13

 

Die ersten Kinder waren im Frühjahr angekommen, ein halbes Dutzend, zwischen vier und elf Jahren alt, Flüchtlinge aus dem schwer bombardierten Genua. Ihre Kleider waren zerlumpt und schmutzig, die kleinen Körper voller Ausschläge und Furunkel, und sie hatten Läuse. Tessa und Faustina badeten sie, gaben ihnen saubere Kleidung, behandelten aufgekratzte und entzündete Wunden und entlausten sie. Denen, die am schlimmsten befallen waren, schoren sie die Köpfe, bei den anderen gingen sie mit einem feingezähnten Kamm durch das verfilzte Haar. Dann gaben sie ihnen Brot und Milch und brachten sie später in einem großen Zimmer, das in einen Schlafsaal umgewandelt worden war, zu Bett. In der ersten Nacht weinten sich die meisten in den Schlaf. 

Drei Wochen später trafen noch einmal zehn Kinder ein, dazu zwei Säuglinge mit ihren Müttern. Eines der Kinder war ein Junge von vielleicht sechs Jahren, der Tommaso hieß. Tommasos Haare waren so dicht von Läusen bevölkert, dass man fast sehen konnte, wie sie sich bewegten. Er verschlang sein Essen wie ein wildes Tier, und während er es sich mit beiden Händen in den Mund stopfte, schaute er ständig misstrauisch um sich, als hätte er Angst, es könnte ihm gestohlen werden. Er hatte entzündete Wunden im Gesicht, die nie verheilten, weil er immer wieder die Kruste abkratzte. Und er sprach nicht – Tessa musste an Perlita denken und ihr beharrliches Schweigen in der ersten Schulwoche. Aber Tommaso war nicht wie Perlita. Er weinte nicht wie die anderen Kinder und er lächelte nicht, sondern verzog das Gesicht zu einer Grimasse, die einem Zähnefletschen glich. Der einzige Laut, den Tommaso von sich gab, war ein seltsames wimmerndes Heulen. In der Schule folgte er nicht wie die anderen Kinder dem Unterricht, sondern schaukelte in seiner Schulbank hin und her und kratzte dabei an einer verschorften Wunde an seiner Augenbraue. Ab und zu ließ er sein jämmerliches Heulen hören. Wenn ihm jemand zu nahe kam, schnellte blitzartig wie die Zunge einer Eidechse sein Kopf vor, und er versuchte zu beißen. 

Lina, die Aushilfslehrerin, die die Kinder von Neapel zur Villa di Belcanto gebracht hatte, schlug vor, Tommaso im Interesse der anderen Kinder, die sein Verhalten verstörte, aus dem Unterricht herauszunehmen, bis er ruhiger geworden sei. Tessa musste ihr widerstrebend zustimmen. Von da an hielt Tommaso sich meistens in der Wäscherei auf, unter den wachsamen Augen der Mütter und Großmütter, die dort arbeiteten. Er hatte es gern, wenn man ihn in dem Korbwagen, mit dem die feuchte Wäsche zu den Leinen zum Aufhängen befördert wurde, in den Garten hinausfuhr. Manchmal, wenn der Wagen schnell geschoben wurde, ließ er ein befremdliches nasales Lachen hören, das noch verstörender war als das Heulen. Das Schlimme sei, sagte Tessa eines Abends zu Faustina, dass sie keine Ahnung hätten, wie Tommaso vor den Bombenangriffen gewesen sei. Er konnte von liebevollen Eltern großgezogen oder er konnte geprügelt worden sein. Seine Familie war vermutlich in den Bomben umgekommen; man hatte ihn allein umherirrend in den zerstörten Straßen Neapels aufgelesen. Nicht einmal sein Name war sein eigener: Die Ordensschwestern, die ihn aufgenommen und sich um ihn gekümmert hatten, hatten ihm den Namen gegeben, bevor sie ihn mit Lina und den anderen Kindern aufs Land ziehen ließen. 

An schönen Abenden fuhr Tessa den kleinen Jungen oft im Wäschewagen spazieren. Sie schob den Wagen über das Gras, und Tommaso lachte auf seine befremdliche Art, während sie ihm erzählte, was es rundherum zu sehen gab. Wenn ihm etwas Angst machte – Hundegebell oder ein Rascheln im Dickicht – kletterte er Hals über Kopf aus dem Wagen und rannte davon, um sich in einer Buchsbaumhecke zu verkriechen. Er hatte sich in der Hecke aus dürrem Laub und kleinen Zweigen eine Art Nest gebaut, wo er alles Mögliche versteckte – eine verrostete Dose voll Regenwasser, ein Stück Decke, abgerissen und schmutzig, einen Brotkanten. Eines Abends, als das Donnern eines Militärlastwagens auf der nahen Straße ihn erschreckt hatte, weigerte er sich, aus seiner Höhle herauszukommen. Tessa blieb im Gras neben der Buchsbaumhecke sitzen, bis es dunkel wurde und Tommaso einschlief. Dann hob sie ihn heraus und trug ihn ins Haus. 

Dr. Berardi erklärte Tessa, Tommaso sei schwachsinnig und gehöre in eine Anstalt. Worauf Tessa Dr. Berardi erwiderte, der Schwachsinnige sei er, nicht Tommaso. Wenn einem alles genommen worden sei, was man bisher gekannt hatte, wenn man in Abfällen nach etwas Essbarem gewühlt und nächtelang mutterseelenallein im Freien geschlafen habe, sei man vielleicht froh, sich irgendwo in einem kleinen Loch verschanzen zu können, wo man sich sicher fühlte. Und vielleicht würde man dann auch sein Essen so schnell wie möglich in sich hineinschaufeln, weil man Angst hatte, jemand könnte es einem wegnehmen. Tessa wusste, dass Tommaso nicht verloren war. Er hatte sich in sich verkrochen, sie musste nur ein Mittel finden, ihn herauszulocken. 

In diesem Sommer, nach ihrem Sieg in Nordafrika, setzten die alliierten Truppen nach Italien über. Die Inseln Pantelleria und Sizilien dienten ihnen als Luftstützpunkte und als Trittsteine zur Überquerung des Mittelmeers. In Sizilien wurde immer noch erbittert gekämpft, als im Radio der Sturz Mussolinis bekannt gegeben wurde. Er war nach einer Sitzung des faschistischen Großrats abgesetzt worden. Marschall Badoglio, ein Held des Ersten Weltkriegs, bildete eine Regierung, die faschistische Miliz wurde aufgelöst und das Kriegsrecht ausgerufen. 

Auf dem Gut wurden Krüge mit Oliven und große Schinken in den Geheimräumen versteckt, die man vorher in Kellern und Dachböden eingebaut hatte. Essensvorräte wurden auf dem Gelände vergraben, zusätzliche Nahrungsmittel, sowie Kleidung und Schuhe in Verstecken auf den abseits liegenden Höfen gelagert. Kleidung und Nähgarn gab es kaum noch zu kaufen – ab und zu brachten Olivia oder Faustina nach Besuchen in Florenz etwas von den dortigen Gebrauchtwarenmärkten mit –, und Schuhe aufzutreiben, war beinahe unmöglich. Aus alten Bettlaken und Handtüchern nähten sie Windeln für die Säuglinge, aus Vorhängen Hemden und Kleider für die Kinder. Da es keine Wolle mehr gab, spannen die Frauen auf dem Gut ihre Wolle selbst. Ein paar ältere Frauen besaßen kleine tragbare Spinnräder, die sie unter den Arm geklemmt mit sich trugen und an denen sie unaufhörlich mit flinken Fingern arbeiteten, während sie von Hof zu Hof gingen. Eine der Frauen, eine Urgroßmutter, einen Kopf kleiner als Tessa, das Gesicht runzlig wie eine Mandelschale, brachte ihr das Spinnen bei. Für Tessa hatte es etwas Hypnotisches, zuzusehen, wie die Spule sich drehte und die bauschige, klumpige Schafwolle sich zu einem Stück Faden verdünnte.  

Hin und wieder flogen Flugzeuge der Alliierten über das Gut hinweg. Manche Kinder schauten wie gebannt nach oben; Tommaso heulte und versteckte sich in seiner Buchsbaumhecke. Aus der Ferne konnte man die dumpfen Einschläge der Bomben hören, aber Belcanto blieb verschont. 

Faustina, die gerade von einer Fahrt nach Florenz zurückgekommen war, strich sich das schlaffe glatte Haar aus dem Gesicht und warf sich in einen Sessel. Der Saum ihres Kleides war weiß von Staub. Es war das Ende eines heißen Tages. 

»Es ist alles so schrecklich anstrengend«, erklärte sie. »Woher sollen wir hier draußen wissen, was Wahrheit und was Lüge ist? Woher sollen wir wissen, was wirklich los ist?« 

Tessa goss zwei Gläser kühlen Weißwein ein und reichte eines Faustina. »Wie war es in Florenz?« 

»Die ganze Stadt ist nervös. Man kommt sich vor wie auf einem Pulverfass. Vor ein paar Tagen hat es Unruhen gegeben. Maddalena verlässt so wenig wie möglich das Haus.« 

»Wie geht es ihr?« 

»Ihr und Luciella geht es gut. Aber sie macht sich natürlich Sorgen. Ihr Vater ist untergetaucht. Sie war dankbar für die Lebensmittel, die ich ihr mitgebracht hatte.« Faustina kramte in ihrer Tasche und zog ein zerknittertes Blatt Papier heraus, das sie Tessa reichte. »Die Flieger der Alliierten werfen diese Flugblätter über den Städten ab.« 

Tessa las laut die Schlagzeile. »Raus mit den Deutschen – oder Feuer und Stahl.« 

»Wenn es nur so einfach wäre – du winkst der einen Truppe Lebewohl und der nächsten Willkommen.« Faustina lachte geringschätzig. »Und diese Haare!« Gereizt strich sie sich die Strähnen aus den Augen. »Ich schneide es jetzt einfach ab«, sagte sie trotzig und holte eine Nagelschere aus ihrer Handtasche. 

»Faustina, das kannst du nicht machen.« 

»Ach nein? Dann schau mir gut zu. Ich trage die Haare sowieso nur lang, weil Mutter der Ansicht ist, unverheiratete Frauen müssten lange Haare haben. Lächerlich. So etwas Altmodisches. Ich hätte sie schon längst absäbeln sollen.« Sie begann mit der Nagelschere an ihren Haaren herumzuschnippeln. 

»Wenn du sie wirklich abschneiden möchtest, dann lass mich das machen«, sagte Tessa und hob die Hand nach der Schere. »Und bestimmt nicht mit diesem Ding.« 

»Ist doch völlig egal. Ich sollte es mir einfach abrasieren, wie wir das bei den Läusekindern tun.« 

Tessa holte einen Kamm und ihre eigene große Schere. Auf dem Weg durch die kühlen, dunklen Gänge zu ihrem Zimmer, dachte sie über das Flugblatt nach, das Faustina ihr gezeigt hatte. ›Raus mit den Deutschen – oder Feuer und Stahl.‹ Die Bombardierungen von Turin, Genua und vielen anderen italienischen Städten hatten nur allzu deutlich gezeigt, was Feuer und Stahl anrichten konnten.  

