6

 

Drei Monate später verließ Rebecca ihren Mann. An einem frühen Morgen im Juli, während er noch schlief, rief sie Meriel in der Westdown-Schule an und erklärte ihr, dass sie eine Unterkunft brauchte. Meriel, die gute Meriel, sagte sofort: »Ja, natürlich. Am besten kommst du zwischen halb zwei und zwei, da habe ich frei. Komm direkt in die Wohnung hinauf.« 

Um zehn fuhr Milo mit einem Taxi nach Oxford, nachdem Rebecca ihm erklärt hatte, sie brauche den Wagen, um eine alte Nachbarin zu einem Termin im Krankenhaus zu fahren. Wenn Milo die Alte Mühle behielt, dann würde sie, verdammt noch mal, den Riley nehmen. Danach packte sie und räumte das Haus auf, was völlig albern war. Was bedeutete es schon, ob das Haus sauber war oder nicht, da sie doch nie mehr dort leben würde? Sie schrieb Milo einen kurzen Brief, legte ihn auf seinen Schreibtisch und machte dann einen Spaziergang durch den Garten, um sich zu beruhigen und um von ihm Abschied zu nehmen. Sobald Mrs. Hobbs gegangen war, verstaute sie ihr Gepäck im Kofferraum des Autos und fuhr los. Sie hatte sich gefragt, ob sie Bedauern spüren würde, aber vor ihr trottete gerade ein Nachbarshund über die Straße, und bis sie den Wagen um ihn herum manövriert hatte, war die Alte Mühle schon außer Sicht, und sie hatte nicht einmal einen Blick zurückgeworfen. 

Meriels Wohnung befand sich in einer weiß getünchten Villa etwas abseits vom Hauptgebäude der Schule. Meriel selbst öffnete auf ihr Läuten und nahm ihr einen Koffer ab. Rebecca folgte ihrem breiten, dunkelblau gewandeten Hinterteil mehrere Treppen hinauf. »Ich habe dir das Feldbett gerichtet«, bemerkte Meriel. »Es ist ganz bequem. Ich nehme es immer beim Zelten mit den Pfadfinderinnern.« 

Mit roten Köpfen und schnaufend kamen sie schließlich oben an. Meriel kochte Tee und bot Rebecca ein Sandwich an, das diese ablehnte. Dann sagte Meriel: »Ich muss wieder los, tut mir leid. Ich habe jetzt Mathe bei den Lernschwachen. Hoffnungslos, sie können nicht einmal addieren.« Sie sah Rebecca forschend an. »Geht’s? Bücher gibt es in Mengen, falls du lesen willst. Du kannst aber auch einen Spaziergang auf dem Gelände machen, wenn du Lust hast.« 

»Ich komme schon zurecht, danke. Lauf du nur.« 

»Ich konnte es einrichten, dass ich heute Abend hier essen kann statt mit den Mädchen.« Meriel umarmte Rebecca ungeschickt.  

»Danke«, sagte Rebecca noch einmal. »Du bist wirklich lieb.« 

Als Meriel weg war, sah Rebecca sich in der Wohnung um. Sie war klein – nur Wohnzimmer, Schlafzimmer, Bad und eine kleine Kochnische –, aber sie war hübsch, mit Blick auf die von Kastanien gesäumten Sportplätze. Auf einem der Plätze spielten Mädchen gerade Hockey. Rebecca, der als Schulmädchen Hockey viel Spaß gemacht hatte, dachte mit einem Anflug von Wehmut an diese unkomplizierten Tage. Nur waren sie in Wirklichkeit überhaupt nicht unkompliziert gewesen, wie sie sich erinnerte: Die leidenschaftlichen Freundschaften und Eifersüchteleien der Schulzeit waren auf ihre Weise so anstrengend und schwierig gewesen wie die Ehe. Sie hatte immer ein Doppelleben geführt und nie über die Verschrobenheit ihres Zuhauses und ihrer Eltern gesprochen. Vielleicht hatte sie daher diese Neigung, Dinge geheim zu halten. Nie allerdings hatte sie ein so schreckliches Geheimnis gehabt wie jetzt. 

Sie nahm sich ein Buch aus dem Bücherschrank und setzte sich damit aufs Sofa. Aber beim Lesen überkam sie eine unerwartete Müdigkeit – vielleicht Erleichterung darüber, endlich den Schlussstrich gezogen zu haben –, und nach einer kleinen Weile legte sie das Buch weg, machte es sich auf dem Sofa bequem und schlief ein. 

Um halb sechs aßen sie zu Abend – Rührei auf Toast und zum Nachtisch Obstsalat. Dann hatte Meriel Aufsicht bei der Hausaufgaben- und Freizeitbetreuung. 

Als sie um halb neun wieder nach Hause kam, schlüpfte sie mit einem tiefen Seufzer in ihre karierten Hausschuhe. »Den Rest kann unsere Hausdame mit den Präfektinnen machen«, sagte sie. »Ich könnte jetzt einen Drink gebrauchen. Wie steht’s mit dir?« 

Sie mixte zwei Gin Fizz. Nach einem kurzen Gespräch über ihren Tagesablauf sah sie Rebecca an und fragte: »Also?« 

»Ich habe Milo verlassen.«  

»Ja, das sagtest du. Möchtest du darüber reden?« 

Sie hatte geglaubt, sie würde es nicht wollen, aber es erschien ihr unfair, Meriels Hilfe in Anspruch zu nehmen, ohne ihr eine Erklärung zu geben. »Ich weiß, dass du ihn nie gemocht hast«, sagte sie. 

»So würde ich das nicht sagen. Milo ist intelligent und kann sehr charmant sein. Zu mir war er immer freundlich, obwohl ich bestimmt nicht zu den Frauen gehöre, die ihn normalerweise interessieren.« 

Rebecca trank ihren Gin schnell hinunter. »Wie meinst du das?« 

»Na ja, er hat gern hübsche Frauen um sich. Alle anderen können ihm gestohlen bleiben. Mach dir doch noch einen, wenn du willst.« 

»Für dich auch?« 

»Bitte.« Meriel reichte Rebecca ihr Glas. 

Rebecca mixte Gin, Soda, Zucker und Zitronensaft. »Aber du bist doch hübsch, Meriel«, sagte sie. »Du hast so schöne Augen.« 

»Blödsinn. Ich bin eine graue Maus. Nein, lass nur. Es macht mir längst nichts mehr aus, ich habe mich daran gewöhnt. Und meiner Ansicht nach ist es leichter für eine Frau, etwas aus ihrem Leben zu machen, wenn sie nicht von Männern und Ehe und dem ganzen Kram abgelenkt wird.« 

Rebecca war nicht sicher, ob ihr gefiel, was Meriel da andeutete, aber sie sagte: »Das Schlimme ist, dass Milo übermäßig gern hübsche Frauen um sich hat.« Sie konnte nicht verhindern, dass ihre Stimme bitter klang. 

Meriel sah sie zuerst verständnislos an, dann war sie erschrocken. »Oh. Entschuldige, ich hatte keine Ahnung.« 

»Ehrlich nicht?«  

»Ehrlich nicht. Wenn du es genau wissen willst, ich war immer überzeugt, dass Milo dich abgöttisch liebt.« 

»Das war einmal. Er behauptet, es wäre immer noch so. Aber er liebt eben andere Frauen auch abgöttisch. Und ich halte das nicht mehr aus.« 

»Ach, du Arme, das ist ja furchtbar. Dieser Schuft.« 

»Ich liebe ihn nicht mehr. Ich habe ihn jahrelang geliebt, und jetzt ist es vorbei. Nach dem letzten Mal glaubte ich, ich liebte ihn immer noch, aber es ist nichts mehr da. Eigentlich verachte ich ihn.« 

»Und du glaubst nicht … vielleicht solltet ihr mal miteinander reden.« 

»Ich kann es kaum ertragen, ihn anzusehen, geschweige denn mit ihm zu reden. Die letzten drei Monate waren eine Qual. Manchmal habe ich gedacht, ich werde verrückt.« 

»Was willst du jetzt tun?« 

»Ich werde mich wohl scheiden lassen.« Rebecca hatte sich wieder aufs Sofa gesetzt. Sie trank einen Schluck Gin. »Ich würde mir ja die Mühe gar nicht machen, ich heirate bestimmt nicht wieder. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass Milo lange allein bleiben wird.« Sie lachte. »Das ist das Komische. Er ist gern verheiratet, obwohl er überhaupt kein Talent für die Ehe hat.« 

»Hast du ihm gesagt, dass du ihn verlässt?« 

Rebecca schüttelte den Kopf. »Ich habe ihm einen Brief hingelegt. Ich wollte der Auseinandersetzung entgehen. Findest du das schwach von mir? Ich bin einfach zu müde.« 

Meriel tätschelte ihr die Schulter. »Du kannst hierbleiben, so lange du willst, das weißt du.« 

»Das ist wirklich lieb von dir, aber ich habe beschlossen, nach London zu gehen.« Sie hatte nichts Derartiges beschlossen, die Idee war ihr eben erst gekommen, ganz überraschend. Aber es schien ihr eine gute Idee zu sein. »Als ich auf der Kunstakademie war«, sagte sie, »habe ich das Leben in London genossen. Und es wird eine Abwechslung sein, in einer Stadt zu leben. Trotzdem, danke dir, dass du mich aufgenommen hast. Ich habe eine Verschnaufpause gebraucht.« 

»Hast du denn genug Geld? Entschuldige, dass ich so direkt bin, aber ich habe einiges gespart.« 

»Mach dir keine Sorgen. Milo kann für meinen Unterhalt bezahlen«, sagte Rebecca harsch. »Er hat Geld genug. Er hat die letzten Jahre sehr gut verdient. Und er ist mir schließlich etwas schuldig.« 

»Eine Scheidung …« 

»Ja, ich weiß, Mama wird außer sich sein.« Rebecca spülte ihren Gin hinunter. »Ich sollte zu ihr fahren und es ihr persönlich sagen.« 

»Das würde ich nicht tun. Schreib ihr einen Brief. Dann hat sie sich vielleicht bis zu deinem nächsten Besuch an die Tatsache gewöhnt.« 

»Es wird jedenfalls ganz oben auf unserer Mängelliste landen, meinst du nicht? Die erste Scheidung in der Familie.« 

Sie tranken beide noch einen Gin, dann machten sie sich bettfertig. Meriel war schnell eingeschlafen – Rebecca auf ihrem Feldbett, das keine zwei Meter entfernt stand, konnte sie leise schnarchen hören, während sie selbst sich hin und her wälzte, ohne die richtige Lage zu finden, vom Gin anscheinend eher angeregt als, wie sie gehofft hatte, schläfrig. 

Alle Gedanken, die sie während des Tages niedergehalten hatte, drängten jetzt nach oben. Sie hatte sich nicht zu sorgen brauchen, dass sie in Westdown mit Freddie Nicolson zusammentreffen würde; Meriel hatte ihr erzählt, dass Freddie schon vor einiger Zeit das Internat verlassen hatte, um sich um ihre Schwester zu kümmern. In den Schmerz und Groll über das Scheitern ihrer Ehe mischte sich Entsetzen über das, was sie getan hatte. Tessa kann sich an den Unfall nicht erinnern, weil sie eine Kopfverletzung hat, hatte Freddie ihr bei der Beerdigung erklärt. Sie kann sich nicht erinnern, warum sie nach Oxford wollte. Vielleicht hatte sie – Rebecca – an dem Tag einen flüchtigen Moment lang geglaubt, Tessa Nicolsons Gedächtnisverlust bedeute ihre Befreiung. Aber wenn, dann hatte sie sich getäuscht. Im Lauf der Wochen hatte sie allmählich erkannt, dass sie gefangen war, in eisernen Ketten, und vielleicht niemals entkommen würde. 

