5

 

»Es war sehr nett gestern Abend«, sagte Rebecca. »Schade, dass du nicht kommen konntest.« 

Es war ein Sonntagmorgen Anfang März, und die Schwestern waren auf der Fahrt nach Abingdon zum obligaten Mittagessen mit ihrer Mutter. Am Abend vorher hatten die Rycrofts ihr Fest zur Feier der Veröffentlichung von Mittwinterstimmen veranstaltet.  

»Ich mag solche Feste nicht besonders«, sagte Meriel. »Dieses ständige Herumstehen. Was so toll daran sein soll, im Stehen zu essen und dabei mit Teller und Besteck zu jonglieren, ist mir wirklich schleierhaft.« 

Meriel sagte das jedes Mal, und jedes Mal ärgerte es Rebecca. Die Feste der Rycrofts waren berühmt – die Leute schlugen sich um Einladungen. Es konnte doch nicht zu viel verlangt sein, dachte Rebecca, von ihrer einzigen Schwester ein bisschen mehr Wohlwollen zu erwarten. 

»Na, wir haben uns jedenfalls gut amüsiert«, bemerkte sie spitz. »Es ging bis nach eins.« 

»Ich liege gern um zehn in meinem Bett.« 

Gereizt von Meriels Taktlosigkeit und vom gewohnten Unbehagen vor einem Besuch bei ihrer Mutter geplagt, kniff Rebecca die Lippen zusammen, um sich nicht zu einer bissigen Erwiderung hinreißen zu lassen. Sie war müde; sie hätte gut eine Stunde mehr im Bett gebrauchen können. Sie schaltete krachend und konzentrierte sich schweigend aufs Fahren. 

»Ich komme mir bei solchen Festen sowieso immer vor wie taub«, erklärte Meriel nach einer Weile. »Dieses Gerede von allen Seiten, man versteht ja sein eigenes Wort nicht. Ich rufe Milo einfach an und gratuliere ihm.«  

Rebecca sah das als Friedensangebot. Meriel telefonierte fast nie mit Milo. »Da würde er sich bestimmt freuen«, sagte sie und fügte dann vertraulich hinzu: »Er ist ziemlich verschnupft, weißt du. Irgendeine Frau hat sein Buch in der Times schlecht besprochen.« 

Das Freundlichste, was man vielleicht zu Mr. Rycrofts Gedichten sagen kann, hatte die Kritikerin geschrieben, ist, dass er sich aufs Romanschreiben konzentrieren sollte. Der Kommentar hatte Milo merklich getroffen. Nicht einmal das Fest hatte ihn aufzuheitern vermocht; im Gegenteil, er hatte sich, ganz ungewohnt bei ihm, so schwer betrunken, dass Charlie Mason ihr hatte helfen müssen, ihn nach oben in sein Bett zu bringen.  

»Ach, das tut mir aber leid«, sagte Meriel. »Aber eigentlich waren die Gedichte ja sowieso mehr ein Spaß, oder nicht?« 

»Er hat sehr ernsthaft an ihnen gearbeitet«, antwortete Rebecca ein wenig pikiert. 

»Na ja, es ist vielleicht ein bisschen viel erwartet, gleich auf zwei Gebieten die tollsten Erfolge zu erzielen. Es ist doch schon phantastisch, nur auf einem wirklich gut zu sein.« 

»Ja, da hast du wahrscheinlich recht.« Rebecca bremste vor einer Kreuzung ab, schaute links und rechts und fuhr weiter. »Wie geht es Dr. Hughes?« 

Meriel verzog den Mund. »Deborah will ihn unbedingt überreden, nach Cornwall umzuziehen.« 

»Nach Cornwall?« 

»Ja. Ihrer Gesundheit wegen. Deborah liebt Cornwall offenbar.« 

»Und was wird dann aus seiner Arbeit?« 

»Ja, ich weiß, das ist wirklich schlimm, nicht? Er ist ja seit Ewigkeiten unser Internatsarzt.« 

»Schlimm für dich 

»Ja.« Meriel drehte den Kopf und sah zum Fenster hinaus. »Ich werde ihn sehr vermissen, wenn er wirklich geht.« 

»Will er denn?« 

»Nein, überhaupt nicht.« 

Arme Meriel, dachte Rebecca. Es musste zum Verzweifeln sein, sich so sehr um jemanden zu grämen, der nicht einmal wusste, dass man an ihm hing. 

»Ich würde mir erst mal keine Sorgen machen«, tröstete sie. »Die doofe Deborah wird sich’s bestimmt wieder anders überlegen. Hat sie nicht immer wieder mal solche Schnapsideen gehabt?« 

»Doch. Oft.« Meriel seufzte. »Aber mit Cornwall scheint es ihr ernst zu sein.« Dann fragte sie: »Und du, Becky? Wie geht es dir?« 

»Mir? Mir geht es wunderbar.« 

»Du wirkst in letzter Zeit ein bisschen gedrückt.« 

»Wirklich?« Rebecca versuchte zu lachen. »Daran war wahrscheinlich das Fest schuld. Das war ein Haufen Arbeit. Aber es geht mir gut. Alles ist ganz wunderbar.« 

»Es muss nicht immer so sein.« 

»Wie?« 

»Es muss nicht immer alles gut sein«, sagte Meriel. »Es muss nicht immer alles wunderbar sein.« 

Der Blick ihrer Schwester brachte sie aus der Fassung. Rebecca hatte das Gefühl, versagt zu haben. Wie beschämend, dass ihre Beunruhigung für andere offenbar augenfällig war. 

»Es geht mir wirklich gut«, sagte sie fest. »Ich hasse nur diese Jahreszeit, das weißt du ja.« Sie wechselte das Thema. »Was schenkst du Mama zum Geburtstag?« 

»Badesalz und Körperpuder. Phantasielos, ich weiß, aber mir fällt nichts Besseres ein. Und du?« 

»Ich dachte an Handschuhe, aber ich bin ziemlich sicher, dass ich ihr schon letztes Jahr welche geschenkt habe. Hausschuhe vielleicht.« 

»Ich habe mir schon überlegt, ob ich ihr nicht eine schöne Schachtel Pralinen kaufen soll, aber sie würde nur sagen, dass das für ihre Zähne nichts mehr ist.« 

»Sogar die Erdbeersahnebonbons –« 

»Erdbeersahnebonbons kann man lutschen.« 

Sie kicherten beide. Die ersten Häuser von Abingdon kamen in Sicht. 

Meriel sagte plötzlich: »Oh, ich muss dir was erzählen. Eine absolut skandalöse Geschichte.« 

»Was denn?« 

»Freddie Nicolsons Schwester hat ein Kind bekommen.« 

»Und?«, fragte Rebecca nicht sonderlich interessiert. Sie gab Zeichen, um zwei Radfahrer zu überholen. 

»Becky! Sie ist nicht verheiratet.« 

»Oh! Das ist wirklich ziemlich skandalös.« 

Irgendetwas rührte sich in ihr. Etwas Beunruhigendes, aber sie bekam es nicht gleich zu fassen. 

»Wessen Schwester?« Sie runzelte die Stirn. »Was hast du gleich wieder gesagt?« 

»Die Schwester von Freddie Nicolson. Tessa. Sie ist Fotomodell.« 

»Fotomodell?« 

»Sie ist anscheinend sehr bekannt. Freddie hat mir ihr Bild in der Vogue gezeigt.« 

»Freddie …« 

»Freddie Nicolson, ja. Ich habe dir doch von ihr erzählt. Eigentlich heißt sie Frederica, aber wir nennen sie alle Freddie. Ein entzückendes Mädchen. Sie ist eine ausgezeichnete Schülerin und Vizekapitän der ersten Lacrossemannschaft. Sie tut mir wirklich leid. Es gibt Dinge, die lassen sich nicht unter den Teppich kehren. Kurz und gut, Miss Nicolson war ewig nicht mehr nach Westdown gekommen, dabei hatte sie Freddie immer regelmäßig besucht. Und das muss der Grund gewesen sein. Sie hat ein Kind erwartet.« 

Frederica, aber wir nennen sie alle Freddie. Die Erinnerung nahm Form an. Vor fast einem Jahr in der Alten Mühle, der Geburtstag ihrer Mutter. Narzissen im Garten und abfällige Bemerkungen ihrer Mutter über die neuen Vorhänge. Ein Glück, dass wir Freddie Nicolson haben, hatte Meriel gesagt. Sie war großartig im letzten Spiel. Milo hatte plötzlich den Kopf gehoben. Nicolson?, hatte er gefragt. Und sie selbst, Rebecca, die ihn so gut kannte, hatte ihm angesehen, dass er erschrocken war. 

