2

 

Milo hatte seinen Roman Der zerbrochene Regenbogen in einem einzigen Schaffensrausch innerhalb von nur acht Wochen abgeschlossen. Er überbrachte seinem Verleger, Roger Thoday, seine Manuskripte immer persönlich, und die Übergaben liefen nach einem lang gepflegten, angenehmen Ritual ab. Milo nahm in Oxford den Zug und kam am späten Vormittag in Rogers Büro am Golden Square an. Sie aßen im Café Royal gemeinsam zu Mittag, tranken zur Feier des Tages ein Glas Champagner, zum Essen dann Wein und zum Abschluss einen Brandy. 

Milo hatte Rebecca gesagt, dass er die Nacht in London bleiben werde. Er wolle einen Freund besuchen, der nach einer Operation das Haus hüten musste, und müsse im Britischen Museum einiges recherchieren. 

Beides entsprach der Wahrheit. Aber zugleich stiegen, wie Luftblasen an die Wasseroberfläche, Gedanken an Tessa Nicolson auf. Er hatte seit dem Zusammentreffen am Weiher nicht versucht, mit ihr Verbindung aufzunehmen. Am Tag danach, übernächtig und leicht melancholisch wie oft nach einem Fest, hatte er erkannt, dass er sie nicht wiedersehen durfte. Die Szene am zugefrorenen Weiher musste bleiben, was sie war, ein flüchtiger Moment der Vollkommenheit. In der gedankenvollen Stimmung, in der er war, schien ihm, dass die Poesie, die dieser Begegnung innewohnte, nicht angerührt werden dürfe – dem Augenblick Dauer geben zu wollen, käme der Überfrachtung einer Gedichtstrophe gleich. Und außerdem, wenn Rebecca dahinter käme, selbst wenn gar nichts passierte, würde das die schlimmsten Konsequenzen haben. Milo schauderte noch jetzt, wenn er sich an Rebeccas Wutanfall erinnerte, nachdem sie seine Affäre mit Annette Lyle entdeckt hatte. Rebecca hatte ein heftiges Temperament, und verzieh nicht leicht. Milo fand sie beängstigend in ihrem Zorn. Er war ihre Bewunderung gewöhnt, die eisige Verachtung war schwer zu ertragen gewesen. Sie war eine starke Frau, und in ihrer Verletztheit war sie ihm wie eine angeschossene Löwin erschienen, blutend und gedemütigt. Er hatte den Blick abwenden müssen. Seit Annette war er vorsichtig gewesen. Was nicht hieß, dass er immer »brav« gewesen war. 

»Lesen Sie die Vogue, Mr. Rycroft?« Bei seinem ersten Besuch in Oxford nach der Begegnung am Weiher hatte er sich die Zeitschrift gekauft. Auf der Umschlagseite war eine Fotografie von Tessa Nicolson gewesen; einem kurzen Absatz auf der Innenseite hatte er entnommen, dass Tessa Nicolson Mannequin und Fotomodell war. Auf dem Porträt saß sie an einem Tisch in einem Café, einen schlanken, mit Gold und Smaragden behängten Arm erhoben. Ihre Schönheit wirkte kühl, fast asketisch. 

In den folgenden Wochen schrieb Milo wie im Fieber, verließ sein Arbeitszimmer nur, um einen Abend in der Woche nach Oxford zu fahren und seine Vorlesung zu halten, und um auf Wanderungen über die Hügel den Kopf für den nächsten kreativen Schub freizubekommen. Manchmal wanderte er bis zum Weiher, aber Tessa Nicolson war nie dort. Mit den dahineilenden Wochen begann sein ursprünglicher Entschluss aufzuweichen, und er merkte, dass seine Entscheidung, sich nicht bei ihr zu melden, nur eine Vertagung war, nichts Endgültiges. Beinahe unbewusst hatte er einen Pakt mit sich selbst geschlossen: Erst das Buch fertigstellen, dann die Belohnung – ein Anruf bei ihr. In der Hochstimmung, die den Abschluss seines Romans begleitete, glaubte er, das verdient zu haben. 

Beim Mittagessen unterhielten sich Milo und Roger Thoday über die Londoner Literaturszene, die sich stetig zuspitzende politische Lage und Rogers bevorstehenden Angelurlaub am Spey in Schottland. Nach einer vorzüglichen Mahlzeit verabschiedeten sie sich voneinander, und Roger kehrte in den Verlag zurück. Milo steuerte die nächste Telefonzelle an und bat bei der Vermittlung um Tessa Nicolsons Nummer. Er musste einen Moment warten, bis er durchgestellt wurde, dann meldete sich eine Hausangestellte. Milo nannte seinen Namen. Diesmal musste er länger warten. Im Hintergrund hörte er blechern verzerrt Stimmen und Musik, während er sich in seiner einsamen Telefonzelle fragte, ob Tessa Nicolson sich an ihre kurze Begegnung am Weiher erinnern würde. 

Es knisterte, als der Hörer wieder aufgenommen wurde. Tessa Nicolson sagte: »Mr. Rycroft, ich dachte, Sie hätten mich vergessen.« Ihre Stimme war leise und amüsiert. Sie ging ihm unter die Haut wie damals. 

»Wie könnte ich Sie vergessen?«, fragte er. »Wie geht es Ihnen, Miss Nicolson?« 

»Sehr gut, danke. Und Ihnen? Machen Sie immer noch Nachtwanderungen?« 

Er lachte gedämpft. »Im Moment feiere ich gerade die Fertigstellung meines Romans. Ich habe ihn heute meinem Verlag gebracht.« 

»Gratuliere. Heißt das, dass Sie in London sind?« 

»Richtig.« Milos Mund war trocken. »Und ich wollte eigentlich fragen, ob Sie Zeit haben, ein Glas mit mir zu trinken?« 

Schweigen – sein Herz raste. Dann sagte sie: »Ja, warum nicht? Wo kann ich Sie treffen?« 

Er schlug das Savoy vor. Da brauchte er nicht zu fürchten, Bekannte zu treffen. Die Leute, die er kannte, bevorzugten das Café Royal, die Pubs in Bloomsbury oder im leichtlebigen Fitzrovia-Viertel. Sie fanden das Savoy zu aufgedonnert, immer voll wiehernder Adelssprosse und spatzenhirniger Schauspielerinnen. Milo, mit seinem Faible für Glanz und Gloria, mochte die American Bar. 

Er nahm ein Taxi zum Strand, bestellte sich einen Drink und wartete. Und wartete. Seine Stimmung trübte sich zusehends in den anderthalb Stunden, in denen er allein herumsaß und mehrere Martinis schlürfte, während er auf das Erscheinen von Tessa Nicolson wartete. Ihrer Telefonnummer zufolge wohnte sie in Highbury – wie lange konnte ein Taxi von Highbury zum Strand brauchen? Hatte sie es sich anders überlegt? Hatte sie einen interessanteren Zeitvertreib gefunden? 

Aber dann kam sie endlich. Sie trug ein grün-weißes Kleid und eine grüne Jacke, und ihr blondes Haar war unter einem grünen Hütchen hochgesteckt. Sie sah atemberaubend schön aus. Während er auf sie gewartet hatte, war ihm der Gedanke durch den Kopf geschossen, dass er vielleicht enttäuscht sein würde, wenn er sie jetzt wiedersah, dass vielleicht der Mond und die Einsamkeit des eisglänzenden Weihers den Zauber ihrer ersten Begegnung gewirkt hatten. Aber als er aufstand, um sie zu begrüßen, flogen alle Bedenken davon, und er fühlte sich großartig, von allen Männern rundherum beneidet.  

