12

 

Maddalena Zanetti saß auf einem Sofa im salotto, dem Salon des Herrenhauses, Olivia neben ihr, während Faustina es sich in einem Sessel bequem gemacht hatte. Guido ging mit seiner kleinen Tochter auf den Schultern im Zimmer auf und ab. Jedes Mal, wenn er unter einem Kronleuchter hindurchging, streckte Luciella die Arme in die Höhe und versuchte, ihn zu berühren. Dann stieß er einen lauten Warnruf aus, und Luciella kreischte vor Vergnügen. 

»Sie ist schon ganz überdreht, amore«, sagte Maddalena. »Sie wird ihr Abendbrot nicht essen.« 

Guido schwang seine Tochter lachend von den Schultern zu Boden. Tessa setzte sich auf den Teppich neben Luciella und ließ sich von ihr ihr Puppengeschirr zeigen, die winzigen Tassen, Untertassen und Teller aus feinem Porzellan mit einem Blütenmuster, während hinter ihnen ein Gespräch stattfand. Tessa hatte den Eindruck, dass zwischen Guido und seiner Frau Spannungen bestanden, dass da ein Missklang war, der sich bei ihm in Widerspruch auf ihre Worte äußerte und bei ihr in Schweigen auf seine. Die gespannte Atmosphäre war ihr schon früher aufgefallen, als die Familie kurz nach der Ankunft von Guido, Maddalena, dem Kind und der Kinderfrau zu Mittag gegessen hatte. Ja, sagte Maddalena, ihren Eltern gehe es gut. Ja, in der Stadt sei das Leben schwierig im Moment, bei der Lebensmittelknappheit und all diesen Problemen, aber sie hoffe, es werde bald wieder besser werden. Guido lachte nur kurz und geringschätzig und Olivia, bemüht, keine Missstimmung aufkommen zu lassen, sagte, sie werde ihnen selbstverständlich Vorräte für Florenz mitgeben. 

Man hatte Guido Mitte des Jahres nach Italien zurückgeschickt, nachdem er in Nordafrika verwundet worden war. Olivia und Faustina hatten ihn mehrmals besucht, zuerst im Militärkrankenhaus, später, nach seiner Entlassung, in Florenz. Jetzt hatte er noch zwei Wochen Urlaub, bevor er sich wieder zum Dienst melden musste. 

»Es ist wunderbar, dass du hier bist, Guido«, sagte Olivia. 

Faustina, die immer gern stichelte, bemerkte: »Ich glaube, Guido kann es kaum erwarten, wieder an die Front zu kommen. Er möchte lieber ein Held sein.« 

»Ein Held ganz bestimmt nicht«, entgegnete Guido scharf und mit einem ärgerlichen Blick zu Faustina. »Aber ganz sicher auch keiner, der sich in der Etappe verkriecht wie eine Maus im Mauseloch.« 

Faustina drehte eine Haarsträhne um ihren Finger. »Tja, Langeweile war schon immer das Schlimmste für dich, Guido.« 

»Stimmt. Lieber Gefahr als Langeweile.« 

»Wir andere müssen sie auch aushalten.« Faustina beugte sich vor, um einen Keks von der Platte zu nehmen. »Besonders wir Frauen. Das Meiste von dem, was wir Frauen tun müssen, ist ungeheuer langweilig.« 

»Im Übrigen ist es keine Frage der Langeweile. Es ist eine Frage der Ehre 

»Guido«, sagte Maddalena leise, »nicht jetzt.« 

Guido ergriff einen kleinen silbernen Löffel und legte ihn wieder hin. »Ich möchte zurück nach Nordafrika.« Seine Stimme klang angespannt. »Maddalena will das nicht.« 

»Ist das so unverständlich?« Maddalenas Augen blitzten plötzlich. »Warum sollte ich wünschen, dass du an die Front geschickt wirst? Damit du dann womöglich nicht wiederkommst? Was würde das Luciella oder mir helfen, Guido?« 

»Ich lasse mich nicht gern manipulieren. Ich lasse mir nicht gern –« 

»Guido«, sagte Tessa gedämpft. 

Maddalena stand auf. »Was ist dir wichtiger, Guido? Deine Frau und dein Kind – oder deine Ehre 

»Das ist unfair«, entgegnete Guido kalt. »Und das weißt du genau.« 

»Bitte entschuldige mich, Olivia.« Maddalenas Stimme zitterte. »Luciella muss jetzt essen. Und ich habe Kopfschmerzen.« Sie nahm das Kind auf den Arm und ging. 

»Die Hitze …«, murmelte Olivia. 

Lange blieb es still. Dann sagte Guido: »Tut mir leid, Mutter«, stand auf und verließ ebenfalls das Zimmer. 

Die erste Septemberwoche war beinahe um, und es hatte einen Monat lang keinen Tropfen geregnet. Staubige weiße Straßen wanden sich ausgedörrte Hänge hinauf, die Sonne stand wie eine flache blasse Scheibe am metallisch blauen Himmel, und im Herrenhaus hingen die Vorhänge schlaff in der schwülen Luft. Durch die Schlitze in den Fensterläden fiel das Licht in grellen Streifen auf den Fußboden. 

Tessa hatte an diesem Abend das Gefühl, ein Unheil liege in der Luft. Maddalena hatte bleich und zornig ihr Kind, die Kinderfrau und das Gepäck im Wagen verstaut und war abgefahren, zum Landhaus ihrer Eltern bei Impruneta. Guido war nicht aus dem Haus gekommen, um sie zu verabschieden. 

Nach dem Abendessen hörte die Familie die Nachrichten, die eine Niederlage der Achsenmächte in Nordafrika, bei Alam Halfa, meldeten. Ein vorübergehender Rückschlag, behauptete der Nachrichtensprecher, aber nachdem Olivia das Radio ausgeschaltet hatte, saßen sie reglos in der stickigen Hitze und wussten kaum etwas zu sprechen. 

Nachts konnte Tessa nicht schlafen. Irgendwann in den frühen Morgenstunden zog sie eine lange Hose und eine ärmellose Bluse an und ging nach unten. In der Küche ließ sie sich ein Glas Wasser einlaufen, hielt die Hände unter den Hahn und spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht und in die Haare. Die Marmorböden waren angenehm kühl unter ihren bloßen Füßen, als sie im Dunkeln durch Zimmer und Flure ging. Ein Licht zog sie zum Innenhof. 

Guido saß auf einer Steinbank zwischen den Terrakottatöpfen. Unter den Bögen der Loggia brannte von staubigen, kupferfarbenen Faltern umflattert eine Öllampe. Tessa sagte leise seinen Namen. 

Er drehte sich um. »Tessa«, sagte er. »Kannst du auch nicht schlafen?« 

»Es ist zu heiß.« Sie stellte das Glas Wasser ab und setzte sich neben ihn auf die Bank. »Bei solchem Wetter hat man immer das Gefühl, es braut sich etwas zusammen.« 

»Es gibt bald ein Gewitter«, sagte er. »Schau.« 

Als sie zu dem Stück Himmel über ihnen hinaufblickte, sah sie, dass die Sterne jetzt von Wolken verdeckt waren. 

»Ich war spazieren«, sagte Guido. »Um einen klaren Kopf zu bekommen.« 

»Wie geht es deinem Bein?« 

»Gut. Es tut noch ein bisschen weh, aber die Ärzte meinten, Bewegung sei das Beste.« Er rollte das rechte Hosenbein hoch. Seine Wade war ein Flickwerk blasser und roter wulstiger Narben. 

Tessa dachte daran, wie er im Becken im Park der Villa Millefiore geschwommen war, wie gern sie dem geschmeidigen Spiel seiner vollkommen geformten Glieder zugesehen hatte und wie das Wasser von der gebräunten Haut abgeperlt war, wenn er aus dem Becken stieg. 

»Armer Guido«, sagte sie. 

