen Woche, die sie in New York verbracht hatte. Zu Hause angekommen, nahm zuerst die eine, dann die andere ein Bad, redend, immer redend, weil es so viel zu erzählen gab. Während Freddie sich die Zähne putzte, spielte Tessa ihr eine komische Szene vor, in der ein Mannequin sich bemühte, mit seinen Vorführkünsten eine schwierige Kundin zu überzeugen, wobei sie abwechselnd das Mannequin und die Kundin gab. Freddie musste sich die Hand auf den Mund drücken vor Lachen, sonst hätte sie Zahnpasta gespien. 

Aber manchmal, es waren immer nur flüchtige Momente, bemerkte sie in Tessas Blick eine innere Abwesenheit, eine Müdigkeit und eine Verschlossenheit, die wie Rückzug wirkten. Sie hatte den Eindruck, dass sich in den sechs Wochen, seit sie sich das letzte Mal gesehen hatten, etwas verändert hatte. Sie fragte nicht, sie wusste, dass Tessa ihr entweder von selbst oder eben gar nicht sagen würde, was sie beschäftigte. Tessa mit Fragen zu bestürmen und zu drängen, war immer schon sinnlos gewesen. 

Freddies Abendkleider passten alle nicht mehr, sie musste sich etwas von Tessa ausleihen, ein wunderschönes Kleid aus kaffeefarbener Spitze über cremeweißem Satin. Für sich wählte Tessa bronzefarbene Seide. Frisch geschminkt und gepudert warfen sie ihre Abendcapes über und stürzten sich in den jungen Abend.  

Sie trafen sich mit Freunden im Mirabelle zum Essen. Der kleinen Gesellschaft aus dem Ritz hatten sich noch Paddy Collison und einer seiner Freunde, Desmond Fitzgerald, mit seinen zwei blonden Schwestern zugesellt. Max Fischer, der Fotograf, kam etwas später, schlank und sehnig mit dunklem Haar und einem schmalen, beinahe eingefallenen Gesicht. Sehr interessant, fand Freddie. 

Julian sagte nur aufgebracht »Max« und sprang so hastig auf, dass sein Stuhl umkippte. Sofort kam ein Kellner angeschossen, um ihn wieder aufzustellen, während Julian theatralisch seine Serviette auf den Tisch knallte, dicht vor Max hintrat und fauchte: »Was zum Teufel haben Sie hier zu suchen?« 

»Ich hatte Lust, meine Freunde zu sehen. Sonst noch etwas?« 

Julian hob eine Faust. »Julian«, sagte Tessa sanft, und nach einem Moment des Zögerns ließ er die Faust sinken, zischte: »Ach, fahrt doch alle zur Hölle«, und rannte hinaus. 

»Ach Gott, junge Liebe. Wirklich rührend«, murmelte Raymond. 

Max ging einmal um den Tisch, um alle zu begrüßen, wobei er den Damen flüchtig die Hand küsste – die Tessas etwas weniger flüchtig. Als er bei Freddie ankam, sagte er: »Ah, Miss Nicolson, enchanté«, und neigte sich über ihre Hand. Als er den Kopf hob, bemerkte Freddie das amüsierte Glitzern in seinen dunklen Augen. »Die Schwestern Nicolson beim Diner im Mirabelle«, sagte er. »Hört sich doch an wie ein John-Singer-Sargent-Gemälde, nicht?« 

Freddie fielen die Fotografien in Tessas Wohnung ein. »Warum haben Sie Tessa eigentlich mit einem Zebra fotografiert, Max?« 

»Weil ich ein Surrealist bin und Surrealisten so was tun.« Er setzte sich neben sie auf den Platz, den Julian Lawrence frei gemacht hatte.  

In der folgenden halben Stunde unterhielten sich Max und Freddie angeregt über die Schwierigkeiten einer Fotositzung mit einem Zebra und einer Python. Dann wandten sie sich den Theaterstücken zu, die gerade im West End gegeben wurden. »Lauter albernes, banales Zeug, das es nicht wert ist, dass Sie zwei Stunden Ihres Lebens daran verschwenden«, erklärte Max wegwerfend. »Ich schicke Ihnen Karten für eine Geschichte, die einer meiner Freunde gerade in einem Pub in Whitechapel inszeniert.« 

Nach dem Kaffee sagte Tessa: »Ich weiß nicht, wie es mit euch ist, aber ich habe große Lust, tanzen zu gehen.« 

Sie holten ihre Mäntel und Schirme und ließen sich vom Portier Taxis herbeiwinken. Freddie, die mit Max und Bee hinten saß, schaute zum Fenster hinaus. Es war dunkel geworden, und in den Regentropfen auf den Scheiben brachen sich schillernd die grellen Lichter von Piccadilly. Eine Gruppe junger Frauen in Regenmänteln und hohen Absätzen rannten lachend zu einem wartenden Bus, schimmernde verschwommene Gestalten in der Nacht.  

Die Tanzbar war in der Shaftesbury Avenue. Regenfeuchte Mäntel wurden an der Garderobe abgegeben, das Make-up wurde aufgefrischt. Die Musik – der heisere Ton einer Trompete und die silbrigen Arpeggios eines Klaviers – lockte sie hinein. Die Wände wirkten wie schwarz lackiert im Licht des riesigen Leuchters mit den goldenen Glastrichtern, der von der Decke hing. Ein Scheinwerfer tauchte die Band in Helligkeit, und auf den Tischen brannten Kerzen. 

Die Leute drehten die Köpfe, als Tessa den Raum betrat. Sie und die Freunde, dachte Freddie, waren ihr Gefolge, Tessa die Königin. 

Die Nacht verging zum klagenden Quäken des Saxofons, zum Wirbel bronzefarbener Seide und zu Tessas ausgelassenem Lachen, wenn sie den Quickstep tanzte. 