»Wie alt ist das Kind?«, fragte sie. 

»Zwei oder drei Monate. Ich weiß nicht genau. Miss Nicolson hat mir den Kleinen gezeigt. Ein niedlicher kleiner Bursche, aber ich war so schockiert, dass ich kaum wusste, was ich sagen sollte.« 

Meriel tippte ihr auf den Arm. »Rebecca«, sagte sie. »Wir hätten hier abbiegen müssen. Du bist vorbeigefahren. Rebecca?« 

Zuerst die Gewissheit, dass Milo mit dieser Frau, dieser Tessa Nicolson, eine Affäre hatte. Es erklärte, warum er damals beim Mittagessen so erschrocken war, warum die Erwähnung des Namens Nicolson ihn aus der Fassung gebracht hatte. Es erklärte seine Hochstimmung im letzten Frühjahr und Sommer, die Anrufe, die er im Arbeitszimmer entgegengenommen hatte, seine Reisen nach London. Man brauchte die Stücke nur ein wenig herumzuschieben und sie fügten sich ineinander. Wenn Tessa Nicolson als Fotomodell arbeitete, musste sie jung und gut aussehend sein. Die Westdown-Schule war keine zehn Kilometer von der Alten Mühle entfernt. Milo konnte ihr auf einer seiner Wanderungen begegnet sein – vielleicht hatte sie mit ihrem Wagen eine Reifenpanne gehabt, und Milo, der edle Ritter, hatte ihr beim Reifenwechsel geholfen. Oder vielleicht hatte sie angehalten, um nach dem Weg zu fragen, oder er hatte sie, wenn sie die Sorte Frau war, die sich allein in ein Lokal setzte, im Pub kennengelernt, als er dort irgendwann ein Bier getrunken hatte. 

Dann, und ebenso überzeugend, der Zweifel. Wieder einmal ging die Phantasie mit ihr durch. Ihre Spekulationen waren absurd. Meriel hatte ihr von der Mutter eines unehelichen Kindes erzählt, und sie nahm prompt an, dass Milo der Vater dieses Kindes sei. Schlimmer als absurd – irrsinnig. Sie war ja völlig von Sinnen, übergeschnappt. 

Montagmorgen: Der Tag, an dem Milo in Oxford arbeitete. Sie konnte es kaum erwarten, dass er endlich das Haus verließ. Als sie um sieben nach einer ruhelosen Nacht erwachte, brachte sie ihm seinen Tee, badete und kleidete sich an. Während er im Badezimmer war, ging sie nach unten. 

Licht fiel durch das Buntglasfenster in der Haustür und goss Streifen in Saphir und Rubin auf den Boden. Das Haus sah schön und freundlich aus, als blickte es dem Tag erwartungsvoll entgegen. In Milos Arbeitszimmer zog Rebecca die Jalousie hoch, setzte sich an den Schreibtisch, zog eine Schublade auf und nahm sein Adressbuch heraus. Sie schlug es beim Buchstaben ›N‹ auf. Nash, Neale, Nesbit – kein Nicolson. Sie blätterte weiter zum ›T‹. Tattersall, Taylor, Thorne … Der Name Tessa tauchte nirgends auf. Sie schloss die Augen, senkte den Kopf und hörte selbst ihr Aufatmen.  

Irgendetwas veranlasste sie, noch eine Seite umzuschlagen. Mit etwas Abstand von der Namensliste stand, von Milo geschrieben, der Buchstabe T. Daneben eine Telefonnummer, Highbury 259. 

Vom Nebenapparat aus wählte Rebecca die Vermittlung und bat um einer Verbindung mit der Nummer in Highbury. 

Stille, dann Knistern in der Leitung und schließlich eine Frauenstimme. »Hier bei Miss Nicolson.« 

Rebecca ließ den Hörer auf die Gabel fallen, als hätte sie sich an ihm verbrannt. Die Faust auf den Mund gedrückt, starrte sie zum Fenster hinaus. Das Licht der tiefstehenden Wintersonne lag funkelnd auf dem taunassen Gras. So ein herrlicher Tag; draußen wurde eine Tür zugeschlagen, Mrs. Hobbs rief laut Guten Morgen. Der Kessel wurde knallend auf den Herd gestellt, mit Getöse kamen Staubsauber, Eimer und Besen aus dem Schrank.  

Sie lief aus dem Arbeitszimmer und rannte nach oben. Milo war noch im Bad. Ihr Blick irrte durchs Zimmer, fiel zuerst auf ein Paar Strümpfe, das über einer Stuhllehne lag, dann auf ihre Parfumflakons auf dem Toilettentisch, dann auf Milos Jackett, das an der Schranktür hing. Alles hatte ein neues, fremdes Gesicht bekommen, als sähe sie es zum ersten Mal. 

Sie setzte sich auf die Bettkante, schwach und zittrig vom Schock. 

Milo kam aus dem Bad. Er schien sie nicht zu sehen. Vor sich hin summend frottierte er sich das Haar, trat dann zum Kleiderschrank und begann, sich anzuziehen. Erst da bemerkte er sie anscheinend, denn er drehte sich herum. 

»Was ist los?« 

»Tessa Nicolson.« 

Er erstarrte. »Was?« 

»Ihre Telefonnummer steht in deinem Adressbuch.« 

»Ich habe sie bei einer Gesellschaft in London kennengelernt«, sagte er schnell. »Das ist alles.« 

Sie betrachtete ihn, ein wenig lächerlich in der Unterhose und mit dem feuchten Haar, das in kleinen Büscheln in die Höhe stand. »Ich glaube dir nicht«, sagte sie. 

Er stieg in seine Hose. »Mach jetzt kein Theater, Rebecca. Bitte.« 

»Ich möchte nur eines wissen: Hast du eine Affäre mit dieser Frau? Und wenn ja, bist du der Vater ihres Kindes?« 

Er lachte dünn. »Rebecca, Herrgott noch mal …« Er ging zu ihr und umfasste ihre leblosen Hände. »Natürlich habe ich keine Affäre mit ihr. Selbstverständlich nicht.« 

Sie rückte von ihm weg. »Gut, dann rufe ich sie an und frage sie selbst.« Sie stand auf. 

Eilig trat er ihr in den Weg und stellte sich vor die Tür. »Rebecca. Bitte.« 

In ihr verglühte etwas; sie erkannte, dass sie immer noch gehofft hatte, sie möge sich irren. Sie flüsterte: »Soll ich sie anrufen, Milo?« 

Einen Moment schien er wie versteinert. Dann schüttelte er den Kopf.  

Stolpernd machte sie kehrt und ließ sich wieder aufs Bett fallen. Sie schloss die Augen. »Wie lange?«, fragte sie, und als er nicht antwortete, schrie sie ihm die Frage ins Gesicht. 

»Ich sagte, wie lange?« 

»Ein Jahr. Ungefähr ein Jahr.« 

»Ach, du weißt es nicht genau?« 

»Leise. Mrs. Hobbs«, zischte er, und sie hörte das Lärmen des Staubsaugers draußen auf der Treppe. »Ich habe sie letztes Jahr im Januar kennengelernt«, murmelte Milo. »Aber wir haben nicht – da war nichts – erst später.« 

»Januar.« Rebecca wischte sich mit zitternder Hand den Schweiß von der Stirn. 