Von da an ging es leider schnell bergab. Sie schien mit jedem im Raum bekannt zu sein. Unentwegt kamen Leute an den Tisch und sagten: »Tessa, Darling«, und »Hallo, wie geht es denn?« Die Küsschen auf die Wange hörten gar nicht auf. Anfangs war es faszinierend, Tessa Nicolson in Aktion zu sehen, ihre Lebendigkeit und ihren Charme, die sie an alle zu gleichen Teilen verströmte, nie ermattend, immer sprühend. Aber bald kam er sich nur noch vor wie einer von vielen, sein Kopf schmerzte, er fühlte sich abgeschlagen. Um sechs hatte Tessa einen Termin, und Milo strich seine Übernachtungspläne und beschloss, nach Hause zu fahren. Im Zug bekam er dann richtig dröhnende Kopfschmerzen, ein widerlicher Geschmack lag ihm im Mund, und er wand sich innerlich, als er sich, während draußen die Londoner Vorstädte vorüberzogen, eingestand, dass er – wie ein echter Narr – gehofft hatte, sie könnte etwas Besonderes in ihm sehen. 

Immerhin hatte sie im letzten Moment, als er sich von ihr verabschiedete, noch einen kleinen Trost parat gehabt. »Ich feiere demnächst meinen Geburtstag«, hatte sie gesagt. »Am sechsundzwanzigsten im 400. Wenn Sie Lust haben zu kommen, Milo, würde ich mich freuen.« 

»Sind die Vorhänge neu?«, fragte Rebeccas Mutter. »Ihr hattet doch sonst immer blaue hier.« 

»Ich habe sie fürs Frühjahr machen lassen, Mama«, sagte Rebecca. »Findest du nicht auch, dass sie viel freundlicher aussehen?« 

»Du hast offenbar zu viel Geld, Rebecca – neue Vorhänge, nur weil Frühling ist. Außerdem habe ich Gelb noch nie gemocht.« Mrs. Fainlight wandte sich wieder ihrem Lammbraten zu. 

Es war der 21. März, Rebecca, Milo und Meriel feierten Mrs. Fainlights Geburtstag. Nach dem Mittagessen würde das Öffnen der Geschenke folgen, dann waren Tee und Kuchen geplant, und am Ende des Nachmittags würde Meriel ihre Mutter nach Hause fahren. Rebecca hatte einmal die Masons eingeladen, weil sie hoffte, die Feier würde dann etwas heiterer werden, aber es war eine Katastrophe geworden. Mrs. Fainlight hatte Glyn nicht gemocht und mit ihrer Abneigung nicht hinter dem Berg gehalten. 

»Möchte jemand noch etwas trinken?«, fragte Milo. 

»Ich trinke nie Wein zum Mittagessen«, sagte Mrs. Fainlight. 

Milo füllte Rebeccas Glas auf. »Meriel?« 

»Ja, bitte.« 

»Ich muss immer an den jungen Tommy Mackintyre denken«, erklärte Mrs. Fainlight. »Er war ein gescheiter Junge und aus guter Familie. Aber er hat getrunken und damit sein ganzes Leben verpfuscht.« 

»Ich glaube, keiner von uns hat vor, unter der Brücke bei den Wermutbrüdern zu landen, Mutter«, entgegnete Rebecca. 

»Diese Ausdrücke, Rebecca, wirklich!« Mrs. Fainlight warf Milo einen schmalen Blick zu, als machte sie ihn verantwortlich. 

»Aber schau mal, Mama«, bemerkte Meriel mit künstlicher Munterkeit, »was für ein herrlicher Tag dir zu deinem Geburtstag beschert worden ist.« 

»Findest du?« Mrs. Fainlight wandte den Kopf zum Fenster. Draußen war es hell und sonnig, auf dem Rasen blühten die ersten Narzissen. 

Meriel ließ nicht locker. »Endlich ist der Frühling da. Es geht einem doch gleich viel besser, wenn die Sonne scheint.« 

»Wenn ein Enkel mit mir feiern könnte, würde mir der Tag vielleicht mehr bedeuten. Wie kann ich fröhlich sein, wenn ich weiß, dass unsere Familie ausstirbt 

Meriel zog ein Taschentuch aus ihrem Ärmel und schnäuzte sich geräuschvoll. Das Gespräch versiegte, und sie aßen schweigend weiter. 

Meriel brach schließlich das Eis. »Joanna Moore hat eindeutig die Masern«, sagte sie. »Sie hatte heute Morgen Ausschlag und Fieber.« 

»Ach, du lieber Gott«, meinte Rebecca. »Das muss ja lästig sein.« 

»Ja, die verflixten Eltern rücken leider nicht immer mit der Wahrheit heraus. Sie unterschreiben das Formular und schicken es zurück, und es ist absoluter Blödsinn.« 

»Was für ein Formular?« 

»Das Quarantäneformular. Joanna hat mir erzählt, dass ihr Bruder über Ostern die Masern hatte. Ihre Eltern hätten sie gar nicht wieder in die Schule schicken dürfen. Na ja, Mrs. Moore ist nicht Joannas leibliche Mutter. Du weißt doch, ich hab dir erzählt, dass die erste Mrs. Moore mit einem Stehgeiger durchgebrannt ist.« 

»Meriel«, sagte Mrs. Fainlight. 

»Reg dich nicht auf, Mama, das weiß hier jeder. Es stand in allen Zeitungen.« 

Meriel war eine entsetzliche Klatschbase. Rebecca überlegte sich immer genau, was sie ihrer Schwester von sich erzählte. Sie hatte ihr beispielsweise nie etwas von Milos Seitensprung mit Annette Lyle gesagt. Als dieser Gedanke ihr durch den Kopf ging, sah sie Milo an. Es war offenkundig, dass er es aufgegeben hatte, sich am Gespräch zu beteiligen. Er und ihre Mutter hatten nie etwas miteinander anfangen können, und Rebecca hätte seine Teilnahmslosigkeit schlichter Langeweile zugeschrieben, wäre nicht dieser Ausdruck träumerischer Abwesenheit gewesen, der ihr in den letzten Wochen mehr als einmal an ihm aufgefallen war. Er machte sie misstrauisch. 

Meriel redete immer noch. »Anscheinend machen sie in Südfrankreich Urlaub.« 

»Wer?« 

»Die Moores natürlich.« 

»Ach so«, sagte Rebecca. 

»Es ist wirklich blöd, wo jetzt gerade die Lacrossewettkämpfe zwischen den Häusern anstehen.« 

»Ach, Gott.« 

»Anne ist dieses Jahr sehr schwach, aber bei Victoria gibt es ein paar starke Spielerinnen.« Die vier Wohnhäuser der Westdown-Schule waren nach englischen Königinnen benannt. »Ich werde wahrscheinlich Imogen Carstairs in die Mannschaft nehmen müssen, obwohl sie überhaupt nicht mithalten kann. Ein Glück, dass wir Freddie Nicolson haben, sie war im letzten Spiel großartig.« 

Milo hob ruckartig den Kopf. »Nicolson?« 

»Ja, Freddie Nicolson«, sagte Meriel und fügte ein wenig sarkastisch hinzu: »Ich wusste gar nicht, dass du dich für Lacrosse interessierst, Milo.« 

»Aber ein Junge«, sagte Milo. »Ich wusste nicht, dass Jungen Lacrosse spielen.« 

Meriel lachte. »Nein, nein. Das hast du falsch verstanden. Freddie ist ein Mädchen. Sie heißt eigentlich Frederica, aber wir nennen sie alle Freddie. Und Lacrosse wurde natürlich ursprünglich von Männern gespielt. Es wurde von den Indianern erfunden, hat sich allerdings seitdem sehr verändert …« 

Meriel setzte ihren Vortrag über die Entwicklung von Lacrosse fort. Milo starrte sie immer noch an. Dann bemerkte er Rebeccas Blick, lächelte sie strahlend an und sagte: »Von Sport habe ich nie viel verstanden. Und das wird wahrscheinlich auch immer so bleiben.« Dann kippte er den Rest Wein aus der Karaffe in sein Glas und trank ihn. Ziemlich überstürzt, wie Rebecca bemerkte. 