Tessa setzte Faustina auf einen Stuhl und kämmte ihr die Haare aus. »Du kannst es so kurz schneiden, wie du Lust hast«, sagte Faustina. 

»Ich schneide es so, dass es gut aussieht. Erzähl mir, was du in Florenz gehört hast.« 

»Massenhaft Gerüchte. Es hätte ein Putsch stattgefunden, oder in dieser oder jeder Stadt ermordeten die Kommunisten die Faschisten, oder Hitler hätte Selbstmord begangen. Schön wär’s.« 

Faustina nickte nachdrücklich, und Tessa sagte: »Halt still, sonst sind die Haare am Ende auf einer Seite länger als auf der anderen.« 

»Ist mir gleich.« 

»Das glaube ich nicht«, entgegnete Tessa. »Warte nur, du wirst toll aussehen, wenn ich fertig bin. Dieses Zurückgekämmte hat dir nie gestanden – du hast eine zu hohe Stirn.« 

»Weil ich so intelligent bin«, sagte Faustina selbstgefällig. »Du bist so eine Optimistin, Tessa. Ich glaube nicht, dass ein anderer Haarschnitt viel verändern wird.« 

Tessa kämmte und schnippelte. »Gab’s sonst noch etwas Neues?« 

»Ich war im Krankenhaus, um Mull und Verbandzeug zu holen, und ein paar Leute dort behaupteten, die Alliierten würden an der toskanischen Küste landen. Ist natürlich kompletter Blödsinn – weshalb sollen sie mit ihren Schiffen bis zur Toskana hinauf fahren, wenn sie doch nur die Straße von Messina zu überqueren brauchen? Und Guido –« 

»Ja?« Die Schere stand still. 

Guido war nach seiner Genesung nicht nach Nordafrika zurückgekehrt, man hatte ihn nach Bologna an eine Militärschule versetzt. 

»Maddalena hat einen Brief von ihm bekommen. Sie hat ihn mich lesen lassen.« 

»Und? Geht es ihm gut?« 

»Das schreibt er jedenfalls. Er hat es satt, aber du kennst ja Guido, er konnte noch nie still sitzen.« 

Faustina fuhr sich mit den Fingern durch die Haare, dann stand sie auf und sah in einen Spiegel. »Oh! Danke, Tessa.« 

Das Haar umrahmte kurz und fedrig ihr Gesicht und machte ihre scharfen Züge weicher. »Du siehst richtig schick aus – wie eine echte gamine«, sagte Tessa. 

Faustina drehte sich nach ihr um. Ihr Lächeln trübte sich. »In Florenz heißt es, Badoglio hätte zu lange gewartet und schon vor Wochen mit den Alliierten verhandeln müssen. Die Leute wollen wissen, was die Regierung zu tun gedenkt, wenn die Alliierten auf dem Festland landen; ob es einen Waffenstillstand gibt, und wie die Deutschen dann reagieren werden. Im Krankenhaus habe ich mich mit einem Chirurgen unterhalten. Er hat mir erzählt, dass deutsche Truppen in Scharen über die nördlichen Grenzen nach Italien strömen. Du weißt, was das heißt? Dass sie entschlossen sind, um jeden Zentimeter italienischen Boden zu kämpfen.« 

Es gab keine Zeitung und keine Post. Telefonleitungen waren unterbrochen, Bahnreisen so gut wie unmöglich, und auf vielen Straßen wurden Sperren errichtet. 

Nach dem Fall Siziliens Ende August landeten alliierte Truppen in Reggio, an der Küste von Kalabrien. Fünf Tage später, am Nachmittag des 8. September, wurde der Waffenstillstand verkündet. Die Menschen auf dem Gut und auf den Höfen jubelten. Am Abend wurden Freudenfeuer angezündet, und man feierte mit Tanz und Gesang.  

Sie vergruben ihren Benzinvorrat in der Obstpflanzung und montierten die Reifen des riesigen alten Alfas ab, den Olivias Vater gefahren hatte. Vergeblich – nur wenige Tage nach der Kapitulation erschienen deutsche Soldaten auf dem Gut, um den Wagen zu beschlagnahmen. Der Hauptmann war höflich, aber unnachgiebig – es mache nichts, dass dem Alfa die Reifen fehlten, sie würden welche auftreiben. Am nächsten Tag brachten zwei Soldaten Reifen und Benzin und fuhren den Wagen weg. 

Die Hoffnung begann zu schwinden. Aus den Nachrichten der BBC und des Schweizer Senders Radio Monte Ceneri erfuhren sie, wie schlecht die Aussichten waren. Bei herrlichem Frühherbstwetter bewegten sich Kolonnen deutscher Panzer und Panzerwagen auf Landstraßen in südlicher Richtung, den Brückenköpfen der Alliierten südlich von Neapel entgegen. Niemals hätten die Deutschen ihre Truppen nach Süden geschickt, wenn sie nicht entschlossen gewesen wären zu kämpfen. 

Am 10. September besetzten die Deutschen Rom. Widerstand gab es kaum. In Nord- und Mittelitalien wurden weitere Städte erobert, und am 12. September befreiten deutsche Fallschirmjäger in einem gewagten Kommandounternehmen Mussolini aus der Gefangenschaft. Drei Tage später verkündete er seine Rückkehr an die Macht und errichtete in Salò am Gardasee eine faschistische Regierung.  

Auf den stillen Wegen des Landguts wurden Fremde gesichtet. Sie klopften an Herrenhaus und Pachthöfe und baten um Nahrung und Kleidung und ein Quartier für die Nacht. Es waren italienische Soldaten, die ihre Uniformen abgelegt und beschlossen hatten, sich auf eigene Faust nach Hause durchzuschlagen, nachdem sie von dem Waffenstillstand erfahren hatten und aufgefordert worden waren, sich beim deutschen Hauptquartier zu melden. Es waren alliierte Kriegsgefangene, die aus Angst vor einer Deportation nach Deutschland aus den Lagern ausgebrochen und nun südwärts zu den Linien der Alliierten unterwegs waren. In den Wäldern des Guts hatten sich unzählige Flüchtlinge versteckt. Hin und wieder tauchte ein Sohn oder Ehemann, der jahrelang in Frankreich oder Jugoslawien gewesen war, auf einem der Pachthöfe auf. Ein englischer Gefangener in der zerlumpten Kleidung eines Landarbeiters hackte ein Feld oder las Steine aus einem Acker und bekam dafür Nahrung und Unterkunft. Gerüchte kursierten: von britischen Kriegsgefangenen, die auf der Flucht erschossen worden waren, und von italienischen Soldaten, die, nicht schnell genug aus ihren Kasernen geflohen, zusammengetrieben und auf Güterwagen oder Transportern mit unbekanntem Ziel nach Norden befördert worden waren.  

Im Herrenhaus wusste man nichts über das Schicksal Sandros und Guidos. 

Eines Morgens klopfte ein australischer Kriegsgefangener an der Krankenstation. Sein Name war Sam Robbins, und er hatte hohes Fieber und eine offene Wunde in der Seite davongetragen, als er sich durch den Stacheldrahtzaun rund um das Gefangenenlager gezwängt hatte. Faustina wusch die Wunde, verband sie, und dann richteten sie dem Mann im obersten Stockwerk des Herrenhauses ein Bett. 

Jeder Italiener, der einen Kriegsgefangenen aufnahm, war verpflichtet, der nächsten deutschen Kommandostelle innerhalb von vierundzwanzig Stunden Mitteilung zu machen. Wer gegen die Anordnung verstieß, würde vor ein Kriegsgericht gestellt werden. Einmal, als Sam, der Australier, noch sehr schwach und fiebrig war, machten Tessa und Olivia zusammen sein Bett. »Warum tun Sie das für mich?«, fragte er Olivia. »Warum? Es kann Sie den Kopf kosten.« 

Olivia strich glättend über das bestickte Kopfkissen. »Ich tue das für den Sohn einer Mutter«, antwortete sie. »Ich tue es, weil ich aus tiefstem Herzen hoffe, dass eine andere Mutter das Gleiche für meine Söhne tut.« 

Er kam allein einen der Fußwege herunter, die die Straße zum Herrenhaus kreuzten. Er war lang und schlaksig, das Gesicht unter dem strohblonden Haar von der Sonne verbrannt. Auf dem Nasenrücken schälte sich die Haut. Er trug einen abgerissenen, notdürftig geflickten Mantel, Stiefel und eine zerlumpte Hose. Er konnte ein Deserteur oder ein entflohener Gefangener sein. Er konnte auch ein faschistischer Spion sein. 

Plötzlich blieb er stehen und sagte: »Hallo, Tessa.« 

Tessa erstarrte. Der blonde Mann kam auf sie zu und streckte ihr die Hand entgegen. »Desmond Fitzgerald«, sagte er. »Paddys Freund. Erinnerst du dich?« 

Desmond Fitzgerald … Paddys Freund. »Das Mirabelle«, rief Tessa. »Das ist Jahre her – Julian hätte sich beinahe mit Max geprügelt.« 

»Ich hatte gerade ein Vermögen beim Pferderennen verloren.« Desmonds Stimme klang wehmütig. »Später bin ich auf die Geburtstagsfete beim Freund meiner Schwester gegangen. Da stand eine Riesenpyramide aus Champagnergläsern. Irgendein Idiot hat sie umgestoßen, und ich hatte eine Glasscherbe im Fuß. Ich bin wochenlang gehumpelt. War ein toller Abend.« 

Sie umarmte ihn. »Gott, ist das schön, dich zu sehen. Aber wie kommst du ausgerechnet hierher, Desmond?« 

»Ich bin abgehauen.« Er wirkte höchst zufrieden mit sich. »Und du, was tust du hier?« 

»Ich wohne hier«, sagte sie. 

