15

 

Freddie erhielt Faustina Zanettis Brief Anfang September. Ihre Schwester sei ums Leben gekommen, schrieb Faustina, als sie eine Schar Kinder von der Villa di Belcanto nach Greve begleitet habe. Ein Granatsplitter habe sie getroffen und eine Schlagader zerrissen. Sie sei beinahe sofort tot gewesen und habe nicht gelitten. Am Schluss gab Faustina ihrem tiefen Bedauern über Tessas Tod und ihrer bleibenden Zuneigung zu ihr Ausdruck. ›Sie war eine Heldin‹, schrieb sie. ›Sie war stark, treu und mutig, und wir werden sie niemals vergessen und immer vermissen.‹ 

Freddie saß auf dem Bett in ihrem Pensionszimmer und las den Brief erst einmal, und dann noch einmal, aber da kam sie nicht mehr bis zum Ende, weil sie zu weinen angefangen hatte. 

Sie schrieb Ray, Max und Julian und einigen anderen von Tessas Freunden, von denen es jetzt immer weniger zu geben schien. Julian, bei einem Bombereinsatz über Deutschland verwundet und noch im Genesungsurlaub, rief an und meinte, dass eine größere Gruppe von ihnen sich zum Gedenken an Tessa an einem Abend im Ritz, das Tessa immer geliebt hatte, treffen wollte. Freddie sagte, sie habe keine Zeit. Und das stimmte. Sie arbeitete sechs Tage in der Woche in der Fabrik, von acht Uhr morgens bis sechs Uhr abends, und wenn es Eilaufträge gab, noch eine Stunde zusätzlich. Ihre freien Tage verbrachte sie größtenteils mit Schlafen – oder so war es bisher gewesen. Jetzt fand sie Tag und Nacht keine Ruhe. 

An ihrem Arbeitsplatz erzählte sie niemandem von Tessa. Der kleine Kreis ihrer Freundinnen in der Fabrik hatte sich vor einiger Zeit aufgelöst – eine hatte gekündigt, weil sie ein Kind erwartete, eine andere, weil sie ihren Bruder pflegen musste, der in der Normandie verwundet worden war, und eine dritte war versetzt worden. Sie bemühte sich nicht, neue Freundschaften zu schließen. In der Fabrik versuchte sie, an gar nichts zu denken. In den Teepausen vermied sie Gespräche und war jetzt froh, dass es in der Halle zum Reden zu laut war. Ihr war bitter zumute, wenn sie an die langen Monate und Jahre dachte, in denen sie auf ein Wiedersehen mit Tessa gehofft hatte. Wenn sie sich ihres Jubels Anfang August erinnerte, als die Alliierten Florenz befreit hatten, wurde sie zornig. Zu der Zeit war Tessa schon tot gewesen. Sie hatte es nicht gewusst, sie hatte weiter gehofft, alles sinnlos. 

Sie schrieb Lewis von Tessas Tod. Sie bekam keine Antwort – seine Briefe erreichten sie häufig erst mit großer Verspätung, manchmal kam wochenlang gar nichts und dann lag ein halbes Dutzend Briefe auf einmal im Kasten. Aber diesmal fragte sie sich, ob sie vielleicht auch ihn verloren hatte. Es schien ihr durchaus möglich, dass sein Schiff von Torpedos versenkt worden und er ertrunken war. Oder vielleicht hatte er festgestellt, dass sich diese Liebesbeziehung auf Raten für ihn nicht lohnte. 

Eines Tages begann sie an ihrem Arbeitstisch in der Fabrik zu weinen und konnte nicht mehr aufhören. Schließlich wurde ein Arzt geholt, der sie nach Hause schickte und ihr zwei Wochen Ruhe verschrieb. In der Pension weinte sie weiter. Ihre Wirtin brachte ihr eine Tasse Tee nach der anderen, und sie versuchte, sie zu trinken. Am folgenden Morgen kam Rays Frau Susan, packte ihr einen Koffer und nahm sie mit nach London, wo sie und Ray am Piccadilly eine Wohnung hatten. 