Nach dem Essen, als Milo sich in sein Arbeitszimmer geflüchtet hatte und Mrs. Fainlight auf dem Sofa ein Nickerchen machte, gingen Rebecca und Meriel in den Garten hinaus. 

»Was macht deine Erkältung?«, fragte Rebecca. 

»Ach, sie wird langsam besser. Ich wollte mich heute eigentlich drücken, aber …« Meriel zuckte mit den Schultern. 

Sie war etwas kleiner und stämmiger als Rebecca und trug ein gelbbraunes kratziges Tweedkostüm mit einem selbst gestrickten, kurzärmligen braunen Pullover darunter. Meriel schminkte sich nie und ließ sich die Haare immer von der Friseurin machen, die einmal im Monat ins Internat kam, um den Mädchen die Haare zu schneiden. Meriel hatte vergissmeinnichtblaue Augen und einen schönen Teint – Rebecca fand, sie könnte viel mehr aus sich machen. Sie hatte ihr einmal vorgeschlagen, mit ihr in die Stadt zu fahren und Kleider zu kaufen, worauf Meriel erklärte, sie hasse Einkaufsbummel und habe keine Lust, ihre Nachmittage in Umkleidekabinen bei Selfridges zu verschwenden. 

Rebecca sah sie an. Ihre Nase war rot und wund, sie wirkte müde. »Ich bin froh, dass du gekommen ist«, sagte sie und drückte ihre Schwester kurz an sich. »Wie war die Woche?« 

»Ziemlich unerfreulich. Ich hatte gestern einen Zusammenstoß mit Miss Lawson.« 

Miss Lawson, die stellvertretende Schulleiterin, war jünger als Meriel und erst im vergangenen Jahr an die Schule gekommen. 

»Warum denn?« 

Meriel erzählte ihre Geschichte. Sie hatte vorgehabt, mehrere Stühle aus dem Aufenthaltsraum der Oberstufenschülerinnen zum Aufarbeiten zu geben, aber Miss Lawson hatte ihr Veto eingelegt, um Schulgelder zu sparen. Rebecca spürte, dass Meriel vor allem deshalb so aufgebracht über Miss Lawsons Einmischung war, weil sie die Schule als ihr Zuhause betrachtete. 

Um ihre Schwester aufzumuntern, fragte Rebecca nach Dr. Hughes. 

»Den werde ich heute Morgen verpasst haben«, sagte Meriel. »Er wollte nach Joanna sehen.« 

»Wie schade.« 

»Wir haben sehr lange miteinander telefoniert. Offenbar geht es Deborah wieder schlecht. Er wird vielleicht den Chor aufgeben müssen.« 

Arme Meriel, dachte Rebecca. Ihre Romanze, wenn man es überhaupt so bezeichnen konnte, musste von wöchentlichen Chorproben (Meriel hatte eine beeindruckende Altstimme und Dr. Hughes sang Bass) und gelegentlichen Teestunden in Meriels Wohnung leben, wenn Dr. Hughes in die Schule kam, um eine Schülerin zu behandeln. Wie schrecklich, dachte Rebecca oft, sich mit solchen Krümeln bescheiden zu müssen.  

Die Schwestern waren spartanisch erzogen worden. Obwohl ihre Eltern gewiss nicht am Hungertuch nagten, galt ihnen Sparsamkeit als Tugend und wurde auf allen Gebieten praktiziert. Das Essen war einfach, und das große, zugige Haus wurde nur spärlich geheizt. Den fünf Kilometer langen Schulweg mussten Rebecca und Meriel bei jedem Wetter zu Fuß gehen. Gute schulische Leistungen wurden als Selbstverständlichkeit betrachtet, jedes Versagen stieß auf Enttäuschung und Missbilligung. Mr. und Mrs. Fainlight waren der Überzeugung gewesen, dass Kritik den Charakter stärke. Obwohl ihr Vater nicht religiös war, schickte er seine Töchter auf eine anglikanische Schule. Sie erinnerten sich beide ihrer ersten Wochen an der Schule als einer Zeit qualvoller Unsicherheit und Scham – ihre Uniformen, die billig von einer Hausschneiderin angefertigt waren, unterschieden sich von denen der anderen Mädchen, und dass sie das Vaterunser nicht aufsagen konnten, blieb nicht unkommentiert. Sie lernten, sich anzupassen – Rebecca, die schon damals ein hübsches Mädchen war, erfreute sich bald sogar großer Beliebtheit –, aber sie wussten, dass sie anders waren.  

Mit zwanzig wurde Rebecca zum Studium an der Kunstakademie angenommen. Zwei Jahre später begegnete sie beim Künstlerball in Chelsea Milo Rycroft und heiratete ihn im Jahr darauf. Als 1927 ihr Vater starb und Mrs. Fainlight die große Villa verkaufte und in das kleinere Haus in Abingdon umzog, hoffte Rebecca, jetzt, da sie ihren beiden Töchtern näher war, würde sie weicher und gütiger werden. Aber Mrs. Fainlight blieb schwierig und schwer zufriedenzustellen. Rebecca und Meriel fürchteten ihre Launen. Wenn ihre Mutter verstimmt oder enttäuscht sein wollte, dann fand sie auch etwas, worüber sie verstimmt oder enttäuscht sein konnte. Trotzdem bemühte man sich weiter, weil ja immer die Hoffnung bestand, dass es diesmal anders sein würde. Aber es war alles unglaublich anstrengend.  

Sie waren zum Bach am unteren Ende des Gartens spaziert. Rebecca blickte zurück zum Fenster von Milos Arbeitszimmer. Er war am Telefon – sie war fast sicher – sie kniff die Augen zusammen –, dass er telefonierte. Wen rief er an? 

»Monica hat mich für die Zwischenferien nach Cleethorpes eingeladen«, erzählte Meriel. »Ich wollte eigentlich nicht fahren, weil die Bahnfahrt ziemlich teuer ist, aber ich könnte doch ein paar Tage Tapetenwechsel gebrauchen. Und die Seeluft ist ja immer so belebend, nicht?, und …« 

Rebecca sah, dass Milo aufgelegt hatte. Er hatte es nach dem Mittagessen ziemlich eilig gehabt, in sein Arbeitszimmer zu kommen. Weil er telefonieren wollte? Sie musste an diesen seltsamen kurzen Austausch beim Mittagessen denken. Was hatte Meriel gesagt, um Milo aus seiner Teilnahmslosigkeit zu reißen? Sie hatte über Lacrosse gesprochen, über ein Mädchen in ihrem Haus namens Freddie Nicolson. Milo war verwirrt gewesen, weil er geglaubt hatte, sie rede von einem Jungen. Und das war alles. Nichts Beunruhigendes. Milo hatte nur etwas durcheinandergebracht. 