»Ich habe Glück gehabt. Ich hätte das Bein auch verlieren können.« 

»Das waren sicher entsetzliche Schmerzen.« 

»Höllisch, aber dann habe ich Morphium bekommen.« Er lachte plötzlich. »Ein reizendes Paar sind wir – beide gerade noch einmal davongekommen.«  

Er strich ihr den Pony aus dem Gesicht und berührte leicht die Narbe, die sich über ihre Stirn zog. Sie musste die Zähne zusammenbeißen, um nicht zurückzuzucken. 

»Du bist so schön, wie du immer warst«, erklärte er liebevoll. »Lass dir von niemandem etwas anderes einreden.« 

Sie schüttelte den Kopf, ohne ihn anzusehen. 

»Wo bist du noch verletzt worden, Tessa, außer an der Stirn?« 

»Bein, Arm … Schlüsselbein.« 

»Und auch hier, glaube ich.« Er legte die Hand auf seine Brust, an die Stelle, wo sein Herz schlug. 

Tessa sagte: »Du hättest Maddalena nicht allein wegfahren lassen sollen. Du hättest mit ihr fahren müssen.« 

»Vielleicht.« 

»Nicht vielleicht. Auf jeden Fall. Sie hat Angst um dich. Kannst du ihr das übel nehmen?« 

»Tessa, halte dich aus Dingen heraus, von denen du nichts weißt.« Sein Ton war abweisend. 

»Ich denke, dass Maddalena dich liebt und sich um dich sorgt.« 

Er stand auf und entfernte sich ein paar Schritte, bevor er stehen blieb und zum Himmel hinaufschaute. »Die Wolken werden dichter.« Sie spürte, dass er versuchte, seinen Ärger zu bezwingen. »Man sehnt den Regen richtig herbei, nicht?« 

Ein leichter Wind bewegte die Blätter des Oleanders und der Zitronenbäume. 

Tessa warf das Haar zurück und genoss den kühlen Luftzug auf den bloßen Armen und im Gesicht. »Ich kann nie genug Sonne bekommen«, sagte sie. »Ich habe zu lange in England gelebt.« 

Guido nahm sein Zigarettenetui aus der Jackentasche und hielt es ihr hin. Tessa hörte, wie er sein Feuerzeug anknipste, und sah die Flamme aufleuchten. Das Laub raschelte, als der stärker werdende Wind wirbelnd in den Hof einfiel. 

Er setzte sich wieder zu ihr. »Es war nicht das erste Mal, dass Maddalena und ich gestritten haben. Im Gegenteil –«, er lachte unfroh, »es wird langsam zur Gewohnheit.« 

»Das kommt daher, dass ihr so lange getrennt wart. Und weil es dir nicht gut gegangen ist. Das muss beängstigend für sie gewesen sein. Und Angst kann Menschen wütend machen.« 

Guido starrte grübelnd vor sich hin. »Wir streiten immer um dasselbe. Maddalenas Vater ist ein sehr wohlhabender Mann. Er musste niemals arbeiten, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Er gehört zu den Menschen, die immer die richtigen Leute kennen und immer das Richtige sagen. Ich verachte ihn.« 

»Du musst ihn doch schon gekannt haben, als du Maddalena geheiratet hast.« 

»Ja, sicher.« Er wedelte ärgerlich mit der Hand. »Damals glaubte ich, es wäre nicht wichtig. Ich dachte, uns beträfe das nicht.« 

»Aber jetzt betrifft es euch doch?« 

»Ein Wort zu ihm, und ich kann in irgendein Bergnest in den Alpen versetzt werden, wo ich schlimmstenfalls mal einem Bauern auf die Füße treten müsste, der seine Verbrauchssteuern nicht bezahlt.« 

»Und Maddalena hätte es gern so?« 

»Ja. Aber ich kann das nicht, Tessa. Ich könnte nicht mit mir selbst leben. Meine Ehre –« Guido lachte säuerlich. »Schön affig muss ich mich heute Nachmittag angehört haben. Die Männer, die diesen Krieg angezettelt haben und ihn weiter schüren, besitzen keinen Funken Ehre. Gott weiß, was passiert, wenn wir in der Wüste noch eine Niederlage einstecken müssen. Irgendwann wird Deutschland keine Truppen mehr dorthin schicken können. Die Deutschen kämpfen ohnehin schon an zu vielen Fronten zugleich, und im Augenblick brauchen sie jeden Mann, den sie haben, in Russland.« Er schwieg einen Moment, dann sagte er: »Immer kündigt ein kalter Wind einen Wetterumschwung an. Ich spüre, wie es umschlägt. Die Briten wissen, dass die Amerikaner im Hintergrund warten. Das ist ein Riesenarsenal an Menschen, Flugzeugen, Panzern und Geschützen. Wenn die Alliierten Nordafrika erobern, was wird dann wohl passieren?« 

Tessa stellte sich die Karte des Mittelmeers vor, die Inselkette zwischen der nordafrikanischen Küste und der Stiefelspitze Italiens. 

»Du glaubst, sie werden hierherkommen?« 

»Ja.« 

»Und Maddalena?« 

»Sie war politisch nie besonders interessiert. Ich war auch nicht anders, als ich noch jünger war. Jetzt empfinde ich es als Heuchelei zu behaupten, man habe an Politik kein Interesse.« Er lächelte ironisch. »Ich habe mich mit meiner Frau wegen eines Krieges zerstritten, an den ich nie geglaubt habe. Kein Wunder, dass sie wütend auf mich ist. Aber verstehst du, meine Männer sind noch da draußen in der Wüste. Sie nehmen Strapazen auf sich, die mein Schwiegervater und Leute seines Schlags sich nicht einmal vorstellen können. Und ich schulde es ihnen zurückzukommen.« Er schnippte Asche auf das Pflaster. »Vor Maddalenas Abfahrt haben wir uns noch einmal gestritten. Sie sagte zu mir –« Mit einem Kopfschütteln brach er ab. 

»Was, Guido?« 

Er hob ein Blatt auf, das der Wind auf die Pflastersteine geweht hatte, und zerdrückte es in seiner Hand. »Sie sagte, wenn ich schon nicht ihr zuliebe in Italien bleiben wolle, könnte ich es dann nicht wenigstens für Luciella tun.« 

»Ach Gott.« 

»Ich versuchte, ihr zu erklären, dass ich das, was ich tue, gerade für sie und Luciella tue. Was wäre ich denn für ein Vater – was für ein Ehemann –, wenn ich allem, woran ich glaube, den Rücken kehrte? Treue, Vertrauen – wenn ich das verriete?« Er wartete, dass Tessa etwas sagen würde; als sie schwieg, fügte er bitter hinzu: »Du bist eine Frau. Wahrscheinlich bist du auf Maddalenas Seite.« 

»Ja, das stimmt. Aber ich bin auch auf deiner Seite, Guido.« Sie zog die Brauen zusammen. »Ich dachte immer, ich lebte nach meinen eigenen Grundsätzen. Ich war ziemlich stolz auf sie. Meine Regeln waren nicht die anderer Leute, aber das spielte für mich keine Rolle.« 

»Und heute?« 

»Meine Grundsätze hätten mich beinahe vernichtet. Ich weiß nicht, ob ich mir aus solchen Regeln noch viel mache.« 

»Aber du hast dich doch gar nicht so sehr verändert, Tessa. Sicher, du bist ruhiger – auch trauriger. Aber eigentlich bist du fast unverändert.« 

Sie drückte ihre Zigarette in einem Blumentopf aus. »Vielleicht hätte ich nach England zurückgehen sollen.« 

»Vielleicht gehörst du hierher.« 

»Vielleicht.« Sie zuckte die Achseln. »Ich weiß jetzt besser, was Treue ist. Es hat lange gedauert, bis ich begriffen habe, aber jetzt ist es mir klar. Ich war der festen Meinung, wenn es in einer Liebesbeziehung nicht mehr stimmt, sollte man sie einfach hinter sich lassen und sich neuen Dingen zuwenden. Keinesfalls sollte man sich binden. Das hat meine Kindheit mich gelehrt, und danach habe ich gelebt. Ich glaubte, ich wäre mir selbst treu, ich wäre meinen Grundsätzen treu.« 