»Ich wollte, ich wäre älter«, sagte Freddie irgendwann in den frühen Morgenstunden zu Max. »Ich wollte, ich würde wirklich dazugehören anstatt mich immer irgendwie als Randfigur zu fühlen.« Sie hätte nicht präzise ausdrücken können, wozu genau sie gehören wollte – zu Tessas Freundeskreis, zu London, zur Welt der Erwachsenen vielleicht. Wahrscheinlich, dachte sie, hatte sie ein bisschen zu viel getrunken. 

Aber ihre Bewegungen, als sie später mit Antonio Tango tanzte, waren weich und fließend, jeder Schritt im Einklang mit der sinnlichen Musik. 

Antonio verbeugte sich mit einem frivolen kleinen Lächeln, als der Tanz zu Ende war, und küsste sie auf den Mund. Sein Schnauzer kratzte, aber wie aufregend, der erste Champagner und der erste Kuss, alles an einem Abend. 

Nicht lange danach fuhren sie nach Hause. Es hatte aufgehört zu regnen, in den nassen Pflastersteinen spiegelte sich das erste Morgenlicht, ein Milchwagen rollte langsam mit Zwischenstopp vor jeder Haustür die Straße entlang. Bilder zogen Freddie durch den Kopf, während das Taxi durch die stillen Straßen brauste – vom Sänger der Band, der sein Mikrofon so zärtlich gehalten hatte wie eine Geliebte – von dem Bettler in der Toreinfahrt – von den Perlen im dunklen Sommerflieder. Ob sie immer noch dort hingen? 

Im Aufzug gähnten sie beide, lächelten und sagten »Meine Füße!«, während sie aus den Schuhen schlüpften. 

Tessa sperrte die Wohnungstür auf. »Du hast dich amüsiert, Schatz, oder?« 

»Es war göttlich.« Freddie gähnte wieder. 

»Möchtest du noch etwas? Kakao – heiße Milch …?« 

»Nein, danke.« 

»Dann geh jetzt mal lieber schlafen.« 

»Und du?« 

Tessa hatte sich eine Zigarette angezündet. »Ich bleibe vielleicht noch ein bisschen auf.« 

»Tessa, was ist los?« 

»Wieso? Nichts. Gar nichts.« Tessa blickte rauchend zum Fenster hinaus. 

Freddie setzte sich aufs Sofa und zog die Beine hoch. »Ich bin kein kleines Kind mehr«, sagte sie.  

»Ich wollte dich nicht –« Tessa wedelte abwehrend mit den Händen. 

»Geht es dir nicht gut? Was hast du? Kopfweh? Oder hast du deine Tage?« 

»Schön wär’s.« Tessa lachte kurz auf. 

Freddie starrte sie an. »Oh!« Sie war plötzlich hellwach. »Oh, Tessa!« 

Tessa biss sich auf die Lippen. »Ich hoffte, es wäre blinder Alarm. Ich hatte das schon ein-, zweimal und bin immer mit dem Schrecken davongekommen.« 

»Aber diesmal nicht?« 

Tessa schüttelte den Kopf. »Nein, diesmal nicht.« Sie starrte ihre Zigarette an. »Widerliche Angewohnheit. Ich nehme mir dauernd vor aufzuhören.« Sie drückte die Zigarette in einem Aschenbecher aus. »Ich dachte schon daran, etwas zu tun – wegen der Schwangerschaft, meine ich. Eine Freundin hat mir jemanden genannt – mein Arzt hätte mir nie geholfen, der ist viel zu spießig –, aber dann …« 

Freddie hätte beinahe gesagt Etwas tun? Wie meinst du das? Dann begriff sie. Ihre Schwester hatte in ihrer Not erwogen, das Kind, das sie erwartete, einfach wegmachen zu lassen. 

»Ach, Tess, du Arme«, sagte sie. 

»Ich brauche dir nicht leid zu tun. Ich habe es mir selbst zuzuschreiben. Natürlich bemühe ich mich, vorsichtig zu sein, aber ich war offensichtlich nicht vorsichtig genug.« 

»Was willst du tun?« 

Tessas Lachen klang gepresst. »Ich werde in fünf Monaten ein Kind zur Welt bringen.« Sie verstummte einen Augenblick und schüttelte den Kopf. »Ich kann es mir nicht vorstellen. Es kommt mir so unwirklich vor.« 

»Ist es von Paddy?«, fragte Freddie und hoffte, dass das nicht stimmte. 

Tessa antwortete nicht. Sie stand mit hängenden Schultern, Freddie den Rücken zugekehrt. 

»Tessa!« 

Tessa drehte den Kopf. »Wer der Vater ist, sage ich nicht. Auch dir nicht, Freddie.« 

»Hast du es ihm gesagt?« 

»Nein.« 

»Aber das musst du, Tessa.« 

»Ich will nicht. Ich weiß nicht, was ich sagen soll.« 

Es bestürzte Freddie, ihre Schwester so ratlos zu sehen. »Heiratest du ihn?«, fragte sie. 

»Ganz bestimmt nicht. Die Frage stellt sich gar nicht.« Tessas Gesicht verschloss sich wieder. Sie wandte sich ab. »Ich schaffe das schon allein. Ich brauche niemanden.« 

»Du musste es nicht allein schaffen. Du hast immer noch mich. Ich helfe dir. Ich gehe von der Schule ab und helfe dir mit dem Baby.« 

»Nein«, entgegnete Tessa scharf. »Das will ich nicht. Aber danke dir, dass du es mir angeboten hast, Schatz, das ist lieb von dir.« Sie schien sich zusammenzuraffen. »Es wird alles gut, ich weiß es. Vielleicht macht es ja sogar Freude.« 

Tessa hatte eine weltfremde Seite, die Freddie manchmal erschreckte. »Tessa«, sagte sie, »auch wenn du es keinem Menschen verraten willst, dem Vater des Babys musst du es sagen.« 

»Findest du? O je.« Tessa seufzte. »Er wird überhaupt nicht erfreut sein, das weiß ich.« Sie krampfte die Hände ineinander. »Als ich sagte, dass sich die Frage gar nicht stellt, meinte ich, dass er nie Kinder haben wollte und auch jetzt keines haben will. Mit einem Kind hat er nie gerechnet.« 

»Du doch auch nicht.« 

»Bei Frauen ist es anders. Wir wissen doch immer, dass wir ein Risiko eingehen. Und wenn wir dieses Risiko nicht wollen, bleiben wir brave Mädchen und bewahren uns unsere Unschuld bis zum Hochzeitstag. Ich bin nie ein braves Mädchen gewesen.« 

Freddie fühlte sich flau. Das Essen im Mirabelle, vermutete sie, oder der Champagner. Vielleicht war der ganze Abend ein bisschen viel für sie gewesen, schwer zu verdauen.  