Aber sie war beunruhigt. Und blieb es, während Meriel endlos von Cleethorpes und Monicas Bungalow schwärmte. Unmöglich, dass Milo sich in dieses Mädchen, Freddie Nicolson, vergafft hatte. Sie war ein Schulmädchen, solche Neigungen hatte Milo nie gehabt. Außerdem hatte Milo geglaubt, sie wäre ein Junge, er konnte ihr also gar nicht begegnet sein. Es sei denn, schoss es ihr durch den Kopf, es war nur eine List von ihm gewesen … 

Rebecca hatte Milo im Blick gehabt, als Meriel diese Freddie Nicolson erwähnt hatte. Und er hatte eigentlich gar nicht verwirrt ausgesehen. Milo hatte erschrocken ausgesehen, erinnerte sich Rebecca jetzt. Milo war alarmiert gewesen. 

Der Klub 400 lag am Leicester Square neben dem Alhambra-Theater. Milo ging in das Kellerlokal hinunter und gab Mantel und Hut an der Garderobe ab.  

Einer seiner Freunde hatte einmal gescherzt, ein Besuch im 400 sei wie eine Rückkehr in den Mutterschoß. Der Freund war Psychotherapeut, Freudianer, aber Milo verstand, was er gemeint hatte. Die Wände des Lokals waren mit dunkelroter Seide ausgeschlagen, der Teppich war dunkelrot und die Vorhänge ebenso. Licht spendeten nur die Kerzen auf den Tischen und die kleinen Lämpchen, die die Swing Band brauchte, um ihre Noten zu lesen. 

Auch Tessa Nicolson war in Rot. Milo blieb am Rand des Raums stehen und sah ihr beim Tanzen zu. Ihr Abendkleid schimmerte in einem tiefen violettstichigen Karmin – wie ein edler roter Bordeaux, dachte er –, und dazu trug sie ein Collier aus großen, dunkelroten Steinen. Ihr Partner war ein großer, robust wirkender Mann mit rotblondem Haar. Als der Foxtrott endete und dünner Applaus folgte, küsste der Mann Tessa. Er küsste sie, bis sie sich ihm entzog. 

Milo schlängelte sich zwischen den Tischen hindurch. »Herzlichen Glückwunsch, Tessa«, sagte er. »Alles Gute zum Geburtstag.« Er neigte den Kopf und küsste ihr die Hand. 

»So altmodisch, Milo.« Sie lächelte ihn an. »Ich freue mich so, Sie zu sehen. Tanzen Sie mit mir?« 

Die Band stimmte ›Night and Day‹ an. Paare drängten auf die Tanzfläche. 

»Sind diese Leute alle Ihre Freunde, Tessa?«, fragte er. 

»Ja, die meisten.« 

»Und genießen Sie Ihr Fest?« 

Sie krauste die Nase. »Nicht sonderlich. Paddy hat üble Laune.« 

»Paddy?« 

»Paddy Collison.« Ihr Blick flog kurz zu dem Tisch, an dem der rotblonde Mann saß und rauchte. »Paddy ist bei Lipton«, erklärte sie. »Sie haben ihm gerade mitgeteilt, dass er in London bleiben muss und nicht nach Kenia zurückversetzt wird. Jetzt ist er wütend. Wir waren vorher bei Freunden beim Essen, da war er richtig grob zu allen.« Tessas Augen, die grün und lichtbraun gesprenkelt waren, blitzten amüsiert. »Die meisten Gäste waren Intellektuelle, lauter Cambridge-Leute. Einer hatte lange Haare und trug eine gepunktete Fliege. Paddy fand sie alle grässlich. Er bildet sich ziemlich was ein auf seine eisenharte Männlichkeit.« 

Milo fragte sich, ob Paddy Collison Tessas Liebhaber war. Beim Tanzen konnte er durch die dünne Seide ihres Kleides die Bewegung ihrer Muskeln spüren. 

»Ich habe den Verdacht, dass wir eine gemeinsame Bekannte haben«, sagte er. 

»Und wer ist das?« 

»Meriel Fainlight.« 

Tessa riss die Augen auf. »Miss Fainlight? Sie kennen Miss Fainlight?« 

»Sie ist meine Schwägerin.« 

»So ein Zufall.« Sie lachte. 

»So ein Zufall ist es eigentlich gar nicht. An dem Abend, als wir uns am Weiher getroffen haben, waren Sie bei Ihrer Schwester zu Besuch, stimmt’s?« 

»Ja. Freddie und ich waren zusammen Tee trinken. Ich konnte der Versuchung, mir ihre Schlittschuhe auszuleihen, nicht widerstehen.« 

»Ich bin froh, dass es so war. Und ebenso froh bin ich, dass Meriel meine Schwägerin ist. Sonst wären wir einander vielleicht nie begegnet.« 

»Ich mag Miss Fainlight sehr. Sie ist eine reizende Person. Und so pragmatisch.« 

Milo, der in den langen Jahren seiner Bekanntschaft mit ihr Meriel nie als ›reizende Person‹ gesehen hatte, sagte: »Sie war während des Krieges Krankenschwester, wussten Sie das?« 

»Nein, keine Ahnung. Aber ich kann sie mir in diesem Beruf sehr gut vorstellen.« Tessa sah ihn forschend an. »Was ist? Kommen Sie nicht mit ihr aus?« 

»Meriel kann sehr schroff sein.« 

»Schroff? Ach, Milo …« Amüsiert musterte sie ihn. »Meinen Sie damit, dass Miss Fainlight auf Ihren Charme nicht reagiert?« 

»Ich habe immer das Gefühl, sie lehnt mich ab.« 

»Sie können doch nicht annehmen, dass eine Frau Sie ablehnt, nur weil sie sich nicht Hals über Kopf in Sie verliebt.« 

Er lächelte. »Da haben Sie wahrscheinlich recht, ja.« 

»Und selbst wenn sie Ihnen gegenüber ein wenig ablehnend sein sollte, würde Ihnen das wirklich etwas ausmachen?« 

»Ich möchte gern gemocht werden. Sie nicht?« 

»Natürlich ist es nicht schön, abgelehnt zu werden. Aber ich würde nie um Zuneigung buhlen.« 

Als die Musik verklang, und sie klatschten, stand Paddy Collison von seinem Stuhl auf. Die Band begann ›Let’s Fall in Love‹ zu spielen, und Collison nahm Tessa bei der Hand. »Komm«, sagte er nur und riss sie am Handgelenk auf die Tanzfläche. 

Milo war empört. Am liebsten hätte er diesem Collison ins Gesicht geschlagen, aber der Kerl war breiter und größer als er, und er hatte die starke Befürchtung, dass er eine demütigende Niederlage davontragen würde. Er ging deshalb zwischen den Tischen hindurch zum Rand des Saals zurück und zündete sich eine Zigarette an. Der Rock von Tessas Kleid flog und die dunkelroten Steine an ihrem Hals funkelten beim Tanzen. Sie lächelte; vielleicht machte es ihr gar nichts aus, sich von einem Grobian wie Collison herumschubsen zu lassen. Er verfolgte sie mit seinem Blick, und sein Begehren nach ihr mischte sich mit der Eifersucht und dem Abscheu, die ihr Partner in ihm weckten. 

Er dachte darüber nach, was sie ihm erzählt hatte. Frederica Nicolson war, wie er vermutet hatte, ihre Schwester. Was bedeutete, dass es zwischen Tessa und Rebecca eine, wenn auch noch so lose, Verbindung gab. Und das war gefährlich. Gott, hatte er einen Schrecken bekommen, als Meriel mitten bei diesem trübsinnigen Mittagessen plötzlich den Namen Nicolson erwähnte.  