»Und dann?« Als sie nicht antwortete, fügte er hinzu: »Es gibt doch ein ›und dann‹?« 

»Irgendwann bin ich einem Mann begegnet, dem ich nicht einfach den Rücken kehren konnte.« Sie zog die Knie an und schlang die Arme um ihre Beine. »Er war intelligent, gut aussehend und hatte eine Menge Charme. Und er war verheiratet. Ich kannte viele Männer, die intelligent, gut aussehend und charmant waren, und viele von ihnen waren verheiratet. Ich redete mir immer ein, das wäre kein Problem, ich wollte sie ja ihren Ehefrauen nicht wegnehmen. Was wir uns doch alles vormachen, wenn wir uns verlieben. Vielleicht waren nur der Mond und die winterliche Stimmung schuld. Manchmal hatten diese stillen englischen Landschaften einen Zauber.« 

»Was ist passiert?« 

»Nichts Gutes«, sagte sie traurig. 

Ein zuckender Blitz erleuchtete den Hof mit lavendelblauem Licht. »Hoffentlich schüttet es richtig«, sagte Guido mit einem Blick nach oben. »Wir könnten einen kräftigen Guss gebrauchen.« 

»Aber keinen Hagel. Stefano hat Angst um seine Trauben.« 

»Du bist ja eine richtige Landfrau geworden, Tessa. Das hätte ich mir wirklich nie träumen lassen.« Milder Spott lag in seiner Stimme. Dann seufzte er und sagte: »Wer weiß, warum wir uns verlieben. Der Mond und die Winterstimmung sind ein ebenso guter Grund wie alles andere. Ich kann mir vorstellen, was du denkst – Maddalena und ich, Freunde seit Kindertagen, wohlhabende Familie. Du musst glauben, wir hätten aus Vernunftgründen geheiratet, um es unseren Familien recht zu machen.« 

»Nein, Guido.« Ihr Ton war liebevoll. »Ich kenne dich. Du hättest immer nur aus Liebe geheiratet.« 

In der Ferne polterte es, als rückte jemand Möbel in einem leeren Zimmer herum. Sie schwiegen beide und dachten an das, was sie verloren hatten und was hätte sein können.  

»Wenn Mussolini abgesetzt würde«, sagte Guido nach einer Weile, »würde das Maddalenas Familie schaden. Sie sind treue Patrioten. Du sagst, du weißt, was Treue heißt, Tessa, dann sag mir, was ich tun soll. Soll ich hier bei meiner Familie bleiben, damit ich sie schützen kann, wenn sich hier die Dinge gegen sie wenden, oder soll ich in die Wüste zu meinen Männern zurückkehren?« 

Sie betrachtete sein Profil, das die Schatten der Nacht strenger wirken ließen. »Ich kann es dir nicht sagen, Guido. Das musst du selbst entscheiden.« 

Wieder ein Donnerschlag, näher jetzt, schnell gefolgt von mehreren Blitzen. 

»Als Freddie mich besucht hat«, sagte Tessa, »sind wir zur Villa Millefiore hinausgefahren. Der Park ist jetzt ganz verwildert. Aber er war immer noch schön.« 

Er warf ihr einen amüsierten Blick zu. »Ich erinnere mich an den Nachmittag, als du mich herausgefordert hast, in Kleidern ins Becken zu springen.« 

»Du warst immer so eitel, Guido. Ich konnte nicht widerstehen.« 

»Damals haben wir uns das erste Mal geküsst.« 

Die nassen Kleider, die Würze der Lorbeers und das Sonnenlicht, das sich funkelnd über ihnen brach. Und die Hitze, wie heute, und sein Körper dicht an ihrem. Eine heftige Sehnsucht nach der Vergangenheit, nach sorglosen Zeiten überfiel sie. 

Guido sagte leise: »Ich bereue es, dass ich dir nicht nach London gefolgt bin. Ich hätte es tun sollen. Ich hätte eine Möglichkeit finden sollen.« 

»Es hätte nicht funktioniert.« Sie sagte es ohne Schmerz und Sentimentalität. 

»Wir hätten dafür sorgen können, dass es funktioniert.« 

Wenn sie ihn jetzt berührte, was würde dann geschehen? Aber sie tat es nicht. Stattdessen stand sie auf und sagte trocken: »Guido, ich war die Tochter der Geliebten deines Vaters. Wie hätte das gehen sollen? Du und ich, wir lebten in zwei verschiedenen Welten. Nein.« Ein Blitz zerriss den Himmel, und die ersten Regentropfen fielen. »Und außerdem«, fügte sie hinzu, »passten wir nicht zueinander.« 

»Wie kannst du das sagen?« 

»Weil es wahr ist. Wir sind beide zu eigensinnig. Wenn du schon mit Maddalena streitest, wie viel mehr hättest du mit mir gestritten?« 

»Du warst doch früher nie zynisch, Tessa.« 

»Ich bin nicht zynisch. Aber ich kenne mich, und ich bin nicht für die Ehe geschaffen. War es nie.« 

»Woher willst du das wissen, wenn du es nie versucht hast?« 

»Ich liebe meine Freiheit zu sehr. Ich kann keine Kompromisse schließen – ich habe es nie getan. Und in einer Ehe muss man ständig Kompromisse schließen, sonst klappt es nicht.« 

Regentropfen prasselten hörbar aufs Pflaster. Tessa hob den Kopf und sog in tiefen Zügen die frischere Luft ein, die nach Zitrone duftete. Der Staub und die Hitze wurden jetzt fortgespült. 

»Für mich wäre es nicht das Richtige gewesen«, sagte sie leise. »Ich weiß nicht viel, aber das weiß ich.« 

»Und was willst du mit deinem Leben anfangen, Tessa? Der Krieg hört irgendwann einmal auf. Was dann?« 

Wieder zuckte sie die Achseln. »Wozu darüber nachdenken? Das hat doch jetzt keinen Sinn.« 

»Mutter hat mir erzählt, dass du in der Schule unterrichtest.« 

»Ja. Und wirklich gern.« 

»Willst du dann dein Leben damit zubringen, dich um die Kinder anderer Frauen zu kümmern, ohne je eigene zu haben?« 

Die Pflanzen in ihren Töpfen bogen sich im stürmischen Wind. »Tessa?«, fragte er. 

Der Regen fiel dichter; er schlug ihr ins Gesicht. »Ich war vielleicht nie verheiratet, Guido«, sagte sie. »Das heißt nicht, dass ich nie ein Kind hatte.« 

Im Tosen des nahenden Gewitters hörte sie seine Schritte nicht, als er zu ihr kam. 

»Tessa? Ich verstehe nicht.« 

»Man kann auch ein Kind bekommen, wenn man nicht verheiratet ist.« Ihr Ton war kühl und distanziert, beinahe herausfordernd, und sie sah den Schock in seinem Blick. »Du weißt nichts von mir, Guido. Ich habe es dir gesagt – ich habe mich verändert. Alles, was du von mir vermutet hast, war falsch. Deine Erinnerungen bedeuten nichts mehr, gar nichts.« 

Sie stand auf und trat unter die schützenden Arkaden der Loggia. Dann blickte sie zu ihm zurück. »Aber eines weiß ich«, sagte sie heftig. »Du musst auf dein Kind aufpassen. Behüte deine Luciella, Guido. Lass nicht zu, dass ihr etwas Schlimmes passiert. Alles andere ist unwichtig. Vollkommen unwichtig.« 

Als die Pollens bei Kriegsausbruch vom Mayfield-Hof nach Cornwall umgezogen waren, hatten sie den Brennofen zurückgelassen, den John Pollen gebaut hatte, außerdem Reste des bunten Glases, mit dem Romaine gearbeitet hatte. Das Glas war in Scherben und Bruchstücken, nach Farben in alte Oxo-Brühwürfeldosen sortiert. Das durchscheinende Material mit seiner natürlichen Leuchtkraft lockte Rebecca, und manchmal ging sie in den Raum mit dem Brennofen, nahm aus einer der Dosen eine Scherbe und hielt sie ans Fenster, um das Licht hindurchströmen zu lassen. 