Hätte sie bei der Beerdigung mit Freddie Nicolson sprechen sollen? Hätte sie sagen sollen: Ich weiß, warum Ihre Schwester an dem Nachmittag nach Oxford wollte. Der Grund war mein Anruf? Denn das war der unausweichliche Schluss, zu dem sie gelangt war, dass es ihr Anruf gewesen war, der Tessa Nicolson veranlasst hatte, nach Oxford zu fahren, um Milo zur Rede zu stellen. Sie hatte Freddie Nicolson nichts davon gesagt, weil sie zu feige gewesen war. Und wenn sie den Mut aufgebracht hätte, einzugestehen, was sie getan hatte, wäre das dann das Richtige gewesen? Oder hätte es nur ihr selbst Entlastung gebracht, ohne den Schmerz der Nicolson-Schwestern im Geringsten zu lindern? 

Auch Milo hatte sie von ihrer Rolle bei den Ereignissen, die zu Tessa Nicolsons Unfall geführt hatten, nichts erzählt. Sie hatte sich eingeredet, dass sie ja gar nicht mit Sicherheit wisse, ob wirklich ihr Anruf Tessa bewogen hatte, an diesem Tag aus London wegzufahren. Es konnte ein ganzes Dutzend anderer Gründe dafür geben, dass Tessa Nicolson an diesem regnerischen Nachmittag auf der Straße nach Oxford unterwegs gewesen war. Vielleicht war gar nicht Oxford ihr Ziel gewesen – es war leicht möglich, dass sie auf dem Weg zu irgendeinem anderen Liebhaber irgendwo in der Nähe gewesen war. Und im Übrigen, hatte sie nicht jedes Recht gehabt, so zu handeln, wie sie es getan hatte? War es nicht eine unverzeihliche Schandtat von dieser Tessa Nicolson gewesen, mit dem Ehemann einer anderen Frau ins Bett zu steigen? Sie hatte sich Milos Seitensprünge jahrelang gefallen lassen – hatte sie etwa nicht das Recht, sich irgendwann zu wehren? Und schließlich war es ja nicht ihre Schuld, dass der Wagen auf der nassen Straße ins Schleudern geraten war. 

Und dennoch gelangte sie mit monotoner Unausweichlichkeit immer wieder zu der Gewissheit, die sie quälte, seit Freddie Nicolson ihr von dem Unfall berichtet hatte: dass sie Tessa Böses gewünscht hatte; dass sie sie gehasst hatte; dass Rachsucht und Bosheit sie getrieben hatten, Tessa an jenem regnerischen Nachmittag anzurufen und ihr das Märchen von Milos neuer Affäre aufzutischen. 

Milo hatte sich geweigert, zur Beerdigung des Kindes zu gehen. »Aber er war dein Sohn«, hatte sie ihn angeschrien, dass er zusammengezuckt war. »Ich kann nicht«, hatte er gemurmelt. »Ich kann einfach nicht. Denk von mir, was du willst, Rebecca, aber ich kann es nicht ertragen.« In den Wochen danach blieb Milo zu Hause, sagte alle seine Vorlesungen in Oxford wegen Krankheit ab und verließ das Haus nur zu seinen Wanderungen in den Hügeln. 

Aber mit der Zeit fand er zu seiner früheren Vitalität zurück. Ein amerikanischer Verlag hatte die Rechte an drei seiner Romane gekauft, und Milo öffnete zur Feier des Tages eine Flasche Champagner. Er nahm die Einladung zu einem Vortrag im Rundfunk an. Niemals erwähnte er sein Kind, niemals sprach er von Tessa. 

Rebecca knipste die Taschenlampe an, die Meriel ihr gegeben hatte, und sah auf ihre Uhr. Bald ein Uhr morgens. Sie kannte diese Nächte inzwischen. Die quälenden Gefühle von Schuld und Reue, das Absacken in einen unruhigen Schlaf kurz vor Morgengrauen, die Kraftlosigkeit am nächsten Tag.  

London, dachte sie. Ich werde an London denken. An der Vergangenheit kann ich nichts ändern, ich muss in die Zukunft schauen. Ich suche mir eine Bleibe irgendwo in einer hübschen Gegend. Ein Neuanfang, ein neues Leben: Das ist es, was ich brauche. Sie merkte, wie ihr die Lider schwer wurden, wie ihr Herzschlag sich beruhigte. 

Sie blieb eine Woche bei Meriel. Milo rief mehrmals an, aber sie lehnte es ab, mit ihm zu sprechen. Dr. Hughes kam, um nach einer erkrankten Schülerin zu sehen. Rebecca erfand taktvoll eine Besorgung, damit Meriel den Tee mit ihm allein trinken konnte. Die Wohnung war zu klein für zwei; Rebecca ahnte, dass sie und Meriel sich früher oder später gegenseitig auf die Nerven gehen würden, auch wenn sie sich bisher wirklich gut vertrugen. Und außerdem – dieses verdammte Feldbett. 

Meriel empfahl ihr ein Hotel, in dem sie selbst bei gelegentlichen Reisen nach London abstieg, und Rebecca bestellte telefonisch ein Zimmer. Ihr war ein wenig bang bei dem Anruf, sie hatte noch nie ein Hotelzimmer gebucht, diese Dinge hatte immer Milo erledigt. 

Das Hotel Wentworth lag am Elgin Crescent in Notting Hill. Der Portier trug ihr Gepäck nach oben ins Zimmer, und Rebecca kramte in ihrem Portemonnaie nach einem Trinkgeld. Als er ging und die Tür hinter sich schloss, wusste sie nicht, ob sie ihm zu viel oder zu wenig gegeben hatte. 

Die Einrichtung des Zimmers war schlicht: ein Bett mit Nachttisch, ein Schrank, eine Kommode, ein Stuhl und ein Waschbecken. Der Anblick des Einzelbetts deprimierte sie. Sie strich mit der Fingerspitze über den Kaminsims – wenigstens schien das Zimmer sauber zu sein. Müde von der langen Fahrt setzte sie sich hin und zog ihre Schuhe aus. Sie merkte, wie ihre Stimmung sich zu trüben begann, und wusste aus Erfahrung, dass der Absturz folgen würde. Da half nur ein Plan. Sie musste einen Plan fassen. London hatte so viel Abwechslung zu bieten. Sie konnte einen Einkaufsbummel machen, in ein Museum gehen oder in einen der vielen Parks. Als Studentin hatte sie Spaziergänge in den Londoner Parks geliebt. 

Sie warf einen Blick in den Spiegel, um ihr Make-up zu prüfen, dann ging sie los. Auf dem Weg zu den Kensington Gardens kaufte sie sich ein Sandwich und einen Apfel. Es war ein schöner, heller Sommertag, und die Gewissheit, dass ihre Entscheidung, nach London zu gehen, richtig war, kehrte wieder. Auf einer sonnigen Bank im stillen italienischen Garten aß sie ihr kleines Mittagessen, danach ging sie zu Fuß nach Knightsbridge und sah sich bei Harvey Nichols die neueste Mode an. Wunderbar, dachte sie, einen Schaufensterbummel machen zu können, ohne Angst haben zu müssen, dass Milo sich langweilte. 

Als sie wieder aus dem Kaufhaus kam, suchte sie, ermuntert vom Erfolg ihres Ausflugs, eine Telefonzelle und rief Toby Meade an.  

»Ja?« Es war mehr ein Knurren als eine höfliche Frage. 

»Toby, bist du das?« 

»Nein, hier ist Harrison.« 

»Ich hätte gern mit Toby Meade gesprochen.« 

»Kann sein, geht aber nicht.« 

Wie ungezogen, dachte Rebecca. Im Hintergrund waren gedämpfte Stimmen zu hören. »Aber ich habe doch die richtige Nummer?« 

»Toby ist nicht da. Er hat bei irgendeiner Galerie zu tun.« Harrison sprach mit einem nordenglischen Anklang. 

»Könnten Sie ihm etwas ausrichten?« 

»Das wird sich machen lassen.« Rascheln. »Verdammt, hier muss doch irgendwo ein Stift sein. – Also. Sie sind?« 

»Rebecca Rycroft.« Sie begann ärgerlich zu werden. »Würden Sie Toby bitte ausrichten, dass ich angerufen habe. Und sagen Sie ihm doch bitte, dass ich in London bin.« Ihr fiel ein, dass sie die Telefonnummer ihres Hotels nicht wusste. »Ich wohne im Wentworth am Elgin Crescent. Vielleicht kann er mich dort anrufen …« 

»Okay.« 

»Ich danke Ihnen.« 

»Ich richte es Toby aus«, sagte Harrison. »Sie haben übrigens eine schöne Stimme, Rebecca.« 

»Oh«, sagte sie verblüfft, aber er hatte schon aufgelegt. 

Während sie im Hotel bei ihrem einsamen Abendessen saß, kam der Kellner zu ihr an den Tisch. Es sei jemand für sie am Telefon. Sie nahm den Anruf am Empfang entgegen. Toby meldete sich. Ein kurzes Gespräch – sie konnte nicht viel erklären, weil die Empfangsdame, eine grimmig aussehende junge Frau mit langen Stirnfransen und dicken schwarzen Augenbrauen, praktisch neben ihr stand –, dann sagte Toby: »Ich habe ein paar Leute da, nur eine kleine Fete. Hast du Zeit, auf ein Glas vorbeizukommen?« 

Sie sagte zu und kehrte gar nicht erst zu ihrem Nachtisch zurück, sondern ging direkt in ihr Zimmer hinauf. Ein seltsames Gefühl, sich zum Ausgehen zurechtzumachen und zu wissen, dass kein Milo da war, um sie zu begleiten. Ihr ganzes gesellschaftliches Leben hatte sich nur in Milos Begleitung abgespielt; er mochte ohne sie zu seinen Londoner Einladungen gefahren sein, sie war seit fünfzehn Jahren nicht mehr ohne ihn auf einer Gesellschaft oder einem Fest gewesen. Würde es schlimm sein, so allein? Aber sie und Toby waren ja alte Freunde – es würde schon gut gehen, sagte sie sich. Sie fuhr sich mit dem Kamm durch die Haare und trug frischen Lippenstift auf. Ein letzter kritischer Blick in den Spiegel – die grüne Seidenbluse stand ihr, das wusste sie –, und sie machte sich auf den Weg. 

Sie nahm ein Taxi zu Tobys Wohnung in Chelsea. Die oberen Stockwerke des Hauses waren erleuchtet. Als sich auf ihr Klopfen nichts rührte, schubste sie die Haustür vorsichtig an und trat ein, als sie aufschwang. Toby wohnte auf Nummer neun. Mit jeder Stufe, die Rebecca höher stieg, wurde es lauter – Musik, Gelächter, Stimmengesumm. Sie musste immer wieder um Leute herumgehen, die es sich auf den Stufen bequem gemacht hatten. 

Die Zahl neun war auf ein flaches Knochenstück aufgemalt – ein Kieferknochen, nach den Zähnen daran zu urteilen –, das an einem Haken neben einer offenen Tür befestigt war. Leute drängten durch die Tür in den Treppenflur hinaus. Hin und wieder durchdrang das abgerissene Klimpern eines Klaviers das Lärmen angeregter Stimmen. 

Rebecca bahnte sich auf der Suche nach Toby mühsam einen Weg durch das Gewühl. Die Glühbirnen waren mit mauvefarbenem Krepppapier abgeschirmt, die Gäste saßen auf Sofas und Stühlen oder standen in Gruppen um einen Bocktisch, auf dem ein Büfett aufgebaut war. Der Klavierspieler, der die Gäste unterhielt, hatte helles Haar, das ihm bis zum Kragen reichte, und trug einen Mantel. 

Toby stand auf der anderen Seite des Raums und unterhielt sich mit einer jungen Frau. Sie war klein und zierlich, mit einem vollen Busen und einem hellhäutigen Gesicht voller Sommersprossen. Ihr langes rotes Haar fiel ihr in präraffaelitischen Locken über den Rücken. Zu einer Bauernbluse trug sie einen langen dunklen Rock, unter dem bloße Füße in Sandalen hervorsahen. 