Sie fragte ihn, ob er etwas frühstücken wolle, und er sagte, ja, er habe einen Bärenhunger, er habe seit vierundzwanzig Stunden nichts mehr gegessen. Auf dem Weg zum Haus erzählte er ihr seine Geschichte. Leutnant bei einem Kavallerieregiment, war er vor mehr als einem Jahr bei Tobruk in Gefangenschaft geraten und, nach Italien transportiert, in einem Kriegsgefangenenlager zwischen Bologna und Florenz gelandet. »Es war gar nicht übel«, sagte er mit philosophischer Gelassenheit. »Unter den Wärtern waren ein paar anständige Kerle, aber das Essen war schauderhaft. Nicht schlimmer als im Internat allerdings.« 

Am Tag nach dem Waffenstillstand waren sie von den Wärtern gewarnt worden, dass deutsche Truppen im Anmarsch seien, um das Lager zu übernehmen. »Also haben wir ein Loch in den Stacheldraht gemacht und sind getürmt«, sagte Desmond. »Keiner von uns hatte Lust, den Rest des Krieges im Vaterland zu verbringen.« 

Einige aus der Gruppe waren schon am folgenden Tag wieder gefasst worden. Desmond war mit einem Freund zusammen nach Süden geflohen, um zu den Linien der Alliierten zu stoßen. Doch der Freund war beim Abstieg in eine Bergschlucht auf dem Geröll ins Rutschen geraten und hatte sich den Fuß verstaucht. Er hatte zwar versucht, mit Hilfe eines Stocks weiterzugehen, aber am Ende hatten sie sich getrennt, und der Freund war auf einem Bauernhof geblieben, wo man ihn versteckte. 

Desmond ging allein weiter. Einmal hatte er Glück und wurde von einem Heuwagen mitgenommen, auf dem er selig schlief, während das Fuhrwerk auf kleinen Landstraßen dahinrumpelte, aber meistens ging er zu Fuß, immer auf Wanderwegen, nie auf größeren Straßen, und nächtigte in Heuschobern oder Bauernhäusern, wo man ihm etwas zu essen, ein Glas Wein und ein Bett gab. Auf manchen der Höfe arbeitete er ein paar Tage, und wenn er wieder aufbrach, ging er nie ohne einen Tipp seiner Gastgeber, welches die sicherste Route sei und wo es Möglichkeiten gebe, die folgende Nacht unterzukommen. Der alte Soundso sei zwar ein elender Geizhals und könne einem seinen sauersten Wein vorsetzen, aber seine Frau sei eine hervorragende Köchin. Diesen oder jenen Hof solle er unbedingt meiden, die Leute hätten Freunde bei den Faschisten. Ein paar Mal war er nur mit viel Glück entkommen; am Vortag war er gerade noch rechtzeitig in einen Fluss gesprungen, um sich vor einem Zug deutscher Soldaten zu verstecken. 

»Überall auf dem Land wimmelt es von Deutschen«, sagte er. 

Tessa warf ab und zu einen Blick auf ihn; sie konnte es immer noch nicht glauben, dass er hier war. Desmond Fitzgerald war ein kleines Stück ihres alten Lebens, ihres Londoner Lebens, das während der Jahre in Italien in immer weitere Fernen gerückt war. 

Ihm schien es ähnlich zu gehen wie ihr. Er grinste und schüttelte den Kopf. »Ich kann es immer noch nicht fassen. Tessa Nicolson ausgerechnet in Italien! Wie lange bist du schon hier?« 

Sie sagte es ihm und sah, wie er die Stirn runzelte. »Was ist?«, fragte sie. 

»Dann hast du das mit Paddy gar nicht mitbekommen.« 

Mit einem bangen Gefühl schüttelte Tessa den Kopf. 

»Er ist bei der Luftschlacht um England abgeschossen worden. Im September vierzig. Seine Maschine wurde getroffen und stürzte ins Meer.« Desmond rieb über die raue Haut auf seinem Nasenrücken. »Tut mir leid, ich hasse es, schlechte Nachrichten überbringen zu müssen. Aber es ist bestimmt sehr schnell gegangen, das ist wenigstens ein Trost.« 

Sie dachte, Ach Paddy. Sie erinnerte sich, wie er sie nach Paris geflogen und vor Begeisterung gejubelt hatte, als sie bei der Landung in Le Bourget über die Rollbahn gehüpft waren. Sie erinnerte sich seines Ehrgeizes, seiner Lebenslust, seines aufbrausenden Temperaments – wie er damals das ganze schöne Abendessen gesprengt hatte, weil er zu viel getrunken und die Gäste angepöbelt hatte; wie er sich einmal in einem Pub geprügelt hatte. Und sie erinnerte sich an seine ausgelassenen Juchzer, wenn er in seinem Auto eine leere Straße entlanggebraust war, und an die unerwartete Sanftheit seiner Umarmungen. 

Das passierte, wenn man davonlief. Man verlor die Verbindung. Was war mit ihren anderen Freunden in England? Obwohl die Logik ihr sagte, dass deren Leben sich, genau wie das ihre, verändert haben musste, zog sie es vor, sie so zu sehen, wie sie damals gewesen waren, als hätte nichts sie berührt. Hier saß sie, eingemauert in ihrer Bergfeste, und hatte keine Ahnung. Alles Mögliche konnte geschehen sein. 

In der Küche stellte sie Desmond etwas zu essen hin. Während sie Kaffee kochte, fragte sie ihn nach den anderen, nach Ray, Max, Julian und natürlich nach Freddie. 

Aber er kannte sie alle nicht. Sie gehörten anderen Kreisen an, die sich mit seinen kaum überschnitten. Immerhin hatten sie, wie sie entdeckte, einige gemeinsame Freunde. Einer war in Dünkirchen zurückgelassen worden, eine andere, ein Mannequin, war mit ihrer Tochter im Londoner Blitz umgekommen. Und London war auch nicht mehr das, was es einmal gewesen war, obwohl man immer noch genug Spaß haben konnte. 

Dann sprachen sie über den Krieg. 

Er sagte: »Ich fürchte, das wird ein elender Schlauch werden. Und dann kommt auch noch der Winter, das wird die ganze Sache zusätzlich erschweren.« Er würde morgen weiterziehen, sagte er. Wenn er eine Chance haben wolle, zu den Alliierten durchzukommen, müsse er sich beeilen. Je länger er brauche, desto mehr feindliche Truppen würden im Süden zusammengezogen werden und desto schwieriger würde es werden, sie zu umgehen. 

»Nur nicht in dieses Lager zurück«, sagte er. »Es war ein verdammt harter Marsch, seit ich abgehauen bin, aber ich kann dir nicht sagen, wie herrlich es ist, wieder draußen zu sein. Die Leute waren alle unheimlich nett zu mir. Mein Italienisch ist erbärmlich, und die meisten sprachen kein Wort Englisch, und man konnte sehen, dass sie selbst kaum etwas zu beißen hatten. Sie kannten mich nicht, trotzdem haben sie mich aufgenommen, mir zu essen gegeben, mich versteckt. Unglaublich.« Er schüttelte langsam den Kopf. »Einfach unglaublich.« 

Im Morgengrauen des nächsten Tages brach er auf. Die Luft war herbstlich kühl, und von den Hängen leuchtete es kupferrot und golden. Tessa küsste ihn und wünschte ihm Glück. Am Waldrand drehte er sich noch einmal um und winkte ihr zu. Dann verschwand er. 

Eine Woche später wurde im Herrenhaus ein Brief abgegeben. Nur die Adresse des Guts und einige wenige Sätze standen auf dem Blatt Papier. Der Brief war aus einem Zugfenster geworfen und dann von Hand zu Hand weitergereicht worden, bis er auf langen, gewundenen Wegen von Norditalien in die Toskana gelangt war. 

Er war von Sandro. Er war verhaftet worden, nachdem er sich geweigert hatte, in die faschistische Armee einzutreten. Er hatte ihn in einem Zug mit unbekanntem Ziel geschrieben. Es gehe ihm gut, und er schicke ihnen all seine Liebe. 

Dann kam noch ein Brief, diesmal von Maddalena. Ein Kriegskamerad Guidos hatte sie in Florenz besucht und ihr berichtet, dass Guido nach dem Waffenstillstand aus der Kaserne in Bologna verschwunden war. Niemand wusste, wohin, niemand hatte seither von ihm gehört. Maddalena selbst hatte beschlossen, mit ihrer kleinen Tochter ein Stück nach Osten zu gehen und vorläufig bei einer Tante in der Nähe von Rimini zu bleiben. Sie hatte jetzt Angst in Florenz, ganz allein ohne Guido und ohne ihren Vater. Sie brauche Menschen um sich, schrieb sie. Sie sei es müde, immer allein zu sein. 

Lewis’ Zug hatte über zwei Stunden Verspätung. Die beiden kleinen Jungen, die neben Freddie im Wartesaal saßen, traktierten sich gegenseitig mit heimlichen Fußtritten. Bei jedem Tritt brüllten sie wie am Spieß. Ihre Mutter sagte zu Freddie: »Wenn dieser verdammte Zug nicht bald kommt, drehe ich den beiden noch die Hälse um. Gilbert! Brian! Hört endlich auf.« Sie gab jedem Jungen einen Klaps auf die Beine. »Soll ich eurem Vater erzählen, wie ungezogen ihr wart? Ja?« 

Undeutliches Genuschel aus dem Lautsprecher. Freddie ging hinaus, um besser hören zu können. Als sie in der Menschenmenge an der Sperre Lewis entdeckte, rannte sie auf ihn zu. Sie merkte seine Ungeduld an dem schnellen Blick auf seine Uhr und an der Gereiztheit, mit der er dem Kontrolleur seine Fahrkarte unter die Nase schob. 

»Tut mir leid«, rief er, als er sie bemerkte. »Tut mir leid, dass du so lang warten musstest, Freddie. Diese elenden Züge!« 

»Macht doch nichts.« 

Sie küssten sich. Der nachlässig geschwungene Seesack eines Soldaten traf sie in den Rücken, und sie taumelte. 

Lewis knurrte den Soldaten an, der sich eilig entschuldigte. 

»Alles in Ordnung, Freddie?« 

»Bestens, ja.« 

»So ein Idiot.« 

»Lass doch, mir ist ja nichts passiert. Ach, ich bin so froh, dich wiederzusehen.« 

»Mein Gott, bist du schön, Freddie.« 

»Du bist anscheinend auf beiden Augen blind, Lewis«, versetzte sie lachend. »Ich habe keinen Lippenstift mehr und konnte nicht ein einziges Paar Strümpfe ohne Laufmaschen finden.« 

»Ich hasse es, wenn Frauen sich die Gesichter mit Lippenstift und Puder zukleistern.« 

Seine Bemerkung ärgerte sie. Das sagten Männer so, in Wirklichkeit meinten sie, dass sie es hassten, wenn sie die Schminke im Gesicht einer Frau erkennen konnten. Ihnen kam es nur darauf an, dass eine Frau hübsch aussah. Wie sie das anstellte, war ihnen im Grunde egal. 

»Nicht mehr viel übrig vom Vormittag«, bemerkte er mit einem Blick auf seine Uhr. 

Sie traten aus der Bahnhofshalle in den peitschenden Regen. Lewis machte ein angewidertes Gesicht. »Ist ja scheußlich, das Wetter.« 

»Das Wetter kann man leider nicht bestellen, Lewis.« 

»Es schüttet aus Eimern, und man kann nicht mal in ein Museum flüchten, weil die sowieso alle ausgeräumt sind.« 

Sie bekam ein flaues Gefühl. So hatte sie sich ihr Wiedersehen nicht vorgestellt. Hatte sie sich ihre Gefühle für Lewis vielleicht nur eingebildet? Sie aus lauter Einsamkeit und Langeweile heraufbeschworen? 