Eines Tages versuchte sie, verschiedene Bruchstücke zu einem Bild zusammenzufügen. Sie setzte sich an die Werkbank, auf der John Pollen seine Gefäße geformt hatte, und schob die einzelnen Teile vorsichtig, um sich nicht in die Finger zu schneiden, auf der Platte hin und her. Am Abend suchte sie in der Werkstatt nach dem Blei, mit dem Romaine Pollen die Glasteile miteinander verbunden hatte. Sie fand nur noch wenige Reste – entweder hatte Romaine vor der Abreise ihren Vorrat auslaufen lassen oder sie hatte das Blei, das zweifellos teuer war, mitgenommen. Rebecca kam der Gedanke, dass sie ihr Glasbild vielleicht auch ohne Blei in John Pollens Brennofen herstellen könnte, und eines Abends heizte sie den Ofen. Am nächsten Tag, als das Glas abgekühlt war, nahm sie es heraus: Die einzelnen Teile waren miteinander verschmolzen, die Farben ineinandergelaufen. 

Es war ein harter Herbst. Der Mayfield-Hof stand ungeschützt von Regen und Wind auf seinem Hügelrücken. Vom Ärmelkanal fegten Regenstürme das Weald herauf und verwandelten den Lehmboden in klebrigen Morast. Trotzdem mussten die Felder gepflügt und das Saatgut gesät werden. Bei besonders schlimmem Wetter packte sich Rebecca in mehrere Pullover, dicken Schal, Handschuhe, Mütze und dicken Mantel ein und stapfte mit zwei Paar Socken und alten Wanderstiefeln an den Füßen aufs Feld. Mit David Mickleboroughs Flinte lernte sie, die Krähen zu schießen, die es auf die Samen abgesehen hatten, und erlegte Kaninchen für den Braten. Den Sieg der Alliierten bei El Alamein in Nordafrika Anfang November feierte sie zusammen mit den Mickleboroughs und den Landhelferinnen mit selbst gemachtem Apfelmost. 

Den ganzen Winter hindurch experimentierte sie mit dem Glas. Manchmal verbanden sich die einzelnen Teile auch unter größter Hitze nicht, während sie zu anderen Zeiten zwar verschmolzen, aber beim Abkühlen sprangen. Wenn sie nach einem Brennvorgang den Ofen öffnete, nahm sie das Stück, das sie gefertigt hatte, immer mit höchster Spannung heraus. Glas war, wie sie entdeckte, ein Material, das auch einmal Fehler verzieh. Misslungene Stücke konnten neu eingeschmolzen und das Material wieder verwendet werden. Selbst ein nicht wiedergutzumachender Fehler konnte neue Überlegungen anstoßen, den Weg in eine andere Richtung weisen. 

Die Wochenenden verbrachte sie abwechselnd mit Meriel bei ihrer Mutter in Abingdon. Das Haus erschien ihr immer zugig und ungemütlich. Dort spürte sie die Kälte, auf dem Hof fast nie. Über Jahrhunderte hatten die soliden Mauern von Mayfield sie abgehalten; Hatherden erschien ihr im Vergleich billig zusammengeschustert, sein Inventar, einzig mit Blick auf Haltbarkeit und Preisgünstigkeit gekauft, schäbig und abgenutzt. Das, erinnerte sie sich, hatte zu den Dingen gehört, die ihr bei Milo sofort gefallen hatten: Für ihn war es selbstverständlich gewesen, dass einem das eigene Aussehen und die eigene Umgebung wichtig waren. Für sie war es eine Offenbarung gewesen, die Tür zu einer anderen Welt, in der Genuss nicht immer mit schlechtem Gewissen einherging.  

Doch in diesem grimmigen Winter des vierten Kriegsjahres wurden die alten Gewohnheiten aus der Kindheit, das Knausern und das Zurückstecken, lebenswichtig. Es fiel ihr leicht, sie wieder aufzunehmen, ihr Brot bis auf den kleinsten Krümel aufzuessen, den letzten Tropfen Eiweiß mit der Fingerspitze aus der Schale zu holen, um nichts zu verschwenden. Wenn sie manchmal an die achtzehn Jahre ihrer Ehe mit Milo dachte, schnurrten sie zusammen. Sie waren ein Teil ihres Lebens gewesen, bunt und aufregend, voller Leidenschaft und Qual, aber eben nur ein Teil, dem nicht, wie sie einmal gefürchtet hatte, zwangsläufig eine farblose und eintönige Zukunft folgen musste. 

›Es hat mich so gefreut, von deinem Ausflug in den Burren zu lesen‹, schrieb sie Connor Byrne. ›Und wie schön, dass Brendan mit dabei war. Das muss ja eine einzigartig wilde und beeindruckende Landschaft sein. Die würde ich eines Tages auch gern einmal erleben, wenn der Krieg vorbei ist. Ich stelle sie mir als Wohnsitz der alten Götter vor, Urwesen aus Stein, Wind und See. Ich kann euch beide sehen, wie ihr den Strand entlanglauft und nach Muscheln und vom Wasser abgeschliffenem Glas sucht.‹ 

Seinem Brief hatte Connor ein Foto von sich und Brendan im Burren beigelegt. Brendan war ein hübscher Junge, aber Rebeccas Blick flog immer wieder zum Bild des Vaters. Connor, in Schal und Mantel, lächelte, der Wind riss an seinem wilden dunklen Haar, und hinter ihm brandete die See an die Felsen. 

Das Licht der Wintersonne fiel leuchtend durch das Glas, das Rebecca am Morgen aus dem Brennofen geholt hatte. In einer Farbkomposition aus annähernd dreieckigen Elementen in Grün, Bronze und Gold waren Tal, Wald und Hügel des Weald zu reiner Form reduziert. Das Glas fing das Licht ein und gefror es. Ich könnte es mit Sand schmirgeln wie das Glas, das man an der See findet, dachte sie in plötzlicher Erregung. Ich könnte es so bearbeiten, dass es flüssig wie Wasser erscheint. Ich könnte ihm Formen und Bewegung geben, so lebendig wie Connors Steingötter. 

»Ich warne euch, es ist mit Roter Bete gemacht«, sagte Meriel, als sie die Puddingform mit dem Dessert auf den Küchentisch ihrer Mutter stellte. »Ziemlich merkwürdige Vorstellung, ein Nachtisch aus Roter Bete, ich weiß, aber im Rezept stand, dass er sehr gut schmeckt.« 

Es waren Osterferien, und die meisten Westdown-Schülerinnen waren für vier Wochen nach Hause gefahren. Obwohl es eigentlich Rebeccas Wochenende in Hatherden war, hatte Meriel am Morgen angerufen und gefragt, ob sie zum Mittagessen kommen könne. 

Sie aßen im hinteren Zimmer mit Blick in den Garten. Es lag nach Süden und hatte große Fenster und war daher der wärmste Raum in Hatherden. Während Rebecca den Hackbraten und die Karotten servierte, erzählte Meriel von ihrem letzten Besuch bei ihrer Freundin Monica in Cleethorpes. 

»Monica war ganz außer sich, weil eine der anderen Frauen von den WVS, ihr wisst schon, die Wohlfahrtsorganisation, so gemein zu ihr gewesen ist.« Eine lange, komplizierte Geschichte folgte, in der es um den Dienstplan der WVS ging, um die Unterstellung, dass Monica sich gedrückt habe, um Monicas kranke Katze, die doch zum Tierarzt hatte gebracht werden müssen, um die Bosheit von Leuten, die hinter anderer Leute Rücken tratschten. 