»Liebst du ihn?«, fragte sie neugierig. 

»Zu sehr wahrscheinlich.« Tessas Stimme klang müde. »Und ich habe Angst.« 

»Wovor?« 

»Dass das hier dazwischen kommt.« 

»Geht’s dir sehr schlecht?« 

»Im Moment ist es besser. Aber morgens kann ich mich kaum auf den Beinen halten vor Übelkeit.« Tessa zog die Nadeln aus den Cremehörnchen, und ihr Haar fiel in aschblonden Wellen auf ihre Schultern hinunter. 

Freddie hatte von Schwangerschaft und Geburt wenig Ahnung. In der Schule hatten sie nur die Vermehrung der Kaninchen durchgenommen, und auch die nur recht oberflächlich. 

»Ab wann kann man es sehen?« 

Tessa sah an sich hinunter. »Du denkst immer so praktisch, Schatz, aber wahrscheinlich sollte ich mir darüber auch mal Gedanken machen. Eine Kollegin hat mir gesagt, dass sie es bis zum Ende des sechsten Monats verheimlichen konnte. Und zur Not gibt es ja immer noch Mieder.« 

Eine Zeit lang saßen sie schweigend beieinander. Freddies Blick wanderte durch das Zimmer und verweilte einen Moment auf der schwarz-weiß gefliesten Umrandung des offenen Kamins, den Fotografien an den Wänden, der Uhr mit dem eleganten quadratischen Gehäuse. Es war kurz vor sieben Uhr morgens.  

»Du solltest jetzt wirklich schlafen gehen, Schatz«, sagte Tessa. »Es ist sehr spät.« 

In ihrem Zimmer hängte Freddie das kaffeefarbene Abendkleid auf einen Bügel. Im Bett nahm sie ein Buch zur Hand, aber sie konnte sich nicht auf ihre Lektüre konzentrieren. Sie knipste die Lampe aus und zog die Decke hoch. Es wird alles gut, ich weiß es. Es fiel ihr schwer, das zu glauben. 

Der Sommer nahm den gewohnten Verlauf. Anfang August reisten die Rycrofts nach Frankreich. Sie machten immer am selben Ort Urlaub, in einem kleinen Steinhaus im Département Lot, das einem Freund Milos aus Oxford gehörte. In diesem Jahr schien Milo ruhelos. Er stecke mitten in einem neuen Roman, hatte er vor ihrer Abreise aus England gemurrt; er wolle den Fluss jetzt nicht unterbrechen. In seinem Verhalten war ein Hauch von Vorwurf, der Rebecca ärgerte – als wäre er nur ihr zuliebe mit in den Urlaub gefahren. Sie schlug ihm vor, morgens zu arbeiten – sie würde außer Haus gehen, um ihn nicht zu stören, und seine Sekretärin, Miss Tyndall, könne alles abtippen, wenn sie nach England zurückkehrten. Gleich am nächsten Tag fuhr sie in dem angerosteten Citroën los, den Milos Freund ihnen zur Verfügung gestellt hatte, und verbrachte eine vergnügliche Stunde auf einem Dorfmarkt, wo sie Wurst und Käse einkaufte. Der Tag war warm und feucht. Nach den Einkäufen parkte sie das Auto unter dicht belaubten Bäumen, zog ihren Badeanzug an und schwamm im trägen grünen Wasser der Dordogne. Als sie nach Hause kam, saß Milo mit einem Glas Wein im Garten. Viel zu heiß, um zu arbeiten, sagte er, geschweige denn um zu denken. 

Sie kehrten schließlich eine Woche früher als geplant in die Alte Mühle zurück. Rebecca war es gar nicht so unrecht, sie wollten Anfang September zur Feier der Veröffentlichung von Milos neuem Buch, Der zerbrochene Regenbogen, ein Fest geben, das vorbereitet sein wollte, und der Garten machte ihr Sorge. Aber als sie auf der Überfahrt über den Kanal Seite an Seite an der Reling standen und die weißen Felsen aus dem blaugrünen Meer emporsteigen sahen, verdichteten sich die diffusen Ängste, die sie seit Monaten mit sich herumtrug. Misstrauen – ein leise raunendes Wort, das die Qualen, die es bedeutete, nicht ahnen ließ. Da war etwas in Milos Blick, das ihn verriet, ein Glanz aufgeregter Erwartung, etwas Selbstzufriedenes, Eitles und Verschwiegenes, ein Ausdruck, den er ausblendete, sobald er merkte, dass sie ihn ansah. In diesem Augenblick erklärte sich vieles – seine Stimmungsschwankungen vom Anfang des Jahres, dieser Wechsel von glücklicher Beschwingtheit und Zerfahrenheit, sein Widerwille gegen diesen Urlaub und seine Ungeduld, wieder nach Hause zu kommen. Er hatte eine Geliebte; sie war ganz sicher. 

Aber oft zerrann ihr diese Gewissheit zwischen den Fingern wie trockener Sand. Der zermürbende Wechsel zwischen Verdacht und Erleichterung rieb sie auf, machte sie müde und gereizt. Bei genauer Prüfung erschienen ihr die Beweise fadenscheinig. Ein scharfer Blick darauf und sie lösten sich in nichts auf. 