Sie wappnete sich innerlich, um lieber gleich der Wahrheit ins Auge zu sehen. »Bist du enttäuscht von mir?«, fragte sie.  

Der Regen tropfte vom Schirm seiner Mütze, als er sich ihr zuwandte. »Enttäuscht? Wie kommst du denn auf die Idee?« 

»Manchmal verklärt die Erinnerung die Dinge.« 

»Freddie, du bist viel schöner als in meiner Erinnerung. Warum sagst du so etwas? Geht es dir etwa mit mir so?« 

»Nein, natürlich nicht. Du scheinst nur nicht sehr glücklich zu sein.« 

»Entschuldige.« Er war voller Reue. »Tut mir leid, dass ich die ganze Zeit so genörgelt habe. Die Reise hat ewig gedauert, es gab keinen einzigen freien Sitzplatz, und ich konnte es nicht erwarten, wieder bei dir zu sein.« Er nahm sie in die Arme und drückte sie an sich. »Wie kannst du glauben, ich wäre enttäuscht von dir? Du bist wunderbar. Und ich wollte, dass der Tag auch wunderbar wird, Freddie. Ich habe die Stunden gezählt. Ich wollte, dass der Zug schneller fährt. Ich habe mir blauen Himmel und klares Winterwetter gewünscht. Das ist doch nicht zu viel verlangt.« 

Sie küsste ihn auf die kalte Wange. »Ich verzeihe dir das Wetter, Lewis.« 

Sie setzten sich in ein Café in der Euston Street. Nachdem Lewis Kaffee bestellt hatte, fragte er Freddie nach ihrer Arbeit. Sie war im vergangenen Monat in eine Fabrik in Slough versetzt worden, wo Flugzeugpropeller hergestellt wurden. 

»Ich komme gut zurecht«, sagte sie. »Nur meine Freunde aus Birmingham fehlen mir. Aber es ist angenehm, in einer Pension zu wohnen. Einige der anderen schimpfen über die Zimmer, aber ich bin einfach froh, dass ich nicht mehr in diesem Wohnheim hausen muss. Es ist eine Erleichterung, sein eigenes Zimmer zu haben.« 

»Und wie sind die Leute?« 

Sie zuckte mit den Schultern. »Ganz in Ordnung.« 

»Nein, sind sie nicht.« Lewis lächelte. »Da gibt’s einen Haken, stimmt’s?« 

»Ach, es ist langweilig.« 

»Keine Angst, du langweilst mich nicht.« 

»Doch. Männer interessieren sich nicht für Streitereien unter Frauen. Sie verstehen sie nicht, sie öden sie nur an.« 

»Du kannst reden, worüber du willst. Es ist wunderbar, deine Stimme zu hören.« 

»Also gut. Aber wenn es dich langweilt, dann sag es. Bei uns arbeitet eine Frau namens Shirley. Keiner mag sie. Wir sind zu fünft in derselben Gruppe. Wenn wir ins Kino gehen oder so, fordern sie Shirley nie auf mitzukommen.« 

»Was ist denn so schlimm an ihr?« 

»Ach, sie ist nur etwas merkwürdig. Das ist es ja, wenn sie besserwisserisch oder unangenehm wäre, würde ich sie wahrscheinlich auch links liegen lassen. Aber das ist sie nicht. Sie ist nur ein bisschen ungeschickt mit dem, was sie sagt, und sie zieht sich ziemlich scheußlich an und hat eine komische Frisur. Deshalb schließen die anderen sie aus, und ich finde das schrecklich.« 

»Du meinst, sie verbünden sich gegen sie? Ich finde es toll, dass du deinen Prinzipien treu bleibst, Freddie.« 

»Wirklich?«, fragte sie trübe. »Ich denke ernstlich daran, sie über Bord zu werfen. Sie bringen mir nichts weiter ein, als dass ich in der Pause mit Shirley dasitze, und du hast keine Ahnung, wie sehr sie einem auf die Nerven gehen kann, Lewis.« 

Er lachte laut heraus. »Auf meinem ersten Schiff hatten wir auch so einen Kameraden. Was er anfasste, machte er verkehrt, und der Oberleutnant, so ein richtiger Tyrann, hat ihm das Leben zur Hölle gemacht. Mir hat er leidgetan, aber, lieber Gott, er ist auch immer direkt reingetappt.« Er schaute zum Fenster hinaus. »Scheint ein bisschen nachzulassen. Wollen wir los?« 

Sie nahmen einen Bus zur Oxford Street. Bei Selfridges suchte Freddie in der Kurzwarenabteilung nach Knöpfen für ihren Regenmantel, fand aber nicht die richtigen. Dann sagte Lewis, er wolle ihr etwas schenken, sie entgegnete, nicht nötig, und daraufhin hatten sie beinahe ihren ersten Streit. Am Ende sagte sie ziemlich ungnädig, also gut, eine Kleinigkeit, aber obwohl sie sämtliche Stockwerke abklapperten, fanden sie nichts Hübsches, was Lewis von Neuem ärgerlich machte. Um ihn zu trösten, schlug sie vor, mittagessen zu gehen.  

Im Restaurant trafen sie ein Ehepaar, mit dem Lewis bekannt war, einen Marineoffizier aus Dartmouth und seine Frau, eine hübsche Person mit lockigem braunen Haar, die ein Kind erwartete. Da es sehr voll war, nahmen sie zusammen einen Tisch. Während des Gesprächs, bei dem es hauptsächlich um die Marine ging, merkte Freddie, wie sie innerlich einen Schritt zurücktrat. Bei ihrer zufälligen Begegnung vor drei Monaten im Zug hatte Lewis, so war es ihr damals vorgekommen, eine Verletzlichkeit gezeigt, die ihn ihr umso sympathischer gemacht hatte. Aber als sie ihn jetzt mit seinen Freunden beobachtete, schien er ihr nicht viel anders zu sein, als all die anderen großspurigen jungen Männer, mit denen sie in den letzten Jahren ausgegangen war – gut aussehend, ja, aber zu sehr darauf bedacht, zu beeindrucken, witzig zu sein, sich in Szene zu setzen. Sie spürte, dass auch er sich nicht auf das Gespräch konzentrierte: Immer wieder schweifte sein Blick durch das Restaurant, und wenn er merkte, dass sie ihn ansah, setzte er sein gewinnendes, zuversichtliches Lächeln auf. Sie konnten vielleicht besser miteinander, wenn sie allein waren – oder vielleicht waren sie auch beide nur übermüdet. Es erschreckte sie, sich vor Augen zu führen, wie wenig sie ihn kannte, und es erschreckte sie auch, sich einzugestehen, welche Erwartungen und Hoffnungen sie in diesen Tag gesetzt hatte.  

Nach dem Essen trennten sie sich von dem anderen Paar. Lewis sagte: »Tut mir leid.« 

»Macht doch nichts.« 

»Nett, dass du das sagst.« Er schüttelte den Kopf. »Herrgott noch mal, das war wirklich heikel.« 

»Warum?« 

»Trevor war mit einer anderen verlobt, als wir in Dartmouth waren. Und vor zwei Jahren hat Clare mir dann erzählt, er hätte eine neue Verlobte.« 

»Zwei Verlobte?« 

»Und jetzt eine Ehefrau. Ich habe keine Ahnung, ob Sally von den anderen weiß. Ich habe wie auf Kohlen gesessen, weil ich dachte, ich würde jeden Moment ins Fettnäpfchen treten.« 

Da es nicht aufhören wollte zu regnen, beschlossen sie ins Kino zu gehen und sahen sich am Leicester Square Der Herr in Grau an. Lewis hielt ihre Hand. Neben ihm in der Dunkelheit sitzend erinnerte sie sich wieder, was sie zu ihm hingezogen hatte: Seine Geradlinigkeit und ihr Gefühl, dass er bei all seiner zur Schau getragenen Unbekümmertheit zuverlässig und ernsthaft war. Und sie dachte daran, wie sie im Zug an seiner Schulter erwacht war, und wie beglückend und zugleich friedvoll sie es empfunden hatte. Im wechselnden Licht des Kinosaals sah sie ihn an und versuchte, sich zu erklären, was sie an seiner Erscheinung so sehr fesselte. Er war kein gut aussehender Draufgänger wie Clark Gable, seine Züge hatten eher etwas Koboldhaftes, sie waren wandelbar. Er lächelte schnell, und oft blitzte ein Licht in seinen Augen auf. Ja, vielleicht war es das. 

Ohne Worte fiel es ihr leichter, ihm nahe zu sein. Sie wusste, dass sie müde und überreizt war, lange schon, ausgelaugt von den endlosen Arbeitstagen und den ständigen Belastungen und Unannehmlichkeiten des Krieges. Wenn sie müde war, wurde sie ungenießbar, dachte sie, übertrieben kritisch und mit ihrem Urteil schnell bei der Hand. Schlimmer als sittsam: sittsam und zensierend – du lieber Gott. 

Es war dunkel, als sie aus dem Kino kamen. Sie gingen Arm in Arm die Charing Cross Road hinunter und flüchteten sich in ein Antiquariat, als es wieder zu regnen begann. 

Lewis durchforstete eine Reihe Taschenbuchkrimis, während Freddie in den Regalen stöberte. Ein Name sprang ihr ins Auge, und sie nahm das Buch heraus. Der Umschlag zeigte ein Gemälde, das an den schwärzlichgrünen Zypressen und dem kobaltblauen Himmel unschwer als italienische Landschaft zu erkennen war. Das Buch trug den Titel Ferne, dunkle Hügel und war von Milo Rycroft. 

Sie brauchte einen Moment, um den Namen unterzubringen. Dann erinnerte sie sich. Milo Rycroft war ein Freund von Tessa gewesen. Seine Telefonnummer hatte in Tessas Adressbuch gestanden. Er selbst war nicht zu Angelos Beerdigung gekommen, aber seine Frau war da gewesen. Ich dachte, ich sollte ihn vertreten, hatte sie gesagt. Wie hatte sie gleich wieder geheißen? Rebecca, richtig. Rebecca Rycroft. 

»Was gefunden?«, fragte Lewis. 

Freddie zeigte ihm das Buch. »Meine Schwester kannte ihn.« Sie drehte das Buch in den Händen. »Milo Rycroft«, sagte sie leise zu sich selbst. »An ihn hatte ich gar nicht gedacht.« 

»Wie meinst du das?« 

Sie sah ihm direkt in die Augen, das Kinn beinahe trotzig erhoben. »Ich nehme an, Marcelle hat dir von Tessa erzählt.« 

»Ja, sie sagte etwas. Sie sagte, deine Schwester habe ein Kind gehabt, das gestorben sei. Warum fragst du? Glaubst du, ich sei moralisch entrüstet?« 

»Bist du’s?« 

»Nein, natürlich nicht.« Er sah gekränkt aus. »Es geht doch hier nicht um ein moralisches Urteil. Überhaupt nicht.« 

»Entschuldige.« Sie schämte sich ihres Verdachts. »Tut mir leid, Lewis.« 

»Entsetzlich, wenn einem so etwas passiert. Das war das Einzige, was ich gedacht habe.« 

Ihr kamen plötzlich die Tränen, und sie musste blinzeln, um sie zurückzudrängen. Er strich ihr über das Haar und streifte ihren Mund mit den Lippen.  