Beim Nachtisch schleppte sich das Gespräch nur noch mühsam dahin. Mrs. Fainlight sah müde aus, und Meriel schien mit ihrem Gedanken woanders zu sein – ob bei dem Rote-Bete-Dessert, das recht seltsam schmeckte, oder bei etwas anderem, konnte Rebecca nicht sagen, sie vermutete aber das Letztere.  

Nach dem Mittagessen ging Mrs. Fainlight in ihr Zimmer hinauf, um sich hinzulegen, und Meriel half Rebecca, den Tisch abzuräumen. In der Küche füllte Rebecca das Spülbecken mit Wasser und nahm den Abwasch in Angriff. 

Meriel kramte in ihrer Handtasche nach Zigaretten und Streichhölzern. »Ich bin hergekommen, weil ich unbedingt mit dir reden muss«, sagte sie plötzlich. »Es ist etwas Schreckliches passiert.« 

»Was denn?« 

»Deborah.« Meriel schien nicht weitersprechen zu können. Sie steckte sich eine Zigarette zwischen die Lippen und riss ein Streichholz an. 

Rebecca schrubbte einen geronnenen Fettfleck von einem Teller. »Die Frau von Dr. Hughes?« 

Meriel nickte. »Sie ist tot.« 

»Tot?« Rebecca starrte ihre Schwester an. 

»Ja. Ich habe es gestern Nachmittag erfahren. Milly Fawkes hat es mir erzählt.« Milly Fawkes war eine Kollegin von Meriel in Westdown. »Anscheinend war Deborah bei ihrer Cousine in Worthing zu Besuch und ist bei einem Bombenangriff auf die Stadt umgekommen.« 

»Um Gottes willen, Meriel, das ist ja furchtbar.« 

»Deborah und ihre Cousine sollen sofort tot gewesen sein. Ich weiß, dass Deborah sich immer geweigert hat, in den Luftschutzkeller zu gehen, das hat Dr. Hughes mir erzählt, und ich vermute, ihre Cousine wollte sie nicht allein lassen.« 

Rebecca setzte das Teewasser auf. 

»Der arme Dr. Hughes.« 

»Er tut mir entsetzlich leid. Sie waren zwanzig Jahre verheiratet.« Meriel begann, die Gläser abzutrocknen und in den Schrank zu stellen. »Ich weiß, man soll über die Toten nichts Schlechtes sagen, aber Deborah konnte sehr schwierig sein.« 

»War sie nicht immer kränklich?« 

Meriel nickte. »Deswegen ist sie nach Worthing gefahren. Wegen der Seeluft.« 

»Hast du schon mit Dr. Hughes gesprochen?« 

»Ich habe ihn gestern Abend angerufen, aber er erwartete einen Anruf von Deborahs Mutter, da hatte ich nur Zeit, ihm zu kondolieren.« 

»Was machte er dir für einen Eindruck?« 

»Er war fassungslos, der Arme. Was meinst du –«, Meriel rauchte mit großer Konzentration, »soll ich ihm anbieten, ihm beim Durchsehen ihrer Sachen zu helfen? Es ist ja scheußlich, wenn ein Mann so etwas allein machen muss, und Deborah hatte keine Geschwister, und ihre Mutter ist sehr alt und gebrechlich. Ich möchte mich natürlich auf keinen Fall aufdrängen, und vielleicht bietet sich auch jemand anders an, aber …« 

»Ich finde, es wäre sehr nett von dir«, sagte Rebecca mit Entschiedenheit. 

»Ich kannte Deborah ja nur flüchtig, und ich muss zugeben, dass sie mir nicht sympathisch war, trotzdem – was für ein schreckliches Schicksal. Da fährt sie ein paar Tage weg, um sich zu erholen, und dann … Ich wollte vor Mama nichts sagen, weil ich Angst hatte, ich würde die Fassung verlieren. Ganz ehrlich, es nimmt mich ziemlich mit, weil es ihn so mitnimmt. Deborah war so schwierig und anspruchsvoll, da fällt es mir schwer, etwas zu empfinden, aber ich empfinde mit ihm.« Meriel sah ihre Schwester an. »Findest du das schlimm von mir?« 

»Überhaupt nicht.« Rebecca tätschelte Meriel tröstend die Schulter. 

»Ich finde es absolut verständlich.« 

Zwischen Rugby und Coventry hielt der Zug mit quietschenden Bremsen an. Freddie saß in einem Abteil mit einem schlafenden Soldaten und einem Mann mit Hahnentrittjackett und Filzhut. Als sie am Bahnhof Euston eingestiegen war, hatte sie dieses Abteil gewählt, weil noch zwei Frauen mittleren Alters darin saßen. In Westdown hatte Miss Fainlight ihren Schülerinnen eingebläut, bei Zugfahrten stets die Gesellschaft anderer Frauen zu suchen, und Freddie hielt sich heute noch an diesen Rat. Aber die beiden Frauen waren in Rugby ausgestiegen, und jetzt hielt ihr der Mann im Hahnentritt eine zerknitterte Papiertüte hin und sagte: »Was Süßes, Miss?« 

»Nein, danke«, entgegnete sie. 

»Ihr jungen Damen denkt doch immer nur an die Figur.« Sie wusste, was als Nächstes kommen würde, und es kam. »Aber Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen, wenn ich so frei sein darf, das zu sagen.« 

Wahrscheinlich hätte sie jetzt albern lächeln und danke sagen müssen, dachte sie. Stattdessen sah sie zum Fenster hinaus, wo ein brauner, vom Regen angeschwollener Fluss sich zwischen Feldern und Schilf hindurchwand. Sie hoffte inständig, der Zug würde endlich weiterfahren. 

»Darf ich fragen, wohin die Reise geht, Miss?« 

»Birmingham«, sagte sie. 

»Na so was, da will ich auch hin. Sie hören sich nicht an, als kämen Sie aus der Gegend, wenn ich das sagen darf. Zigarettchen?« Eine Zigarettenpackung wurde ihr angeboten, eine Hand streifte wie zufällig ihr Knie. 

Ihr Buch war in ihrer Reisetasche im Gepäcknetz. Sie überlegte, ob sie es herunterholen und sich dahinter verstecken sollte, hatte aber wenig Lust sich hochzurecken: Wahrscheinlich würde er versuchen, ihr unter den Rock zu schauen. 

»Nein, danke«, sagte sie. 

»Gehen Sie gern ins Kino?« 

»Manchmal. Mit meinem Freund.« 

»Ich wette, eine junge Dame wie Sie hat jede Menge Freunde.« 

»Genug«, sagte sie kalt. 

Der Zug erzitterte, fuhr mit einem Ruck an und kroch vorwärts, um nach wenigen Metern erneut anzuhalten. »Entschuldigen Sie«, sagte Freddie und verließ das Abteil. 

Sie ging durch den Korridor von einem Wagen zum nächsten. Wenn sie sich Zeit ließ, würde der Hahnentritt-Mann vielleicht einschlafen, so wie der Soldat. Sie war müde und hätte selbst nichts gegen ein Nickerchen gehabt. Mit einem unterdrückten Gähnen passierte sie den schwankenden Tunnel aus Gummi und Metall zwischen zwei Waggons. 

Als sie im nächsten Wagen ohne sonderliches Interesse durch ein Abteilfenster blickte, sah sie in der Ecke einen Mann in Marineuniform sitzen, der vor sich hin döste: Lewis Coryton. 

Sie zog die Tür auf. 

Das Abteil war leer bis auf Lewis. Sie dachte, er würde sie vielleicht nicht erkennen, aber er zwinkerte einmal und lächelte dann verschlafen. 

»So eine Überraschung, Freddie Nicolson.« 

»Hallo, Lewis.« Sie trat ins Abteil. 

