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Sie heirateten im Februar 1945. Die Trauung fand in einer Kirche in Slough statt. Lewis sah stattlich aus in seiner Marineuniform, und Freddie trug einen veilchenblauen Mantel über einem knielangen cremefarbenen Kleid. Das Brautkleid war einmal ein Abendkleid gewesen, der Mantel hatte früher Tessa gehört. Freddie liebte seine satte Farbe und fand es nur schade, dass es noch keine Veilchen gab. Stattdessen war ihr Brautstrauß aus Schneeglöckchen. Am Hochzeitsfrühstück nahmen dreißig Gäste teil, Freunde von Lewis aus der Marine, Susan Leavington (Ray war immer noch im aktiven Dienst auf dem Kontinent), Julian, Max, Monty und Betty Douglas (sie hatten im vergangenen Herbst geheiratet) und einige Freundinnen Freddies aus Birmingham. Und Marcelle Scott, darauf hatte Lewis bestanden. Marcelle habe schließlich damals im Dezember 1940 die Clique im Dorchester zusammengebracht. Ohne Marcelle, sagte er zu Freddie, wären sie sich vielleicht nie begegnet. 

Nachmittag um drei brachen sie bei leichtem Schneetreiben in die Flitterwochen auf. Ein Freund hatte Lewis den Schlüssel zu seinem Haus in Surrey gegeben. Freddie hatte sich einen Bungalow oder vielleicht eine Doppelhaushälfte vorgestellt, aber das Haus war ein riesiges altes Gemäuer mitten in einem Park. Die Zimmer waren kalt und feucht, doch der architektonischen Schönheit des Hauses konnte die Verwahrlosung kaum etwas anhaben. Geschnitzte Baluster trugen das Geländer einer herrschaftlichen Freitreppe, die Eichenpaneele der Wandtäfelung schmückte gotisches Faltwerk. Lewis machte in der Bibliothek Feuer, und auf dem Teppich davor ausgestreckt lasen sie einander Passagen aus Büchern vor, die sie auf gut Glück aus den Regalen zogen – langweilige viktorianische Predigten und Abhandlungen über Haushaltsführung. In ihrem Schulkindergekicher löste sich die Anspannung des Tages. In dieser Nacht liebten sie sich in einem pompösen alten Himmelbett. Die Wände des Schlafzimmers waren mit aquamarinblauer Seide bespannt. Lewis’ Umarmung war zärtlich und leidenschaftlich, und hinterher schlief Freddie in seinen Armen ein. 

Waren sie an jenem Tag glücklich gewesen? Sie glaubte es, obwohl sie sich später erinnerte, dass Lewis enttäuscht gewesen war: über den mageren Urlaub von achtundvierzig Stunden, den man ihm gewährt hatte, und über das dürftige Büfett im Hotel. Und er hatte nicht gewollt, dass sie wieder arbeiten ging. Sie hatten sich deswegen vor seiner Rückkehr zum Schiff noch gestritten. Sie hatte ihm erklärt, dass es für sie schlimmer wäre, allein in irgendeiner Pension in Portsmouth oder Davenport herumzusitzen, als in die Fabrik zu gehen, und er, in seinem männlichen Stolz gekränkt, hatte ihren Wunsch nach Selbstständigkeit als einen Mangel an Vertrauen zu ihm ausgelegt.  

Mrs. Fainlight starb am 11. Mai, drei Tage nach Kriegsende. In ihrem letzten Lebensjahr hatten Rebecca und Meriel sie mit Hilfe einer Nachtpflegerin in ihrem Haus Hatherden versorgt. Dann folgte das traurige Geschäft der Haushaltsauflösung. Sie hatten beide keinen Platz für die großen, schweren Möbel, die ihre Eltern sich bei ihrer Heirat gekauft hatten. Schließlich nahm Meriel ein Teeservice, einige Bilder und einen Stuhl mit einem Gobelinsitzpolster, das ihre Mutter genäht hatte. Rebecca war mehrmals durch das Haus gegangen, um zu sehen, was sie für sich haben wollte. Aber in Wahrheit wollte sie nichts von allem behalten. Das ganze Haus war voller Erinnerungen, die sie nicht wieder aufleben lassen wollte: quälende Langweile, geistige Enge und Freudlosigkeit. Sie entschied sich am Ende für ein paar Gartengeräte und eine Ausgabe klassischer englischer Autoren, die sie als junges Mädchen gern gelesen hatte. Die Gartengeräte waren von guter Qualität, und in den letzten Jahren ihres Lebens hatte ihre Mutter gern mit ihr zusammen im Garten gearbeitet. Die Möbel überließen sie dem WVS, und das Haus wurde verkauft.  

Nach dem Tod ihrer Mutter und dem Ende des Krieges fühlte Rebecca sich rastlos. Sie beschloss, nicht auf den Mayfield-Hof zurückzukehren; der Hof war immer nur eine Übergangslösung gewesen – eine Übergangslösung, die sich sieben Jahre lang bewährt hatte –, und sie wusste, dass sie sich neu orientieren musste. Sie begann, sich nach etwas Eigenem umzusehen, aber infolge der extremen Wohnungsknappheit nach Ende des Krieges dauerte ihre Suche mehr als ein Jahr. 