Dann nahm er ihr das Buch aus der Hand, schlug es auf und überflog den kurzen Text auf der Innenseite des Umschlags. »Es spielt in der Toskana«, sagte er. »Da lebt deine Schwester doch?« 

»Ja.« Wieder hätte sie am liebsten zu weinen angefangen. »Ich habe ständig Angst um sie«, sagte sie. »Ich muss immer an sie denken, obwohl ich mich abzulenken versuche.« 

»Wenn sie vernünftig ist … Wenn sie schön den Kopf einzieht …« 

»Tessa war nie vernünftig. Und es ist ihr bestimmt in ihrem ganzen Leben noch nicht eingefallen, den Kopf einzuziehen.« 

»Das klingt zornig.« 

»Sie ist einfach weggegangen«, brach es aus ihr heraus. »Sie hat mich einfach im Stich gelassen.« 

Er betrachtete sie forschend. »Arme kleine Freddie«, sagte er und küsste sie noch einmal. »Komm, ich kaufe dir das jetzt, und dann gehen wir irgendwohin, wo wir in Ruhe reden können. Ich habe schon eine Idee.« 

Sie gingen zu einer Bushaltestelle. »Ich weiß nicht, was du von dem Laden halten wirst«, sagte er. »Ich weiß nicht einmal, ob er noch existiert. Als ich in Winchester war, hat mich meine Tante Kate am Bahnhof abgeholt, wenn das Schuljahr zu Ende war, und ist in dieses komische kleine Café mit mir Mittagessen gegangen.« 

Der Bus brachte sie nach Bloomsbury, in die Nähe des Britischen Museums. Das Café befand sich im Souterrain eines hohen Hauses, das, wie alle Häuser in London, aussah, als wäre es einsturzgefährdet. Holzpfeiler stützten das Dach über der Vortreppe, und die Steinstufen zum Kellergeschoss waren geborsten.  

Drinnen gab es ein halbes Dutzend Tische. Freddie setzte sich, während Lewis zum Tresen ging. Die Wände waren hinter Regalen voller Bücher verborgen. In einer Ecke stand ein schwarzer Emailleofen mit einem gekrümmten Metallrohr und auf dem Tresen ein russischer Samowar. Das Inventar des Cafés schien sich in einem fortgeschrittenen Zustand der Auflösung zu befinden – die Lederpolster auf den Stühlen waren aufgeplatzt, die Rücken vieler Bücher hingen nur noch an ein paar dünnen Fäden, Regenwasser quoll durch die Ritzen rund um das Fenster. 

Eine ältere Frau, in mehrere zerlöcherte Strickjacken gehüllt, das graue Haar zu einem schlampigen Knoten gesteckt, bediente an der Theke. 

Lewis bestellte Tee und brachte ihn an den Tisch. »Sonia ist Kommunistin«, bemerkte er mit einer Kopfbewegung zu der Frau in den Strickjacken. »Begeistert, dass Onkel Joe jetzt auf unserer Seite ist. Meine Tante Kate und Sonia waren dicke Freundinnen.« 

Er sah sich um. »Als Junge fand ich immer, dass es hier komisch riecht.« 

»Nach Holzrauch und Zigarettenasche.« 

»Und Kondenswasser und nasser Wolle. Na, wie findest du’s?« 

Sie griff über den Tisch und drückte seine Hand. »Wunderbar. Ich könnte Stunden hier sitzen, es ist so schön warm.« 

»Das freut mich. Wie alt warst du, als das Kind deiner Schwester gestorben ist?« 

»Achtzehn.« 

»Noch nicht mal richtig erwachsen. Es muss schlimm für dich gewesen sein, deinen Neffen so zu verlieren.« 

Ihr fiel ein, dass das noch niemand zu ihr gesagt hatte. Lewis hatte erkannt, dass auch sie einen Verlust erlitten hatte.  

»Es war schrecklich«, sagte sie. »Das Schlimmste war, dass ich die Beerdigung vorbereiten musste. Ich wusste nicht, ob ich es richtig machte – ob Tessa es nicht anders gewollt hätte. Ich hoffe, dass ich nie wieder im Leben so etwas Schreckliches tun muss.« 

Sie hatte lange nicht mehr an die Männer gedacht, die damals in Tessas Leben eine Rolle gespielt hatten. Jetzt tat sie es. Sie konnte sich nicht erinnern, Milo Rycroft je in Tessas Wohnung oder in einer der Cliquen erlebt zu haben, mit denen sie sich immer im Ritz oder im Mirabelle getroffen hatte. Was an sich schon interessant war. Das klingt zornig, hatte Lewis gesagt. Ja, sie war zornig auf Tessa gewesen, die sie allein zurückgelassen hatte, zornig, dass sie ihr nie den Namen des Mannes gesagt hatte, der Vater ihres Kindes war. Sie hatte das Gefühl gehabt, selbst wie ein Kind behandelt zu werden, dem man nicht vertrauen konnte. Tessa hatte ihr erzählt, dass sie Angelos Vater geliebt hatte, aber Tessas Liebe hatte, so schien es Freddie, unendliche Zerstörung nach sich gezogen. Selbst zwischen ihnen hatte diese Liebe eine Kluft aufgerissen. 

Lewis sagte unvermittelt: »Es tut mir leid, wenn ich heute ein bisschen mürrisch war. Ich kann in letzter Zeit kaum noch schlafen.« Er lachte. »Auf dem Schiff schläft niemand gut – viel zu laut, und dauernd die gestörten Nächte. Aber früher habe ich meistens drei oder vier Stunden geschafft. Das klappt jetzt nicht mehr. Ich liege wach, und in meinem Hirn rattert es unentwegt. Ich versuche, an dich zu denken, Freddie, aber manchmal funktioniert sogar das nicht. Bilder von dir blitzen auf – der Abend im Dorchester, und wie wir uns mal bei Marcelle getroffen haben, weißt du noch?, nur ein, zwei Minuten. Unsere Zugfahrt und der Abend danach. Irgendwie habe ich dann das Gefühl, dass du gar keinen anderen Menschen brauchst. Dann bekomme ich Angst, dass du mir einfach zwischen den Fingern durchschlüpfst. Und das könnte ich nicht ertragen.« 

Er hielt ihre Hand sehr fest. Sie schüttelte den Kopf. »Ich werde dir nicht zwischen den Fingern durchschlüpfen, Lewis.« 

»Nein?« Er lächelte ein wenig schief. »Das ist gut. Denn weißt du, ich habe mich in dich verliebt, Freddie.« 

Bisweilen hätte sich Tessa fast erinnert. Es war eine merkwürdige Erfahrung, sich fast zu erinnern. Als wollte man ein Flöckchen Distelflaum zu fassen bekommen, das einem, von der Luftbewegung der greifenden Hand getrieben, davonschwebte.  

Die Fast-Erinnerungen tauchten frühmorgens, beim Erwachen, auf. Tessa öffnete die Augen und richtete den Blick auf das helle, lichtbeschienene Stück Vorhang am Fenster und sah vor sich eine lange, gerade Straße in grauem Regen. Am Straßenrand bewegte sich etwas – eine Fahne oder ein Schild, blau und orange. Dann löste es sich auf, und sie schloss die Augen und versuchte, sich wieder in den entspannten, träumerischen Zustand hineinsinken zu lassen, dem die Fast-Erinnerungen entsprungen waren. Angelo hatte eine Erkältung gehabt, sagte sie sich. Sie konnte nicht arbeiten, und es war schlechtes Wetter. Es war bedrückend gewesen, in der Wohnung zu sitzen, den unablässigen Regen zu sehen und Angelo schreien zu hören, weil er nicht trinken konnte. Max hatte sie besucht – aber sie konnte sich an den Besuch nicht erinnern. Er hatte ihr nur später davon erzählt. 

Es war, als erhaschte man einen flüchtigen Blick aus dem Augenwinkel. Ein Aufblitzen, ein Schimmern, und ein Gedanke formte sich und gewann Gestalt. Ihr schien, als dürfte sie nur ganz verstohlen hinsehen, denn wenn sie versuchte, das Bild direkt ins Auge zu fassen, würde es vielleicht verschwinden und sich nie wieder blicken lassen.  

Im Winter, als hoher Schnee gelegen hatte, war sie jeden Abend nach Einbruch der Dunkelheit das Tal hinuntergegangen. Sie trug den Pelzmantel ihrer Mutter und Gummistiefel und in jeder Hand einen großen Korb. Die gestutzten, knorrigen Weinstöcke bildeten Reihen schwarzer Zeichen im weißen Schnee, wie Punkte, die darauf warteten, miteinander verbunden zu werden. 

Wenn sie den Wald erreichte, ging sie ein paar Schritte in die Bäume hinein und wartete. Bald zeigte sich dann ein halb abgeblendetes Licht, und sie hörte das Knirschen nahender Schritte. Dann trat einer der Männer – Desmond, Ray oder vielleicht Chris – aus den Schatten. Sie sahen alle wie Straßenräuber aus, häufig unrasiert, mit wildem Haar, die Kleidung ein zerlumptes Übereinander von allem, was irgendwie wärmen konnte. Sie versorgte sie mit den Lebensmitteln aus ihren Körben, sie redeten eine Weile, dann verschwanden die Männer wieder im Wald und sie kehrte zum Haus zurück. 

Dieser Krieg, dachte Tessa oft, wurde immer wahnsinniger. Ein Weltkrieg und ein Bürgerkrieg wurden in einem schmalen, bergigen Land gleichzeitig ausgetragen. Da waren die alliierten Truppen, die mit aller Macht versuchten, den Brückenkopf bei Anzio zu halten, und zugleich erbitterte Kämpfe führten, um das Verteidigungsbollwerk der Gustav-Linie südlich von Rom zu durchbrechen. Da waren die Partisanenbanden, die sich in Wäldern und Bergen zusammenrotteten, eine Mischung aus italienischen Deserteuren, Patrioten und alliierten Kriegsgefangenen, denen es hin und wieder gefiel, aus dem Hinterhalt auf faschistische Milizen zu schießen, eine Brücke in die Luft zu sprengen oder einen deutschen Konvoi zu überfallen. Grausame Vergeltungsschläge gegen die Partisanen und ihre Familien folgten auf dem Fuß. 