Freddie hatte Susan immer ziemlich seicht und oberflächlich gefunden. Als sie jetzt sah, mit wie viel Takt und Güte Susan ihr entgegenkam, schämte sie sich ihres vorschnellen Urteils. Ray war in Frankreich, und Susan, die viel bei der BBC zu tun hatte, hatte Tessa nie gekannt, was ihr, dachte Freddie, diese weißt-du-nochGespräche ersparte, die sie jetzt nicht hätte ertragen können. So viele Leute bildeten sich ein, Tessa gekannt zu haben. So viele schienen zu glauben, sie hätte ihnen gehört, und wollten ihren eigenen Schmerz, ihre eigenen Erinnerungen jetzt mit Freddie teilen. Susan fragte, ob sie über ihre Schwester reden wolle, und Freddie sagte, nein danke, das wolle sie nicht, und danach ging es bei ihren Gesprächen miteinander entweder um den Rundfunk oder Susans Familie und Liebhabereien. 

Tagsüber, wenn Susan im Rundfunk war, ging Freddie aus. Sie nahm sich nie etwas vor, sie streifte einfach nur herum. Sie fühlte sich im Einklang mit der Stimmung kraftloser Ermattung, die sich über London ausgebreitet hatte. Mit dem Einsatz der V1- und V2-Raketenbomben durch die Deutschen war der Schrecken des Blitz wiedergekehrt, nur dass jetzt, vier Jahre später, die Menschen kaum noch Reserven hatten. Sie überlegte manchmal, was sie tun würde, wenn eine Bombe über ihren Kopf flöge, ob sie einen Schutzraum aufsuchen würde oder nicht. 

Sie erfuhr es nie. 

»Telefon«, sagte Susan. »Es ist für dich.« 

Freddie nahm den Hörer. 

»Freddie?«, fragte jemand. 

»Lewis? Bist du das?« 

»Ich habe dich überall gesucht. Ich habe eine Ewigkeit gebraucht, um dich zu finden.« 

»Ich habe dir mehrmals geschrieben – tut mir leid.« 

»Ich bin nicht böse. Ich habe mir nur Sorgen gemacht.« 

»Die Verbindung ist gut«, sagte sie sprunghaft. »Bist du in Liverpool?« 

»Ich bin in London. Ich bin sofort hergefahren. Ich wohne bei Marcelle. Komm, zieh dir ein nettes Kleid an und spring in ein Taxi, dann können wir zusammen essen.« 

»Ich bin nicht hungrig.« Sie hörte, wie brüsk das klang, und fügte hinzu: »Entschuldige Lewis, aber ich habe wirklich keinen Hunger.« 

»Aber ich. Ich habe für acht einen Tisch im Quaglino’s bestellt. Komm, setz dich in ein Taxi, und wir treffen uns dort.« 

Im Quaglino’s führte der Ober Freddie zu einem Tisch in der Ecke. Lewis stand auf und küsste sie. »Freddie«, sagte er und hielt sie ganz fest. »Das mit deiner Schwester tut mir so leid.« 

»Danke«, sagte sie automatisch und setzte sich. 

Nachdem der Kellner ihre Bestellung entgegengenommen hatte, sagte Lewis: »Das muss alles entsetzlich für dich sein. Marcelle hat mir erzählt, dass es dir nicht gut geht.« 

»Marcelle?« Vage überrascht sah sie ihn an. 

»Neuigkeiten sprechen sich herum.« 

»Ich bin nicht krank, nur müde. Ich weiß nicht, warum es so ein Schock war, wo ich doch jahrelang um Tessa Angst hatte, aber es war einer.« 

»Das ist doch ganz natürlich«, sagte er liebevoll. »Du hast so lange gewartet. Du warst so treu.« 

»Als ich jünger war –«, sie zeichnete mit der Fingerspitze ein Muster auf die Tischdecke, »nachdem Angelo gestorben war, wollte ich unbedingt herausbekommen, wer der Vater war. Ich habe ihm die Schuld an allem gegeben, was Tessa durchmachen musste.« 

»Und hast du es herausbekommen?« 

»Nein. Wenn ich jetzt zurückschaue, frage ich mich, was ich mir dabei gedacht habe. Als hätte das irgendetwas geändert. Als hätte ich irgendetwas ändern können. Tessa hat immer getan, was sie wollte. Sie hat nie auf andere gehört.« 

Er nahm ihre Hand. »Ich möchte dir helfen, Freddie.« 

»Das kannst du nicht.« 

Der Kellner brachte ihre Suppe. Als er wieder gegangen war, sagte sie beinahe zornig: »Wie sollst du mir helfen können? Du kannst Tessa nicht zurückbringen.« 

»Das weiß ich doch. Darum geht es doch auch gar nicht.« Sie erkannte wieder die Verletzlichkeit in seinem Blick. Sie wollte sie nicht sehen, weil sie ihr vielleicht wehtun würde, und ihr war schon genug wehgetan worden. 