Das Gartenfest zur Feier der Veröffentlichung von Der zerbrochene Regenbogen fand in der zweiten Septemberwoche statt. Das Wetter war gnädig und durch die offene Terrassentür des Esszimmers, wo ein Streichquartett spielte, strömten die Klänge der Musik ins Freie hinaus. Gäste standen in Gruppen auf dem Rasen und auf der Terrasse. Rebecca trug ein weißes Leinenkleid, das mit großen blauen Mohnblumen bedruckt war. Zélie, bei der sie es gekauft hatte, hatte betont, dass nur eine große Frau es wagen könne, so ein Muster zu tragen.  

Toby Meade, einer der wenigen Freunde Rebeccas aus Studienzeiten, mit dem sie in Verbindung geblieben war, traf mit Verspätung ein. Toby, klein und dunkel, führte ein lockeres Bohemeleben in einer kleinen Mietwohnung in Chelsea. Es störte sie nicht, dass er ihr beim Begrüßungskuss den Po tätschelte, die kleinen Frechheiten, die er sich herausnahm, waren schon immer nur beiläufige Spielerei gewesen. 

Als sie ihm erzählte, dass Milos neuestes Buch sich glänzend verkaufte, sagte er unhöflich: »Zum Teufel mit Milo, ich hab mich für dich hier runtergeschleppt, nicht für Milo.« Was sie zu schätzen wusste. Dann sprachen sie über Tobys Arbeit und seine nächste Ausstellung. »Es ist eine Gemeinschaftsausstellung mit Michael Turner, diesem Schwachkopf«, berichtete Toby. »Aber wahrscheinlich besser als gar nichts. Du kommst doch, Becky? Du siehst aus, als könntest du mal einen Tapetenwechsel gebrauchen.« 

Rebecca griff sich mit beiden Händen ans Gesicht. »Sehe ich so schrecklich aus?« 

Er beruhigte sie sofort. Sie sei so schön wie eh und je, aber sie wirke – bedrückt, als belastete sie etwas. Ob sie mit Onkel Toby darüber reden wolle? 

Nein, das wollte sie nicht. Sie lenkte ihn ab – so ein Fest mache immer viel Arbeit, und morgen müsse sie mit Meriel zu ihrer Mutter zum Mittagessen, ihr graue davor. Toby, der ihrer Mutter vor Jahren einmal begegnet war, hatte Verständnis. Etwas später machte sie ihn mit einigen anderen Leuten bekannt, entschuldigte sich und eilte in die Küche. Im Flur blieb sie vor dem großen Spiegel stehen. Waren sie ihr wirklich vom Gesicht abzulesen, die Bedrücktheit und die innere Unruhe ? 

Nachdem sie den Musikern etwas zu trinken gebracht hatte, ging sie auf die Terrasse hinaus, und da sah sie die beiden: Milo und dieses junge Ding, Grace King. Sie standen im Schatten der Rotbuche. Grace King gestikulierte heftig und voller Leidenschaft. Milo legte eine Hand um ihren Ellbogen, und ihre wilden Bewegungen kamen zur Ruhe. Das blassblonde Haar fiel ihr über das Gesicht, als sie sich zu ihm neigte. In diesem Moment kam jemand über den Rasen auf die beiden zu und sie fuhren auseinander. 

Rebeccas Phantasie lieferte den Text zur Szene: Ich muss dich sehen – du weißt, wie sehr ich dich liebe – Vorsicht, da kommt jemand. Sie wandte sich ab. Sie bekam kaum Luft. Es war, als hätte er ihr das Herz abgedrückt. 

Milo hatte immer einen Sinn für die kleinen Gesten gehabt, die rote Rose, den in Seidenpapier gehüllten Ring auf dem Kopfkissen, die flüchtige Liebkosung. Rebecca hätte Grace King am liebsten das glatte Gesicht zerkratzt. 

Montag: Er kam erst spät aus Oxford zurück. So ein langweiliger alter Kerl, den er flüchtig kannte, habe ihn aufgehalten, als er auf dem Weg zum Wagen war, sagte er, und in ein endloses Gespräch verwickelt. Rebecca knallte ihm das kalt gewordene Abendessen auf den Tisch und ließ ihn allein sitzen. 

Mittwoch Abend: Milo war ewig mit dem Hund unterwegs. Rebecca quälte der Verdacht, dass er an der Telefonzelle haltgemacht und Grace King angerufen hatte. Als er nach Hause kam, fragte sie, wo er gewesen sein. 

»Herne Hill.« Er sah sie an. »Was hast du denn geglaubt, wo ich bin?« 

»Keine Ahnung. Woher soll ich das wissen?« 

»Ach, Herrgott noch mal.« Er warf Julias Leine über einen Garderobehaken und ging nach oben. 

Am Samstagabend aßen sie mit Charlie und Glyn. Hinterher spielten sie Bridge. Milo war in Hochform – amüsant, witzig, voller Charme. Sie fragte sich, ob er wusste, dass sie Bescheid wusste, ob er bemerkt hatte, dass sie ihn beobachtete, und großes Theater spielte. 

In den frühen Morgenstunden erwachte sie todunglücklich und voll Hass auf sich selbst. So weit war es also gekommen in ihrer Ehe mit dem Mann, der in all ihren gemeinsamen Jahren immer ihre große Liebe geblieben war: dass sie hinter jeder Geste, jedem Lächeln Falschheit und Heuchelei argwöhnte. 

Niedergeschlagenheit und Verzweiflung hielten den Tag über an. Sie hatte Kopfschmerzen und fühlte sich abgeschlagen; sie hatte bei den Masons zu viel getrunken. Da Mrs. Hobbs sonntags freihatte, aßen sie und Milo an diesem Tag abends immer nur eine Kleinigkeit und setzten sich dazu ins Wohnzimmer, wo sie die Zeitung lasen und Platten hörten. 