Er stand auf und gab ihr die Hand. 

»Sie haben keine Ahnung, wie froh ich bin, Sie zu sehen«, sagte sie. 

»Ich freue mich auch, Sie zu sehen. Die Fahrt ist verdammt langweilig. Ich frage mich langsam, ob dieses Ding sich je wieder in Bewegung setzen wird. Sind Sie gerade erst eingestiegen?« 

»Nein, schon am Bahnhof Euston. Ich bin vor einem Mann in meinem Abteil ausgerissen, der mich mit Zigaretten und Süßigkeiten in Versuchung führen will – Zigarettchen und Süßes, wie er sagt.« 

»Dann setzen Sie sich doch zu mir ins Abteil.« 

»Gern. Ich gehe nur meine Sachen holen.« 

Lewis erbot sich, sie zu begleiten. Der Mann im Hahnentritt sah sie beleidigt an, als Lewis ihre Reisetasche herunterholte, während sie an der offenen Tür stehen blieb. Auf dem Rückweg in sein Abteil sahen sie sich an und fingen an zu lachen. 

»Der Kerl war ein Knietätschler«, sagte Freddie, als Lewis die Abteiltür hinter sich schloss. »Wahrscheinlich auch ein Pokneifer.« 

Lewis nahm eine silberne Taschenflasche aus seiner Tasche und bot sie ihr an. 

»Was ist da drin?« 

»Rum. Wie es sich für einen Seemann gehört. Trinken Sie, das macht warm.« 

Freddie nahm einen Schluck aus der Flasche. Der Rum floss angenehm feurig durch ihre Kehle. »Wie geht es Ihnen, Lewis? Sind Sie auf Urlaub?« 

»Ich bin auf der Rückfahrt zu meinem Schiff. Ich hatte gerade zwei Wochen – phantastisch.« 

»Was geht es Clare?« 

Er machte ein finsteres Gesicht. »Wir haben vor zwei Monaten Schluss gemacht.« 

»Oh, das tut mir leid.« 

Er trank aus der Flasche. »Zuerst war ich ziemlich durcheinander, aber jetzt geht’s mir wieder gut. Ihre Eltern waren sowieso nie mit mir einverstanden. Clare hat eine Herzgeschichte, wussten Sie das, und steht ziemlich unter ihrer Fuchtel.« 

»Eine Herzgeschichte?« 

»Herzgeräusche. Sie neigt zu Ohnmachten. Sie ist ihr einziges Kind, und sie machen sich immer große Sorgen um ihre Gesundheit. Natürlich wollen sie das Beste für sie. Und ich war das nicht.« Er trank noch einen Schluck aus der Flasche, dann schraubte er sie wieder zu und steckte sie ein. »Sie hat jetzt einen anderen, irgend so einen Kerl, mit dem ihre Eltern sie schon immer verkuppeln wollten.« 

»Ach Lewis.« 

»Dass ich manchmal monatelang auf See war, hat natürlich auch nicht gerade geholfen.« Er zuckte mit den Schultern. »Andere Mütter haben auch schöne Töchter.« 

»Geht es Ihnen wirklich gut?« 

»Wirklich, ja. Und Sie, Freddie? Was machen Sie?« 

»Ich lebe jetzt in Birmingham.« 

»Gefällt es Ihnen?« 

»O ja. Ich habe ein paar gute Freunde gefunden, und man kann eine Menge unternehmen. Ich hatte London, ehrlich gesagt, ziemlich satt. Ich arbeite jetzt in einer Fabrik.« 

»Tatsächlich?« Seine Augen blitzten. »Und es geht gut?« 

»Ja, ganz gut. Ich bin jetzt eine staatlich geprüfte Mechanikerhelferin.« 

»Bravo. Und Sie finden es nicht – na ja, für eine Frau ist das doch schwere Arbeit.« 

»Ja, das stimmt«, bestätigte sie. »Am Anfang fand ich es wahnsinnig anstrengend. Aber ich habe mich daran gewöhnt. Es ist unglaublich laut – sie lassen die ganze Zeit das Radio laufen – ›Musik bei der Arbeit‹ –, aber man hört fast nichts wegen der vielen Maschinen. Und mein Monteuranzug glitzert von dem ganzen Metallstaub. Schauen Sie.« Sie zeigte ihre Hände, die dunklen Ränder unter den Fingernägeln. »Der Staub setzt sich unter die Nägel, und ich bekomme ihn nicht mehr raus, obwohl ich ewig geschrubbt habe. Wegen Rays Hochzeit.« 

»Ray Leavington hat wieder geheiratet?« 

»Ja, gestern. In aller Stille, wie es immer in den Zeitungen heißt. Deshalb war ich in London. Max sagt, es sei der Triumph des Optimismus über den Realismus.« 

»War es nett?« 

»Sehr. Beinahe wie in alten Zeiten.« 

»An dem Abend im Dorchester – ich dachte, zwischen Ihnen und Jack wäre vielleicht etwas im Gange.« 

»Zwischen mir und Jack?« Freddie lachte. »Du meine Güte, nein. Jack und ich streiten immer bloß. Ich habe ihn sowieso seit Jahren nicht gesehen.« 

»Ich glaube, er ist im Ausland. Alles streng geheim, hat mir irgendjemand erzählt.« 

Streng geheim und zweifellos gefährlich. Durch die beschlagene Scheibe konnte sie nur eine verschwommene Landschaft erkennen, als sie zum Fenster hinausschaute. 

»Ich wollte, der Zug würde endlich weiterfahren«, sagte sie. 

»Haben Sie noch etwas vor?« 

»Nein, eigentlich nicht, nur das Übliche, waschen, bügeln, ein paar Briefe schreiben.« 

Lewis zog das Fenster herunter und streckte den Kopf hinaus. »Da rührt sich gar nichts, soweit ich sehen kann. Ein paar Männer stehen herum und quatschen, das ist alles. Vielleicht hat die Lokomotive den Geist aufgegeben.« 

»Genau das ist es«, sagte sie gereizt. »Alles ist so unzuverlässig 

»Tja, zu viel Ersatz und Flickwerk.« 

»Ich muss immer ordentlich planen. Ich mag es, wenn alles funktioniert.«  

»Überraschungen mögen Sie dann wohl nicht, hm?« 

»Jedenfalls keine, bei denen man stundenlang irgendwo in der Wildnis festsitzt. Aber egal, erzählen Sie mir lieber von sich. Fahren Sie mit Ihrem Schiff immer noch auf dem Atlantik herum?« 

Er bejahte nur kurz, und sie merkte, dass er nicht darüber sprechen wollte. Sie suchte nach einem anderen Thema, als er unvermittelt sagte: »Ich bin jetzt auf einem Zerstörer. Es ist ein bisschen angenehmer, man fühlt sich nicht so ausgeliefert wie auf einer Korvette. Aber es kann trotzdem die Hölle sein, wenn auch meistens auf andere Art, als die Leute im Allgemeinen annehmen. Ich meine, für mich ist es nicht unbedingt das Schlimmste, wenn etwas im Gange ist, etwa wenn wir unter Beschuss sind oder so, obwohl das natürlich auch furchtbar sein kann. Aber da hat man wenigstens etwas zu tun und kommt nicht zum Nachdenken. Für mich ist es das Schlimmste, wenn ich nachts Wache schieben muss. Man kommt sich vor, als wäre man der einzige Mensch, der auf der Welt noch übrig ist. Alles ist Grau in Grau, und man sieht um sich herum meilenweit nichts als leere graue See. Ich werde dann immer – ich weiß auch nicht, hoffnungslos. Als gäbe es nichts anderes und würde auch nie etwas anderes geben.« 

»Oh, Lewis«, sagte sie sanft. 