»Hallo, Toby«, sagte Rebecca, und er drehte sich um. 

»Becky, Schätzchen.« Er umarmte sie. »Wie geht es dir?« 

»Sehr gut, danke.« 

»Wie schön, dich zu sehen.« Toby warf einen Blick über ihre Schulter. »Zu viel der Boheme für Milo?« 

»Er ist gar nicht hier. Ich bin allein in London.« 

Er sah sie neugierig an, dann aber sagte er: »Das finde ich eine großartige Idee. Das ist übrigens Artemis Taylor.« Die junge Frau in der Bauernbluse lächelte. »Artemis, das ist Rebecca Rycroft. Wir kennen uns schon ewig. Wir waren zusammen auf der Kunstakademie.« 

»Und was machen Sie so?«, fragte die junge Frau. 

Rebecca brauchte einen Moment, um die Frage zu verstehen, dann lachte sie. »Im Augenblick leider gar nichts. Ich habe seit Jahren nicht mehr gemalt. Sind Sie Künstlerin, Miss Taylor?« 

»Bildhauerin. Zurzeit arbeite ich mit Treibholz. Wir waren am Wochenende in Aldborough. Am Strand haben wir ein paar phantastische Stücke gefunden.« 

»Wir haben sie im Zug nach Hause befördert«, erzählte Toby. »Ich glaube, die Leute haben uns alle für verrückt gehalten.« Er legte Artemis den Arm um die Schultern. Rebecca begriff intuitiv, dass sie seine Freundin war, und war einen Moment enttäuscht, so absurd das auch sein mochte. Vor langer Zeit, vor Milo, war Toby in sie verliebt gewesen – aber das Leben ging natürlich weiter. 

Toby fragte sie, was sie trinken wolle, und Rebecca bat um ein Bier, das in einem emaillierten Krug gebracht wurde. Eine Zeit lang unterhielten sie sich über Tobys Arbeit, aber dann trafen neue Gäste ein, und Rebecca sah sich an den äußeren Rand des Kreises gedrängt. Ihr Krug war leer, und sie ging zum Tisch, um sich noch etwas zu trinken zu holen. Auf den Platten tummelten sich nur noch die Reste einer roten Grütze, ein paar Kuchenkrümel und einige welke belegte Brötchen. 

»Sie müssen Rebecca sein«, sagte plötzlich jemand hinter ihr. Der Klavierspieler. 

»Ich bin Harrison Grey«, stellte er sich vor. »Wir haben miteinander telefoniert.« 

Das also war der ungezogene Bursche, der Mann, der gesagt hatte, Sie haben eine schöne Stimme. 

Sie sagte kühl: »Guten Abend, Mr. Grey.« 

»Guten Abend, Miss Rycroft.« In den hellen, durchscheinenden Augen schimmerte ein Anflug von Spott. Sein Gesicht war hager mit eingefallenen Wangen, und er hatte eine lange schmale Nase und einen kleinen Mund. 

»Mrs.«, sagte sie. 

»Oh, ich bitte um Entschuldigung, Mrs. Rycroft.« Sein Ton klang amüsiert. Wahrscheinlich lachte er sie aus. 

Ein unerträglicher Mensch, dachte Rebecca. »Wenn Sie mich entschuldigen würden …« 

»Sie wollen mich doch nicht allein lassen?« 

»Nun, allein sind Sie wohl kaum –« 

»Aber ich verabscheue Partys. Wie ist es mit Ihnen, Mrs. Rycroft? Ich kann mir nicht vorstellen, dass das hier Ihr Genre ist.« 

»Warum sagen Sie das? Sie wissen nichts von mir.« 

»Nein, aber ich habe so etwas im Gespür. Ihre Stimme ist so schön und kultiviert. Singen Sie, Mrs. Rycroft?« 

»Nur in der Kirche.« 

»Sie gehen in die Kirche?« 

»Manchmal. Nicht oft.« 

Sein Lachen klang fast wie ein Zischen. »Das ist ja zu schön, um wahr zu sein. Und was sind Sie – römisch-katholisch, um das bürgerliche schlechte Gewissen zu beruhigen, oder anglikanisch, weil Ihnen die Texte und die Musik gefallen?«  

»Anglikanisch«, antwortete sie ärgerlich. »Sie haben recht, ich mag die Texte und die Musik. Ist das so verwerflich?« 

»Meiner Meinung nach sind alle Religionen nichts als Opium für die Massen, aber darüber können wir uns ein andermal streiten. Und für ein gutes Kirchenlied habe ich immer was übrig gehabt.« Er machte eine entschuldigende Handbewegung. »Ich schlafe in letzter Zeit nicht gut. Deswegen bin ich so schlecht gelaunt.« 

Das konnte sie verstehen. »Ja, nach einer schlechten Nacht geht einem irgendwie alles auf die Nerven, nicht?« 

»Ah, Sie kennen das.« 

Er flirtete mit ihr – auf eine absonderliche, nicht gerade schmeichelhafte Art, aber es war trotzdem Flirten, und das hob ihre Stimmung. 

»Was trinken Sie?«, fragte er. 

»Bier.« 

»Ich habe etwas Besseres.« 

Er holte eine halbe Flasche Gin aus der Manteltasche und goss ihr einen Schuss davon in den Krug. »Mit Eis und Zitrone kann ich leider nicht dienen. Bin ich zu raubeinig?« 

»Ich werde es verkraften, danke. Woher kennen Sie Toby?« 

»Aha, direkt aus dem Ratgeber für erfolgreiche Gespräche bei Cocktailpartys. Aber eigentlich ist das Anknüpfungspunkt Nummer drei – haben wir Herkunft und berufliche Tätigkeit übersprungen?« 

»Das lässt sich korrigieren. Sie kommen nicht aus London, oder?« 

»Ich stamme aus Leeds. Und Sie?« 

»Oxfordshire.« 

»Sehr edel. Ich bin bei einem Ingenieurbüro beschäftigt. Sie nennen mich Abteilungsleiter, aber eigentlich bin ich nur ein besserer Vertreter. Es macht keinen Spaß, aber es zahlt die Miete. Toby habe ich in einem Pub kennengelernt. Ich saß am Klavier, und Toby bat um einen Song. Und Sie, Mrs. Rycroft?« Er imitierte eine gehobene Sprechweise. »Wie lange sind Sie schon mit unserem Gastgeber bekannt?« 

»Seit der Kunstakademie. Achtzehn Jahre.« 

Länger als ihre Ehe mit Milo gehalten hatte. Eine so lange Zeit, und doch schienen die Jahre auf einmal zu schrumpfen und sich in Luft aufzulösen, als wäre in dieser ganzen Zeit nichts von Bedeutung geschehen. Ihre gute Laune war dahin, sie hätte am liebsten geweint. 

»Und Ihr Mann?«, fragte Harrison Grey. »Der glückliche Mr. Rycroft. Ist er auch hier?« 

»Nein.« 

»Nun, ich kann nicht behaupten, dass er mir fehlt.« 

»Ich auch nicht.« 

Er lächelte und stieß mit ihr an. »Dann prost.« 

»Wie haben Sie mich eigentlich erkannt?«, fragte sie. »Woher wussten Sie, dass ich die Frau bin, mit der Sie am Telefon gesprochen hatten?« 

»Das war nicht schwierig. Sie sehen nicht gerade aus wie eine Jüngerin der Boheme. » 

Artemis Taylors Aufmachung, das war ihr schon aufgefallen, passte weit besser in diese Gesellschaft als ihr Tweedrock mit der grünen Seidenbluse und die hohen Absätze. 

»Und ich habe Toby gefragt, ob Sie auch kommen«, fügte er hinzu. »Ich habe nach Ihnen Ausschau gehalten. Ich habe mir große Hoffnungen gemacht.« 

»Dann tut es mir leid, wenn ich Sie enttäuscht habe.« 

»Enttäuscht?« 

»Meine kultivierte Stimme – meine Zugehörigkeit zur anglikanischen Kirche.« 

»Nein, Sie sind überhaupt keine Enttäuschung.« Ein unmissverständliches Lächeln. »Im Gegenteil, Sie sind absolut perfekt.« 

Irgendwann in der Nacht fing ein Streifen lila Krepppapier Feuer, es gab wildes Geschrei und Herumtrampeln, und alles roch nach Rauch. Noch später stand Rebecca am Klavier und sang mit Harrison Grey ›I’ve Got You Under My Skin‹. Danach tanzten sie, Harrison immer noch im Mantel. Er war lang und schlaksig, eigentlich kein guter Tänzer, aber er hielt sie fest an sich gedrückt, und als die Musik endete, gab er ihr einen Handkuss. 

»Ich muss jetzt leider gehen«, sagte er. »Es hat mich gefreut, Sie kennenzulernen, Mrs. Rycroft. Vielleicht rufe ich Sie einmal an.« 

Er schien eine Antwort zu erwarten, aber die Freude, die sie beim Tanzen empfunden hatte, war verflogen, und sie brachte nur ein, »Ja, tun Sie das, wenn Sie wollen«, hervor. 

Kurz nachdem Harrison gegangen war, begann die Gesellschaft sich aufzulösen, und am Ende waren sie nur noch zu dritt, Rebecca, Toby und Artemis. Das war der Moment, als sie zu weinen anfing. Die Tränen liefen ihr über das Gesicht wie Wasser aus einem überkochenden Topf. Toby sagte: »Oh, Rebecca« und »Nicht weinen, Schätzchen« und »Es geht um Milo, stimmt’s?« Aber sie konnte nicht aufhören. Sie nahm undeutlich wahr, dass Artemis Taylor taktvoll verschwand, während Toby ihr Tee kochte und Aspirin verabreichte.  

Als sie es geschafft hatte, einen Schluck Tee zu trinken und die Aspirin hinunterzuwürgen, sagte er liebevoll: » Na, komm, sag’s Onkel Toby.« 

Und das tat sie. Natürlich erzählte sie ihm nicht alles, sie schwieg von Tessa Nicolson, dem Kind und ihrem Anruf, weil das Dinge waren, die sie niemals einem Menschen anvertrauen würde. Aber sie sprach von Milos Eskapaden, worauf er sagte: »Dieser Mistkerl« und »Du bist ohne ihn besser dran«, was sie aus irgendeinem Grund überhaupt nicht aufmunterte. 

Sie drückte Tobys Taschentuch zu einem nassen Knäuel zusammen. Ihre Ehe war vorbei, und sie wusste nicht, was sie mit dem Rest ihres Lebens anfangen sollte. Sie fühlte sich sinnlos ohne Milo – ja, sie wusste nicht, wie sie ihre Tage zubringen sollte. Sie hasste es, allein in diesem grässlichen Hotel zu hausen. Sie hasste die Empfangsdame mit ihrem abschätzigen Blick, und sie hasste den Kellner, der ihr, als er gesehen hatte, dass sie ohne Begleitung war, den kleinsten Tisch in der dunkelsten Ecke des Speisesaals gegeben hatte. 

Schließlich hörte sie doch auf zu weinen. Eine Art Ernüchterung trat ein. 

»Willst du denn zu Milo zurück?«, fragte Toby. 

»Nein.« Sie saßen nebeneinander auf einem Sofa, rundherum schmutzige Tassen und Gläser und schwarz versengte Fetzen Krepppapier. »Mir ist jetzt klar, dass es schon seit Jahren aus war«, sagte sie unglücklich, »aber ich war zu blind, um es zu merken. Jetzt weiß ich nicht, was ich tun soll.« 

»Warum sollst du denn etwas tun, Becky?«, fragte Toby. »Du musst dir doch keine Arbeit suchen, oder?« 

»O nein, finanziell geht es mir gut. Milo hat eine Menge Fehler, aber er war nie geizig.« Sie hatten ein gemeinsames Bankkonto. Das konnte kaum so bleiben, fiel ihr ein, wenn sie sich scheiden ließen – eine weitere traurige Veränderung, auf die sie sich einstellen musste.  