Das Telefon läutete, als Milo gerade das Grammophon aufzog. Er ging hin. Rebecca hörte, wie er abhob und sich meldete. Dann senkte er die Stimme. Sie stand auf und ging aus dem Zimmer. Der Hörer des Apparats draußen auf dem Flurtischchen war aufgelegt. Durch die Tür von Milos Arbeitszimmer hörte sie gedämpft seine Stimme. Er hatte den Anruf auf den Nebenanschluss gelegt. Rebecca horchte angestrengt, aber sie konnte nicht verstehen, was er sprach. 

Sie klopfte. »Möchtest du Kaffee, Milo?« 

Er machte auf. Sie sah, dass er den Hörer aufgelegt hatte. »Gern«, sagte er. 

»Wer war das?« 

»Nur einer meiner Studenten.« Er ging wieder in sein Arbeitszimmer. Sie sah, wie er sich über den Schreibtisch beugte und etwas aufschrieb. 

In der Küche setzte sie das Wasser auf und wartete, an den Spültisch gelehnt. Das Wetter hatte umgeschlagen, es war kälter geworden, und Regen fiel in dunklen Klecksen auf den Gartenweg. 

Milo hatte den Anruf im Flur entgegengenommen und sich dann in sein Arbeitszimmer zurückgezogen, um das Gespräch zu führen. Ich kenne dich, dachte sie. Ich weiß, dass du mich belügst. 

Milo war nie ein Frühaufsteher gewesen. Immer war Rebecca als Erste auf den Beinen, machte Tee für beide und trug ihn ins Schlafzimmer hinauf. Als sie an diesem Montag mit dem Tablett nach oben kam, war Milo schon im Bad. Sie hörte das Wasser rauschen. 

Sie schenkte den Tee ein und stellte ihm eine Tasse auf den Nachttisch.  

»Du bist früh auf«, sagte sie, als er wieder ins Zimmer kam. 

»Ich muss zum Zug.« Er frottierte sich die Haare. 

»Wohin fährst du?« 

»Nach London. Habe ich dir das nicht gesagt? Ich bin mit Roger zum Lunch verabredet. Es geht um die Gedichte.« 

Rebecca wurde sofort hellhörig. »Ich dachte, das wäre alles besprochen.« 

»Nicht ganz.« Er hatte den Morgenrock abgelegt und stand vor seinem Kleiderschrank. »Es gibt noch ein paar Probleme. Mit der Gestaltung … Fragen zum Text. Es ist lästig, aber wenn wir heute alles klären können, hat sich die Mühe gelohnt. Du hast doch nichts dagegen, wenn ich den Wagen nehme?« 

»Nein, natürlich nicht.« Sie fand ihren Ton gekünstelt. »Ich wollte eigentlich Tennis spielen, aber Glyn kann mich ja abholen.« 

»Es ist sowieso kein Tenniswetter.« 

»Dann lass ich’s vielleicht.« 

Rebecca trank ihren Tee, während Milo sich ankleidete. Grauer Maßanzug, weißes Hemd von T. M. Lewin, blaue Seidenkrawatte. Er sah weder vergnügt noch erwartungsfroh aus – eher nervös. Vielleicht sagte er ja die Wahrheit. 

Vor dem Spiegel fuhr er sich mit der Hand durch das feuchte dunkelblonde Haar.  

»Wie sehe ich aus?« 

»Tadellos.« Sie lächelte süß. 

Später hörte der Regen auf, und Glyn holte sie doch noch zum Tennis ab. Wieder zu Hause, machte sich Rebecca frisch und zog sich um. Sie war allein im Haus, Mrs. Hobbs war nach Hause gegangen, um ihrem Mann das Mittagessen zu machen. In Milos Arbeitszimmer sah sie die Unterlagen auf seinem Schreibtisch durch, öffnete die Schubladen, konnte aber sein Adressbuch nicht finden. Vielleicht hatte er es mitgenommen. Sie atmete einmal tief durch, dann hob sie den Telefonhörer ab. Sie fühlte sich beinahe erleichtert, als sie die Vermittlung wählte und um eine Verbindung mit Milos Verlag bat. 

Milo nahm den Zug um 16 Uhr 10 zurück nach Oxford. Im Speisewagen bestellte er einen Whisky. Die rußgeschwärzten Klinkerhäuser an der Eisenbahnlinie zogen verschwommen an den regennassen Scheiben vorbei. Als er den ersten Whisky getrunken hatte, waren die Häuserreihen hinter Dörfern und senfbraunen Stoppelfeldern zurückgeblieben. 

Tessa hatte ihn am Abend zuvor angerufen – zu Hause! –, um ihm zu sagen, dass sie ihn unbedingt sprechen müsse. Sie hatte ihm nicht erklären wollen, worum es ging, aber sie hatte darauf bestanden, dass er nach London kam, und dann hatte er das Gespräch wegen Rebecca abbrechen müssen. Heftig beunruhigt und von allen möglichen Schreckensbildern bedrängt, hatte er schlecht geschlafen. 

Beim Mittagessen in einem kleinen Restaurant in Soho hatte Tessa ihm eröffnet, dass sie ein Kind erwartete. Sie hatten nur eine Stunde miteinander – sie musste den ganzen Tag arbeiten –, und in der Küche war ein Riesenkrach, sodass er zunächst glaubte, nicht richtig gehört zu haben. »Ein Kind?«, wiederholte er, und sie sagte: »Ja, Milo, ich erwarte ein Kind. Dein Kind.« 

»Bist du sicher?«, fragte er. 

Einen Moment wurde ihr Gesicht kühl, dann sagte sie ruhig: »Sicher, dass ich ein Kind erwarte, oder sicher, dass es von dir ist? Ich kann nur zu beidem Ja sagen.« 

Er nahm ihre Hände und hielt sie fest, während der Kellner die Suppe servierte. Als der Mann gegangen war, sagte er: »So habe ich das nicht gemeint. Du weißt, dass ich das nicht so gemeint habe.« 

»Ja. Tut mir leid.« Sie hatte Tränen in den Augen. 