»Entschuldigen Sie.« Er lächelte sie an. »Einen schönen Mist rede ich da. Als ich noch mit Clare zusammen war, habe ich versucht, an sie zu denken, wenn ich einen Moralischen bekam. Was ich ihr schreiben würde und so.« – »Sie können mir schreiben, wenn Sie wollen. Ich weiß, es ist nicht das Gleiche, aber wenn es Sie ein bisschen ablenken würde … Und ich schreibe gern Briefe.« 

»Sie würden mir schreiben? Das wäre großartig. Wirklich nett von Ihnen, Freddie.« Seine Stimmung hatte sich aufgehellt, aber unversehens verdüsterte sich sein Gesicht wieder. »Ich habe Angst, dass ich den Schneid verliere. Ich sehe doch die Kameraden, wie sie im Pub sitzen und sich volllaufen lassen, bevor sie wieder auf ihr Schiff gehen. So möchte ich nicht enden.«  

Sie dachte an den Rum und wie er die Augen geschlossen hatte, bevor er den Kopf in den Nacken gelegt und getrunken hatte. Sie nahm Bleistift und Notizbuch aus ihrer Handtasche und schrieb ihre Adresse auf. 

»Hier«, sagte sie und riss die Seite heraus, um sie ihm zu geben. »Schreiben Sie mir, wenn Ihnen danach ist. Schreiben Sie, was Sie wollen, ganz gleich. Ich freue mich immer, wenn ich einen Brief bekomme.« 

Lewis steckte den Zettel ein. »Schreiben Sie vielen Leuten?« 

»Max und Julian natürlich und ein paar Frauen, die ich durch meine Arbeit in London kenne.« Sie machte eine kleine Pause, bevor sie hinzufügte: »Und manchmal schreibe ich Briefe an meine Schwester Tessa, aber ich habe keine Ahnung, ob sie sie bekommt.« 

»Wo steckt sie denn?« 

»In Italien. Als ich das letzte Mal von ihr hörte, war sie bei Freunden auf einem Landsitz in der Nähe von Florenz untergekommen.« Freddie runzelte die Stirn. »Ich merke richtig, wie ich jetzt anfange zu hoffen, und das ist beinahe schlimmer. Ich ertappe mich immer wieder dabei, dass ich denke, dieser Krieg wird vielleicht eines Tages vorbei sein. Vorher habe ich daran fast nie gedacht, weil es immer aussah, als würde er nie enden.« 

»Wenn die Achte Armee in Tunesien siegt – und es ist fast zu erwarten –, muss Rommel kapitulieren. Dann haben wir ganz Nordafrika und können anfangen, über Europa nachzudenken. Sie glauben, Italien wird als Nächstes an der Reihe sein?« 

Freddie wischte mit der Hand ein Stück Fensterscheibe klar. »Es sieht langsam danach aus, nicht wahr?« Sie sah ihn an und lächelte. »Möchten Sie ein Stück Torte, Lewis? Rays Frau, Susan, hat mir etwas von der Hochzeitstorte mitgegeben.« 

Sie aßen den Kuchen im immer noch stehenden Zug, während der Himmel draußen sich tiefblau verdunkelte. Lewis zog die Jalousie ein Stück herunter, und sie überlegten, ob sie einfach aussteigen und über die Felder marschieren sollten – die Vorstellung reizte beide. »Aber sobald wir loslaufen«, wandte Lewis ein, »wird der verdammte Zug sich aufrappeln, darauf können Sie sich verlassen.« Dann erörterten sie die Möglichkeit, dass sie die ganze Nacht im Zug verbringen müssten – Lewis hatte gehört, dass ein Zug bei einem Schneesturm einmal eine volle Woche lang in Cumbria festgesessen hatte. Und während sie mit ihm sprach, beobachtete, wie leicht er lächelte und wie seine Augen aufblitzten, wenn sie etwas sagte, was ihn amüsierte, fand sie die Reise gar nicht mehr langweilig, hätte nicht einmal etwas dagegen gehabt, wenn der Zug noch Stunden geblieben wäre, wo er war, in der sich verdunkelnden Flussebene.  

Aber ganz plötzlich ging ein gewaltiger Ruck durch die Lokomotive, und sie fuhren wieder. Bald fielen Freddie, die einen langen Tag hinter sich hatte, vom eintönigen Rattern der Räder die Augen zu. Als sie kurz vor Birmingham erwachte, saß Lewis neben ihr, und ihr Kopf ruhte an seiner Schulter. 

»Sie sahen aus, als könnten Sie ein Kopfkissen gebrauchen«, sagte er. 

»Danke.«  

Als sie im Bahnhof New Street einfuhren, stand sie leicht benommen auf. Er holte ihre Tasche aus dem Gepäcknetz, während sie die Jacke zuknöpfte. 

Er öffnete ihr die Zugtür. »Ich schreibe Ihnen«, sagte sie. 

Sie gaben sich die Hand. Freddie kletterte zum Bahnsteig hinunter und ging. Aber als sie sich der Sperre näherte, hörte sie hinter sich laute, eilige Schritte, und als sie sich umdrehte, erkannte sie Lewis, der sich durch die Menschenmenge kämpfte. 

Freddie war plötzlich in Hochstimmung. »Ihr Zug«, sagte sie. 

»Zum Teufel mit dem Zug. Ich möchte den Abend mit Ihnen verbringen. Haben Sie etwas dagegen, Freddie?« 

Sie schüttelte den Kopf. »Nicht das Geringste.« 

Sie standen einander gegenüber auf dem Bahnsteig. Seine Hand streifte die ihre. 

»Gut. Ich hatte gehofft, dass Sie das sagen würden.« Dann begann die Lokomotive zu stampfen, eine Dampfwolke stieg auf, und der Zug fuhr aus dem Bahnhof hinaus. 

Lewis sah ihm nach, bis er nur noch ein dunkler, in Dampf gehüllter Schemen war. Dann lachte er. »Der nächste kommt bestimmt.« 

Freddie bestand darauf, dass sie sich den Fahrplan ansahen, bevor sie den Bahnhof verließen. »Ich möchte nicht, dass Sie einen Monat lang Kartoffeln schälen müssen oder was sich die Marine sonst so als Strafen für Seeleute ausdenkt, die ihren Urlaub überziehen.« Der nächste Zug nach Liverpool fuhr eine Stunde später. 

Untergehakt gingen sie aus dem Bahnhof hinaus. Ein Stück die Straße hinunter gab es ein Hotel. Sie setzten sich in die Bar, einen höhlenartigen, düsteren Raum mit schmutzigweißen Wänden. Der Mahagonitresen war voller Kratzer und Schrammen, und auf dem Deckel des Klaviers an der Wand hatten unzählige Gläser ihre Spuren hinterlassen. Soldaten und Seeleute mit ihren Freundinnen, Geschäftsmänner mit Aktentaschen standen redend und lachend um die Bar herum, andere dösten an ihre Koffer gelehnt vor sich hin, rauchten oder waren, die Gläser vor sich, im Stuhl zusammengesunken 

Lewis brachte die Getränke zum Tisch. 

»Tun Sie so etwas öfter?«, fragte Freddie. 

»Züge sausen lassen? Wahrscheinlich. Tut mir leid, ich habe nicht daran gedacht, dass Sie Überraschungen nicht mögen.« 

»Manchmal mag ich sie nicht.« 

»Für mich war es jedenfalls die schönste Überraschung seit Langem, Sie in dem Zug zu sehen.« Er schaute sich um. »Ziemliche Kaschemme hier, fürchte ich. Das nächste Mal wird es nobler.« 

»Das nächste Mal?«, fragte sie. 

»Es gibt doch ein nächstes Mal, oder, Freddie?« 

»Ja, ich hoffe es«, antwortete sie, ohne zu überlegen. 

»Gut.« Er zog seine Zigaretten hervor und bot sie ihr an. »Manchmal werde ich nicht recht klug aus Ihnen«, sagte er. 

»Wie meinen Sie das?« 

»Ich dachte, Sie wären wie die anderen, aber jetzt bin ich mir da nicht mehr so sicher.« 

»Welche anderen? Marcelle und ihre Freundinnen?« 

Er nickte, während er ihr Feuer gab. 