Tessa tanzte immer noch mit Collison. Milo sah auf seine Uhr, drückte seine Zigarette in einem Aschenbecher in der Nähe aus und ging aus dem Saal. Er hatte der Garderobenfrau gerade seinen Schein gegeben, als hinter ihm Tessa Nicolson sagte: »Sie wollen doch nicht schon gehen, Milo?« 

Er drehte sich um. »Mein letzter Zug fährt in einer halben Stunde«, erklärte er. Doch bei ihrem Blick, der ihm etwas Freimütiges und Erwartungsvolles zu haben schien, fügte er hinzu: »Aber ich könnte natürlich auch in meinem Klub übernachten.« 

»Oh, gut.« Sie öffnete ihr goldenes Täschchen und nahm einen Garderobenschein heraus. 

»Was tun Sie da?« 

»Ich dachte, wir könnten zusammen einen Spaziergang machen.« 

»Das wäre wunderschön. Aber was ist mit Ihrem Fest?« 

Sie zuckte mit den Schultern. »Ich habe genug.« 

»Sie können nicht einfach von Ihrem eigenen Fest verschwinden.« 

»Ach nein?« 

Mit einem Lachen sagte er: »Na schön, warum nicht? Und Ihr Freund Collison?« 

Wieder ein Schulterzucken, diesmal von einem kleinen Prusten begleitet, das, dachte Milo triumphierend, wohl bedeuten sollte, Paddy kann warten. 

Die Garderobenfrau reichte ihnen ihre Mäntel: pfirsichfarbenen Satin mit plissierten Schultern für sie, schwarze Wolle für Milo. Als sie die Treppe hinaufgingen, sagte er: »Ich hätte ihm am liebsten eine runtergehauen.« 

»Ach, hätten Sie’s doch getan, Milo. Das hätte ein bisschen Leben in die Bude gebracht.« Tessa hakte sich bei ihm ein, als sie in die kühle Nachtluft hinaustraten. »Aber vielleicht ist es gut, dass Sie es nicht getan haben. Ich fürchte, Sie hätten den Kürzeren gezogen. Paddy war mal Boxchampion« 

Es regnete leicht; er hielt seinen Schirm über sie. »Wohin möchten Sie gehen?«, fragte er.  

»Ach, ganz gleich. Ich liebe London bei Nacht, Sie nicht auch?« 

Sie gingen die Charing Cross Road hinunter. Am Bordstein hielt ein Taxi, ein Mann im Abendanzug und eine junge Frau in einer Wolke blassgrünen Tülls stiegen ein. Eine Frau schlief in Schichten ausgefranster Wollsachen und einen abgerissenen Regenmantel eingewickelt in einer Türnische. Milo legte eine Münze in die angeschlagene Teetasse neben ihr. 

An der Shaftesbury Avenue sagte er: »Ich bin eigentlich gern in Soho, aber vielleicht möchten Sie anderswohin. Wir könnten ein Taxi zum Savoy nehmen.« 

»Ich kaufe oft in Soho ein«, sagte Tessa. »Es gibt dort so köstliche italienische Spezialitäten.« 

»Nachts ist es anders.« 

»Ich liebe die Nacht.« 

Sie bogen in die Romilly Street ein. Abseits der Lichter des Theaterviertels waren die Straßen dunkel und still, etwas Geheimnisvolles, beinahe Bedrohliches hing in der Luft. Obwohl Milo sich bei Tag in Soho auskannte, schien ihm das Gewirr enger Straßen jetzt in der Dunkelheit einer unbekannten Welt anzugehören. In einem kleinen Ladenfenster standen auf einem Bord aufgereiht verschiedenfarbige chinesische Ingwertöpfe mit Abbildungen feuerspeiender Drachen auf den runden Keramikbäuchen. Ein Paar verschwand eng umschlungen in einer schmalen Toreinfahrt, ein schriller Laut, es konnte ein Lachen oder ein Schrei sein, durchschnitt die Stille. Irgendwo in einem oberen Stockwerk quäkte ein Saxofon. 

In der Greek Street kam ihnen eine Gruppe Matrosen entgegen, die in irgendeiner osteuropäischen Sprache – polnisch vielleicht – auf einander einbrüllten. Milo drängte Tessa in eine schützende Türnische, als die betrunkenen Männer grölend und lachend an ihnen vorübertorkelten. Ihr Duft mischte sich mit dem faden Geruch des Regens, und er war ihr nahe genug, um im trüben Schein der Straßenlampen das feinporige Gewebe ihrer Haut erkennen zu können. 

Er neigte sich zu ihr und streifte mit seinen Lippen ihren Mund. Sie legte ihm die Arme um den Hals. Seine Hände ruhten auf ihren schmalen Hüften, als sie sich küssten, und er ihre kühle, weiche Haut unter seinen Lippen spürte.  

Sie fröstelte. »Dir ist kalt«, sagte er. »Wir sollten weitergehen.«  

Auch er spürte nach dem Kuss plötzlich die Kälte. Er legte den Arm um sie und zog sie an sich, als sie die leere Straße hinuntergingen. Im Regen sah der Asphalt wie glänzender Satin aus. Sie ließ sich von ihm halten, und der leichte Druck ihres Kopfs an seiner Schulter beglückte ihn so sehr, dass er ewig so hätte weitergehen können. 

Sie traten in ein Nachtcafé am Soho Square. Drinnen schüttelte sich Tessa ein wenig, wie erschreckt vom helleren Licht. Nur wenige Leute saßen an den fünf oder sechs Tischen. Milo holte Tee an der Theke und setzte sich neben Tessa.  

»Ich habe ein Geburtstagsgeschenk für dich«, sagte er. 

»Milo! Wie spannend.« Sie lächelte strahlend. 

Er zog einen braunen Umschlag aus seiner Manteltasche und überreichte ihn ihr. »Noch einmal alles Gute zum Geburtstag, Tessa.« 

Sie öffnete den Umschlag und zog die zusammengefalteten weißen Bögen heraus. Laut las sie den Titel auf der obersten Seite. 

»Mittwinterstimmen von Milo Rycroft. Das ist von dir, Milo? Ach, da freue ich mich aber.« 

»Es ist das Manuskript meiner Gedichte. Vielleicht ist es furchtbar eingebildet von mir, sie dir aufzudrängen. Vielleicht magst du gar keine Gedichte.« 

»Doch, doch.« 

»Vielleicht werden dir meine auch gar nicht gefallen. Dann kannst du damit Feuer machen oder sie in den Papierkorb werfen.« 

»Ich bin so gerührt.« Unter dem Tisch drückte sie seine Hand. 

»Du bist die Erste, die sie zu lesen bekommt. Nicht einmal mein Lektor hat sie gesehen. Sie sind ein neues Projekt. Bisher habe ich nur Romane geschrieben.« 

»Bin ich auch ein neues Projekt, Milo?« 

»Wie meinst du das?« 

Ihr Gesicht war ernst. »Du bist doch verheiratet.« 

»Ja.« Scham und Verlegenheit; er senkte den Kopf »Ich hätte es dir sagen sollen«, murmelte er. »Irgendwie habe ich den Dreh nicht gefunden.« 

»Als wir uns das erste Mal trafen, da unten am Weiher, haben wir, glaube ich, von Hunden gesprochen.« 

»Nicht nur von Hunden.« 

»Nein?« Ihre Augen blitzten. »Ich erinnere mich. Du sagtest, du hättest mich für einen Geist gehalten.« 

»Als du mir deinen Namen nanntest –« 

»Was?« 

»Ich erwartete etwas Exotisches wie Natascha oder Anastasia.« 

»Warst du enttäuscht?« 

»Aber nein. Wie hätte ich enttäuscht sein können.« Er sehnte sich danach, sie wieder in die Arme zu nehmen, selbst hier, unter den Blicken der beiden Homos, die sich auf einer Bank aneinanderschmiegten, und der alten Nutte mit den rougeroten Wangen und den mit Khol umrandeten Augen. 