Er zündete ihnen beiden eine Zigarette an. »Wie lange weißt du es schon?« 

»Ein, zwei Monate.« 

Ein, zwei Monate. Hieß das – er hatte in diesen Dingen keine Erfahrung –, dass es schon zu spät war, um etwas zu unternehmen? Mit trockenem Mund fragte er, wann der Geburtstermin sei. 

»Irgendwann im Dezember, glaube ich – oder vielleicht ist es auch Januar.« 

Ihre Unbekümmertheit hatte ihm immer gefallen, aber in diesem Moment ärgerte es ihn, dass sie etwas so Entscheidendes auf die leichte Schulter nahm. Doch dann bemerkte er den Ausdruck ihrer Augen und sagte: »Armer Schatz.« Angst bei Tessa kannte er nicht. 

Sie konnten beide kaum etwas essen. Als die Stunde um war, brachte er sie zum Fotostudio zurück. Auf der Straße küssten sie sich, aneinander geklammert wie Ertrinkende.  

Milo ging in die Bibliothek im Britischen Museum. Er hoffte, die vertraute Stille, die gedämpften Schritte und der Geruch der Bücher würden beruhigend wirken. Stattdessen wurde ihm jetzt die Situation erst richtig bewusst, und sein Entsetzen wuchs. Ein Kind. Er hatte nie Kinder haben wollen, und es war ihm recht gewesen, dass Rebecca nicht schwanger geworden war. Unerwarteter Stolz auf seine Leistung ging in der Angst vor Rebecca unter, die ohnehin schon misstrauisch war. Ein Kind verheimlichen, wie sollte das gehen? Und er würde es verheimlichen müssen, wahrscheinlich sogar sein Leben lang. 

Das schlechte Gewissen und eine Ahnung, dass er zu Hause vielleicht ein Alibi brauchen würde, trieben ihn aus der Bibliothek direkt in ein Taxi nach Hatton Garden, Londons bekanntem Schmuckviertel. Danach fühlte er sich besser gewappnet für die Heimfahrt – ja, er sehnte sich jetzt nach zu Hause. Natürlich liebte er Tessa – er liebte sie verzweifelt. Bei ihrem Gespräch war ihm einen Moment der Gedanke gekommen, dass sie vielleicht erwartete, er würde sich von Rebecca scheiden lassen, um dann sie zu heiraten. Aber als er vorsichtig diese Möglichkeit erwähnte, hatte sie gelacht und gemeint: »Du meine Güte, Milo, das ist nun weiß Gott nicht nötig.« 

Ihre Antwort rief gemischte Gefühle hervor: Gekränktheit, dass sie die Vorstellung einer Ehe mit ihm so lächerlich fand, und Erleichterung, dass ihm ein Gespräch mit Rebecca erspart bleiben würde. »Aber du musst mich dir wenigstens helfen lassen«, sagte er und drückte ihre Hand. 

Sie schüttelte den Kopf. »Das ist nicht dein Problem, Milo. Es ist allein meine Angelegenheit. Ich wollte dir zuerst gar nichts sagen. Ich hatte Angst, du würdest böse werden. Ich bin so froh, dass du keine Szene gemacht hast, Darling. Danke dir.« 

Aber obwohl er das Richtige gesagt hatte und sie ohne Unstimmigkeiten auseinandergegangen waren, verspürte er bei allem Mitgefühl mit ihr unterschwelligen Groll. Er hasste Komplikationen. Natürlich konnte man vorbringen, dass eine außereheliche Affäre an sich schon eine schwerwiegende Komplikation war, aber mit so etwas hatte er nicht gerechnet. Zumal es nicht so war, dass er an Verhütung nicht gedacht hätte. Im Gegenteil, als er das erste Mal mit Tessa ins Bett gegangen war, hatte er sie ausdrücklich danach gefragt, und sie hatte ihn beruhigt. Selbstverständlich wäre er vorsichtig gewesen, wenn er auch nur den leisesten Zweifel gehabt hätte; dass er sich auf Tessa verlassen hatte, die schließlich eine erfahrene Frau war, konnte man ihm nicht zum Vorwurf machen. »Ich habe es wohl vergessen«, hatte sie in dem Gespräch beim Mittagessen gesagt und dabei die Nase gekraust, als ginge es um einen im Taxi liegengelassenen Regenschirm. 

Intensität und Anspannung waren Milo recht, aber Aufruhr und Umbruch konnte er nicht gebrauchen. Er kannte sich gut genug, um zu wissen, dass er zum Schreiben ein ruhiges, zuverlässiges Klima brauchte. Bei der Arbeit an seinem neuen Buch saß er gerade an einer kniffligen Stelle fest, und er hatte das ungute Gefühl, dass seine Idee, sich als Lyriker zu versuchen, ein Fehler gewesen war. Er wusste, dass er für Tessa weit mehr empfand als je für Annette Lyle oder die anderen, dennoch konnte er nicht umhin, die Beziehung zu ihr jetzt infrage zu stellen. Die Situation überforderte ihn. Er wusste nicht, was er tun sollte. Er hatte die Kontrolle über die Ereignisse verloren, sie nahmen jetzt ihren ungelenkten Lauf. Sollte er Rebecca die Wahrheit sagen, obwohl er davor zurückschreckte? Es wäre schrecklich – grausam –, ihr das anzutun, und welchen Sinn hätte es, da Tessa offenbar von einer Heirat absolut nichts wissen wollte? 

Wo bin ich da hineingeraten, dachte er verzweifelt, als der Zug schließlich im Bahnhof von Oxford einlief, und sehnte sich plötzlich heftig nach der vertrauten Alltäglichkeit der Alten Mühle, konnte es kaum erwarten, sich einen Whisky einzuschenken und sich in seinem Arbeitszimmer in ein Buch zu vertiefen. Während er durch den Regen nach Hause fuhr, legte er sich ein angebliches Gespräch mit Roger zurecht, der, pingelig wie gewohnt, noch einmal jedes Detail durchgegangen sei, und eine Speisenfolge (Consommé, Seezunge, Omelette mit Konfitüre) für das Mittagessen. 