In den dicht bewaldeten Hügeln auf dem Belcanto-Besitz hielten sich mehr als hundert Männer versteckt. Tessa kannte viele von ihnen mit Namen. Sie kamen aus aller Herren Länder – Großbritannien, Kanada, Australien, Neuseeland, Indien, Frankreich. Einige, unter ihnen Desmond Fitzgerald, hatten mehr als einmal versucht, die alliierten Truppen zu erreichen, hatten aber jedes Mal umkehren müssen. Desmond war Mitte Dezember in die Toskana zurückgekehrt, nachdem er aus erneuter Gefangenschaft ausgebrochen war. 

Während südlich von Rom der Kampf tobte, flohen immer mehr Menschen nach Norden. Ihre Häuser, Dörfer und Städte waren in der Schlacht dem Erdboden gleichgemacht worden. Hohlwangige, hungernde Männer, Frauen und Kinder, viele unter ihnen verwundet und krank, alle zu Tode erschöpft von Not und Entbehrung, suchten im Herrenhaus und auf den umliegenden Höfen Nahrung und Schutz. Olivia wies niemals einen Flüchtling ab. Aber ihre eigenen Vorräte gingen allmählich zur Neige, und ihr graute vor dem Moment, sagte sie zu Faustina und Tessa, wenn sie entscheiden müsste, ob sie denen helfen wollte, die unter ihrem Dach lebten, oder den Flüchtlingen.  

Kriegsgefangene, Deserteure und Partisanen suchten Hilfe auf der Krankenstation. Es konnte sein, dass früh am Morgen leise an die Tür geklopft wurde oder dass Faustina bei einem Gang durch den kleinen Garten hinter dem Haus im Schatten der Kastanie einen Verwundeten entdeckte, der sich dort versteckt hatte. Sie versorgten die Kranken und Verwundeten und bemühten sich, bis zu ihrer Gesundung ein sicheres Obdach für sie zu finden. Ende Mai wurden Flugblätter mit Warnbotschaften aus Flugzeugen abgeworfen. Wer Partisanen mit Nahrung oder Unterkunft helfe, werde erschossen. Jedes Haus, das einem Rebellen Schutz gewähre, werde zerstört. 

Eines Nachmittags, als Tessa nach einem Besuch auf einem der Pachthöfe zum Herrenhaus zurückkehrte, hörte sie schon auf dem Fußweg, der sie an einem Feld entlangführte, das Knallen von Autotüren und das Knirschen schwerer Stiefel auf dem Kies. Hinter einer hohen, buschigen Hecke blieb sie stehen. Vorsichtig beugte sie sich vor, bis sie zwischen den Zweigen hindurchsehen konnte. Zwei deutsche Panzerwagen standen vor dem Herrenhaus; mehrere Soldaten gingen über den Vorplatz. Ein Soldat blieb bei den Wagen. Tessa beobachtete, wie er seine Feldmütze abnahm und sich gelangweilt am Kopf kratzte. Dann drehte er sich mit erhobenem Gewehr, bis er genau auf die Hecke blickte. 

Tessa wich einen Schritt zurück. Ein Fußweg führte neben dem Feld ins Tal hinunter. Als sie davonlief, meinte sie, den Blick des Soldaten in ihrem Rücken spüren zu können, und schauderte. 

Aber niemand rief ihr nach, kein Schuss zerriss die Stille. Als sie sich umschaute, war der Feldweg leer, und sie suchte schnell in einem Kastanienwäldchen Deckung. Sie ahnte, dass die deutschen Soldaten das Haus durchsuchten. Vielleicht war den Oberen ein Gerücht zu Ohren gekommen, dass die Zanettis partisanenfreundlich waren oder dass ein flüchtiger Kriegsgefangener in der Villa Belcanto auf Zuflucht hoffen konnte. Es bedurfte nur einer durch Bestechung oder Drohung herausgekitzelten Andeutung. Zum Glück waren augenblicklich keine Flüchtigen im Herrenhaus versteckt. Aber einige der Sachen, die in Tessas Schrank hingen, hatten englische Etiketten, und ihr Adressbuch mit der Liste englischer Namen, sowie ein Brief, den sie Anfang 1941 von Freddie erhalten hatte, waren hinter einem losen Backstein im offenen Kamin versteckt. Da brauchte jemand bei der Suche nur ein wenig gründlicher zu sein, und man würde entdecken, wer sie wirklich war. Sie hatten alle von Menschen gehört, die aus ihren Häusern gerissen, des Verrats oder der Spionage angeklagt und inhaftiert oder getötet worden waren. 

Über ihr schimmerte das blasse Blau des Himmels durch das grüne Kastanienlaub. An manchen Stellen durchdrang Sonnenlicht das Blätterdach und fiel in leuchtenden Kringeln auf den Waldboden. Vor noch gar nicht so langer Zeit war es ihr gleichgültig gewesen, ob sie lebte oder starb. Aber jetzt entdeckte sie bei sich einen brennenden Wunsch zu leben, frei zu sein, den Krieg zu überstehen. 

Es war dämmrig geworden, als sie sich endlich aus ihrem Versteck wagte. Im Innenhof des Hauses wurde sie von Faustina erwartet. Die deutschen Soldaten hatten nach drei entflohenen Gefangenen gesucht. Sie durchsuchten sämtliche Häuser und Höfe in der Gegend. 

In ihrem Zimmer sah Tessa sofort nach ihrem Adressbuch. Es lag noch sicher in seinem Versteck. Sie atmete auf und setzte sich aufs Bett. Ihre Beine zitterten. Sie drückte eine Hand auf den Mund. 

Sie dachte an Guido. War er gefangen genommen worden – aber wenn ja, hätten sie dann nicht über das Rote Kreuz etwas gehört? Oder hielt er sich, wie so viele andere italienische Soldaten, draußen in den Bergen verborgen? Sie erinnerte sich ihres Gesprächs in jener Sommernacht im Innenhof und dachte an Guidos Leidenschaftlichkeit, seinen Glauben an Treue und Prinzipien. Treue und Prinzipien waren jetzt gefährliche Begleiter. Viele Menschen mussten für sie sterben. 

Lass ihn am Leben sein, dachte sie. Lass ihn in Sicherheit sein. Bitte, lass ihn noch am Leben sein. 

Die Kampfzone rückte näher. Man lenkte sich mit Beschäftigung ab. Es war ja nicht so, als hätte es nicht genug zu tun gegeben. Bomberformationen, die tief über das Land hinwegflogen, störten das Gleichmaß der Tage und Nächte. Die Wucht der Explosionen erschütterte die Hügel und Täler. Tiefflieger richteten ihre Maschinengewehre auf Straßen und Brücken und fahrende Autos. Rauchwolken stiegen aus einem zerstörten Haus oder einem Flugzeugwrack zum Himmel hinauf. Bisweilen schwebte silbern ein Fallschirm zur Erde. 

Wenn die Tiefflieger dem Haus zu nahe kamen, jagten sie die Kinder in den Keller. Es waren mittlerweile zwanzig an der Zahl, unter ihnen ein sechs Wochen altes kleines Mädchen, Cara, dessen Mutter im Kindbett gestorben war. Cara hatte die Angewohnheit, beim Trinken einzuschlafen; immer wieder musste Tessa sie sanft schütteln oder an den Füßen kitzeln, um sie wach zu halten. 

Viele Kinder weinten und schrien, wenn die Bomben in der Nähe des Hauses niedergingen, aber es gab auch andere, die, inzwischen an den Lärm gewöhnt, einfach weiterspielten und kaum einen Blick zum Himmel schickten. Tessa nahm Tommaso stets sofort bei der Hand, wenn sie das tiefe Dröhnen der Bomber hörte. Er sollte nicht davonlaufen und sich in seiner Höhle in der Hecke verkriechen. 

Im Keller versuchte Tessa, die Kinder abzulenken, indem sie ihnen Geschichten erzählte oder Singspiele mit ihnen machte. Kerzen warfen schwarze Schatten an die Steinwände des kühlen Raums, der nur hoch oben ein schmales vergittertes Fenster hatte. Eines Tages, als Tessa vorlas, merkte sie, wie jemand seinen Kopf in ihren Schoß grub, und sah, dass es Tommaso war. Ein kleines Wunder, dachte sie, während sie seinen Lockenkopf streichelte. 

5. Juni, der Tag nach der Übernahme Roms durch die Alliierten.  

Faustina fand ihn. Aber sie erkannte ihn nicht gleich. Es war dämmrig, Fledermäuse schossen um die Dächer, und Faustina wollte gerade aus der Krankenstation nach Hause gehen, als an die Tür geklopft wurde. Sie öffnete und hörte jemanden weglaufen. Zwei Männer verschwanden um die Straßenecke. Dann erst bemerkte sie einen dritten Mann, der zusammengekrümmt am staubigen Straßenrand gegenüber dem Haus lag. Sie hörte sein panisches Röcheln, als sie zu ihm hinüberging. 

»Es ist alles gut«, sagte sie besänftigend. »Sie sind jetzt in Sicherheit. Versuchen Sie, langsam und regelmäßig zu atmen. So ist es gut, ein und aus, langsam, ja, so ist es gut.« 

Sie strich ihm das verfilzte schwarze Haar aus dem Gesicht und erschrak. »Guido«, sagte sie. »O Gott, Guido.« 

Sie trugen ihn in die Krankenstation und schnitten ihm die Kleider vom Leib. Er hatte eine Schusswunde in der Schulter, und Faustina vermutete, dass er zudem an einer Lungenentzündung erkrankt war. 

Stefano, der Verwalter, wurde losgeschickt, Dr. Berardi zu holen. Während sie auf die Ankunft des Arztes warteten, entfernte Faustina den provisorischen Verband von Guidos Schulter und sprach dabei mit ihrem Bruder. »Das ist ja wieder mal typisch für dich, Guido, einfach zu verschwinden, ohne einem Menschen etwas zu sagen. Mutter hatte Angst um dich, aber ich wusste, dass du unweigerlich wieder auftauchen würdest. Und natürlich musste es ein großer Auftritt sein – gerade, als ich endlich in Ruhe abendessen wollte.« Der Anflug eines Lächelns war auf Guidos schmerzverzerrtem Gesicht zu erkennen. 

Dr. Berardi entfernte die Kugel aus Guidos Schulter und nähte die Wunde. Faustinas Diagnose einer Lungenentzündung bestätigte sich. Der Arzt nahm Faustina und Olivia auf die Seite. Wenn Guido überleben solle, werde er viele Wochen lang intensive Pflege brauchen. Er müsse Stille und Ruhe haben, um langsam wieder zu Kräften zu kommen.  

An diesem ersten Abend versorgten sie Guido in der Krankenstation. Am nächsten Morgen trugen Stefano und einer der anderen Männer ihn in aller Frühe in Decken gehüllt zum Fuhrwerk hinaus, wo sie ihn vorsichtig niederlegten. Olivia küsste ihn zum Abschied, dann fuhr Stefano mit Guido, Faustina und Tessa auf der Straße davon, weg vom Herrenhaus. 