»Meriel«, sagte sie. »Du hast sie durch Meriel kennengelernt.« 

»Nein.« 

»Aber Meriel kennt diese Frau.« Der nächste entsetzliche Gedanke: Wusste Meriel, dass Tessa Nicolson Milos Geliebte war? Hatte sie deshalb im Auto diese seltsame Bemerkung gemacht? Es muss nicht immer alles gut sein. Es muss nicht immer alles wunderbar sein. 

»Nein«, sagte er. »Ich war spazieren. Tessa war am Weiher – hinter der Schule. Sie ist Schlittschuh gelaufen. Meriel hat nichts damit zu tun.« 

Tessa. Wie selbstverständlich ihm der Name über die Lippen kam. Blind vor Tränen drehte sie sich um und kramte im Nachttisch nach ihrem Taschentuch. Sie schnäuzte sich und wischte sich die Augen. 

»Und das Kind?«, fragte sie leise. 

Als er nicht antwortete, zwang sie sich, ihn anzusehen. Die Schuld stand ihm in den Augen. »Es ist von dir?« 

Er nickte. Dann senkte er den Kopf. »Es tut mir so leid.« Er kam einen Schritt auf sie zu. Gleich würde er versuchen, sie zu berühren. 

»Ich möchte, dass du gehst.« Ihre Stimme war ruhig. »Lass mich allein.« 

»Rebecca, bitte –« 

»Geh weg!«, schrie sie ihn an. »Fahr doch in dein verdammtes Oxford. Oder nach London, zu ihr. Tu, was du willst, es ist mir egal.« 

Dann krümmte sie sich schluchzend auf dem Bett zusammen. Sie hörte ihn leise die Schlafzimmertür schließen, als er ging. 

Montagabend. Sie hatte hämmernde Kopfschmerzen. Sie schluckte mehrere Aspirin und machte sich einen starken Kaffee. Dann setzte sie sich ins Hinterzimmer und rauchte, während sie den Kaffee trank. 

Sie hörte den Wagen vorfahren, fuhr zusammen, als die Haustür geöffnet wurde. Sie hörte ihn von Zimmer zu Zimmer gehen, bis er sie fand. 

»Ich hätte nicht gedacht, dass du zurückkommst«, sagte sie. 

Er setzte sich auf einen niedrigen Hocker am Fenster. »Ich wusste nicht, ob du willst, dass ich zurückkomme.« 

Sie zuckte mit den Schultern. »Du hast gesagt, du hast sie voriges Jahr im Januar kennengelernt.« 

»Ja.« 

»Bei Meriels Schule.« 

»Ja.« 

»Und weiter?« 

Schweigen. »Zwei Monate später bin ich ihr zufällig in London begegnet.« 

»Lüge mich nicht an, Milo.« 

»Ich habe sie angerufen.« 

»Und dann bist du mit ihr ins Bett gegangen.« Sie stand auf. »Sie muss ein Flittchen sein«, sagte sie voller Verachtung. »Geht sie mit jedem Mann ins Bett, der ihr über den Weg läuft? Musstest du Schlange stehen, Milo?« 

Dann rannte sie hinaus und schlug krachend die Tür hinter sich zu. Sie hatte den ganzen Tag nichts gegessen; sie merkte plötzlich, dass sie sehr hungrig war. In der Küche schnitt sie sich zwei Scheiben Brot ab und schob ein Stück Schinken dazwischen. Dann ging sie ins Wohnzimmer, drehte das Radio sehr laut auf, um ihn abzuschrecken, und aß ihr Schinkenbrot. 

In dieser Nacht schlief er im Gästezimmer. 

Als sie in den frühen Morgenstunden erwachte, hatten Mut und Kompromisslosigkeit sie verlassen. Zu ausgelaugt, um noch weinen zu können, lag sie da und fragte sich, wie sie ohne ihn weiterleben sollte, wenn er sie verließ. Denn dass er sie verlassen würde, wusste sie jetzt. Warum sollte er bei ihr bleiben, wenn er diese schöne junge Frau, Tessa Nicolson, haben konnte? 

Ohne ihn wäre sie nichts. All seinen Schwächen, allen Treuebrüchen zum Trotz liebte sie ihn immer noch. Sie hatte vom ersten Tag an gewusst, dass sie den Rest ihres Lebens mit ihm verbringen wollte. Niemand konnte sie zum Lachen bringen wie Milo. Niemand konnte ihr wie er das Gefühl geben, dass sie begehrenswert, schön und aufregend war. Selbst jetzt noch sehnte sich ein Teil von ihr danach, ins Gästezimmer hinüber zu gehen und sich zu ihm ins Bett zu legen, von ihm in die Arme genommen zu werden und sich beteuern zu lassen, dass alles gut werden würde, dass er sie noch immer liebte und immer lieben würde. 

Dienstag: Sie hasste ihn. Seine Art, sich zu bewegen, seine Art zu sprechen, die Willensschwäche, die ihm ins Gesicht geschrieben stand. Sie verabscheute alles an ihm. 

Sie behielt ihre Wut für sich bis zum Nachmittag, als Mrs. Hobbs gegangen war. Sie richteten sich bei der Demontage ihrer Ehe, dachte sie mit bitterem Spott, nach den Arbeitszeiten ihrer Putzfrau. 

»Ich möchte alles wissen«, sagte sie. »Du wirst mir jetzt alles sagen. Ist sie schön? Wie sieht sie aus? Ist sie jung?« 

Sie saßen beim Mittagessen, das Mrs. Hobbs für sie zubereitet hatte. Aber sie aßen beide nicht. 

»Was soll das helfen?«, fragte er dumpf. 

»Es soll gar nicht helfen, Milo. Weshalb sollte ich helfen wollen? Im Gegenteil, ich möchte, dass du leidest.« Sie legte ihr Besteck aus der Hand. »Wie alt ist sie? Das ist doch eine einfache Frage. Die wirst du mir wohl beantworten können.« 

»Zweiundzwanzig«, sagte er. 

Zweiundzwanzig. »Guter Gott. Als Nächstes wirst du dich an Schulmädchen vergreifen.« Sie zündete sich eine Zigarette an. »Wie sieht sie aus?« 

Seine Hand zuckte. »Ich weiß nicht –« 

»Aber natürlich weißt du es. Du warst doch mit ihr im Bett, oder nicht? Oder schaust du sie dabei nicht an?« 

Er wurde rot. »Deswegen brauchst du noch lange nicht ordinär zu werden.« 

»Ach nein? Blond, rot, brünett – das muss dir doch aufgefallen sein.« 

»Zwischen blond und braun. Honigfarben.« 

»Honigfarben«, wiederholte sie sarkastisch. »Wie poetisch. Und die Augen?« 

»Grün«, murmelte er. »Sie sind grünbraun.« 

»Ist sie schön?« 

Einen Moment blieb er stumm, dann sagte er kurz: »Ja. Sehr.« Er hob den Kopf und blickte ihr in die Augen. »Ich weiß nicht, warum du das tust. Ich weiß nicht, warum du das tun willst.« 

»Ich will nicht.« Ihre Stimme war brüchig. »Ich muss. Ich muss es wissen.« 

Dann stellte sie geräuschvoll die Teller zusammen und trug sie in die Küche. Sie schabte das kaum angerührte Essen in den Mülleimer. Honigfarben. Grünbraun. Ein paar Karotten fielen neben dem Eimer auf den Boden. Sie knallte die Teller auf die Steinfliesen und sah zu, wie sie in Stücke sprangen. 