Er sah sie ernst an. »Es war nicht meine Absicht, dich zu täuschen.« 

»Das habe ich auch nicht geglaubt, Darling. Aber ich habe mir eines deiner Bücher gekauft.« 

»Welches?«, fragte er unwillkürlich. 

»Ferne, dunkle Hügel. Weil es in der Toskana spielt. Ich bin dort aufgewachsen.« 

»Tatsächlich? Wie wunderbar. Wir waren einen Sommer lang dort. Ich hätte für immer dortbleiben können, so schön fand ich es. Aber Rebecca, meine Frau, wollte nach Hause.« 

»Auf dem Schutzumschlag stand, dass du verheiratet bist. Aber das hatte ich mir sowieso schon gedacht.« 

»Warum?« 

»Du siehst verheiratet aus, Milo.« 

Er lachte schallend. Die Homos und die Nutte starrten ihn an.  

»Wie meinst du das?« 

»Du siehst gepflegt aus. Unverheiratete Männer haben ausgefranste Ärmel und schmuddelige Krägen.« 

»Ist das so?« 

»Die reichen vielleicht nicht, die haben ja Diener.« 

»Ich habe leider keinen Diener.« Er war froh, dass sie sich von einem brenzligen Thema wegbewegten. 

»Mir hat dein Buch so gut gefallen. Es hat einen ganz besonderen Zauber.« 

»Das freut mich. Bist du in Italien geboren, Tessa?« 

»In der Nähe von Siena, ja. Wir sind viel herumgezogen. Mein Vater hoffte immer auf den großen Durchbruch. Er war Künstler, ziemlich erfolglos. Hat gemalt, und wirklich nicht schlecht, aber er hat zu viel getrunken und war ein sehr unbeherrschter Mensch. Ich nehme an, er hat sich mit zu vielen Galeristen und Mäzenen angelegt. Eine Zeit lang wohnten wir in Südfrankreich, in den Bergen. Immer wenn ich Lavendel rieche, muss ich an das Haus denken. Einmal kamen wir nach England, als mein Vater auf eine Erbschaft hoffte. Ich erinnere mich, dass es sehr kalt war und die ganze Zeit regnete. Unser Cottage stand an einem Fluss. Freddie und ich haben oft dort gespielt – Freddie fiel immer ins Wasser und ich habe sie dauernd wieder herausgezogen.« 

Während sie sprach, verliebte er sich in sie. Er sah die Lebendigkeit ihrer Züge, die Art, wie sie bisweilen achtlos das glänzende honigblonde Haar zurückstrich, und war gefesselt. Manchmal berührten sie einander, wenn er seine Teetasse hob oder sie ihr Feuerzeug aus dem goldenen Täschchen nahm. Er hatte auf einer Reise in Sizilien einmal ein leichtes Erdbeben erlebt. Er erinnerte sich noch an das Gefühl. Jetzt, mit Tessa, war es genauso: Er war aus dem Gleichgewicht geworfen, und es war kein Verlass mehr auf den normalen Lauf der Dinge. 

»Und dann?«, fragte er. 

»Als mein Vater starb, sind wir nach Florenz zurückgegangen, und als ich siebzehn wurde, schickte meine Mutter Freddie und mich nach England aufs Internat.« 

»Hat es dir gefallen? Warst du glücklich dort?« 

»Anfangs nicht.« Sie senkte den Blick und rührte in ihrem Tee. »In Italien gab es jemanden, den ich sehr gern hatte, und er fehlte mir.« 

Gern hatte?, dachte sie. Sie hatte Guido Zanetti geliebt und lange gebraucht, um ihn zu vergessen. 

Sie fragte ihn nach seiner Familie. »Mein Vater ist sechs Monate nach seiner Pensionierung gestorben«, erzählte Milo. »Ich habe immer gedacht, was für ein schrecklich ödes Leben das gewesen sein muss. Er war bei der Gemeinde angestellt. Todlangweilige Arbeit, nichts als Formulare ausfüllen. Wir fuhren jeden Sommer in denselben Ort am Meer und wohnten in derselben Pension. Mein Vater kaufte sich jedes zweite Jahr einen neuen Hut und alle fünf Jahre einen Mantel. Ein Auto konnte er sich von seinem Gehalt nicht leisten. Wenn ich an ihn denke, sehe ich ihn immer mit Hosenklammern auf seinem Fahrrad. Deprimierend.« 

»Armer Milo.« 

»Nein, armer Dad. Ich bin ja entkommen. Ich war in Oxford, als er starb. Meine Mutter lebte sechs Jahre länger. Sie hat den Erfolg von Penelopes Webstuhl noch erlebt. Sie hat sich unheimlich für mich gefreut.« 

»Und war sicher sehr stolz auf dich.« 

»Ja, das auch.« 

»Sie fehlt dir bestimmt. 

Nein, sie fehlte ihm nicht sonderlich. Ihre ehrfürchtige Bewunderung seiner Leistungen – Schulstipendium, Oxford, Buchveröffentlichung – war ihm damals, als sehr junger Mensch, auf die Nerven gegangen und peinlich gewesen. Dennoch sagte er jetzt: »Ja, natürlich«, und fügte dann sinnend hinzu: »Was wir mit achtzehn oder zweiundzwanzig wollen ist nicht unbedingt dasselbe wie das, was wir mit achtunddreißig wollen. Wir treffen diese Entscheidungen in der Jugend und erkennen nicht, wie bedeutsam sie sind.« 

Jäh überkam ihn ein Gefühl von Trauer. In letzter Zeit war es ihm nicht gelungen, eine Unzufriedenheit abzuschütteln, die wie ein Schwarm schwarzer giftiger Fliegen über ihm hing. 

»Ich habe Fallen immer vermieden«, sagte Tessa. »Verpflichtungen, Verantwortung – das will ich alles nicht. Meine Mutter saß in der Falle. Sie war in ihrer Ehe gefangen.« 

»Findest du denn, dass die Ehe immer eine Falle ist?« 

»Für Frauen ganz sicher. Für Frauen kann die Ehe eine Art Sklaventum sein. Für Männer – das kann ich nicht beurteilen.« 

Er sagte: »Ich habe die Ehe als Abenteuer gesehen.« 

»Und ist sie es?« 

»Ja, am Anfang war sie eines. Wir glaubten, wir würden ganz neue Wege einschlagen, Rebecca und ich. Wir wollten es besser machen als unsere Eltern. Wir wollten Hand in Hand zu einer spannenden Reise aufbrechen.« 

»Habt ihr Kinder?« 

»Wir wollten keine. Sie hätten uns eingeschränkt. Ich fand immer, dass Kinder und nicht die Ehe einen behindern.« 

»Für eine Frau sind sie eine zusätzliche Fessel. Sie wird der Kinder wegen in einer schlechten Ehe aushalten. Mit der Ehe ist ein Besitzdenken verbunden, das ich einfach nicht mag. Ich habe zu viele unglückliche Ehen gesehen – nicht nur die meiner Eltern, auch hier in London. Ich kenne Paare, die nur des Geldes wegen oder um den Schein zu wahren zusammenbleiben, weil eine Scheidung eine Schande wäre. Das hat mit Liebe nichts zu tun, Milo, das ist nichts weiter als ein Vertrag, und ein schlechter dazu. Meiner Meinung nach ist die Ehe der Tod der Liebe.« 

Blieb er aus Liebe oder aus Gewohnheit bei Rebecca? Sie war in letzter Zeit so rastlos. Alles musste immer perfekt sein. Das Haus, der Garten – vielleicht, sagte er sich manchmal, würde sie auch ihn eines Tages ansehen, ein bisschen verlottert finden und mit ihm aufräumen. Wann war dieser Wandel eingetreten? Wann war aus dem hingebungsvollen jungen Mädchen mit der unwiderstehlichen erotischen Ausstrahlung, in das er sich verliebt hatte, eine Frau geworden, die sich über einen Krümel auf dem Sofakissen, einen schmutzigen Fußabdruck im Flur aufregte? Nach Penelopes Webstuhl, dachte er, aber schon vor Annette. Irgendwann in den Jahren dazwischen, den Jahren seines Erfolgs als Schriftsteller und ihres gemeinsamen gesellschaftlichen Erfolgs als Ehepaar. 