»Warum willst du dann nicht mal einfach nur leben? Abwarten, was das Leben bringt? Warum nicht einfach mal Spaß haben?« Toby lächelte. »Ich war mein Leben lang ziemlich planlos. Ich habe immer von einem Tag zum anderen gelebt. Und das ist gar nicht so schlecht.« 

»Ich weiß nicht, ob ich das kann.« 

»Versuch’s. Ich bin immer für dich da, wenn du jemanden brauchst, dem du dein Herz ausschütten kannst.« 

»Danke, Toby. Es ist mir so peinlich, dass ich so eine Szene hingelegt habe.« 

Er umarmte sie. »Unsinn. Wozu sind Freunde denn da?« 

»Ich werde es versuchen«, sagte Rebecca entschlossen. »Ich werde tun, was du sagst, die Dinge einfach geschehen lassen. Wer weiß, vielleicht macht es mir ja sogar Spaß.« 

Toby hatte frischen Tee gekocht und bot ihr das Sofa zum Übernachten an. Nachdem sie den Tee getrunken hatte, kroch sie also unter eine warme Decke und schlief sofort ein. 

Am nächsten Morgen hatte sie Kopfschmerzen vom vielen Weinen. Im schmuddeligen Gemeinschaftsbadezimmer wischte sie sich die verschmierte Schminke vom Gesicht, dankte Toby und nahm den Bus zurück zum Elgin Crescent. Sie kam sich schmutzig und ungepflegt vor, als sie in den Kleidern des Vortags zum Hotel ging. Die Empfangsdame quittierte ihre Bitte um den Schlüssel mit einem vielsagenden Blick. Rebecca sah ihr kühl ins Gesicht, und die Frau senkte die Lider. 

So merkwürdig es war, das enge kleine Hotelzimmer hatte etwas Tröstliches. Sie trank ein paar Gläser Wasser, hängte das ›Nicht Stören‹-Schild vor die Tür, kletterte ins Bett, zog die Decke hoch und schlief weiter. 

Sie versuchte es. Sie versuchte es wirklich. Warum nicht einfach mal leben? Warum nicht ein bisschen Spaß haben? Sie besuchte die National Gallery und die Tate und ging zu Nachmittagskonzerten in der Wigmore Hall. Bei schönem Wetter unternahm sie Spaziergänge in einem der königlichen Parks oder am Themse-Embankment. Sie klapperte sämtliche Kaufhäuser ab und kehrte mit Tüten voller neuer Sachen ins Hotel zurück. 

Die Mahlzeiten im Hotel waren jedes Mal eine Qual. Bildete sie sich nur ein, dass die Kellner sich über sie lustig machten und die anderen Gäste sie neugierig beobachteten? Sie war nicht sicher. Und obwohl sie sich vornahm, Freunde anzurufen, tat sie es nicht. Diese Freunde waren zu ihren Festen in der Alten Mühle gekommen; sie kannten sie aus der Zeit, da sie und Milo noch das beneidenswerte Vorzeigepaar gewesen waren. Sie würden es vielleicht missbilligen, dass sie Milo verlassen hatte. Schlimmer noch, sie würden sie womöglich bemitleiden.  

Harrison Grey ließ nichts von sich hören. Sie hatte geglaubt, er würde sich melden, aber er tat es nicht. Wahrscheinlich flirtete er mit jeder Frau, die gerade frei herumlief. Sie haben eine schöne Stimme, Rebecca. Das stammte vermutlich aus seinem persönlichen Ratgeber für Anbandelungsversuche. 

Sie zog in ein anderes Hotel um, das Cavendish in Ladbroke Grove, weniger hochgestochen als das Wentworth. Das Zimmer war klein – sie kam nur seitlich zwischen ihren Koffern und dem Bett hindurch –, aber sie war zufrieden damit. Alles war anonymer, und das suchte sie ja gerade, Anonymität. In der Bar saßen Handlungsreisende und Vertreter, manchmal trank sie abends etwas mit ihnen. Sie erfand eine Familie für sich und eine Geschichte, um ihren einsamen Aufenthalt in London zu erklären, bekam Routine darin, die Hand auf dem Knie, die Einladung zu einem Schlaftrunk auf dem Zimmer abzuwehren.  

Milo schrieb ihr; sie zerriss seine Briefe, ohne sie zu lesen. Eines Vormittags, als sie von einem Spaziergang ins Hotel zurückkam, stand er im Foyer und wartete auf sie. Sie müssten miteinander reden, sagte er, so könne es nicht weitergehen. Ihr gemeinsames Mittagessen im Lyons’ am Marble Arch war ein Desaster, ebenso der Spaziergang im Hyde Park, wo sie sich nur stritten, mit gesenkten zischenden Stimmen, um zu vermeiden, dass andere Spaziergänger mithörten. »Ich verstehe nicht, was das soll«, sagte er zu ihr. »In diesem Hotel zu kampieren, fern von zu Hause und deinen Freunden. Ich weiß, dass ich mich schlecht benommen und dich verletzt habe und ich bin bereit, dir noch hundertmal zu sagen, wie leid es mir tut, wenn das dich dazu bewegen kann, zu mir zurückzukommen. Ich war ein Idiot und ich verspreche dir, dass ich nie wieder eine andere Frau ansehen werde.« 

»Aber ich liebe dich nicht mehr«, entgegnete sie. »Ich hasse dich nicht einmal. Ich empfinde gar nichts für dich.«  

Milos Gesicht schien in sich zusammenzufallen, sein Schwung war verpufft. 

Danach ging jeder seiner Wege, sie zum Hotel, er zum Bahnhof. 

In dieser Nacht ging sie mit einem Handelsvertreter aus Bolton ins Bett, den sie in der Hotelbar kennengelernt hatte. Er war jünger als sie, Mitte zwanzig, schätzte sie, fast noch ein Jüngling. Er hatte ein hübsches, freundliches Gesicht mit einem klar gezeichneten Mund und weichen graublauen Augen, und sein magerer Körper war so weiß, dass er grünlich zu schimmern schien. Am nächsten Morgen fuhr er, vermutlich aus Verlegenheit, nackt wie er war in seinen Mantel, raffte seine Sachen zusammen und lief den Korridor hinunter ins Bad, um sich anzuziehen. Er hieß Len, und er gab ihre seine Adresse und bat sie, ihm zu schreiben. Aber sie schrieb ihm nie. 

Sie wusste, dass sie unterzugehen drohte und verzweifelt um sich schlug, um sich oben zu halten. Nicht mehr lange, und sie würde vielleicht ertrinken. 

Es kam ein Tag, an dem sie ihr Hotelzimmer überhaupt nicht verließ. Am frühen Morgen wachte sie verweint auf. Sie schaffte es nicht einmal, ins Bad zu gehen, als sie die anderen Gäste durch den Korridor schlurfen hörte. Eine Lähmung ergriff Besitz von ihr. Sie hatte Angst, in den Speisesaal hinunterzugehen, wo jeden Morgen die Männer die Köpfe von ihrem Rührei mit Schinken hoben und sie anstarrten. 

Am nächsten Morgen entwarf sie in ihrem Terminkalender einen Plan. Frühstück in Zukunft in einem Café in der Nähe, das würde ihr die morgendliche Tortur im Speisesaal ersparen. An schönen Tagen würde sie sich ein Sandwich kaufen und es mittags im Park essen, bei schlechtem Wetter würde sie sich ins Lyons’ setzen. Sie würde sich bei einem Friseur anmelden und sie würde ihre Fingernägel pflegen. Dienstags würde sie ins Kino gehen und Freitagnachmittag immer in ein Konzert. Sie würde sich einen Skizzenblock besorgen und wieder zu zeichnen anfangen anstatt Trübsal zu blasen. Sie würde über Tobys Vorschlag nachdenken, eine Wohnung zu mieten statt im Hotel zu leben; aber das Gefühl von Dauerhaftigkeit, das in dieser Vorstellung steckte, war abschreckend. Sie würde sich streng an ihren Plan halten, denn die Alternative, die Lethargie, die sie den ganzen Tag über im Bett festgehalten hatte, machte ihr Angst. Sie spürte, dass sie krampfhaft versuchte, an irgendetwas festzuhalten, aber sie war nicht sicher, was es war. 

Eines Nachmittags wartete ein Brief auf sie, als sie ins Hotel zurückkam. Er war von Harrison Grey, der anfragte, ob sie Lust habe, mit ihm zu essen. Sie rief ihn an und sie vereinbarten, dass er sie am Freitagabend um acht im Hotel abholen würde. 

Auf dem Weg vom Hotel zur U-Bahnstation sagte Harrison: »Ich habe von Toby gehört, dass Sie das Hotel gewechselt haben. Ich dachte schon, Sie hätten mich vergessen. Die verdammte Firma hat mich einen ganzen verdammten Monat lang nach Birmingham geschickt.«  

An der Haltestelle kauften sie Fahrscheine. Als er hinter ihr auf der Rolltreppe stand, bemerkte er: »Immer wenn ich in Birmingham bin, kommt’s mir vor, als wäre ich gestorben und in der Hölle gelandet. Ich bin überzeugt, die tun mir das nur an, um mich zu bestrafen.« 

»Wer sind ›die‹?«, fragte sie. »Und warum sollten sie Sie bestrafen wollen?« 

»Die Chefs. Sie zweifeln daran, dass ich mich mit ganzer Seele den Interessen der Firma Saxby und Clarke verschrieben habe.« 

Sie lachte. »Und – haben Sie?« 

»Ganz bestimmt nicht.« 

Auf dem Bahnsteig hielt gerade ein Zug. Sie rannten, um ihn noch zu erwischen, und blieben bei der Tür stehen, als sie sahen, dass es keine freien Plätze gab. 

»Ist Ihnen London lieber als Birmingham?«, fragte sie. 

»Eigentlich hasse ich alle Städte.« 

»Wo würden Sie denn gern leben?« 

»Ich sehe mich gern an einem sonnigen Strand … ab und zu würde ich ins Meer springen oder mich in ein Café setzen und etwas essen. Ich könnte auch auf dem Land leben. Ich hab’s mir immer toll vorgestellt, von dem zu leben, was ich selbst produziere. Es wäre so viel echter, so viel ehrlicher 

Ihr Leben mit Milo, dachte Rebecca, war weder echt noch ehrlich davon geworden, dass sie in der Alten Mühle ihr eigenes Gemüse gezogen hatte.  

»Am letzten Sonntag habe ich Toby und Artemis nach Suffolk ans Meer mitgenommen«, bemerkte sie. 

»Heißt das, Sie haben ein Auto?« 

»Ja, einen Riley. Ich lasse ihn immer in einer Seitenstraße um die Ecke vom Hotel stehen.« 

In King’s Cross stiegen sie um zum Piccadilly, wo glitzernde Lichter und großstädtische Betriebsamkeit sie empfingen. Rebeccas Stimmung hob sich, sie begann sich wieder lebendig zu fühlen, beschwingt von der erregenden Atmosphäre der abendlichen Stadt. In einem Restaurant in einer schmalen Seitenstraße beim Haymarket bekamen sie noch einen Tisch.  

Als die Vorspeisen serviert waren – Garnelencocktail für sie, junge Heringe für ihn –, fragte er: »Wo ist eigentlich Mr. Rebecca Rycroft?«  

»Zu Hause in Oxfordshire, nehme ich an.« Sie spürte nichts, als sie es sagte. Sie war dabei, Milo zu vergessen, dachte sie stolz. Sie war dabei, sich ein eigenes interessantes Leben aufzubauen.  

»Und Sie sind hier in London.« 

»Wie Sie sehen.« 

Er gestikulierte mit seiner Gabel, auf die er ein halbes Dutzend winziger Fischchen gespießt hatte. »Was hat er angestellt?« 

»Er hat mich betrogen.« Sie verzog abfällig den Mund. »Es ist chronisch bei ihm. Ich glaube, er würde selbst Greta Garbo betrügen, wenn er mit ihr verheiratet wäre.« 

»Und da haben Sie ihn verlassen. Bravo. Vermissen Sie ihn?« 

»Nein.« Sie hob ihr Glas, stieß mit ihm an. 