Mittwochmorgen: Sie nahm den Hund und machte einen Spaziergang. Sie ging eine große Runde zu den Hügeln hinauf, weil sie niemandem begegnen wollte, den sie kannte. Ihre Schuhe rutschten auf dem matschigen Weg zu den windigen Höhen. Sie erinnerte sich, wie sie damals, kurz nachdem sie die Alte Mühle gekauft hatten, mit Milo hier gewandert war. Wie er vorausgelaufen war und oben auf dem Gipfel mit triumphierendem Winken auf sie gewartet hatte. Der Name ›Herne Hill‹ war ihm auf der Karte aufgefallen, und sie waren weitermarschiert, bis sie den Ort gefunden hatten. Sie hatte gewusst, dass er versuchte, die alten Geschichten zu lesen, die unter den Gräsern und Glockenblumen geschrieben standen. 

Jetzt ging sie wie eine Blinde, ohne Karte. Die sanfte Wellenbewegung der Hügel hatte keine Bedeutung für sie. Die Dörfer in den Tälern schienen über der Erde zu schweben, unwirklich, unverankert. Unversehens kam ihr der Gedanke, dass sie es war, die das erbärmliche Leben führte und nicht Meriel, die arme Meriel, deren Verlobter im Krieg gefallen war, die nie mit einem Mann geschlafen hatte und einer hoffnungslosen Pennälerliebe zum Schularzt nachhing. Das war wenigstens ein ehrliches Leben. Rebecca hingegen, die arme, törichte Rebecca, die sich eingebildet hatte, vom Glück gesegnet zu sein, lebte eine Lüge. 

Als ihr kalt wurde, stieg sie zur Hauptstraße ab. Am Straßenrand blieb sie stehen und zündete sich eine Zigarette an, die Hand um die Flamme des Streichholzes gekrümmt. Ein Kind, dachte sie, und mit ihr hatte er nie eines gewollt. Tränen schossen ihr in die Augen. Milo hatte einen Sohn und sie hatte nichts. Ihr imaginäres Kind, Archie oder Oscar, würde immer nur in ihrer Phantasie leben.  

Ein Auto, ein grüner Humber, hielt neben ihr an. Die Fahrertür wurde geöffnet, ein Mann sagte: »Entschuldigen Sie, ist das die Straße nach Oxford?« 

Rebecca stieß den Rauch ihrer Zigarette aus. »Nein, Sie sind wahrscheinlich irgendwo falsch abgebogen.« 

»Diese kleinen Landstraßen sehen alle gleich aus. Können Sie mir denn sagen, wie ich fahren muss?« 

»Natürlich.« Sie erklärte ihm den Weg. 

»Das klingt ja schrecklich kompliziert«, sagte er. »Sie müssen nicht zufällig in dieselbe Richtung?« 

»Ich wohne in Little Morton, ungefähr drei Kilometer von hier.« 

»Ich kann Sie mitnehmen, wenn es Ihnen recht ist.« 

»Ja, gern … aber der Hund …« 

»Je mehr, desto lustiger. Ich liebe Hunde.« 

Er beugte sich zur anderen Seite und öffnete ihr die Mitfahrertür. Sie ließ die Zigarette auf die Straße fallen und stieg ein. Der Spaniel rollte sich zu ihren Füßen zusammen. 

»Wie heißt er?«, fragte er. 

»Julia.« 

»Hübsch.« Er fuhr los. »Mein Name ist Edward Robinson, aber meine Freunde nennen mich Ned.« 

Er hatte ein schmales, gut geschnittenes Gesicht, schwarzes Haar, das glatt aus der Stirn gestrichen war, braune Augen und einen schmalen roten Mund. Auf seinen Handrücken sprossen schwarze Härchen. Wenn sie ihm die richtigen Signale gäbe, würde er sie zum Essen einladen und mit ihr ins Bett gehen. Wäre das die angemessene Rache, fragte sie sich. Würde sie Milo damit so sehr verletzen, wie er sie verletzt hatte? 

Aber sie fror, war müde und fand es viel zu anstrengend, freundliche Konversation zu machen, geschweige denn Leidenschaft zu heucheln. 

»Ich bin Mrs. Rycroft«, sagte sie. »Wenn Sie hier vorn rechts abbiegen, kommen wir direkt zu meinem Haus. Von dort gibt es einen ganz einfachen Weg nach Oxford.« 

»Ah ja.« Er lächelte ein wenig bedauernd. »Danke.« 

An der Alten Mühle hielt er den Wagen am Straßenrand an. »Da wären wir«, sagte er.  

Sie dankte ihm und wartete an der Straße, bis er abgefahren war. Dann ging sie ums Haus herum nach hinten. In der Spülküche nahm sie Julia die Leine ab und wischte ihr die schmutzigen Pfoten mit einem alten Handtuch ab. In der Küche stand ein blubberndes Eintopfgericht auf dem Herd, und die Geschirrtücher hingen ordentlich gefaltet über dem Halter. Mrs. Hobbs war offensichtlich schon gegangen. Sie hätte nicht gedacht, dass sie so lange unterwegs gewesen war. 

Sie ging durch das Haus. Die Tür zu Milos Arbeitszimmer stand offen. Sie fand ihn im Esszimmer, wo er an der Terrassentür stand. 

»Ich nehme an, du willst mich verlassen und sie heiraten«, sagte sie. 

Er drehte sich um. »Nein.« 

»Du hast ein Kind mit ihr.« 

»Sie will mich nicht heiraten.« 

»Schwer zu glauben.« 

Er sah so müde und abgeschlagen aus, wie sie sich fühlte. Mit einer kurzen Geste sagte er: »Aber es ist wahr.« 

»War das Kind geplant?« 

Er sah sie fassungslos an. »Natürlich nicht. Es war ein Versehen.« 

»Bist du sicher?« 

»Wie kommst du auf die Idee, ich würde ein Kind wollen?« 

»Ich rede nicht von dir, ich rede von ihr. Bist du sicher, dass sie es nicht darauf angelegt hat, schwanger zu werden, damit du sie heiraten musst?« 

»Absolut.« Er schüttelte heftig den Kopf. »Du verstehst nicht.« Er setzte sich aufs Sofa. Auf dem Beistelltisch stand ein Glas – Whisky, dachte sie –, und er trank einen Schluck. »Tessa will überhaupt nicht heiraten, weder mich noch sonst jemanden. Das hat sie von Beginn an klargestellt. Sie ist sehr selbstständig und unkonventionell. Sie liebt das Abenteuer.« 

»Hat sie viele Liebhaber?« 

Er schloss die Augen. »Ich weiß es nicht.« Dann sagte er: »Ja.« 

»Ich glaube, du siehst das falsch, mein Lieber«, sagte sie kurz und scharf. »Ich glaube, dass keiner ihrer Liebhaber sie heiraten will, weil alle wissen, was für eine Person sie ist. Niemand nimmt gern gebrauchte Ware. Wenn du mich fragst, hat sie die Schwangerschaft geplant, um dich einzufangen.« 

Er sah zu ihr hinauf. »Nein, das stimmt nicht. Ich habe dir doch gesagt, dass Tessa mich nicht heiraten will.« 

Beim Anblick des Schmerzes in seinen Augen trat sie unwillkürlich zurück. Ihre kalte Gefasstheit bröckelte. »Liebst du sie?«, fragte sie leise. 

»Ich weiß es nicht.« 

Donnerstag: Sie waren zum Mittagessen bei einem Dozenten am Merton College eingeladen. Das Zimmer ging auf einen grasbewachsenen Innenhof hinaus, und die Wände waren mit dunklem Holz getäfelt. Es roch nach Bienenwachs und alten Schmökern. Ich wollte, ich hätte mir in der Schule mehr Mühe gegeben, dachte Rebecca. Ich wollte, ich wäre ein Blaustrumpf gewesen. Ich wollte, ich hätte Fakten, Zahlen und Landschaften im Kopf, die mich daran hindern würden, ständig daran zu denken. Ich wollte, ich wäre Nonne und lebte im Kloster. Ich wollte, ich wäre jung und schön und mein Foto wäre vorn auf der Vogue. 

»Was war sie für dich?«, schrie sie. 