Der Plan, den die drei Frauen am Abend zuvor besprochen hatten, sah vor, Guido in das entlegenste Haus auf dem Gut zu bringen. Sie würden ihn dort abwechselnd pflegen, jede immer zwei, drei Tage hintereinander. Das kleine aus Stein erbaute Bauernhaus – zwei Räume und ein Speicher für Holz und Werkzeuge – stand seit vielen Jahren leer, doch es war im Wesentlichen intakt. Auf der einen Seite stand Wald, auf der anderen lag eine breite Talsenke. Selten kam hier jemand vorbei. Wenn nötig, würde der Wald Schutz und ein Versteck bieten. 

Das Fuhrwerk bog von der Straße in einen von Gras überwachsenen Fußweg ein. Guido lag reglos hinten im Wagen. Hin und wieder bat Faustina Stefano zu halten, damit sie nach ihrem Bruder sehen konnte. Dann ging die Fahrt weiter, immer höher hinauf. Die Wiesen waren voller Blumen, und die Luft wurde frischer. Den Berghang auf der anderen Seite von ihnen bedeckte dichter tiefgrüner Wald. 

Bald verlor sich auch der Fußpfad, nichts mehr markierte ihren Weg. 

Morgens, wenn sie aufstand, um nach Guido zu sehen, hörte Tessa aus dem Wald das Gezwitscher der Vögel. Wenn sie seinen fieberheißen Körper abwusch und ihm den Schweiß von der Stirn wischte, begleiteten Vogelgesang und das sanfte Rauschen des Waldes Guidos keuchendes Atmen, das mühsame Einatmen und den kurzen, japsenden Ausstoß der Luft. Wenn die japsenden Stöße schneller wurden, hielt sie seine Hand und zählte für ihn, ein eins, zwei, drei, aus eins, zwei, drei, bis sein Atem sich beruhigte. 

Als das Fieber zu sinken begann, fragte er, wo er sei. Dann blinzelte er und sagte: »Tessa? Bist du das?«, schloss aber die Augen, bevor sie antworten konnte. Sie erinnerte sich, wie sie sich damals gefühlt hatte, als sie nach dem Unfall im Krankenhaus gelegen hatte, wie benebelt, unfähig zu verstehen, was vorging. Guidos Wangenknochen standen unter der Haut seines Gesichts hervor, sein von der Sonne tiefbraun gebrannter Körper, auf dem alte Narben erkennbar waren, war völlig abgemagert. Wenn sie ihm mit kühlem Wasser den Rücken wusch, wie Faustina angeordnet hatte, spürte sie unter ihren Fingern jede einzelne seiner Rippen. Wenn er husten musste, hielt sie ihm den Becher an den Mund, damit er einen Schluck Wasser trinken konnte. Es war eine andere Art von Nähe, dachte sie, eine andere Art von Vertrautheit, und sie empfand sie als Geschenk. 

Sie schlief auf dem Boden neben seinem Feldbett – nein, schlafen konnte man es nicht nennen, es war ein Dämmern, aus dem sie jedes Mal herausgerissen wurde, wenn er sich bewegte oder stöhnte. Sie legte ihm dann ein kühles feuchtes Tuch auf die Stirn und redete mit ihm, bis er ruhiger wurde. Als sein Zustand sich eines Nachts plötzlich verschlechterte, sie seine klamme Haut fühlte und seine hechelnden Atemzüge hörte, wusch sie ihn mit lauwarmem Wasser ab, um das Fieber zu senken. Sie pflegte ihn mit beinahe grimmiger Inbrunst, entschlossen, sich nicht geschlagen zu geben. Sie würde ihn nicht sterben lassen, sie würde ihn nicht gehen lassen. Am Morgen war das Fieber gefallen, und er schlief fest. 

Es berührte sie jedes Mal seltsam, wenn sie Guido Faustinas oder Olivias Pflege überlassen und ins Herrenhaus zurückkehren musste. Ihr Leben dort erschien ihr weniger greifbar, als die Tage in dem kleinen Bauernhaus. 

Einmal sah sie vom Bauernhaus aus einen Schäfer mit seiner Herde, die Schafe wie weiße Rauchwölkchen auf dem grünen Gras jenseits des Tals. Ein andermal bemerkte sie zwei Menschen, die über den Hügel wanderten. Schwarz vor dem hellen Himmel, sahen sie aus wie Papierpuppen. Sie schätzte die Entfernung vom Haus bis zum Wald und fragte sich, ob sie die Kraft besäße, Guido über die Wiese zu helfen, damit sie sich unter den Bäumen verstecken konnten. Aber die beiden Gestalten gingen weiter und verschwanden hinter der Hügelkuppe. Als sie gewiss war, dass sie nicht zurückkommen würden, setzte sie sich wieder an Guidos Bett. 

Die einschneidenden Ereignisse des Krieges – der Fall Roms und die Landung der Alliierten in der Normandie nur zwei Tage später – schienen weit entfernt. Wenn Tessa abends an Guidos Bett saß, dachte sie stattdessen über die Liebe nach, die einfach vergehen und manchmal trotz körperlicher Entfernung und aller Missverständnisse fortbestehen konnte; die über alles einen zauberischen Glanz breiten konnte, wie der Mond und die winterliche Stimmung bei ihrer ersten Begegnung mit Milo, und von der nach dem Wegfall dieses Glanzes dennoch bisweilen nicht einmal eine Erinnerung daran blieb, warum man den anderen geliebt hatte. Wenn sie in den letzten Jahren an Milo gedacht hatte, waren ihr immer nur Eitelkeit, Egoismus und Gier in den Sinn gekommen. 

Aber auch Liebe, die dauerte, konnte sich verändern. Sie war siebzehn Jahre alt gewesen, als sie sich in Guido Zanetti verliebt hatte. Damals hatte sie ihn geliebt, weil er am schnellsten schwimmen konnte, weil er mit Kleidern ins Wasser gesprungen war und weil seine Blicke sie zum Schmelzen gebracht hatten. 

Doch so viel sich verändert hatte, abgeschliffen von Zeit und Erfahrung, sie hatte in den Tagen und Nächten an seiner Seite erkannt, dass sie ihn immer noch liebte. Sie liebte ihn wegen seiner Entschlossenheit und seines Muts, aber auch wegen seiner Verletzlichkeit. Verrückt, dachte sie, dass man sich in einen Mann noch einmal ganz neu verlieben kann, nur wegen der Fragen in seinem Blick. 

Er sagte: »Tessa?« 

Sie stand am Fenster und drehte sich lächelnd um. »Hallo, Guido. Wie fühlst du dich?« 

»Besser.« 

Er sah sie verwirrt an, und sie erklärte. »Du bist krank gewesen. Olivia, Faustina und ich haben dich gepflegt.« 

Er versuchte, sich aufzusetzen. Sie half ihm, stopfte ihm mehrere Kissen in den Rücken. Dann setzte sie sich auf die Kante des Feldbetts und legte ihre Hand auf seine Stirn. Sie war kühler. 

»Wie lange bin ich schon hier?«, fragte er.  

»Eine Woche.« 

Er war bestürzt. »Ich kann mich nicht erinnern …« 

»Zwei Freunde haben dich zur Krankenstation gebracht.« 

Er runzelte die Stirn. »Mich hat eine Kugel erwischt.« 

»Ja, in der Schulter. Die Wunde heilt gut.« Sie wollte ihn nicht mit vielem Reden ermüden. »Glaubst du, du kannst etwas essen?« 

»Ich kann’s versuchen.« 

Tessa machte auf dem Ölofen Brühe warm und fütterte ihn. Nach ein paar Löffeln schüttelte er den Kopf. »Gott – ich komme mir vor wie ein Baby.« 

»Das ist doch nicht so schlimm. In ein, zwei Tagen kannst du das wieder selber.« 

Sie stellte die Suppenschale weg. 

»Du brauchst nur etwas Geduld.« 

Er lachte mühsam. »Du weißt, dass Geduld noch nie meine Stärke war.« Er griff plötzlich nach ihrer Hand. »Was ist mit Luciella und Maddalena? Habt ihr von ihnen gehört?« 

»Es geht ihnen beiden gut, Guido. Olivia hat erst vor einer Woche einen Brief von Maddalena bekommen. Sie sind wohlauf.« 

»Gott sei Dank.« Er atmete auf und schloss die Augen. 

»Sie sind in Rimini.« 

»In Rimini?« Er riss die Augen wieder auf. 

»Bei Maddalenas Tante. Maddalena hielt es für sicherer. Mach dir keine Sorgen. Sobald es dir besser geht, kannst du ihnen schreiben.« 

»War sie mir sehr böse?« 

»Das weiß ich nicht. Aber bestimmt vermisst sie dich.« 

Er sagte leise: »Als ich aus der Kaserne weg bin, wusste ich, dass ich damit auch sie im Stich lasse.« 

Tessa nahm die Suppenschale. »Versuch, noch etwas zu essen. Je mehr du isst, desto schneller kommst du wieder zu Kräften.« 

Sie berichtete ihm von dem Brief, den Sandro aus dem Zug geworfen hatte. »Wir wissen also, dass er am Leben ist«, fügte sie hinzu. 

»Dass er damals am Leben war«, sagte Guido zornig. »Sandro war nie zum Soldaten geschaffen.« 

»Und du?« 

Er versuchte die Achseln zu zucken und verzog vor Schmerz das Gesicht. »Anfangs ist es mir gar nicht so schwergefallen. Aber dann hatte ich es so satt. Ich brauche Klarheit und Ordnung, aber der Krieg ist die meiste Zeit nur ein Riesenkuddelmuddel.« 

»Pscht«, sagte sie. »Denk jetzt nicht daran.« 

Er wandte den Blick zum Fenster. »Als wir kleine Jungs waren«, sagte er leise, »haben Sandro und ich in diesem Wald gespielt. Einmal haben wir uns verlaufen. Meine Großmutter musste mehrere Leute rausschicken, um uns zu suchen. Sie haben uns erst um Mitternacht gefunden. Als wir älter wurden, kannten wir jeden Baum und jeden Weg. Wir konnten uns selbst in pechschwarzer Finsternis zurechtfinden.« 

Er legte sich wieder hin und schloss die Augen. Tessa wusste, dass sie die Linie seines Wangenknochens und die Rundung seines Kinns aus dem Gedächtnis hätte zeichnen können. Sie legte ihre Hand auf die seine und lauschte seinen Atemzügen. 

»Als ich mich aus der Kaserne davonmachte«, erzählte ihr Guido, »war ich zunächst fest davon überzeugt, vernünftig zu handeln. Ich wollte mich in den Bergen verstecken und abwarten, bis sich die Lage beruhigte. Aber eigentlich wusste ich, dass es immer schwieriger werden würde, nach Süden durchzukommen, je länger ich wartete. Da bin ich am Ende einfach geblieben, wo ich war. 