Sie erwartete weitere Fragen: nach Einzelheiten über Milos Untreue, nach ihren Zukunftsplänen, aber stattdessen sagte er: »Jedes Mal, wenn ich junge Heringe bestelle, tut’s mir hinterher leid. Es klingt immer so verlockend, aber dann finde ich sie auf einmal irgendwie unappetitlich.« 

»Wir können tauschen, wenn Sie wollen.« 

»Wirklich? Es würde Ihnen nichts ausmachen?« 

»Überhaupt nichts.« Sie tauschten die Teller. »Sind Sie jetzt länger in London?«, fragte sie. »Oder müssen Sie wieder nach Birmingham?« 

» Lieber Gott, das will ich nicht hoffen.« Er sah sie mit seinen hellen Augen an und lächelte. »Das will ich wirklich nicht hoffen.« 

Er neckte sie gern mit ihrer Ausdrucksweise – »kultiviert« – und ihrer Herkunft – »gutbürgerlich bis in die Knochen«. Sein Großvater war Bergmann gewesen: Gelegentliche Bemerkungen ließen auf eine harte Kindheit und harte Kämpfe schließen. Manchmal begleitete sie ihn in Nachtlokale und Pubs, wo er Klavier spielte. Er hatte Musiker werden wollen, erzählte er, aber er hatte Pech gehabt – eine schwere Bronchitis, als er gerade beim Rundfunk angekommen war, und später hatte ein neidischer Kollege ihn mit faulen Tricks aus einem Vertrag mit einer Swing Band gedrängt. 

Er tat ihr leid; sie hatte Erfahrung mit zerstörten Hoffnungen und verpassten Gelegenheiten. Sie fand es angenehm, dass er keine Forderungen stellte, und war, inzwischen an seine Neckereien gewöhnt, gern mit ihm zusammen. Ihr gefielen die etwas träge, katzenhafte Art, wie er sich bewegte, und seine eleganten Hände, und sie mochte sein Lächeln, bei dem der kleine Mund sich leicht vorschob und die hellen Augen sich schmal zusammenzogen. Er war nie unbeherrscht, wurde niemals laut. An den Wochenenden machten sie Auflüge in ihrem Auto, nach Box Hill oder Whitstable. Ihr fiel auf, dass er bei all seiner bekundeten Vorliebe für das Land, nicht gern wanderte – ein kurzer Bummel, dann ging es zum nächsten Pub. Er stellte keine neugierigen Fragen über ihr früheres Leben, sie fand das feinfühlig von ihm und erleichternd für sich. 

Er versuchte, ihr Gesangsunterricht zu geben – wie man atmete, phrasierte, einen Ton bildete. Er sagte, sie habe eine sehr schöne, rauchige Stimme, es sei schade, dass sie manchmal die Töne nicht richtig treffe. Typisch für mich, dachte sie: ein paar begrenzte natürliche Begabungen, und aus denen kann ich nicht einmal etwas machen. Sie sang ›Brother Can You Spare a Dime‹ in einem Pub in Fitzrovia, während er die Melodie auf dem Klavier hämmerte, um ihr zu helfen, den Ton zu halten. Die Leute klatschten, sie war wie auf Wolken, und später an diesem Abend küssten sie sich zum ersten Mal.  

Dann musste er wieder weg, diesmal für zwei Wochen. Er schrieb nicht, und er rief nicht an. Reg dich nicht auf, sagte sie sich, mit deiner besitzergreifenden Art hast du schon deine Ehe zerstört. 

Im August kam Meriel für einen Tag nach London, und sie gingen zusammen essen. Meriel erzählte dies und das – von ihrem Urlaub in Schottland, wo sie mit einer Freundin gezeltet hatte, von Dr. Hughes, der nach zwei Wochen im Westen nach Oxfordshire zurückgekehrt war. Deborah war zu dem Schluss gekommen, dass sie doch nicht in Cornwall leben wollte, was ein wahrer Segen sei. Mama gehe es gut, bemerkte Meriel nebenbei, und Rebecca versprach mit schlechtem Gewissen, ihre Mutter bald einmal zu besuchen. Sie schrieb ihr regelmäßig, hatte sie aber seit ihrer Trennung von Milo weder angerufen noch besucht. 

»Lass nur«, sagte Meriel, »ich komme schon mit Mama zurecht.« 

»Ich weiß, aber was für eine Last für dich, nur weil ich so feige bin.« 

»Du siehst schlecht aus«, sagte Meriel unverblümt. »Du bist so dünn geworden. Geht es dir wirklich gut?« 

Rebecca versicherte ihr, es sei alles in bester Ordnung. Sie versprach, Meriel bald einmal zu besuchen, dann trennten sie sich. Meriel nahm die U-Bahn zum Bahnhof Paddington und Rebecca fuhr ins Hotel zurück. 

Eines Tages war Harrison wieder da. Sie sahen sich ein Theaterstück an und gingen später, angeregt von einer Flasche Wein und heiterer Musik, miteinander ins Bett. Harrisons Umarmung war wie seine Küsse: zögernd tastend und ein klein wenig halbherzig. Ein Frühlingshauch, sagte sie sich, statt der Stürme, die sie von Milo kannte. Sie war froh zu entdecken, dass sie noch etwas fühlte und nicht innerlich ganz tot war. 

Sie waren zum Abendessen bei einer Freundin von Harrison eingeladen, einer Mrs. Simone Campbell, die in einem Chaos von Bücherstapeln, herumliegenden Kleidungsstücken und mit Möbeln vollgestopften Zimmern in einem roten Backsteinhaus in Stoke Newington lebte. Sie war eine Frau um die fünfzig, kleiner als Rebecca, mit einem runden, sympathischen Gesicht und lockigem grau-braunem Haar. Ihr Busen und ihre Hüften, zwischen denen sich einige Röllchen zeigten, waren selbst halb verborgen unter einem pflaumenfarbigen geblümten Kleid mit loser Jacke beeindruckend.  

Harrison hatte Rebecca auf der Fahrt erzählt, dass Simone Witwe war. »Ihr Mann ist im Krieg gefallen«, erklärte er. »In irgendeiner Schlacht.« Sie hatte zwei Kinder, einen Jungen und ein Mädchen. 

Zum Essen kamen noch ein anderes Paar und zwei Frauen. »Simones Lesbenfreundinnen«, raunte Harrison Rebecca nicht besonders leise zu, bevor sie mit ihnen bekannt gemacht wurde. Bei einem köstlichen Lammragout, das im Esszimmer mit Blick auf einen idyllischen, halb verwilderten Garten serviert wurde, wandte sich das Gespräch bald der Politik zu: Der vor einiger Zeit erfolgte, widerstandslose Anschluss Österreichs an Nazideutschland und die zunehmenden Spannungen infolge deutscher Ansprüche auf einen Teil der Tschechoslowakei, das Sudetenland, wurden ausgiebig und mit Besorgnis diskutiert. Rebecca war durchaus auf dem Laufenden – die Entwicklungen auf dem Kontinent waren auch in der Alten Mühle oft genug analysiert und kommentiert worden, und sie stand ganz und gar aufseiten der Juden, denen alles genommen wurde –, aber es war, als hätte sich zwischen ihr und den anderen eine Mauer aufgetürmt, eine Mauer, die nur sie sehen konnte. Sie zwang sich, ab und zu eine Bemerkung einzuwerfen, um die anderen nicht zu befremden, und trank mehrere Gläser Wein, weil sie hoffte, das würde sie aufmuntern. Aber das Gefühl, nicht dazuzugehören, war unüberwindbar. Ihr war, als hätte ein kindlich grausamer Gott sie gepackt und aus reiner Willkür hier, unter diesen Fremden, wieder abgesetzt. 

Nach dem Essen, das mit einer Zitronencreme abgerundet wurde, bat Simone sie, ihr mit dem Kaffee zu helfen. In der Küche war es noch unordentlicher als in den übrigen Räumen, das Spülbecken randvoll mit schmutzigem Geschirr, dazu Fotos, Notizzettel und zerknitterte, aus Zeitschriften herausgerissene Kochrezepte in planlosem Unter- und Übereinander an einem Merkbrett. 

Simone sah sich mit komischer Verzweiflung um. »Ich koche leidenschaftlich gern, aber das Abspülen und Aufräumen hinterher hasse ich.« 

»Kann ich helfen?« 

»Kommt nicht infrage. Ich habe Sie nicht eingeladen, damit Sie dann am Spültisch stehen.« 

»Ich bin mir gar nicht sicher, ob Sie mich überhaupt eingeladen haben, Mrs. Campbell. Ich habe den Verdacht, dass Harrison mich Ihnen einfach aufgedrängt hat. Ich würde wirklich gern helfen. Ich werde gern gebraucht.« Genau das war es, dachte Rebecca: Niemand brauchte sie jetzt mehr, und wenn sie plötzlich in einer Rauchwolke aufginge, wen würde es schon interessieren? 

Sie wandte sich ab und kämpfte gegen Tränen des Selbstmitleids. Ihr Blick wanderte über das Merkbrett. Auf den Notizzetteln waren Dinge wie ›Dorothy anrufen‹ – ›Plätzchen für Buchklub‹ – ›Setzlinge eintopfen‹ vermerkt. 

»Ich freue mich, dass Sie gekommen sind«, sagte Simone. »Sie sind ein Schmuck für meine Tafel, Mrs. Rycroft. Ich bin immer so beeindruckt von Frauen, die es schaffen, Schuhe und Handtasche aufeinander abzustimmen.« 

Sie war über die Tränen hinweg. »Ach, das ist doch nichts besonderes. Das kann jeder.« 

»Nein, das stimmt nicht. Attraktiv und elegant auszusehen, kostet sehr viel Anstrengung. Wenn ich in ein Kleidergeschäft gehe, nehme ich den erstbesten Fummel, in den ich hineinpasse, weil ich das Ganze so strapaziös finde. Meine Tochter schimpft mich jedes Mal aus.« Simone ließ Wasser in den Kessel laufen und stellte ihn auf den Herd. »Darf ich fragen – sind Sie verwitwet?« 

»Getrennt.« 

»Oh, das ist sicher sehr schwer. Die Leute glauben immer, es wäre schlimmer, verwitwet zu sein, aber ich stelle mir vor, es ist besonders quälend zu wissen, dass man selbst oder der andere sich dafür entschieden hat, die Ehe zu beenden, oder dass die Liebe einfach erloschen ist.« Simone lächelte. »Verzeihen Sie meine Neugier. Mögen Sie Gartenarbeit?« 

»Sehr.« Rebecca hatte plötzlich heftige Sehnsucht nach dem Garten der Alten Mühle. Jetzt färbten sich gerade die Blätter – sie konnte den Rauch verbrennenden Reisigs und Laubs beinahe riechen.  

»Darf ich Ihnen meinen Garten zeigen?« 

»Gern.« 

Sie gingen nach draußen. Es war Mitte September, das Abendlicht schwand langsam. Simone Campbell hatte in ihrem Garten mit wohldurchdachter Anordnung von Baumgruppen, Spalieren und kleinen Wegen eine Atmosphäre von Stille und Geheimnis geschaffen. Sie unterhielten sich über Pflanzenrückschnitt und die Behandlung von Mehltau, bis Mrs. Campbell seufzend sagte: »Ich glaube, wir sollten jetzt wieder hineingehen. Meine Gäste lechzen wahrscheinlich nach ihrem Kaffee.«  

In der Küche stellte Rebecca Tassen und Untertassen auf ein Tablett. 

»Sie kennen Harrison noch nicht sehr lange, nicht wahr?«, bemerkte Simone. 