Sie waren wieder zu Hause. Sie hatte bei dem Mittagessen zu viel Portwein getrunken und hatte wieder diese hämmernden Kopfschmerzen. »Eine von deinen vielen Liebschaften? Oder deine Muse? Ist das die Funktion dieser Mädchen? Verarbeitest du sie in deinen Büchern? Zu deinen kitschigen, bleichsüchtigen Heldinnen – dienen dir diese Flittchen etwa als Inspiration? Verschaffen sie dir den Kitzel, den armseligen Reiz, den du brauchst, um deine miesen Schmonzetten zu schreiben?« 

Sie waren im Flur. Er hatte seinen Schal abgenommen und über den Haken gehängt. Jetzt trat er dicht vor sie hin und drückt die Fäuste zu beiden Seiten von ihr an die Wand, sodass sie gefangen war. 

»Nein«, sagte er hasserfüllt. »Aber ich kann dir sagen, was sie für mich sind. Sie sind meine Zuflucht. Sie sind meine Zuflucht vor dir, Rebecca. Und soll ich dir auch sagen, warum ich vor dir flüchten muss? Weil das Leben mit dir unerträglich geworden ist. Deine Eifersucht, deine Hysterie, deine ewige Nörgelei und Pingeligkeit – das alles hat mich vertrieben. Es braucht zwei, um eine Ehe zu zerstören, oder wusstest du das nicht? Du hast dich verändert, du bist nicht mehr die Frau, die ich geheiratet habe. Bei dir muss immer alles perfekt sein. Das Haus, der Garten und ich auch. Aber ich bin nun mal nicht perfekt. Was ich getan habe, war nicht in Ordnung. Aber bilde dir bloß nicht ein, dass du perfekt bist.« 

»Du gemeiner Kerl«, sagte sie und schlug ihm ins Gesicht. »Du gemeiner Kerl.« Dann rannte sie an ihm vorbei, durch das Haus, über die Terrasse, über den Rasen, an der alten Zeder vorbei zum Mühlbach, der die Grenze ihres Grundstücks bildete. 

Bunte Lichter flimmerten am Rand ihres Blickfelds und sprenkelten den Bach mit Gold, Rosa und Violett. Bei dir muss immer alles perfekt sein. Hatte Milo recht? Hatte nicht Meriel etwas Ähnliches angedeutet? War sie wirklich zur penetranten Perfektionistin geworden, deren unbillige Forderungen ihren Mann von ihr weggetrieben hatten? 

Sie hörte Schritte hinter sich. Als sie sich umdrehte, sah sie ihn über den Rasen kommen. Seine linke Wange war gerötet von ihrem Schlag. 

»Es tut mir leid, dass ich dich geschlagen habe«, sagte sie leise. 

»Es ist einzig meine Schuld«, entgegnete er. »Ich werde sie nicht wiedersehen, das verspreche ich dir.« 

Sie schloss die Augen, um die flimmernden Lichter auszublenden, aber sie waren immer noch da, unter ihren Lidern eingeschlossen. 

»Und das Kind?«, fragte sie. 

Er schüttelte den Kopf. Sein Blick war leer und trostlos. 

Ihr wurde bewusst, dass sie den Namen des Kindes nicht wusste. Besser so, dachte sie. Besser, er blieb namenlos dieser schmutzige kleine Bastard.  

Zwei Tage lang lag sie mit einer Migräne zu Bett, die sie beide zu einer Waffenruhe zwang. Milo brachte ihr Aspirin und Wasser, zog die Vorhänge im Schlafzimmer zu, sorgte dafür, dass es im Haus ruhig war. Als sie sich endlich nicht mehr übergeben musste, brachte er ihr Tee und Toast. 

Er setzte sich zu ihr aufs Bett, während sie, einen Berg Kissen im Rücken, den Toast zerpflückte und versuchte, die Stücke zu schlucken. 

»Ich wollte das Kind nie haben«, sagte er. »Ich war entsetzt, als Tessa mir sagte, dass sie schwanger sei. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Sie meint, ich müsste das Kind lieben, aber das tue ich nicht. Ich kann es nicht. Ich merke, dass sie Vaterliebe von mir erwartet, und ich merke, wie enttäuscht sie von mir ist. Sie fühlt sich von mir im Stich gelassen.« Er drückte beide Hände auf sein Gesicht. »Ich werde natürlich die Ausbildung für den Jungen bezahlen müssen, das ist nur gerecht. Ich bitte dich nicht, mir zu verzeihen, Rebecca. Ich weiß, dass ich kein Recht habe, das zu verlangen. Aber bitte – ich kann es nicht ertragen, wenn du mir so böse bist.« 

Er schob ihr seine Hand entgegen, sodass er mit seinen Fingerspitzen ihre berührte. Sie zog die Hand nicht weg. Sie konnte sich genau vorstellen, wie es gewesen war. Diese Frau, diese Männerfresserin, Tessa Nicolson, hatte Milos Weichheit ausgenützt. Sie hatte ihre Netze ausgelegt, und er, der arme Tor, hatte sich prompt in ihnen verfangen. Milo war für sie wahrscheinlich ein toller Fang, gut aussehend, geistreich und berühmt, wie er war. Ich wollte das Kind nie haben. Sie meint, ich müsste das Kind lieben, aber das tue ich nicht. Zum ersten Mal in dieser langen qualvollen Woche empfand sie ein gewisses Maß an Triumph. 

Am Montagvormittag hatte Rebecca einen Anprobetermin bei ›Chez Zélie‹ in Oxford. Noch schwach von der schweren Migräne ließ sie sich von Milo in die Stadt fahren. Er würde etwas arbeiten, während sie die Anprobe hinter sich brachte und Einkäufe erledigte. Danach, schlug er vor, könnten sie zusammen zu Mittag essen. Er würde in ihrem Lieblingsrestaurant einen Tisch bestellen. Er gab sich wirklich Mühe. 

Als sie Oxford erreichten, setzte der Regen ein und wurde im Lauf des Vormittags immer dichter. Ein brauner Bach, in dem Zigarettenkippen und Bonbonpapierchen schwammen, wälzte sich durch die Gossen. Es tat gut, sich gewohnten Alltäglichkeiten zu überlassen, eine wenigstens scheinbare Normalität zu genießen. Bei Zélie sah sie sich Stoffe an, machte dann einen Einkaufsbummel, setzte sich in ein Café. In einem Zeitschriftengeschäft ließ sie ihren Blick über die Ständer gleiten, bis sie die Vogue fand. War sie das, da auf der Titelseite? Nein, die Frau hatte dunkles Haar und blaue Augen.  

Um zwanzig vor zwölf ging sie die St. Michael’s Street hinunter zu ihrer Verabredung mit Milo. Die Trottoirs waren voller Menschen, Schirme wippten wie schwarze Pilze im Regen. Als sie um eine Menschenschlange vor einem Zeitungskiosk herumging, sah sie an der Ecke zum Cornmarket Milo stehen.  

Er war im Gespräch mit einer jungen Frau. Rebecca erstarrte. Als die junge Frau sich abwandte, um zu gehen, sah Rebecca flüchtig helles Haar und erkannte Grace King. Sie hatten sich keinen Abschiedskuss gegeben, hielt sie sich vor, hatten einander nicht berührt. Miss King hatte jetzt die Straße überquert und ging die Ship Street hinauf. Milo sah ihr nicht einmal nach. 

Aber wenn nicht sie, dann eine andere. Wenn nicht Tessa Nicolson oder Annette Lyle oder Grace King, dann eine andere. Sie würde sich niemals in Sicherheit wiegen können. Ihre ganze zerstörerische Wut drängte plötzlich wieder nach oben und floss über. 

Mit einem Ruck machte sie kehrt und ging den Weg zurück, den sie gerade gekommen war. An der nächsten Telefonzelle klappte sie ihren Schirm zusammen und trat ein. 

Sie hob ab und bat die Vermittlung, sie mit Highbury 259 zu verbinden. 