»Ich wollte dir nur sagen, dass du dich nicht allein zu fühlen brauchst, Freddie. Lass mich für dich sorgen.« 

»Ich brauche niemanden, der für mich sorgt.« 

»Nein, natürlich nicht.« 

Sie schwiegen beide. Sie bedauerte ihre Gereiztheit; sie mochte sich selbst nicht, wenn sie so reagierte. »Ich liebe dich, Lewis«, sagte sie ruhig. »Aber ich kann es jetzt irgendwie nicht fühlen. Ich fühle gar nichts.« 

»Das geht vorbei, Freddie. Glaub mir, es geht vorbei, auch wenn es sicher eine Weile dauern wird.« 

»Das sagen alle.« 

»Vielleicht haben sie alle recht.« 

Sie blickte in ihre Suppenschale hinunter. »Ich glaube, von mir ist nichts mehr übrig. Ich wäre zu nichts nutze, Lewis.« 

»Wer redet von Nutzen? Ich möchte nur, dass du da bist. Heirate mich, Freddie.« 

Ihr Herz schien einen Schlag auszusetzen. »Lewis …« 

Er drückte ihre Hand. »Es ist sonderbar, ich habe immer damit gerechnet, dass ich nicht heil aus diesem Krieg herauskommen würde, und trotzdem ist es jedes Mal ein Schock, wenn ich von jemandem höre, dem etwas passiert ist.« 

»Aber es geht dir doch gut?« 

»O ja, es geht mir gut.« Aber er wirkte beunruhigt. »Ich habe das Gefühl, dass ich immer nur warte 

»Worauf denn?« 

»Dass es mich erwischt zum Beispiel.« Er lachte kurz und unfroh. »Ich habe Todesangst, wenn wir auf See sind, und böse Vorahnungen, wenn ich an Bord gehe. Wahrscheinlich warte ich darauf, dass das hier endlich alles vorbei ist.« 

Sie klammerte sich an seine Hände, als könnte nur er sie vor dem Ertrinken retten. 

»Verstehst du«, sagte er, »in den letzten fünf Jahren hat mein ganzes Leben aus Warten bestanden, und ich habe es so satt. Ich habe Jahre auf Clare gewartet, aber ich werde nicht ewig auf dich warten, Freddie. Es reicht mir. Wenn du mich nicht heiraten willst, dann sag es mir jetzt. Aber denk vorher nach. Willst du mit nichts dastehen, wenn dieser Krieg zu Ende ist? Ich nicht. Ich weiß, was ich will. Ich möchte etwas Besseres. Ich möchte ein Zuhause und eine Familie und eine Zukunft. Glaubst du, dass du die gleichen Wünsche hast? Ich denke, ja, tief im Innersten geht es dir genauso. Ich glaube, du hast es so satt wie ich, immer nur der Spielball zu sein. Es gibt Zeiten, und das weißt du so gut wie ich, da müssen wir das Leben beim Schlafittchen packen und einmal gründlich schütteln.«  

Er winkte den Kellner beiseite, der die Suppenschalen abtragen wollte, und beugte sich mit brennendem Blick über den Tisch. »Ich glaube, du wünschst dir das Gleiche wie ich, Freddie. Wenn ich recht habe, dann sag es mir um Gottes willen. Wir könnten zusammen ein neues Leben anfangen. Ich liebe dich, Freddie, und ich wünsche mir, dass wir für immer zusammenbleiben. Sag mir, was du denkst, Freddie. Willst du mich heiraten?« 

Sie war es müde, allein zu sein. Sie hielt immer noch seine Hand fest; sie wollte sie niemals loslassen. 

»Ja, Lewis«, sagte sie.