Rebecca kam die Treppe herunter, als er seinen Regenmantel ablegte. 

»Wie war euer Mittagessen, Milo?« 

»Nett«, antwortete er. 

»Und wie geht es Roger?« 

»Gut.« 

Ihr Ton warnte ihn. Er sah sie an. Sie stand am Fuß der Treppe. Ihr Gesicht hatte keine Farbe, es war teigig weiß. 

»Soviel ich weiß«, sagte sie, »ist Roger in Edinburgh.« 

»Was?« Er starrte sie an. Sein erfundenes Mittagessen mit Roger blieb ihm lebhaft im Kopf. 

»Roger ist in Edinburgh. Ich habe Miss Gaskin angerufen, sie hat es mir erzählt.« 

O Gott. »Du hast im Verlag angerufen?« 

»Ja.«  

»Du hast mir nachspioniert?« Milo wusste, dass seine Wut unangemessen war. 

Als Rebecca einen Schritt auf ihn zukam, wich er unwillkürlich zurück. »Wo bist du gewesen? Wo warst du? In Oxford?«, schrie sie ihn an. »Hast du vielleicht mit Grace King eine kleine Spritztour gemacht? Brauchtest du deshalb das Auto?« 

Grace King? »Was zum Teufel redest du da?«, fragte er verständnislos. 

»Lüg mich nicht an.« Ihre Stimme wurde schrill. »Ich weiß, dass du etwas mit ihr hast.« 

Da begriff er. Rebecca glaubte, er hätte eine Affäre mit der langweiligen Grace King mit den Hasenzähnen. »Ach, lass mich bloß in Frieden«, knirschte er wütend und rannte an ihr vorbei ins Wohnzimmer. »Mir reicht’s jetzt ein für alle Mal.« 

Er riss die Tür der Kredenz auf. Sein Kopf dröhnte, und er war unglaublich müde. »Dir reicht’s?«, schrie sie, ihm folgend. »Ach, du Armer. Und was ist mit mir? Was glaubst du wohl, wie ich mich fühle?« 

In der Zeit, die er brauchte, um die Whiskykaraffe herauszuholen und zu öffnen, versuchte er, sich zu sammeln. Er erkannte, dass sie ihm vielleicht, ohne es zu wollen, einen Ausweg gezeigt hatte. Neben der Empörung über ihre absurde Anschuldigung verspürte er plötzliche Erleichterung. Wie befreiend, die Wahrheit sagen zu können – zumindest teilweise. 

»Zu deiner Information«, sagte er, sich ihr zuwendend, »ich habe Grace King seit Wochen nicht gesehen.« 

»Das glaube ich dir nicht.« Sie spie ihm die Worte ins Gesicht. 

»Glaub doch, was du willst.« 

»Ich habe dich auf dem Gartenfest gesehen.« Ihre Stimme war ein leises giftiges Zischen. »Mit ihr zusammen.« 

Er versuchte, sich zu erinnern. »Ich habe mit Miss King gesprochen«, sagte er. »Ja und? Sie gehörte schließlich zu unseren Gästen.« 

»Ich habe dich gesehen.« Sie wurde wieder so laut und schrill, dass er zusammenzuckte. »Du hast sie angefasst. Du hast sie am Arm gehalten 

Hatte er das getan? Er konnte sich nicht erinnern. Wütend und schuldbewusst zugleich kippte er einen Schluck Whisky hinunter.  

Er ließ sich in einen Sessel fallen. »Grace Kings Mutter ist unheilbar an Krebs erkrankt«, sagte er kalt. »Sie hat es mir vor ein paar Monaten erzählt. Ich habe mich bemüht, nett zu ihr zu sein, und ihr die Möglichkeit gegeben, sich bei mir auszuweinen.« Und wie diese Grace King weinen konnte, dachte er. Eimerweise waren im Eagle and Child die Tränen geflossen.  

»Du lügst.« Sie verzog verächtlich den Mund, und in ihren Augen stand Hass. 

Er hatte sie plötzlich so satt, dass er am liebsten aufgestanden und gegangen wäre. »Herrgott noch mal, Rebecca, das Mädchen ist ganze neunzehn Jahre alt. Die würde mich im Traum nicht haben wollen.« 

Widerlicher Heuchler. Tessa war nur wenige Jahre älter als Grace King. Aber Tessa war eben viel reifer. Tessa Nicolson, ahnte er, hatte schon lange aufgehört, ein Kind zu sein. 

»Annette Lyle war auch erst dreiundzwanzig«, sagte Rebecca. 

»Hör auf«, sagte er scharf. »Halt endlich die Luft an, Rebecca, und hör auf damit.« 

»Du hast mich betrogen.« Ihr verzerrtes Gesicht sah hässlich aus. »Wie kannst du so darüber reden – als wäre es nichts als eine kleine – eine kleine Taktlosigkeit gewesen. Du hast mir das Herz gebrochen.« 

»Tut es dir gut, in alten Wunden zu wühlen? Ja?« 

»Darum geht es überhaupt nicht«, schrie sie. 

»Nein?« Er zwang sich, ruhig zu sprechen. »Es hat doch keinen Sinn, das alles wieder aufzurollen. Ich habe dir gesagt, wie sehr ich es bedauere. Ich dachte, wir hätten das hinter uns. Ich dachte –« er beugte sich vor und sah ihr in die Augen – »wir hätten gelernt, einander wieder zu vertrauen.« 

Rebecca schlug die Hände vors Gesicht und begann zu schluchzen. »Wie soll ich dir vertrauen, wenn du mich belügst?« 

Am Ton ihrer Stimme erkannte er, dass sie anfing, an ihren eigenen Schlussfolgerungen zu zweifeln. »Versuchen wir doch mal, logisch zu sein«, sagte er. »Du hast gesehen, wie ich Miss King auf dem Gartenfest getröstet habe. Graces Vater ist gestorben, als sie noch ein Kind war. Ich glaube, sie sieht in mir eine Art Vaterfigur. Und, wie ich schon sagte, jetzt stirbt ihre Mutter an Krebs. Da macht sie natürlich eine schwere Zeit durch. Kannst du ihr da nicht ein bisschen menschliche Anteilnahme gönnen?« 

Eine todgeweihte Mutter – Krebs –, das war wirklich dick aufgetragen. Vielleicht sollte er ihr die ganze Wahrheit sagen. In den sauren Apfel beißen und ein für alle Mal reinen Tisch machen. Wenn er jetzt sagte, Es ist nicht Grace King, es ist eine andere. Ich liebe sie und sie erwartet ein Kind von mir, dann wäre das wenigstens ehrlich. 