Rauschen und Knacken, dann sagte jemand: »Tessa Nicolson. Hallo?« 

Im Hintergrund war Babygeschrei zu hören. Rebecca sagte: »Ich glaube, Sie kennen meinen Mann, Milo Rycroft. Ich nehme an, er hat Ihnen gesagt, dass er Sie in Zukunft nicht mehr sehen wird. Aber vielleicht hat er es auch nicht getan – er war immer schon feige.« 

Eine Sekunde blieb es still, dann fragte Tessa Nicolson: »Mrs. Rycroft?« 

»Ich rufe an, weil ich finde, Sie sollten wissen, dass er sich neu orientiert und etwas anderes aufgetan hat. So ein kleines Flittchen in Oxford.«  

»Ich glaube Ihnen nicht«, sagte Tessa Nicolson. 

»Nein? Nun, sie heißt Grace King. Sie wohnt in der Woodstock Road. Fragen Sie sie doch selbst, wenn Sie mir nicht glauben.« Rebecca lachte. »Es wird Zeit, dass Sie einsehen, Miss Nicolson, dass Milo ein Mann ist, der immer Seitensprünge machen wird. Es ist seine Natur.« 

Tessa legte den Hörer auf. Das Läuten des Telefons hatte Angelo geweckt, der erkältet war. Sie nahm ihn aus dem Korb und drückte ihn an ihr hämmerndes Herz. 

Mit dem Kind im Arm setzte sie sich aufs Sofa. Sie fror, als hätte sie einen Kälteschock erlitten. Rebecca Rycroft wusste Bescheid. Wie lange schon? Tessa versuchte zurückzudenken. Es war fast einen Monat her, dass sie Milo das letzte Mal gesehen hatte. Und bestimmt eine Woche – vielleicht auch zehn Tage –, seit er geschrieben oder angerufen hatte. Was war passiert? Wann hatte Milos Frau es erfahren? Und warum hatte er ihr – Tessa – nichts davon gesagt? 

Angelo hatte sich wieder beruhigt und sie legte ihn in sein Körbchen zurück. Im Flur hockte das Telefon auf dem Tisch wie eine schwarze Kröte. Es war Montag, da arbeitete Milo immer in Oxford. Tessa nannte der Vermittlung die Nummer in Oxford. Sie hörte das Freizeichen. 

Ich nehme an, er hat Ihnen gesagt, dass er Sie in Zukunft nicht mehr sehen wird. Aber vielleicht hat er es auch nicht getan – er war immer schon feige. Saß er jetzt an seinem Schreibtisch und wartete darauf, dass das Telefon aufhören würde zu läuten, weil er Angst hatte abzuheben? Hatte er seiner Frau versprochen, sie nicht anzurufen – war er kleinlaut und gehorsam in den Schoß der Ehe zurückgekehrt, wieder ganz der brave Ehemann, als hätte es ihre Beziehung nie gegeben? 

Tessa dankte der Telefonistin und legte auf. 

Sie ging ans Fenster und zündete sich eine Zigarette an. Regen lief an der Scheibe herunter, durch das Glas war nichts zu erkennen als ein verwischtes Aquarell aus Grau- und Brauntönen. Sie hatte plötzlich Sehnsucht nach dem italienischen Frühling, nach Farben und einem Licht, das wie Champagner funkelte. Es gab so viele Wege, eine Liebesbeziehung zu beenden. Mit einem Streit, einem Brief, einem Schweigen. Viele – die meisten – würden sagen, dass sie kein Recht hatte, sich so verletzt zu fühlen. Sie wandte sich vom Fenster ab und starrte, die Faust auf den Mund gedrückt, zu dem Kind hinunter, das in seinem Korb wieder eingeschlafen war. 

Nun gut. Milos Frau wusste von der Affäre. Was hatte sie noch gesagt? Dass Milo eine andere hatte. Eine andere Geliebte. Wie hatte sie gesagt? Er ist ein Mann, der immer Seitensprünge macht. Hatte sie gelogen, um zu verletzen, oder konnte es doch stimmen? 

Sie wusste es nicht. Schrecklich, zu merken, dass sie ihm nicht traute. Er hat sich neu orientiert und etwas anderes aufgetan. So ein kleines Flittchen in Oxford. Sie heißt Grace King. Sie wohnt in der Woodstock Road. War sie selbst also einfach nur zu haben gewesen? 

Gut, verlass mich, wenn du musst, Milo Rycroft, aber verlass nicht deinen Sohn. Wie eine Wahnsinnige rannte sie durch die Wohnung, packte Regenmantel, Schirm, Schlüssel, Fläschchen und Windeln zusammen. Sie musste es wissen. Was fiel ihm ein, sich vor ihr zu verstecken? Besaß er nicht einmal den Anstand, den Mut, ihr die Wahrheit ins Gesicht zu sagen? Sie würde sich von ihm nicht hinhalten lassen wie ein lästiger Gläubiger. Jede andere Affäre hätte sie einfach ad acta legen können, aber nicht diese. Eines Tages würde sie Angelo von seinem Vater erzählen müssen. Was sollte sie ihm sagen? Dass sein Vater ihm so wenig Interesse, so wenig Gefühl entgegengebracht hatte, dass er ihm den Rücken kehrte, bevor er noch drei Monate alt gewesen war? 

Tessa nahm den Tragekorb und verließ die Wohnung. Sie fuhr mit dem Aufzug nach unten. Der Portier hielt den Regenschirm über den Babykorb, als sie zu ihrem MG rannte. Sie stellte den Korb auf den Beifahrersitz, dann fuhr sie los, in südwestlicher Richtung zur Straße nach Harrow. Angelo schlief. Beim Fahren wurde sie allmählich ruhiger. Die Konzentration, der Fußwechsel zwischen Gas- und Bremspedal, das Schaben der Scheibenwischer wirkten hypnotisch. Sie war immer schon gern unterwegs gewesen. Sie brauchte Bewegung, das Gefühl voranzukommen, einem Ziel entgegen. 

In Harrow on the Hill tankte sie und kaufte Zigaretten. Während sie auf eine Lücke im Verkehrsstrom wartete, dachte sie daran, umzukehren und wieder nach Hause zu fahren – die Vergeblichkeit dieser Reise, da sie ihn doch schon verloren hatte! –, aber sie wusste, dass das nur ein Aufschub sein würde. Besser gleich klare Verhältnisse schaffen. Sie fuhr weiter. An Straßenkreuzungen und Bushaltestellen drängten sich in Regenmäntel eingepackte Fußgänger mit aufgespannten Schirmen. Die Fahrt durch die Vorstädte war ein einziges Stoppen und Starten in einer endlosen Autoschlange, die vorbeikroch an Reihen nichtssagender Häuser, Verputz und Fachwerk, in der Einfahrt ein schwarzer Austin oder Morris, tropfende Lorbeer- und Ligusterhecken zur Abgrenzung der Vorgärten von der Straße. Das ist nicht mein Land, dachte sie. Sobald Freddie einundzwanzig ist, gehe ich nach Italien zurück.  