»Ach, mit Marcelle habe ich mich verkracht.« 

»Weswegen?« 

Sie zuckte mit den Schultern. »Aus verschiedenen Gründen. Wir waren eine Zeit lang befreundet, aber das ist vorbei. Ich dachte früher immer –« 

»Was?« 

»Dass ich mich überall einfügen könnte. Als ich nach England ins Internat kam, sprach ich die ersten vierzehn Tage kaum ein Wort. Ich habe nur beobachtet und zugehört, dann wusste ich, wie ich mich zu verhalten hatte. Aber jetzt kann ich das nicht mehr – vielleicht mag ich auch einfach nicht mehr. Ich bin müde und habe keine Lust, den Leuten immer zu erzählen, was sie hören wollen.« 

Er betrachtete sie neugierig. »Dann sind Sie nicht in England geboren?« 

»Nein, in Italien. Ich war zwölf, als ich hierherkam.« Sie lächelte ein wenig. »Es war ein ziemlicher Schock. So kalt, und die anderen Mädchen erschienen mir alle so – na ja, sie waren wahrscheinlich ganz normal, aber gerade deswegen kamen sie mir ungewöhnlich vor. Sie hatten Familien mit einer Mutter und einem Vater und hatten ihr Leben lang im selben Haus gelebt, anstatt von einem Ort zum anderen zu ziehen.«  

»Ach, du Schreck!« 

»Was ist denn?« 

Er schüttelte langsam den Kopf. »Da versuche ich krampfhaft, mich vorbildlich zu benehmen und alle Skelette in meinem Schrank unter Verschluss zu halten, und dabei haben Sie wahrscheinlich die ganze Zeit gedacht, lieber Himmel, was für ein alter Langweiler, dieser Lewis.« 

Sie lachte. »Nein, überhaupt nicht. Haben Sie denn Skelette im Schrank?« 

»Ein paar. Einer meiner Onkel hat Waffen nach Irland geschmuggelt – ach ja, und einer meiner Vorfahren soll sich in Shanghai heimlich von seinem Schiff abgesetzt haben. Ich sollte da mal vorbeischauen, vielleicht habe ich Verwandte dort. Ich gehöre nicht gerade zur Creme der Gesellschaft, Freddie.« 

»Ich auch nicht.« Es freute sie, eine Verbundenheit mit ihm zu spüren. 

»Ich habe manchmal den Eindruck«, sagte er, »die anderen laufen mit einer Art Prüfliste im Kopf herum. Adlige Eltern – Häkchen; modriger Riesenschuppen in Wiltshire – Häkchen; Ahnengalerie – Häkchen. Meine Mutter ist gestorben, als ich zwei war, mein Vater hatte sich ein Jahr vorher aus dem Staub gemacht. Ich wurde von meinen drei Tanten großgezogen. Tante Florrie hatte ein Pub in Bermondsey, Tante Lol war Tänzerin und Tante Kate Lehrerin – ach, und außerdem Kommunistin und Pazifistin. Zwischen den dreien wurde ich herumgereicht – rüber zu Tante Florrie, wenn Tante Lol auf Tournee war, zurück zu Tante Kate, wenn Onkel Morton mal wieder zur Flasche griff.« 

»Wer war Ihnen die liebste?« 

»Kate. Bei ihr wusste ich immer, woran ich war. Sie hat mich zum Lesen gebracht, ist mit mir in Museen und Kunstausstellungen gegangen. Sie hat dafür gesorgt, dass ich das Stipendium bekam. Ohne sie wäre ich nichts.« 

Freddie schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht. Sie kommen mir eher ungeheuer energisch vor, Lewis.« 

»Stimmt, ich gehöre nicht zu denen, die die Dinge schleifen lassen. Wie dem auch sei, Kate starb Mitte der Dreißigerjahre – an Lungenentzündung. Ich war in der Schule, als ich es erfuhr. Das war ziemlich schlimm. Und die arme alte Florrie ist vor ein paar Jahren gestorben. Das Pub wurde von einer Bombe plattgemacht – sie war im Luftschutzbunker, aber sie hatte danach keine Lust mehr, sie hat einfach aufgegeben. Und Lol ist schon vor dem Krieg nach Amerika gegangen. Ich bekomme hin und wieder einen Brief von ihr.« Er drückte seine Zigarette aus. »Ich denke mir oft, Menschen wie Jack und Marcelle sind durch so viele Fäden kreuz und quer miteinander verknüpft. Wenn sie stolpern, ist immer ein Sicherheitsnetz da.« 

»Stört Sie das?« 

»Eigentlich nicht, nein.« Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und sah sie an. »Sehen wir doch einmal, was wir gemeinsam haben. Welches sind Ihre drei Lieblingsfilme, Freddie?« 

Sie kniff die Augen zusammen. »Casablanca … Das Haus der Lady Alquist so herrlich gruslig … ach, und Reise aus der Vergangenheit, dabei sind mir die Taschentücher ausgegangen.« 

»Nicht Vom Winde verweht? Frauen sagen immer Vom Winde verweht 

»Scarlett ist mir zu egozentrisch. Wenn ich mit ihr befreundet wäre, würde sie mir wahnsinnig auf die Nerven gehen.« 

»Und jetzt Songs.« 

»Das ist nicht fair, erst sind Sie dran, Lewis. Na schön. Also – Jealousy – ich liebe Tango. Dann Apple Blossom Time, schnulzig, ich weiß, aber ich mag es einfach. Und As Time Goes By.« 

»Wegen Casablanca.« 

»Genau.« Sie sah zum Klavier hinüber. »Schade, dass niemand spielt.« 

»Spielen Sie?« 

»Leider nicht. Und Sie?« 

Er schüttelte den Kopf. »Aber meine Tante Lol hat mir Gesangsunterricht gegeben.« Er begann, zuerst ganz leise, dann lauter die Melodie von As Time Goes By zu summen. Anfangs warfen die Leute nur schräge Blicke auf ihn und kehrten zu ihren Gesprächen zurück, dann aber stimmte mit einem hellen Sopran, der sich gut mit Lewis’ vollem Bariton ergänzte, eine der Soldatenbräute ein, und sehr schnell, so schien es Freddie, die hin und her gerissen zwischen Verlegenheit und Lachen das Ganze verfolgte, sang fast das ganze Lokal mit. Auch sie, denn es war unwiderstehlich, und er war unwiderstehlich. Als er aufstand, ihre Hand ergriff und seinen Gesang an sie richtete, theatralisch, aber auch komisch und spürbar aufrichtig, wusste sie, dass sie sich in ihn verliebt hatte und alle Vorsicht und Vernunft schon verloren waren. 

Am Ende des Lieds gab es begeisterten Applaus, und Lewis verneigte sich nach allen Seiten. Freddie musste wegschauen. Sie hatte heftiges Herzklopfen, und der Kopf schwamm ihr, als bekäme sie nicht genug Sauerstoff. 

Wacklig stand sie auf. »Wir sollten gehen.« 

Vor dem Bahnhof sagte Lewis: »Hier, nehmen Sie das für ein Taxi«, und wollte ihr einen Zehn-Schilling-Schein geben.  

Sie wehrte ab, sie könne den Bus nehmen, sagte sie. 

»Nehmen Sie das Geld, Freddie. Es ist meine Schuld, dass es so spät geworden ist. Wenn Sie es nicht nehmen, muss ich darauf bestehen, Sie nach Hause zu bringen, und dann werde ich wirklich zum Kartoffelschälen verdonnert.« Er lächelte. »Es war ein unglaublich schöner Abend. Danke.« Und mitten im Strom nächtlicher Reisender küsste er sie. Seine Lippen waren kühl, seine Hände lagen leicht auf ihrem Rücken, und da war es wieder, dieses herrliche Gefühl, in einem Taumel zu versinken.