Ich begegnete immer mehr Leuten, die unterwegs waren wie ich, Deserteure und Männer, die sich der Einberufung entziehen wollten. Am Ende waren wir ein paar Dutzend. Im Winter war es eiskalt. Wir bauten uns Unterkünfte, aber wenn wir Feuer machten, mussten wir immer aufpassen, dass keiner den Rauch sah. Und trockenes Holz war schwer zu finden.« 

Er lächelte Tessa an. »Wenn es schneite, träumte ich immer davon, hier zu sein, in Belcanto, mitten im Sommer. Ich versuchte mir vorzustellen, ich läge irgendwo auf einer Wiese in der Sonne. Aber dann kam Gott sei Dank endlich doch der Frühling. Einmal hatten wir richtig Glück – wir raubten ein Munitionslager aus und ergatterten Sprengstoff und Waffen. Mit dem Dynamit sprengten wir eine Eisenbahnlinie und brachten einen Truppentransportzug zum Entgleisen. Mit der Zeit begriffen wir, dass wir in kleinen Gruppen schlagkräftiger waren. Wir überfielen einen Stabswagen, zerstörten Telefonleitungen. Die Leichen der Getöteten vergruben wir, weil Vergeltungsmaßnahmen weniger wahrscheinlich waren, wenn keine Leichen gefunden wurden. Aber dann wurde ich krank. Ich bekam einen Husten, der sich festsetzte. Wir waren alle erschöpft und halb verhungert. Ich wollte den anderen nicht zur Last fallen. Dumm von mir – ich war für mich selbst und für alle anderen eine Gefahr.« 

»Und dann?«, fragte sie. »Was ist mit dir passiert, Guido?« 

»Irgendjemand kam auf die Idee, eine Brücke in die Luft zu jagen. Ich war gegen den Plan – ich sagte, die Brücke wäre sicher viel zu gut bewacht, und wir hätten nicht genug Waffen. Aber am Ende sind wir doch losgezogen. Alles ging schief. Wir waren weit in der Unterzahl und hatten überhaupt keine Chance. Mich traf eine Kugel in die Schulter, einige der anderen kamen um oder wurden gefangen genommen. Was praktisch einem Todesurteil gleichkam. Danach waren wir in den Bergen nicht mehr sicher und trennten uns. Zwei Freunde halfen mir weiter. Ohne sie hätte ich es niemals hierher geschafft.«  

Guido schwieg so lange, dass Tessa glaubte, er sei eingeschlafen. Aber dann sagte er: »Ich habe dir erzählt, dass ich davon geträumt habe, wieder hier zu sein. Aber ich hatte auch andere Träume. Immer wieder habe ich an die Nacht im Innenhof gedacht, an uns beide, bei dem Gewitter. Ich versuchte, dich vor mir zu sehen. Ich versuchte, mir ins Gedächtnis zu rufen, wie du ausgesehen und was du gesagt hattest. Ich ließ die Nacht nur anders enden. In meinen Tagträumen bist du nicht weggegangen, Tessa. Du bist bei mir in der Loggia geblieben, und wir haben uns in den Armen gehalten und in den Regen hinausgeschaut.« 

Sie legte sich neben ihn auf das Feldbett, den Kopf auf seiner gesunden Schulter, und als sie seinen Herzschlag fühlte, begann ihr eigenes Herz sachter zu schlagen. Sie schloss die Augen und ließ die Welt im ruhigen Rhythmus seiner Atemzüge versinken.  

Faustina sagte, Guidos Lunge sei jetzt wieder frei und die Schulterwunde verheile gut. Guido maß seine wiederkehrenden Kräfte an den Entfernungen, die er zu Fuß zurücklegen konnte. Zuerst zwei Runden um das Haus. Danach musste er sich keuchend und mit Schweiß auf der Stirn hinlegen. Am nächsten Tag ging er auf dem gewundenen Pfad unter den Bäumen in den Wald. 

Manchmal kreisten Flugzeuge am Himmel, sie hörten die Detonationen der Bomben und sahen in der blaugrünen Ferne Rauchsäulen aufsteigen. Am liebsten lagen sie in einer Waldlichtung, über sich die lichtgesprenkelten Zweige der Bäume. Stundenlang konnten sie dort liegen, zufrieden mit zärtlichen Berührungen und Küssen. Sie hatte vergessen, wie viele unterschiedliche Arten zu küssen es gab, vielfältig wie die Farben des Regenbogens. Zärtliche Küsse und hungrige Küsse und Küsse, die sie in Flammen setzten. Küsse so flüchtig und leicht wie die Berührung einer Puderquaste auf der Haut.  

Sie küssten sich wie Halbwüchsige, dachte sie. Halbwüchsige, die vor dem nächsten Schritt Angst hatten. Halbwüchsige, die glaubten, unendlich viel Zeit zu haben.  

Nur ein paar Schritte in den Wald hinein, und die belaubten Äste fügten sich zu einem grünen Dach zusammen. Auf dem Waldboden bildeten dichtes Gestrüpp und dornige Sträucher beinahe undurchdringliche Mauern. 

Guido kannte die Wege, die sich durch den Wald schlängelten, die grünen Tunnel aus Laub, tiefhängenden Ästen und Unterholz. Er wusste, dass nach kurzer Entfernung das Gelände steil anstieg. Junge Bäumchen kämpften an der Felswand ums Überleben und Efeu kroch über den nackten Boden. Er nahm ihre Hand und ging voraus. Auf der Höhe des Steilhangs, in einem Birkenhain, küssten sie sich. 

Sie waren auf dem Rückweg zum Bauernhaus, als sie Stimmen hörten. Guido hielt ihre Hand fester. Sie standen so still wie die Bäume. 

Drei Männer in feldgrauen Uniformen kamen in Richtung auf das Haus den Hügelrücken herunter. Guido legte einen Finger auf die Lippen. Rühr dich nicht, sagte er beinahe lautlos. Tessa wünschte, sie hätte nicht ausgerechnet Pink angezogen. Shocking Pink, Schiaparelli-Pink. Solche Farben gab es in den Wäldern nicht. Was, wenn einer dieser Soldaten in den Wald blickte und es dort grellrosa leuchten sah? 

Die deutschen Soldaten gingen ins Haus. Tessa hörte einen Freudenschrei. Einer der Männer kam mit einer Flasche Wein in der einen Hand und einem Laib Brot in der anderen wieder heraus und blieb einen Moment vor der Tür stehen. Dann setzte er sich auf die Stufe und begann zu essen. Er war jung und blond, seine Uniform schmutzig und abgerissen. Die anderen folgten ihm mit Beute beladen, und zu dritt ließen sie sich im Gras zwischen dem Haus und dem Wald nieder. Tessa konnte den Tabak riechen, den sie rauchten. Alle Muskeln taten ihr weh vom langen Stillstehen. 

Endlich schulterten sie ihre Seesäcke und zogen ab, den Hügel hinunter. Sie hörte Guido aufatmen. Sie warteten noch einige Minuten, dann gingen sie zum Haus zurück. 

Körbe und Vorratskrüge waren geleert, Kleider und Bettwäsche durcheinandergeworfen. Sie standen voreinander und sahen sich an, ihre Hand in seiner Hand. Sein Mund glitt über ihre Lippen und ihre Stirn. Dann knöpfte er ihre Bluse auf und legte die Handflächen auf ihre Haut. 

Sie kannte ihn so lange. Mehr als zehn Jahre waren vergangen, seit sie sich im Park der Villa Millefiore das erste Mal geliebt hatten. Und dennoch, dachte sie, als er sie jetzt in die Arme nahm, kannte sie ihn kaum. Sie erfuhr ihn ganz neu, die Schatten und Geheimnisse seines Körpers, den Geschmack seiner Haut und die Berührung seiner Hände. Sie erfuhr, wie es war, mit einem Mann in vollkommenem Einklang zu sein, die Augen zu schließen und zu wissen, dass sie ein Teil von ihm und er ein Teil von ihr war und sie beide eins waren.  

Später sagte sie: 

»Ich möchte dir von meinem Sohn erzählen. Er hieß Angelo, Angelo Frederick Nicolson. Ich dachte immer, was für ein langer Name für so ein winziges Kind. Er starb bei dem Autounfall. Es war meine Schuld. Ich bin gefahren. Wenn einem so etwas geschieht, verliert man einen Teil von sich selbst. Ich kann mich an den Tag des Unfalls nicht erinnern. Hinterher erzählten mir andere, dass schlechtes Wetter war und der Wagen gerutscht ist. Ich habe solche Angst, dass ich damals nur aus einer Laune heraus losgefahren bin, weil ich den Regen und das Herumsitzen zu Hause satt hatte. Ich kann den Gedanken nicht ertragen, dass Angelo aus einem völlig nichtigen Grund ums Leben gekommen ist. Er ist gestorben, und ich lebe. Wie oft habe ich mir gewünscht, ich wäre mit ihm gestorben.« 

Er küsste sie aufs Haar. »Wünschst du es immer noch, Tessa?« 

»Nein, jetzt nicht mehr. Nein.« 

»Ich bereue, dass ich dir nicht nach England gefolgt bin«, sagte er. »Ich bereue, dass ich dich habe gehen lassen. Ich bereue meinen Stolz, der mich daran gehindert hat, dir nachzureisen. Du glaubst, es hätte Streit zwischen uns gegeben – ich bin mir da nicht so sicher. Ich glaube, es wäre ein Abenteuer geworden. Ich glaube, wir wären einander niemals überdrüssig geworden.« 

Ihr Kopf ruhte auf seiner Schulter, und seine Atemzüge wurden tiefer. Nach einer Weile merkte sie, dass er eingeschlafen war. Sie spürte im Rücken die Buckel und den groben Stoff des Feldbetts, sie sah ihre Kleider auf dem Boden, einfach abgeworfen, hier die leuchtendrosa Bluse, dort eine Sandale. Ihre Lider wurden schwer, während sie dem Vogelgesang und dem Seufzen des Windes in den Bäumen lauschte. 

Am nächsten Morgen ging Guido fort. Er würde sich südwärts halten, sagte er, den Linien der Alliierten entgegen. Wenn er unterwegs auf Partisanengruppen stieße, würde er sich ihnen anschließen. 

Tessa begleitete ihn durch den Wald bis zum Fuß des Steilhangs. Dort sagten sie einander Lebewohl, und Guido ging allein weiter. Die Liebe dauert, so lange sie eben dauert, dachte sie, und sah ihm nach, bis er die Höhe des Hangs erreicht hatte. Er drehte sich um und winkte ihr zu. 

Als er verschwunden war, drückte sie fest die Augen zu. Komm gesund wieder, Guido, flüsterte sie, und sei vorsichtig. Und wenn das alles hier vorbei ist, geh zurück zu deiner Frau und deinem Kind und werde glücklich.