»Ein paar Monate.« 

»Er ist ein angenehmer Mensch, aber er ist träge – eine Art geistiger Trägheit meiner Ansicht nach. Aber das haben Sie sicher schon selbst bemerkt.« Simone goss kochendes Wasser in die Kaffeekanne. Dann kritzelte sie etwas auf einen Notizblock, riss das Blatt ab und gab es Rebecca. »Das ist meine Telefonnummer. Kommen Sie mich besuchen, wenn Sie Zeit haben. Ich bin gern mit intelligenten Frauen zusammen.« 

Eine halbe Stunde später verabschiedeten sich Rebecca und Harrison. Rebecca war müde. Sie hatte zu viel getrunken, und aus irgendeinem Grund, den sie nicht zu fassen bekam, hatte das Gespräch mit Simone Campbell sie beunruhigt. 

Sie fuhr aus einer Seitenstraße auf die Hauptstraße hinaus, als sie viel zu spät einen Radfahrer ohne Licht bemerkte. Sie musste die Bremse durchtreten, um einen Zusammenstoß zu verhindern. Der Radfahrer geriet kurz ins Schwanken, dann fuhr er weiter. 

Rebecca starrte auf ihre zitternden Hände, die das Steuerrad umklammerten. Beinahe hättest du noch einen Menschen getötet, sprach eine Stimme in ihr. 

»Ich bin zu müde«, sagte sie. »Ich kann mich nicht konzentrieren. Kannst du fahren?« 

»Ich kann nicht Auto fahren.« Harrison sah bestürzt aus. »Ich meine, ich habe es nie gelernt.« 

Also holte sie tief Luft und lenkte den Wagen langsam auf die Straße hinaus. Im Schneckentempo krochen sie dann den ganzen Weg zurück zu seiner Wohnung in Earl’s Court.  

Die Abende waren am schlimmsten. Anfangs versuchte sie, sie zu füllen – sie ging zum Essen aus, sie besuchte Toby und seine Freunde, sie setzte sich in die Hotellobby und las ein Buch oder löste Kreuzworträtsel. Aber immer häufiger blieb sie in ihrem Zimmer, ließ sich ein Sandwich und ein Glas Wein bringen, und dann noch ein Glas zum Einschlafen. Sie war nicht zum Alleinleben geschaffen, dachte sie oft. Vielleicht sollte sie zu Milo zurückkehren. Vielleicht war eine schlechte Ehe, irgendeine Ehe überhaupt, immer noch besser als dies. 

Einziger Lichtblick waren ihre Treffen mit Harrison. Sie gingen irgendwohin zum Essen und dann in seine Wohnung, um miteinander zu schlafen. Im Bett war er langsam und ein wenig faul. Trotzdem mochte sie ihn und fühlte sich sicher bei ihm, weil er alles war, was Milo nicht war. Ihm fehlten Milos Vitalität, seine Triebkraft und sein Ehrgeiz – und Gott sei Dank dafür, dachte sie. 

Sie lagen miteinander im Bett, als Harrison ihr von dem Cottage erzählte. Einer seiner Freunde, Gregory Armitage, hatte ein kleines Haus in Derbyshire. Weitab von der Zivilisation auf einem einsamen Hügel, weit und breit kein Mensch. Harrison drehte sich auf die Seite und sah zu ihr hinauf. Greg hatte gesagt, er könne sich die Hütte jederzeit ausleihen. Wäre es nicht großartig, für ein paar Wochen alles hinter sich zu lassen? Sie würde doch mitkommen? 

In der Phantasie sah Rebecca ein idyllisches kleines Häuschen auf einer Blumenwiese. »O ja«, sagte sie. 

Drei Tage später holte sie Harrison zu Hause ab. Er verstaute einen Rucksack, eine große Tragetüte von Harrod’s und eine Notenmappe im Kofferraum. Dann starteten sie nach Derbyshire. 

Das Cottage lag im Peak District, irgendwo zwischen Sheffield und Manchester. Von der Straße nach Manchester ging es auf ein schmales einspuriges, von Hecken gesäumtes Sträßchen, das in einen grasüberwachsenen Feldweg zwischen Rotdornbüschen voll dunkelroter Früchte mündete. Aus dem Feldweg wurde ein Fußweg, und Harrison murrte, als Rebecca den Wagen anhielt und sagte, weiter könne sie nicht fahren. Sie müsse irgendwo falsch abgebogen sein, hielt er ihr entgegen. Sie breitete die Karte über dem Lenkrad aus. Sie sei sicher, dass sie richtig gefahren waren. Sie würden das Auto hier stehen lassen und den Rest der Entfernung zum Haus zu Fuß gehen. 

Brummig schulterte Harrison den Rucksack und ergriff die Einkaufstüte. Rebecca nahm ihren Koffer, und sie machten sich auf den Weg. Bald befanden sie sich mitten in sanft ansteigendem Wiesenland. Rebeccas Stimmung hellte sich auf. Es war ein schöner Tag, zu einer Seite von ihnen lag in lavendelblauem Dunst das Tal mit Häusern und Gehöften; auf der anderen Seite erhob sich der sonnenbeschienene grüne Hügelhang. 

Nach einer halben Stunde, während der sie mehrmals anhielten, weil Harrison eine Verschnaufpause brauchte, erreichten sie die Höhe des Hügels. Der Gipfel war abgeplattet, wie mit einem Messer abgeschnitten. Trampelpfade wanden sich zwischen Büscheln dunkelgrüner spitzer Gräser hindurch. 

Rebecca sah das einsame Haus mitten im Moorland zuerst. »Das muss es sein«, sagte sie. 

Sie gingen durch die Heide. Das Haus war klein, doch seine kantige, steinerne Kompaktheit verlieh ihm eine stolze Würde. Rebecca stellte ihren Koffer auf der Stufe vor der Haustür ab. Während sie auf Harrison wartete, der den Schlüssel hatte, sah sie zu dem phantasievollen Wappenschild hinauf, das in Granit gemeißelt über der Tür prunkte. 

Harrison sperrte auf, und sie traten ins Haus. Als er seinen Rucksack mit einem Seufzer der Erleichterung auf einen großen rechteckigen Tisch fallen ließ, stieg eine Staubwolke in die Luft. 

Sie befanden sich in einer dunklen Küche, in der es muffig roch. »Ziemlich duster«, sagte Harrison. 

Rebecca zog die Vorhänge auf und plagte sich mit einem Fensterriegel ab. »So, das ist doch gleich besser.« 

Sonnenlicht fiel auf die Steinfliesen des Bodens. Mehrere Stühle, die offensichtlich nicht zusammengehörten, waren um den Tisch gruppiert, und neben einem schwarzen Eisenherd stand ein hölzerner Schaukelstuhl. An der Wand gegenüber war ein Klavier. Der Spülstein befand sich unter dem Fenster gleich neben einem Küchenbüfett. Elektrisches Licht gab es nicht, wie Rebecca feststellte, und die Glaszylinder der Öllampen waren von Staub überzogen. 

Harrison klappte den Klavierdeckel hoch und klimperte ein paar Takte. »Es ist verstimmt.« 

»Wollen wir uns mal umsehen?« 

Er jammerte etwas von seinen Füßen, aber sie beachtete ihn nicht und ging nach oben. In der Wohnstube zog sie die Vorhänge auf und öffnete die Fenster. Die Möbel waren alt und verstaubt, der kleine Teppich vor dem offenen Kamin fast schwarz vom Kohlenstaub. Die nächste steinerne Treppe führte zum obersten Stockwerk des Hauses. Rebecca beugte sich zum Fenster hinaus. Moor und Hügel lagen in funkelndem Licht, und der Himmel war kristallklar. Sie atmete tief die kühle, würzige Luft, und zum ersten Mal seit Monaten fiel etwas von ihr ab, das ihr wie eine Last auf der Seele gelegen hatte. 

»Was gibt’s zum Mittagessen?«, rief sie zu Harrison hinunter, der sich erboten hatte, für das Essen zu sorgen. 

»Hast du Pflaster mit, Rebecca? Meine Füße sind voller Blasen.« 

Als sie wieder in die Küche kam, saß er mit nackten Füßen im Schaukelstuhl. Sie machte ihren Koffer auf und suchte Pflaster, Watte und Jod heraus. 

Er zuckte zusammen, als sie die Blasen abtupfte. »Stell dich nicht an«, sagte sie. »Wo ist das Essen?« 

»In der Harrod’s-Tüte. Ich habe uns ein paar Leckerbissen besorgt.« 

In der Tragetüte waren Kräcker, Artischocken im Glas, Oliven, Sardinen, ein Glas Pfirsiche, eine Tafel Cadbury-Schokolade, zwei Flaschen Wein und eine halbe Flasche Whisky. Und Tee, Zucker, Milch, Brot, wo sind die?, dachte Rebecca, sagte aber nur: »Mal sehen, ob ich draußen ein gemütliches Plätzchen zum Essen finde. Hier drinnen muss erst mal gründlich sauber gemacht werden, außerdem wäre es schade, diese herrliche Sonne nicht auszunützen.« 

In dem von einer Trockenmauer umschlossenen Garten rund um das Haus standen Johannisbeerbüsche und ein Apfelbaum mit windverkrüppelten Ästen. An einer geschützten Stelle zog sich eine Kletterrose mit einzelnen späten Blüten die Mauer entlang. 

Eine Tischdecke fand Rebecca nicht, also breitete sie die Geschirrtücher, die sie vorsorglich gekauft hatte, im Gras aus. Nach dem Essen streckte sich Harrison mit geschlossenen Augen auf der Wiese aus. Greg hatte ihm gesagt, sie könnten das Cottage für drei Wochen haben. Er glaubte nicht, dass Greg häufig hierherkam; vielleicht sollten sie ihn fragen, ob sie es für ein Jahr mieten könnten. Aus dem Anwesen ließe sich doch etwas machen, sie könnten Gemüse anbauen, ein Schwein halten. 

Dann schlief er ein, und Rebecca ging ins Haus, um die Küche sauber zu machen und eine Einkaufsliste zu schreiben. Welch ein Genuss, wieder in der eigenen Küche hantieren zu können. Sie hatte das Hotelleben so satt. Das war der einzige Grund für ihr Stimmungstief: das Hotel und London. Auf einen Zettel schrieb sie, Milch, Tee, Kohlen. Und sie musste auf jeden Fall eine Taschenlampe besorgen, damit sie nachts nicht bei Kerzenlicht die Treppe hinunterstolpern musste, wenn sie zum Klohäuschen wollte. Sie saß im einfallenden Sonnenlicht am offenen Fenster und kaute auf ihrem Bleistift. 

Das schöne Wetter hielt nur vier Tage an. Am fünften Tag erwachte Rebecca mit Halsschmerzen. Sie kochte sich einen Tee und schluckte zwei Aspirin. 

Nach dem Frühstück marschierten sie über das Moor den Hügel hinunter zum Auto und fuhren ins nächstgelegene Dorf. Sie gab der Verkäuferin im Dorfladen ihre Liste. Kohlen?, krächzte Harrison. Sie erwarte doch nicht, dass er einen Sack Kohlen diesen verdammten Hang hinaufschleppen würde? Dann bekomme er eben nichts zu essen, gab sie zurück. Er brummte etwas von »liefern lassen«, und sie sagte kurz: »Mach dich nicht lächerlich, Harrison.« 

Sie aßen in einem Pub zu Mittag und machten auf der Heimfahrt einen Abstecher zu einem Bauernhof, um Milch, Eier und ein Brathuhn einzukaufen. Dicke weiße Wolken verdeckten die Sonne und warfen Schatten auf den steingepflasterten Hof. Die ersten Regentropfen fielen, als sie ihre Einkäufe vom Wagen ins Haus brachten. Rebecca trug den Rucksack, und Harrison keuchte mit dem Sack Kohlen hinter ihr her. Die Halsschmerzen waren schlimmer geworden, Harrisons Gejammer mischte sich mit dem Prasseln des Regens. 