Dann lichtete sich der Verkehr, Felder und kleine Wäldchen lösten die Häuserreihen ab. In Rickmansworth bog sie nach Süden ab zu der Straße, die sie durch Beaconsfield und über die Hügel der Chilterns nach Oxford bringen würde. Angelo wurde langsam wach. Am Rand von High Wycombe hielt sie an einem Café, bestellte sich Tee und bat um einen Krug heißes Wasser, um Angelos Flasche zu wärmen. Die Bedienung, ein Mädchen von vielleicht sechzehn Jahren mit einer unvorteilhaften Kappe auf den Dauerwellen, bewunderte Angelo, während Tessa ihn fütterte. »Der ist ja süß. Wie alt ist er denn? Wenn ich mal heirate, will ich vier kleine Jungs. Bloß keine Mädchen – die sind viel schwieriger, sagt meine Mam.« Das Mädchen streichelte Angelos Wange. »Dein Papa ist bestimmt stolz auf dich.« 

Angelo schlief noch beim Trinken wieder ein. Tessa legte ihn in seinen Korb zurück und rührte ihren Tee. Eine Erinnerung griff ihr eisig ans Herz: Milo, wie er sie an dem Tag, an dem sie ihm gesagt hatte, dass sie ein Kind erwartete, geküsst hatte. Sie dachte an dieses schreckliche Mittagessen, bei dem sie beide kaum einen Bissen hinuntergebracht hatten, an die Bestürzung in seinem Blick, als sie es ihm gesagt hatte. Und doch hatte er sie draußen vor dem Fotostudio an sich gezogen und die Hände unter ihren Mantel geschoben, um sie zu halten. Sie hatten sich aneinandergeklammert, als wollten sie gemeinsam Wurzeln schlagen, um niemals getrennt zu werden. Der Körper log nicht; sie wusste, dass er sie damals geliebt hatte. Sie ließ drei Pence für die Bedienung zurück, ergriff den Korb und ging. Im Auto blieb sie einen Moment ermattet sitzen. Sie wünschte sich, sie wäre nicht allein. Sie wünschte, Freddie oder Ray oder Max wären jetzt bei ihr. 

Sie fuhr weiter, über die Chilterns. Ein Lastwagen überholte sie und überschüttete die Windschutzscheibe mit Fontänen schmutzigen Wassers, sodass sie sekundenlang kaum etwas erkennen konnte. Angelo begann in seinem Korb zu greinen. »Pscht, jetzt ist es nicht mehr weit«, tröstete sie. Den Hügel hinauf wurde der Lastwagen immer langsamer, und sie konnte nur hinter ihm herkriechen. Als er an einer Kreuzung anhielt, musste auch Tessa anhalten. Angelos Gejammer wurde lauter. Der Lastwagen fuhr wieder an. Tessa blieb hinter ihm, hielt Ausschau nach einem geraden Stück Straße, wo sie vielleicht überholen konnte. Ein im Regen verschwimmender blau-orangefarbener Schimmer formte sich beim Näherkommen zu einem im Wind schwankenden Reklameschild für Lyons Tee. Ein Radfahrer in gelbem Ölzeug sauste ihnen den Hang hinunter entgegen, das einsame Licht seines Scheinwerfers verwischt und vielfach gebrochen. Wie weit noch? Angelo hatte die Händchen zu Fäusten geballt und schrie aus Leibeskräften. »Gleich sind wir da, Schatz«, sagte sie. »Gleich sind wir da, ich versprech’s dir.« Ihr Herz raste; sie streckte den Arm nach ihm aus und streichelte sein Gesicht, um ihn zu trösten. Regen prasselte auf das dünne Verdeck. Der Lastwagen bremste vor einer Kurve ab, Tessa hätte vor Ungeduld schreien können wie Angelo. Doch hinter der Kurve dehnte sich die Straße endlich schnurgerade und völlig frei vor ihr, sie trat das Gaspedal durch und zog den Wagen auf die andere Straßenseite. 

Durch den strömenden Regen sah sie schemenhaft einen Pferdewagen aus einem Feldweg kommen, der rechts vor ihr in die Straße mündete. Ihre Hand schoss zur Hupe – ein winziger Moment der Unentschlossenheit: Würde das laute Geräusch das Pferd erschrecken? Sie glaubte, noch genug Raum zu haben, um rechtzeitig wieder auf die linke Straßenseite einzuscheren, und riss das Lenkrad herum. 

Der Wagen schleuderte, die Reifen griffen auf der nassen Fahrbahn nicht mehr. Obwohl sie verzweifelt versuchte, das Fahrzeug wieder unter Kontrolle zu bringen, schlitterte es mit durchdrehenden Rändern quer über die Fahrbahn. Tessa hörte sich schreien. Dann zersprang alles um sie herum in fliegende Splitter – das Schreien des Kindes, das Quietschen der Bremsen, das Prasseln des Regens – und vor ihr bäumte sich die Straßenhecke auf, eine grün-braune Mauer, die die Windschutzscheibe verdunkelte. 

Der Graben und die Hecke bremsten den Wagen ab. Tessa wurde gegen das Lenkrad geschleudert, dann gegen die Rückenlehne, dann noch einmal gegen das Lenkrad. 

Es war, als wäre eine Welle über ihr zusammengeschlagen. Sie sah nur noch gebrochenes Licht und blitzende Scherben. 

Dann versank sie in den Tiefen, in Dunkelheit und Kälte. Und alles war still. 

Der Anruf bei Tessa Nicolson hatte Rebecca erleichtert. Sie hatte für den gerechten Ausgleich gesorgt. Jetzt wusste auch Miss Nicolson, wie man sich fühlte, wenn man betrogen wurde. 

In den folgenden Tagen umkreisten sie und Milo einander vorsichtig. Die Verletzungen waren tief und schmerzhaft, und es war, als schleppten sie sich mühsam mit ihren offenen Wunden durchs Haus. Wenn sie in der Nacht erwachte, war sie sicher, dass sie ihn verlieren würde. Alle ihre Ängste flammten auf, sobald er das Haus verließ. Sie fürchtete, er werde nicht zurückkommen. 

Am Donnerstag, als Rebecca gegen Abend den Tisch deckte, läutete das Telefon. 

Sie ging hin. »Ja? Hier Rebecca Rycroft.« 

»Mrs. Rycroft –«, eine Jungmädchenstimme, »Sie kennen mich nicht. Mein Name ist Frederica Nicolson.« 

Rebecca erstarrte zu Eis.  

»Ich habe Mr. Rycrofts Telefonnummer im Adressbuch meiner Schwester gefunden«, fuhr Frederica Nicolson fort. »Ich wollte auf jeden Fall alle Freunde von Tessa benachrichtigen. Ich hoffe, Sie fühlen sich nicht belästigt, aber meine Schwester hatte einen Unfall, und ich wollte Ihnen Bescheid geben.« 

»Einen Unfall?« 

»Ja, einen Autounfall.« 

»Oh. Das tut mir leid«, sagte sie förmlich. 

»Es war vor drei Tagen. Der Wagen ist ins Schleudern geraten und in einen Graben gestürzt. Es heißt, dass die Straße sehr nass war.«  

»Vor drei Tagen?« Rebecca versuchte nachzurechnen und schaffte es nicht. 

»Ja, am Montagnachmittag. Tessa ist schwer verletzt. Sie liegt im Radcliffe-Krankenhaus. Es darf niemand zu ihr. Nur ich.« 

Die Folge kurzer Sätze brach ab. Sie schwiegen beide. Tessa Nicolson – ein Autounfall – das Radcliffe-Krankenhaus. Rebecca hatte Mühe, es aufzunehmen.  

Dann sagte Frederica Nicolson: »Das Baby ist tot. Angelo ist gestorben. Deswegen rufe ich an. Für den Fall, dass Mr. Rycroft zur Beerdigung kommen möchte. Tessa ist zu krank, aber ich dachte, ihre Freunde –« 

Wieder erstarb die Stimme. 

»Das Baby ist tot?«, fragte Rebecca. 

»Ja. Er wurde aus dem Wagen geschleudert. Sie sagen, dass er sofort tot gewesen sein muss.« 

In dem langen Schweigen, das folgte, konnte Rebecca die zitternden Atemstöße hören. Dann sagte Tessa Nicolsons Schwester schnell: »Es tut mir leid, ich muss Schluss machen. Ich gebe Ihnen wegen der Beerdigung Bescheid.« Damit legte sie auf. 