»Entschuldige, Milo.« Tessa sah ihn teilnahmsvoll an. Sie legte ihre Hand auf seinen Arm. »Ich wollte dich nicht unglücklich machen.« 

»Ich bin nicht unglücklich. Ich glaube, ich war nie glücklicher.« 

Sie schaute zum Fenster hinaus. »Es hat aufgehört zu regnen. Wollen wir gehen?« 

Draußen wollte Milo ein Taxi anhalten, aber Tessa sagte, sie wolle lieber zu Fuß laufen. 

»Wie ist es mit der Liebe?«, fragte er, als sie wieder in der Charing Cross Road waren. »Ist die Liebe auch eine Falle?« 

»O nein.« Sie hakte sich bei ihm ein. »Liebe ist das Wichtigste auf der Welt. Aber man sollte nicht versuchen, sie in eine Form zu pressen. Wenn man das tut, verzerrt und zerstört man sie. Die Liebe dauert, so lange sie eben dauert. Das ist jedenfalls meine Meinung. Und wenn sie aufhört, lässt man sie hinter sich.« 

Hatte er versucht, an der Liebe festzuhalten, nachdem das Beste an ihr längst gestorben war? War das der Grund für seine Unzufriedenheit? 

Die Straßen waren fast menschenleer, und nur gelegentlich fuhr ein Auto vorbei. Milo schien, dass die große Stadt sich nur für sie geleert hatte, damit sie ungestört gehen, reden und sich küssen konnten.  

»Ich würde nie jemandem wehtun wollen«, sagte Tessa. 

»Nein, natürlich nicht.« 

»Du musst tun, was du für richtig hältst. Und ich mache es genauso.« 

Sie erschien ihm in diesem Moment sehr jung. Ein Gefühl heftiger Erregung erfasste ihn, und er begriff, dass etwas Wunderbares auf ihn wartete, etwas, das sein Leben verändern würde. Er hob ihre Hand an sein Gesicht und drückte seine Wange hinein. 

Am Embankment blieben sie stehen und blickten auf den Fluss hinaus. Dann sah Tessa auf ihre Uhr. »Es ist spät. Mein Geburtstag ist vorbei.« 

»War er schön?« 

»Einer der schönsten.« Sie drehte sich ihm zu und schob ihre Hände unter seinen Mantel. »Du solltest nach Hause fahren, Milo«, murmelte sie.  

»Ich will aber nicht. Und ich kann auch nicht – der letzte Zug ist längst weg.« Er streichelte mit dem Daumen ihr Gesicht. »Ich glaube, ich kann nicht zurück«, sagte er leise.  

»Dein Klub –« 

»Das meinte ich nicht.« Er küsste sie. »Das hier ist zu ernst. Fühlst du das auch, Tessa?« 

»Ja.« Es war nur ein Hauch. 

»Manchmal erscheint es mir absurd, wie sehr wir durch Konvention und Schicklichkeit gebunden sind. Was sollte daran auszusetzen sein, wenn ich mit jemandem reden, ab und zu mit ihm zusammen sein möchte?« 

»Ist es das, was du dir wünschst – reden, ab und zu zusammen sein?« 

»Wenn mehr nicht zu bekommen ist, dann nehme ich es. Mit Freuden. Aber natürlich möchte ich mehr, Tessa, das weißt du doch sicher.« 

Er schob seine Hände in ihr Haar und küsste sie wieder. Man konnte diese Dinge zu Tode reden, dachte er, aber am Ende war das Verlangen, den anderen zu berühren, zu halten, mit ihm zu verschmelzen und sich in ihm zu verlieren, unausweichlich. Zu ihren Füßen strömte der Fluss, der keine Zeit und kein Ende kannte. 

So begann es. Sie hatte das Fest mit Milo verlassen, um Paddy zu ärgern, aber dann hatte irgendetwas, ein Wort, eine Geste, ein Kuss das Verlangen geweckt. Anfangs war es nur ein Funke, aber schnell wurde er zum lodernden Feuer. Sie liebte den Schwung seines Mundes, die Kontur seiner Wangen, die Art, wie seine Augen, die blassgrau wie Eis waren und so leicht hätten kalt sein können, aufleuchteten, sobald er sie sah. Und sie liebte ihn, weil er klug und geistvoll war und mit seinen Gedanken verzaubern konnte. 

Sie hatte sich schon bei ihrer ersten Begegnung zu ihm hingezogen gefühlt, als er, ein Geschöpf von Kälte und Dunkelheit, aus dem Wäldchen beim zugefrorenen Weiher getreten war. Schon an dem Abend hatte sie etwas von der Zauberkraft seiner Worte empfunden, seiner Fähigkeit, das Ungewöhnliche zu erkennen und seiner Begabung, das Zischen eines Schlittschuhs auf dem Eis und den Schwung eines Rocks in der Dunkelheit zu einer Geschichte zu verbinden. Als ich Sie sah, dachte ich im ersten Moment, ich wäre in eine andere Zeit zurückversetzt worden, ins alte Russland vielleicht oder ins Wien der Jahrhundertwende. Ich hielt Sie beinahe für einen Geist. So wie Max Bilder mit dem Objektiv seines Fotoapparats gestaltete, so entwarf er Bilder mit Worten, und seine Bilder hatten sie betört.  

Sie hatte sich nicht ernsthaft in ihn verlieben wollen. Eine nette Bettgeschichte, hatte sie gedacht, ein Liebhaber für die blaue Stunde, mit dem sie sich in der toten Zeit des frühen Abends vergnügen konnte. Sie würde vorsichtig sein, diese Geschichte auf keinen Fall ausufern lassen. Er war verheiratet, so stand es innen auf dem Schutzumschlag seines Buchs: Milo Rycroft ist verheiratet und lebt in Oxfordshire. Acht Wörter, die sie zur Vorsicht mahnten und die sie hätten abschrecken müssen. Sie würden, hm, vielleicht einmal im Monat oder so, wenn er in London zu tun hatte, ein paar amüsante Stunden miteinander verbringen, und danach würde er zu seiner schönen Ehefrau auf dem Land heimkehren. Mrs. Rycroft konnte nur schön sein, denn Milo umgab sich nur mit schönen Dingen. Ein Mont-Blanc-Füller, ein Burberry-Mantel und eine schöne Ehefrau, die er vor vielen Jahren, bevor die Langeweile begann, erwählt hatte. Man würde ab und zu miteinander ins Bett gehen, dann würde er wieder heimfahren zu Rebecca, und nichts war passiert. 

Sie argumentierte mit sich selbst, um ihr Gewissen zu beruhigen. Wenn nicht ich, dann eine andere. Also lieber ich, denn ich will ihn nicht für mich haben. Ich werde nur eine Weile an ihm teilhaben, das ist alles. Alles – wie gönnerhaft und wie grausam, aber das erkannte sie erst später. Man pickt sich das Beste heraus und überlässt der Ehefrau großzügig die Reste. Sie an Rebecca Rycrofts Stelle würde so etwas nie hinnehmen. 