Im Haus machte sie Feuer im Herd, während Harrison nach oben ging, um sich von den Strapazen zu erholen. Sie entdeckte wieder, wie befriedigend es war, Feuer zu machen: Erst das zusammengeknüllte Zeitungspapier, dann das sorgfältige Schichten von Anmachholz und Kohle, schließlich der Triumph, wenn die Späne sich entzündeten. Sie bereitete das Huhn, schälte Kartoffeln und Karotten, nahm dann noch einmal zwei Aspirin und machte es sich im Schaukelstuhl bequem. In der warmen Küche aßen sie später zum Trommeln des Regens an den Fensterscheiben das gebratene Huhn, und hinterher spielte Harrison auf dem Klavier und sie sang dazu. Nicht lange allerdings, die Halsschmerzen waren zu quälend.  

In der Nacht erwachte sie mehrmals. Da sie kaum schlucken konnte, trank sie vorsichtig ein Glas Wasser und hörte dem Regen zu. Am Morgen erwartete sie eine graue und braune Welt. Das Grün und Gold des Moors war verwaschen vom Regen, und der Himmel hing wie eine Eisenglocke über den Hügeln.  

Es regnete den ganzen Tag. Auf dem Zugangsweg und den Fußpfaden durch die Heide bildeten sich Pfützen. Sie spielten Rommé und Deutsches Whist und aßen kaltes Huhn. Rebecca las Vom Winde verweht und saß dabei im Schaukelstuhl, weil sie im Liegen immer husten musste. 

Am nächsten Tag war keine Kohle mehr da, und Harrison nagte zum Frühstück das Hühnerskelett ab. Sie sagte, er müsse Kohlen holen. 

Er sah zum Fenster hinaus. »Es gießt in Strömen.« 

»Ach was? Das ist mir gar nicht aufgefallen.« Ihr Sarkasmus kam sie teuer zu stehen. Das Sprechen war eine Qual. 

»Herrgott noch mal, schau doch nur mal nach draußen.« 

»Ich bin krank. Ich gehe vielleicht wieder ins Bett. Wenn du nur ein bisschen Kohle, Milch und Brot holen könntest.« 

Er starrte sie an. »Allein kann ich das nicht.« 

»Harrison«, sagte sie. »Ich bin krank.« 

»Es ist doch nur eine Erkältung. Du musst mitkommen. Du musst fahren.« 

»Kannst du denn überhaupt nicht fahren?« 

»Nein. Ich hab’s einmal versucht, es war viel zu kompliziert.« 

»Wenn ich es dir erkläre –« 

» Sei nicht albern.« 

»Ich, albern?«, stieß sie heiser hervor. »Du bist neununddreißig und kannst immer noch nicht Auto fahren. Das ist albern.« 

Wütend und fortwährend hustend zog sie ihren Regenmantel über und schlüpfte in ihre Gummistiefel. Sie schnappte ihre Handtasche, warf ihm den Rucksack zu und ging hinaus. Ohne ein Wort machten sie sich auf den Weg über das flache Land. Pfade und Grasbuckel hatten sich in einen Sumpf verwandelt. Hinter sich konnte sie Harrison, der vergessen hatte, Stiefel mitzunehmen, schimpfen und fluchen hören. 

Sie blieb im Wagen sitzen, während er Kohlen, Lampenöl, Wurst und Aspirin einkaufte. Alle Glieder taten ihr weh, vielleicht hatte sie die Grippe. Ein vorübergehendes Nachlassen des Regens während ihrer Fahrt über die Hügel stimmte sie beide etwas versöhnlicher. Zurück im Cottage merkte sie, dass sie vergessen hatten, eine Zeitung zu besorgen. Im ganzen Haus schien es keinen Fetzen Papier zu geben. Harrison riss schließlich die ersten Kapitel von Vom Winde verweht heraus und benutzte sie zum Feuermachen. Bücherverbrennung, dachte sie – was kommt als Nächstes? 

Am folgenden Morgen erwachte sie hustend. Ihr Kopfkissen war nass. Als sie zur Zimmerdecke hinaufschaute, sah sie zu, wie sich oben langsam ein Wassertropfen formte, länger wurde, sich löste und auf das Bett herabfiel. 

Sie weckte Harrison. Das Dach habe ein Leck, er müsse etwas tun. 

»Was denn?« 

»Du musst das Dach abdichten. Vielleicht ist eine Schindel locker.« 

Er riss die Augen auf. »Himmelherrgott, Rebecca …« 

»Draußen im Klohäuschen habe ich eine Stehleiter gesehen. Du musst hinaufsteigen und nachsehen.« 

»Hinaufsteigen …« 

»Ja, verdammt noch mal, aufs Dach«, sagte sie wütend. »Durch die Falltür, Harrison.« 

Sie lief nach unten, um Eimer und Lappen zu holen. Ihr Kopf fühlte sich an wie mit Stroh gefüllt, und der ganze Brustkorb tat ihr weh. Als sie wieder ins Schlafzimmer kam, hatte Harrison die Stehleiter unter der Falltür aufgestellt. 

»Ich habe Höhenangst«, sagte er. 

»Sei nicht so eine Memme.« 

»Ich kann da nicht raufsteigen.« 

»Willst du im Regen schlafen und an Lungenentzündung sterben?« 

»Vielleicht sollten wir nach London zurückfahren?« 

»Nach London?« Sie war fassungslos. 

»Ich sage Greg, dass das Wetter umgeschlagen hat.« 

»Ich will nicht nach London. Mir gefällt es hier.« 

»Es ist die reine Wildnis«, murrte er. 

»Was hast du erwartet? Allen modernen Komfort? Du brauchst nur das Dach abzudichten, Harrison.« 

»Dichte es doch selbst ab«, sagte er und ging nach unten. 

Also kletterte sie die Leiter hinauf, öffnete den Riegel der Falltür und drückte mit der Schulter gegen die Klappe. Übelriechende Spinnweben zerrissen, als sie sich öffnete. Das Dach fiel sachte ab, und sie entdeckte, dass eine der Platten an einer Ecke gebrochen war. Auf Zehenspitzen stehend drückte sie die abgebröckelten Teile wieder an. Dann zog sie den Kopf ein, schloss die Falltür wieder und stieg die Leiter hinunter. Ächzend rückte sie das Bett weg, bis es nicht mehr unter dem Leck stand, und kroch fröstelnd unter die Decke. Lange blieb sie so liegen, hustend und zusammengekauert, um wieder warm zu werden. 

Als sie nach unten kam, stand er am Herd und trank Tee. Er goss ihr auch einen Becher ein. »Tut mir leid«, sagte er. »Höhe macht mir einfach Angst.« 

»Ist schon gut, ich habe es gerichtet.« Sie setzte sich in den Schaukelstuhl, die Hände um ihren Becher geschlossen. 

»Wir sollten wirklich nach London zurückfahren. So hatte ich mir das nicht vorgestellt.« 

»Nein«, widersprach sie störrisch. »Du hast es versprochen, Harrison. Drei Wochen. Es kann ja nicht ewig regnen.« 

Er röstete Brot und kochte ein paar Eier. Rebecca brachte nichts hinunter, da aß er es. 

Nach dem Frühstück sagte er: »Uns gehen die Vorräte aus.« 

Rebecca war von der Arbeit am Dach und dem Kampf mit dem Bett völlig erschöpft. »Diesmal musst du allein gehen«, sagte sie. »Ich fühle mich zu schlecht, um zu fahren.« 

Harrison spülte das Geschirr, dann zog er seinen Mantel an, setzte eine Mütze auf und nahm den Rucksack. Von ihrem Platz am Fenster sah sie ihn davongehen und immer kleiner werden. 

Rebecca kroch mühsam wieder nach oben ins Schlafzimmer. Auf Harrisons Seite des Betts, der trockenen Seite, kuschelte sie sich unter die Decke und schlief ein. Als sie wieder erwachte, hatte sie Schüttelfrost und hustete stark. Sie sah auf ihre Uhr. Es war nach drei. Sie hatte fünf Stunden geschlafen. 

Mit einer Strickjacke über dem Pullover ging sie nach unten. Harrison war nicht da. Sein Regenmantel hing nicht am Haken, der Rucksack war nirgends zu sehen. Vielleicht hatte er beschlossen, in einem Pub zu Mittag zu essen. Noch eine Stunde verstrich, dann noch eine, und da wusste sie, dass er ohne sie nach London zurückgefahren war. 

Zum Teufel mit ihm, dachte sie. Ohne ihn war sie sowieso besser dran. Sie würde einfach hierbleiben. Was sollte sie in London, wenn dort nichts auf sie wartete? Harrisons Freund schien das Haus wirklich nicht oft zu benutzen. Vielleicht würde sie anfragen, ob sie den Winter über bleiben konnte.  

Milo wäre die Leiter hinaufgeklettert und hätte das Dach gerichtet. Harrison war ein Weichling ohne Mumm. Sie hatte ihn gemocht, weil er anders war als Milo und sie es feinfühlig fand, dass er sie nicht nach ihrer Vergangenheit gefragt hatte. Inzwischen hatte sie begriffen, dass es einfach Interesselosigkeit war, dass er Komplikationen und Konflikte scheute. Sie hatte geglaubt, nach Milo sei das genau das, was sie sich wünschte, aber das stimmte nicht. Ein Streit mit Harrison war wie ein Streit mit einem nassen Waschlappen.  

Sie machte sich aus den Resten etwas zu essen, hatte dann aber überhaupt keinen Appetit und stellte die kleine Mahlzeit mit einem Teller abgedeckt aufs Fensterbrett, um sie kühl zu halten. Sie war froh, dass sie gerade jetzt, wo sie sich so krank fühlte, nicht reden musste. 

Zum Einschlafen trank sie, was vom Whisky noch übrig war, wurde aber trotzdem in dem frühen Morgenstunden von einem Hustenanfall aus dem Schlaf gerissen. Jetzt war nichts Erfreuliches mehr daran, allein zu sein. Sie wusste, dass sie wertlos und schlecht war, ihr war recht geschehen, dass Harrison sie verlassen hatte. Ihre Gedanken trugen sie Monate zurück, und sie erlebte wieder den Moment ihres ersten Anrufs, nachdem sie entdeckt hatte, dass Milo sie mit Tessa Nicolson betrog; den Schmerz und die abgrundtiefe Wut, die zu so schrecklichen Konsequenzen geführt hatte. Das Baby ist tot. Es wurde aus dem Wagen geschleudert. Sie sagen, dass es sofort tot gewesen sein muss. Ihr Entsetzen war so lebendig und überwältigend wie damals vor sieben Monaten, als Freddie Nicolson in der Alten Mühle angerufen hatte. Ihre Schuld lag auf ihr wie ein Bleigewicht und ließ sie kaum atmen.  

Die nächsten zwei Tage verbrachte sie im Bett. Sie wusste nicht, wozu sie hätte aufstehen sollen. Es war niemand da, mit dem sie hätte reden können, es gab nichts zu tun. Jetzt fühlte sie sich einsam, jetzt wünschte sie, es wäre jemand da, ganz gleich, wer. Sie wünschte, sie hätte den Hund mitgenommen, als sie Milo verlassen hatte – Julia wäre Gesellschaft gewesen. Sie legte das feuchte Kopfkissen zum Trocknen auf den Herd und setzte sich dann, zwei Kissen und eine zusammengefaltete Jacke im Rücken, wieder ins Bett und versuchte, nicht zu husten. Als sie sich später in der Küche eine Tasse Tee machte, sah sie in der Ferne zwei Gestalten, die langsam über das Moor gingen – Wanderer wahrscheinlich, nach den großen Rucksäcken zu urteilen, die sie trugen. Der Regen bildete eine Wand zwischen ihr und ihnen. Sie hatte seit mehr als zwei Tagen nicht mehr gesprochen. Wenn sie zu rufen versuchte, würde wahrscheinlich nur ein heiseres Krächzen aus ihrem Mund kommen. 

In dieser Nacht träumte sie, dass Tessa Nicolsons Kind weinend auf dem Dach lag und sie es zu erreichen versuchte. Sie stand auf Zehenspitzen auf der Leiter und streckte die Arme aus, bis sie schmerzten. Aber das Kind blieb immer knapp außer Reichweite. 