Das Schrecklichste in der langen Kette schrecklicher Ereignisse war es, die Babysachen zusammenpacken zu müssen. In Tessas Wohnung hockte Freddie auf dem Boden im Schlafzimmer und faltete Jäckchen und Hemdchen, Häubchen und Schühchen, um sie in den Koffer zu legen, den Ray ihr gegeben hatte. Er hatte sich erboten, den Koffer bei sich aufzubewahren, und später, wenn … 

Später, wenn. Wenn Tessa wieder gesund war. Wenn sie Angelos Sachen sehen wollte. Falls sie es je ertragen könnte, sie noch einmal zu sehen. Ray hatte auch angeboten, den Koffer für sie zu packen, aber das hatte Freddie nicht gewollt. Sie wollte das selbst für ihn tun, für Angelo, der an ihre Brust geschmiegt eingeschlafen war und einmal offenbar ihre Wange mit der mütterlichen Brust verwechselt und so heftig gesaugt hatte, dass er einen kleinen roten Fleck, wie ein Kuss, hinterlassen hatte. 

Sie faltete das letzte Nachthemd und legte es in den Koffer. Sie zog die Knie bis zum Kinn hoch und wischte sich die Tränen mit den Daumen vom Gesicht. Dann klappte sie den Koffer zu. 

Tessas Bett war von Vorhängen umgeben. Dahinter hörte Freddie das Gemurmel der Besucher anderer Patienten und das Scheppern eines Teewagens. Tessa hatte bei dem Unfall mehrere Brüche an Bein, Arm und Schlüsselbein und drei angebrochene Rippen davongetragen, außerdem eine Gehirnerschütterung, weil der Anprall sie durch die Windschutzscheibe geschleudert hatte. Die Schwestern hatten ihr vorn das Haar abgeschnitten, und um den Kopf trug sie einen Verband, der den tiefen Schnitt von den Scherben der zerbrochenen Windschutzscheibe bedeckte. Ihre Augenhöhlen waren von Blutergüssen tiefdunkel wie Feuerstein. 

Die ersten zwei Tage, solange Tessa noch ohne Bewusstsein war, saß Freddie an ihrem Bett und flehte sie an, am Leben zu bleiben. Du darfst nicht sterben, du darfst mich nicht allein lassen, das lasse ich nicht zu. Als am Ende der Besuchszeit die Schwester kam und ihr sagte, dass es Zeit sei zu gehen, hätte Freddie sie am liebsten angeschrien. Sie hatte Angst, Tessa könnte in der Nacht einfach fortgehen. 

Am dritten Tag öffnete Tessa die Augen und dämmerte in einem Zustand zwischen Wachen und Schlafen vor sich hin. Manchmal fragte sie nach Angelo, dann drückte Freddie ihre Hand und sagte leise: »Schon gut, schlaf weiter.« Und Tessa schloss die Augen und trieb wieder davon. Es war, dachte Freddie, als segelte sie ein Boot, das versuchte, in den Hafen einzulaufen, aber es nie ganz schaffte. 

Es kam der Nachmittag, an dem eine Schwester Freddie beiseite nahm, bevor sie ins Zimmer ging, und ihr mitteilte, dass sie Tessa von Angelos Tod unterrichtet hatten. »Das arme kleine Ding«, fügte die Schwester hinzu, und Freddie wusste nicht, ob sie Tessa meinte oder Angelo. An diesem Nachmittag weinte Tessa keine Träne, sagte kein Wort. Bei Freddies nächstem Besuch weinte und weinte sie, bis eine Schwester kam und ihr eine Spritze gab. Am Tag danach lag sie apathisch in ihrem Bett, das Gesicht so weiß wie der Kissenbezug, während die Blutergüsse um ihre Augen sich langsam scharlachrot und gelblich färbten. Sie stellte Fragen. Auf jede Antwort folgte langes Schweigen, während Tessa zu begreifen versuchte, was Freddie ihr gesagt hatte. Manchmal fragte sie zweimal dasselbe. 

Die Beerdigung fand neun Tage nach dem Unfall in der Christ Church in Highbury statt. Vor der Feier versammelten sich die Trauergäste vor der Kirche. Neben Tessas Kolleginnen aus der Modewelt, alle in schicken schwarzen Kostümen und Schleierhüten, kamen Geschäftsleute aus Soho, Angehörige der italienischen Gemeinde, die dort Delikatessenläden und Eisdielen betrieben, Musiker, Maler und Schriftsteller und Tessas Society-Freunde aus Mayfair und Belgravia. So viele Menschen. Freddie schüttelte Hände, sagte Guten Morgen und danke, dass Sie gekommen sind. Und sie merkte sich jeden; sie hatte ein gutes Gedächtnis. 

Eine große dunkelhaarige Frau stellte sich ihr als Rebecca Rycroft vor.  

»Mein Mann ist leider verhindert«, sagte sie. »Es geht ihm nicht gut. Er bittet Sie, ihn zu entschuldigen, und lässt Ihnen sagen, dass er mit Ihnen fühlt. Ich bin hergekommen –«, sie schien nach den richtigen Worten zu suchen, »um ihn zu vertreten. Ich hoffe, es ist Ihnen recht.« 

»Das ist sehr freundlich von Ihnen«, sagte Freddie. »Ich danke Ihnen. Tessa wird sicher berührt sein.« 

Was eine Lüge war: Tessa würde nicht berührt sein, weil Tessa überhaupt nichts mehr berührte. Tessa lag in ihrem Krankenhausbett, sprach kaum, tat, was ihr gesagt wurde. Tessa war nur noch ein trauriger Schatten ihrer selbst, eine Frau, die ein wenig aussah wie die frühere Tessa, aber eine ganz andere geworden war. 

Mrs. Rycroft erkundigte sich nach Tessa, und Freddie wiederholte, was sie an diesem Morgen schon so oft gesagt hatte. 

»Die Ärzte sagen, dass es ihr langsam besser geht.« 

»Sie bemerkten am Telefon, dass Ihre Schwester im Radcliffe-Krankenhaus liegt. Aber ich dachte, sie lebt in London.« 

»Der Unfall war auf der Straße nach Oxford«, erklärte Freddie. »Das Radcliffe war das nächstgelegene Krankenhaus. Ich weiß nicht, warum Tessa nach Oxford fahren wollte. Vielleicht wollte sie mich besuchen, aber sie hatte mir nichts davon gesagt, und montags besucht sie mich eigentlich nie. Aber so ist sie. Sehr spontan.« 

»Kann sie sich denn nicht erinnern?« 

»Nein, an gar nichts. Sie hat eine Kopfverletzung. Und es spielt ja auch keine Rolle, warum sie nun gerade dort war. Vielleicht ist es gut, dass sie sich an nichts erinnern kann.«  

Der Gedanke, Tessa könnte sich an ihre letzte Fahrt mit Angelo erinnern, war grauenvoll. 

Mrs. Rycroft schien erregt. Sie ruderte mit den Händen, als wollte sie Wörter aus der kalten Luft greifen. Schließlich sagte sie: »Kann ich irgendetwas tun?« 

»Nein, danke, wirklich nicht. Nach der Beerdigung haben wir ein kleines Mittagessen in Tessas Wohnung geplant. Sie sind herzlich willkommen.« 

»Nein, vielen Dank, das ist nett von Ihnen, aber ich kann leider nicht.« Mrs. Rycroft drückte die Lippen zusammen. »Das arme kleine Kind. Es tut mir so unendlich leid.« Dann wandte sie sich ab, und verschwand in ihrem schwarzen Mantel unter den Trauergästen. 

Langsam gingen sie in die Kirche hinein: Max, Paddy Collison, Antonio, Julian Lawrence. Tessas französischer Liebhaber André war am Abend zuvor aus Paris gekommen. So viele Männer, dachte Freddie. Und wer von euch ist Angelos Vater? 

Wenn du verheiratet bist, schwor sie sich im Stillen, als sie an Rays Arm die Kirche betrat, werde ich deiner Frau alles erzählen. Wenn dir dein Ruf wichtig ist, werde ich ihn vernichten. Wenn heute noch andere zu dir aufschauen, werde ich dafür sorgen, dass sie es bald nicht mehr tun. Blind vor Zorn stolperte sie und wäre gefallen, hätte Ray sie nicht gehalten.