Ihre Affäre entwickelte sich nach einer Choreographie eigener Art. Treffen im Britischen Museum, diesem beliebten Treffpunkt heimlich Liebender, ihre Finger ineinander geschlungen, während sie im Schatten monumentaler steinerner Bildwerke und altägyptischer Sarkophage die Säle durchstreiften. Abendessen in unauffälligen Restaurants in unauffälligen Straßen, fern von den bevorzugten Aufenthaltsorten ihrer Freunde. Anrufe aus öffentlichen Telefonzellen oder aus seinem Büro in Oxford, Gespräche, die sich vom Nachmittag bis in den Abend dehnten, weil keiner von ihnen ein Ende finden konnte. Sie liebten sich auf einer Auenwiese in Oxfordshire, wo die Luft vom Duft der Maiblüte erfüllt war. Dieser sogenannte Zeitvertreib für die blaue Stunde, den sie nicht ausufern hatte lassen wollen, besetzte bald jede Stunde ihres Tages. 

»Ich erinnere mich an stickige kleine Zimmer in stickigen kleinen italienischen Städten«, erzählte sie ihm eines Nachmittags, als sie in ihrer Wohnung zusammen im Bett lagen. »Abends fingen meine Eltern immer zu streiten an. Meine Mutter brachte Freddie und mich zu Bett, dann ging sie nach unten, um mit meinem Vater zu essen, und prompt ging es los. Zuerst war er immer sarkastisch. Manchmal konnte ich verstehen, was er sagte, manchmal merkte ich es nur an seinem Ton. Meine Mutter versuchte dann zunächst, ihn zu beschwichtigen. Wenn ich jetzt daran zurückdenke, vermute ich, dass ihn das nur wütender machte. Er schrie herum und beschimpfte sie, und sie weinte. Manchmal warf er mit Gegenständen um sich, Gläsern, Tellern, was gerade zur Hand war. Ich weiß nicht, ob er sie geschlagen hat. Einmal bin ich hinuntergegangen, weil ich glaubte, er hätte ihr wehgetan, aber meine Mutter schrie mich sofort an, wieder nach oben in mein Bett zu gehen. Später hat es mir leid getan, dass ich ihr gehorcht habe.« 

»Armes kleines Mädchen«, sagte er.  

Sie schmiegte sich in seine Arme. »Meine Mutter war mit meinem Vater durchgebrannt, ihre Familie hat jeden Kontakt zu ihr abgebrochen. Sie hatte zwei kleine Kinder und kein eigenes Geld. Ich werde bestimmt nicht den gleichen Fehler begehen. Ich will niemals abhängig sein. Die einzige Ehe, die ich aus der Nähe erlebt habe, war ein Kriegsschauplatz. Mein Vater hat sich selbst zerstört und meine Mutter beinahe auch. Die Leute glauben immer, dass Kinder solche Dinge vergessen, aber das stimmt nicht.« 

Man konnte so stark darauf fixiert sein, die Fehler anderer nicht zu wiederholen, dass man die Fallen nicht sah, die man sich selbst stellte. Sie hätte es beenden sollen. Sie hätte ihm einen Brief schreiben, anrufen, vor seinen Augen mit einem anderen Mann flirten sollen. Sie hätte dafür sorgen sollen, dass er sie hasste. Sie hätte ihm von Angesicht zu Angesicht sagen sollen, dass Schluss sein musste. Sie hätte das alles tun sollen, aber sie tat es nicht, weil sie ihn da schon liebte. 

Dann war sie auf einmal immer so müde, obwohl sie Müdigkeit nie gekannt, die langen Nächte und das frühe Aufstehen höchstens als lästig empfunden hatte. Sie litt an Anfällen von Übelkeit, die sie einige Wochen lang dem hektischen Klima ihrer Arbeit und den unregelmäßigen, häufig in Hetze eingenommenen Mahlzeiten zuschrieb. Irgendein hartnäckiger Bazillus oder Erschöpfung nach den Frühjahrsmodenschauen. 

Wie naiv. Zum ersten Mal kam ihr der Gedanke, dass sie schwanger sein könnte, auf einem Fest in einem Landhaus in Hertforshire. Sie saß in dem Schlafzimmer, das man für die Damen reserviert hatte, vor dem Spiegel und schminkte ihr Gesicht nach. Auf dem Bett lag eine junge Frau und redete mit ihrer Freundin. »Ich bin immer so unglaublich müde, und jeden Morgen muss ich mich übergeben. Wenn ich gewusst hätte, dass man sich so fürchterlich fühlt, wenn man ein Kind bekommt …« Tessa starrte ihr Spiegelbild an, als sich plötzlich alles zusammenfügte. 

Stella Bishop, eine Freundin und Kollegin, schrieb ihr den Namen eines Dr. Pomeroy mit Adresse in der Harley Street auf einen Zettel. Er ist eklig, hatte Stella hinzugefügt, aber in der Not frisst der Teufel Fliegen Ein kurzes Schulterzucken. 

Dr. Pomeroy trug einen schwarzen Gehrock. Die grau gestreifte Weste klaffte über seinem Bauch. Er sprach wie ein Aristokrat, aber nicht einmal die volle Oberlippe und das Neville-Chamberlain-Bärtchen konnten die angefaulten Zähne verbergen. 

Mit kalten Gummihandschuhen untersuchte er Tessa und teilte ihr mit, dass sie in der vierzehnten oder fünfzehnten Schwangerschaftswoche sei. Sie hätte früher zu ihm kommen sollen; es sei dumm von ihr gewesen, sich in eine solche Situation zu bringen. Ein Ehemann sei ja wohl nicht in Sicht? Er könne ihr helfen, aber es würde sie fünfzig Pfund kosten. Sie dürfe keinen Tag länger warten. Sie solle unter dieser Nummer anrufen, dann werde seine Sekretärin ihr einen Termin für seine Klinik geben. Das alles goss er über sie aus, während sie mit gespreizten Beinen wie ein aufgespießter Frosch auf der kalten Ledercouch lag.  

In den nächsten Tagen dachte Tessa viel an Dr. Pomeroy. Und an seinen feucht glänzenden Blick und seine feisten Gummihände in ihrem Leib. Es gab nicht vieles, was sie fürchtete, aber vor Krankenhäusern graute ihr. Eine Art Lähmung befiel sie. Wenn sie nicht daran dachte, würde es vielleicht von selbst weggehen. 

Einige Tage nach dem Arztbesuch reiste sie nach Paris und blieb zwei Wochen. Nach London heimgekehrt, konnte sie beim Hinlegen die kleine feste Schwellung ihres Bauches fühlen. Sie hatte die Karte mit der Telefonnummer der Klinik verloren. Zwei weitere Wochen verstrichen, und eines Morgens, als sie wach im Bett lag, spürte sie ein merkwürdiges kleines Kitzeln unter ihrer Bauchdecke. Sie legte die Hand auf die Rundung und dachte, wenn du ein Mädchen bist, nenne ich dich Christina. 

Sie hatte entschieden, indem sie untätig geblieben war – feige und töricht. Das Kind musste in den ersten stürmischen Wochen ihrer Beziehung mit Milo Rycroft gezeugt worden sein. Irgendwann hatte sie offenbar das blöde Ding  das war ihre Bezeichnung für das Pessar – vergessen. Vielleicht an dem Nachmittag, als sie nach Oxford gefahren war und sie sich am Fluss geliebt hatten. Oder vielleicht an einem der Abende in ihrer Wohnung. 

Sie musste mit Milo sprechen. Es erschreckte sie, als sie merkte, dass sie Angst davor hatte.