Aber als sie unsicher flüsterte: »Ich weiß nicht. Ich weiß nicht mehr, was ich denken soll«, war der Moment vorbei, und er nutzte seinen Vorteil und sagte: »Miss King ist zurzeit überhaupt nicht in Oxford. Sie war nicht einmal bei meiner letzten Vorlesung. Von einer ihrer Freundinnen weiß ich, dass Mrs. King im Sterben liegt und Grace nach Hause musste.« 

»Oh«, sagte sie verwirrt mit zittriger Stimme. Sie sah ihn an. Ihr Gesicht war fleckig und tränennass. »Aber der Anruf gestern Abend«, setzte sie matt hinzu. »Und Roger. Du hast mich belogen, Milo.« 

»Ich habe dir schon einmal gesagt, dass ein Student von mir am Telefon war. Ich habe den Anruf ins Arbeitszimmer gelegt, weil ich etwas nachsehen musste.« 

Rebecca setzte sich endlich, sank in einer Ecke des Sofas zusammen. »Aber – Roger …« 

»Wie kommst du dazu, im Verlag anzurufen?« Seine Empörung war nicht gespielt. »Was sollen sie dort denken? Dass meine eifersüchtige Ehefrau mir nachspioniert – du machst mich zum Gespött!« 

»Nein, nein«, sagte sie hastig. »So war es nicht. Kein Mensch wird sich etwas dabei denken. Ich habe Miss Gaskin nur gefragt, ob ich Roger sprechen könne, und da hat sie mir gesagt, dass er verreist ist.« Sie schob die Finger in ihre Haare und zog sie nach hinten, sodass sie in wildem dunklen Aufruhr von ihrem Kopf in die Höhe standen. »Und du hast mir immer noch nicht gesagt, wo du warst.« 

»Es sollte eine Überraschung werden.« 

Sie schniefte und wischte sich mit dem Handrücken die Augen. »Was soll das heißen?« 

»Ich weiß, dass ich in letzter Zeit ziemlich unleidlich war.« Milo setzte sich neben sie. »Ich weiß, dass ich dir den ganzen Urlaub verdorben habe. Aber ich hatte solche Schwierigkeiten mit meinem neuen Buch.« 

Rebecca runzelte die Stirn. »Davon hast du nie etwas gesagt.« 

»Ich wollte es nicht eingestehen.« Und das stimmte. Er war abergläubisch, wenn es darum ging, über Probleme bei seiner Arbeit zu sprechen. Seine Begabung schien ihm etwas so Flüchtiges zu sein; wenn er über seine Schwierigkeiten spräche, würde es ihm vielleicht nie gelingen, sie zu überwinden. 

»Hättest du mir doch nur ein Wort gesagt.« Rebeccas Stimme war tonlos. »Warum hast du mich nicht helfen lassen? Früher bist du doch in solchen Fällen auch zu mir gekommen.« 

Milo nahm ein kleines Päckchen aus seiner Jackentasche. »Deswegen bin ich nach London gefahren.« 

Sie musterte das Päckchen misstrauisch. »Was ist das?« 

»Mach es auf. Es ist für dich.« 

»Für mich?« 

»Ja, als Wiedergutmachung dafür, dass ich so ein ekliger alter Griesgram war. Wie gesagt, es sollte eine Überraschung werden. Deswegen habe ich dir erzählt, ich wollte zu Roger. Ich wollte nicht, dass du dir Gedanken darüber machst, was ich in London zu tun habe. Dass es so ankommen könnte, ist mir nicht in den Sinn gekommen. Also, mach es auf.« 

Rebecca riss das Seidenpapier auf und klappte den Deckel des weißen Lederkästchens hoch. »Oh.« Sie drückte die Hände auf den Mund. »O Gott, das ist ja furchtbar.« 

In dem Kästchen lag ein Paar Rubinohrringe in Tropfenform, das er in einem Schmuckgeschäft in Hatton Garden gekauft hatte. »Gefallen sie dir?«, fragte er. 

»Sie sind wunderschön. Aber ich fühle mich scheußlich. Es tut mir so leid.« Sie weinte wieder. »Verzeih mir, Milo.« 

»Vergiss es«, sagte er großherzig. »Lass uns einfach nicht mehr darüber reden.« 

Milo, der Edelmütige, der Generöse. Er tätschelte ihren Rücken, während sie weinte. Er konnte seinen Selbstekel beinahe schmecken, aber was hätte er denn anderes tun können? 

Später, nachdem sie zu Abend gegessen hatten, nachdem sie zu Bett gegangen waren und sich geliebt hatten, nachdem sie eingeschlafen war, ging er leise in sein Arbeitszimmer, um in der Konzentration des Schreibens Ruhe zu suchen. 

Aber er konnte nicht arbeiten. Er musste unablässig an das Kind denken. Schließlich legte er den Stift aus der Hand und blickte zum Fenster hinaus in die Dunkelheit. Mein Gott, ein Kind. Ungewollt kam ihm der Gedanke in den Kopf, dass ja noch etwas passieren könnte, aber er verscheuchte ihn schnell, von böser Ahnung erfasst und entsetzt über die Ungeheuerlichkeit zu hoffen, es könnte irgendwie kein Kind geben.