Sie weinte, als sie erwachte, im Ohr noch das Schreien des Kindes. Sie begriff, dass sie einen Zusammenbruch hatte, und ein Rest Selbsterhaltungsgefühl trieb sie, immer noch weinend und hustend aufzustehen und ein paar Kleidungsstücke überzuwerfen. Schwach und wacklig auf den Beinen, musste sie sich an der Wand abstützen, um sich die Treppe hinunter zu schleppen. In der Küche sah sie, dass kein Wasser mehr da war. Mit einem Emaillekrug ging sie zur Pumpe hinaus. Es hatte aufgehört zu regnen, sie musste die Augen zusammenkneifen gegen das funkelnde Licht. Zurück im Haus legte sie die letzten Stück Kohle auf die dünne Glut im Herd, schüttete etwas Wasser in den Kessel und setzte ihn auf. Sie sollte zum Dorfladen fahren, dachte sie, und sich eine Flasche Hustensaft besorgen.  

Draußen war es wärmer als drinnen. Sie zog einen Stuhl ins Freie und setzte sich vor die Tür. Die Moorlandschaft schimmerte wie Changeantseide. Pfützen, Bäche, Steine glitzerten im Licht. Das Land vor ihr sah aus wie frisch gewaschen, neu und schön. Sie dachte an das arme kleine Kind, das solche Schönheit niemals erleben würde, und begann wieder zu weinen. Was für eine Verschwendung, dachte sie, was für eine schreckliche, dumme, unverzeihliche Verschwendung.  

Als sie aufsah und sich die Augen wischte, bemerkte sie nicht weit entfernt einen Wanderer, der auf dem schmalen Fußweg durch die Heide auf das Haus zukam. Einen Augenblick lang glaubte sie, es wäre Harrison, der zurückgekommen war, um nach ihr zu sehen, aber sie sah bald, dass der Wanderer kleiner und älter war als Harrison. 

An der Trockenmauer blieb er stehen und lüftete seine Schirmmütze. »Guten Morgen. Ein herrlicher Tag, nicht wahr?« Das Gesicht unter dem silbergrauen Haar war gebräunt und von Falten durchzogen. Er trug einen Tornister auf dem Rücken. 

»Ja, herrlich«, bestätigte sie. 

»Dürfte ich Sie um ein Glas Wasser bitten?« 

»Aber natürlich.« Rebecca ging in die Küche und füllte einen Becher. Er trank in durstigen Zügen. 

»Sind Sie schon länger unterwegs?« 

»Viele Tage.« Er lächelte. 

»Bei dem vielen Regen?« 

Er nickte. »Der Regen macht mir nichts aus.« Er hatte blaue Augen mit Lachfältchen in den Winkeln. »Man wird nass und dann wird man wieder trocken.« 

Sein Lächeln war ansteckend. »Ja, da haben Sie recht.« 

»Im ersten Moment, als ich Sie sah«, sagte er, »dachte ich, Sie weinten.« 

Sie schaute verlegen zur Seite. »Es ist nichts.« Aber dann fügte sie hinzu: »Nein, das stimmt nicht. Aber es ist nicht zu ändern.« 

Sie bemerkte, dass sein Becher leer war. »Kann ich Ihnen noch etwas Wasser bringen?«, fragte sie. »Oder möchten Sie vielleicht eine Tasse Tee? Ich wollte mir gerade welchen machen.« 

»Wenn es Ihnen keine Mühe macht, sehr gern.« 

Sie öffnete das Tor, um ihn in den Garten zu lassen, dann kochte sie Tee und goss zwei Tassen ein. Sie bemerkte, als sie ihm seine reichte, dass seine Jacke an den Manschetten durchgescheuert war und der Stoff an den Ellbogen abgetragen glänzte. Er sprach den leichten Dialekt der Einheimischen – vielleicht war er früher in einer Fabrik in Manchester oder Sheffield beschäftigt gewesen, hatte während der Rezession seine Arbeit verloren und nutzte die freie Zeit jetzt, um zu wandern. 

Sie brachte ihm einen Stuhl heraus, und er setzte sich. »Ah, das tut gut«, sagte er aufatmend, legte Wanderstock und Mütze ins Gras und lockerte die Schnürsenkel seiner Stiefel. 

Rebecca trank vorsichtig von ihrem Tee. »Wohin wollen Sie?« 

»Vielleicht nach Bakewell. Mal sehen, vielleicht schaff ich’s auch bis Dovedale.« 

»Planen Sie so etwas nicht?« 

»Ach, ich gehe, wohin meine Füße mich tragen. Mit Plänen klappt das nicht immer so, finden Sie nicht auch?« 

»Jeder Plan, den ich fasse, geht irgendwie schief«, sagte sie bitter. 

»Wie kommt das denn?« 

»Ich weiß es nicht. Pech wahrscheinlich.« 

»Meine Mutter hat immer gesagt, jeder ist seines Glückes Schmied.« 

»Dann habe ich mir vielleicht mein Pech selbst geschmiedet.« Unwillkürlich fügte sie hinzu: »Glauben Sie, man ist schuld, wenn infolge von etwas, was man getan hat, etwas Schreckliches passiert, auch wenn man es überhaupt nicht gewollt hat?« 

Er überlegte. »Schwer zu sagen.« 

»Ich fühle mich schuldig.« 

»Was wollten Sie denn erreichen?« 

»Das ganz bestimmt nicht.« Ehrlichkeit trieb sie zu ergänzen: »Aber ich wollte jemandem wehtun.« Neue Tränen, hinter denen das Gesicht des Fremden und die Landschaft verschwammen. »Ich wollte, ich könnte die Vergangenheit ändern«, sagte sie leise. »Ich wollte, ich könnte sie auslöschen und neu machen. Ich wollte, ich wüsste, was ich tun soll, wohin ich gehen soll.« Sie lachte verlegen. »Entschuldigen Sie, ich weiß nicht, warum ich Ihnen das alles erzähle. Bitte verzeihen Sie.« 

»Vielleicht brauchten Sie jemanden zum Reden.« Sein Lächeln war milde und freundlich. 

»Vielleicht.« Wie zur Erklärung setzte sie hinzu: »Es geht mir nicht besonders gut, wissen Sie.« 

»Ja, Sie sehen nicht gerade munter aus. Und das ist ein einsamer Ort hier.« 

»Ich bin nur vorübergehend hier.« 

»Ich bin gern allein draußen in den Hügeln, aber es ist immer schön, zu Familie und Freunden zurückzukommen. Wenn man zu viel allein ist, fängt man an zu spintisieren.« 

Hatte er das gesagt oder sie? Sie war sich nicht sicher. Seine Stimme schien in ihrem Kopf widerzuhallen. Das Licht auf dem Heideland war von einer unwirklichen Klarheit. 

Eine Weile saßen sie schweigend beieinander und tranken ihren Tee. Als er ausgetrunken hatte, sagte er: »Der Tee war gut. Danke. Aber jetzt muss ich weiter. Man muss das schöne Wetter ausnützen, nicht?« 

»Brauchen Sie etwas zu essen? Ich fahre heute nach Hause, und die Sachen würden nur schlecht werden.« 

»Das wäre sehr freundlich«, erwiderte er. 

Als sie Tassen und Untertassen zusammenstellte, sprach er noch einmal zu ihr. 

»Sie sagen, Sie wüssten nicht, wohin. Ich würde vorschlagen, erst einmal zu einem Arzt zu gehen. Das ist ein böser Husten.« Er stand auf. »Und dann sollten Sie vielleicht darüber nachdenken hinauszutreten.« 

Hinauszutreten? Sie waren doch draußen. Was redete der Mann da? Aber mit dem Arzt hatte er wahrscheinlich recht. 

»Ja. Danke«, sagte sie höflich. »Ich gehe hinein und packe Ihnen ein paar Sachen zusammen.« 

In der Küche schlug sie Kräcker, Käse und andere Reste in Pergamentpapier ein. Sie dachte über seine Worte nach. Es ist immer schön, zu Familie und Freunden zurückzukommen. Aber offenbar hatte sie nicht allzu viele gute Freunde, und mit ihrer Mutter verstand sie sich nicht, und Meriel hatte keinen Platz für sie. Und ihr Mann hatte ihr das Herz gebrochen. Beinahe hätte sie wieder zu weinen angefangen, aber sie nahm sich zusammen. 

Das Sonnenlicht blendete sie, als sie vors Haus trat, und sie schloss die Augen. Als sie sie wieder öffnete, war der Wanderer nicht mehr da. Sein Stuhl war leer, Wanderstock und Tornister waren verschwunden. Verwundert ging sie zum Tor, um nach ihm Ausschau zu halten. Aber sie sah ihn nirgends. Dann ging sie einmal rund um die Trockenmauer, die das Haus umgab. Das Moorland war flach und baumlos. Sie konnte meilenweit sehen. Er war wie vom Erdboden verschluckt. 

Vielleicht hatte sie in der Küche länger gebraucht, als sie gedacht hatte, und er hatte keine Lust mehr gehabt zu warten. Zurück am Tor fiel ihr auf, dass in dem Matsch zwischen dem Tor und dem Haus keine Fußabdrücke von ihm zu erkennen waren. Sie sah ihre eigenen Abdrücke, aber keinen von ihm.  

In der Küche setzte sie sich an den Tisch und versuchte, aus dieser seltsamen Begebenheit klug zu werden. Ein Wanderer kam an ihre Tür, plauderte ein Weilchen mit ihr und löste sich dann in Luft auf, ohne auch nur einen Fußabdruck zu hinterlassen. War er ihrer Phantasie entsprungen? War sie so krank? Hatte sie Fieberträume gehabt? 

Doch seine Worte blieben ihr im Gedächtnis, und da ihr nichts Besseres einfiel, beschloss sie, zu tun, was er gesagt hatte. Sie begann, ihren Koffer zu packen. Zuerst zum Arzt, dann – was hatte er ihr geraten? Hinaustreten. Kompletter Unsinn. Sie musste den Mann geträumt haben.  

Sie dachte an den Abend bei Simone Campbell zurück. Mrs. Campbell hatte sie eingeladen, sie zu besuchen. Ich bin gern mit intelligenten Frauen zusammen. Sie hatte den Zettel mit Simone Campbells Telefonnummer in ihre Geldbörse gesteckt – war er dort noch? Ja, klein gefaltet in einer Ecke. 

Lange Zeit war sie immer nur weggelaufen, aber jetzt hatte sie den Punkt erreicht, an dem das nicht mehr ging. Sie fühlte sich viel zu schwach für den langen Weg zum Auto und die weit längere Fahrt zurück nach London, aber sie wusste, dass sie es versuchen musste. Sie hatte Schlimmeres überstanden, sagte sie sich – eine lieblose Kindheit und die Ehe mit einem Mann, der sie nie mit der gleichen Hingabe geliebt hatte wie sie ihn. Sie überlegte sich, dass sie an der Telefonzelle im Dorf halten und Simone anrufen würde, um sie zu fragen, ob sie ein, zwei Tage bei ihr bleiben könne. Wenn nicht, würde sie sich etwas anderes einfallen lassen müssen, aber wenn sie an Simone dachte und wie schnell sie sich bei dem Spaziergang in ihrem Garten verstanden hatten, glaubte sie, dass sie bei ihr wenigstens vorübergehend eine Zuflucht finden könnte. 

Als sie das Haus absperrte und sich auf die lange Reise begab, dachte sie wieder, hinaustreten? Was hatte er nur damit gemeint? Was für ein merkwürdiger Rat. 

Und doch, kam es ihr in den Sinn, war sie jetzt hier draußen, in der Sonne und setzte, vom Honigduft des Moors umgeben, einen Fuß vor den anderen. Ab und zu blieb sie stehen, um zu verschnaufen, aber dann ging sie weiter, Schritt für Schritt einem unbekannten Ziel entgegen.