Im Herbst 1946 schickte ihr ein Immobilienmakler die Unterlagen zu einem Cottage zwischen Andover und Hungerford. Nachdem sie sich die Schlüssel bei ihm abgeholt hatte, fuhr sie auf schmalen, gewundenen Landstraßen zwischen hohen Hecken durch Hampshire nach Nordwesten. Die Landschaft war eine gefällige Mischung aus Wäldern und Kreidehügeln. 

Das Cottage allerdings war wenig gefällig. Ein klobiger kleiner Kasten aus rotem Backstein, in den frühen Zwanzigerjahren erbaut, stellte es fast trotzig seine Reizlosigkeit zur Schau. Allein das Vorhandensein einer Werkstatt gleich daneben hatte Rebecca bewogen, das Anwesen überhaupt zu besichtigen. Sie war aus dem gleichen roten Backstein wie das Hauptgebäude, aber mit Wellblech gedeckt, und war vor dem Krieg eine Schmiede gewesen. 

Als sie die Tür aufschloss, flog ein junger Star heraus. Drinnen war es dämmrig und voller Gerümpel; sie hätte eine Taschenlampe mitnehmen sollen. Als ihre Augen sich an das Licht gewöhnt hatten, erkannte sie einen verzinkten Eimer, rostige Werkzeuge und, wie ein Ungetüm aus grauer Vorzeit, eine Egge. Grau verschmierte Aschereste auf den Steinplatten kennzeichneten die Stelle, wo der Amboss des Schmieds einmal gestanden hatte. Dahinter lagen Haufen durchweichter Zeitungen und faulenden Strohs, und durch Löcher im Dach fiel Tageslicht ein. Rebecca fegte eine Spinnwebe weg und wischte mit ihrem Handschuh eine schmutzige Fensterscheibe klar. Licht strömte herein. Sie wusste sofort, dass sie das perfekte Atelier für ihre Glasarbeit gefunden hatte. Aus der hinteren Wand würde ein einziges großes Fenster werden. Ihr Brennofen würde auf den Steinplatten stehen, und ihre Werkbank die ganze Länge der Seitenwand einnehmen. 

Das Cottage war während des Krieges von der Royal Air Force beschlagnahmt gewesen und zeigte noch Spuren der damaligen Besetzung – eine Gasmaske an einem Garderobenhaken, ein Feldstecher im Lederetui. Es gab eine Küche, Wohnzimmer, Esszimmer und zwei Schlafräume. Die Toilette war im Haus, Gott sei Dank, allerdings ohne Badezimmer. Hinten war ein verwilderter Garten, neben Brennnesseln und Brombeergestrüpp größtenteils ungepflegter Rasen, an den ein Buchenwald grenzte. Der nahtlose Übergang vom einen zum anderen gefiel ihr. 

Das Cottage kostete fünfhundertzwanzig Pfund. Nach dem Verkauf von Hatherden hatte Rebeccas Erbanteil rund dreihundertfünfzig Pfund betragen. Auf ihrem Konto lag immer noch ein ansehnlicher Betrag aus dem Erlös der Alten Mühle – sie hatte in den Jahren auf dem Mayfield-Hof kaum etwas verbraucht, weil sie als Gegenleistung für ihre Mitarbeit auf dem Hof dort kostenlos lebte. Sie konnte es sich also leisten, das Cottage zu kaufen, ohne sich zu verausgaben, und ersteigerte es gleich am folgenden Wochenende. Sobald die Formalitäten erledigt waren, ließ sie ihre damals eingelagerten Sachen aus der Alten Mühle in ihr neues Haus bringen. Sie war offenbar dazu verdammt, dachte sie bei der Wiederbegegnung mit Sesseln, Tischen und Sofas aus ihrer Ehe mit Milo, ihr früheres Leben niemals ganz loszuwerden. Man konnte eben der Vergangenheit nicht entfliehen. Aber sie freute sich, ihre Küchengeräte, ihre guten Töpfe, ihr Porzellan und ihre Gläser wiederzuhaben, und wenigstens brauchte sie jetzt keine Lagergebühren mehr zu bezahlen. 

An schönen Abenden beobachtete sie vom Küchenfenster aus die Kaninchen, die im Gras herumhoppelten. Manchmal flatterte mit blau blitzendem Gefieder ein Häher aus einem Baum herab. Der Postbote und die Leute im Dorf nannten das Cottage ›die Schmiede‹, und dabei blieb es. Sie richtete zuerst das Haus ein, dann nahm sie das Atelier in Angriff. Sie räumte den Müll heraus und verbrannte ihn, schleppte die rostige Egge ins hohe Gras hinaus, wo sie, fand Rebecca, fast wie eine Skulptur wirkte. Unter dem Dach hingen Vogelnester, und es gab Ratten. Sie lieh sich bei einem Bauern eine Flinte und machte kurzen Prozess mit den Ratten. In der ganzen Gegend versuchte sie Wellblech aufzutreiben, um das Dach auszubessern. Baumaterialien waren Mangelware – wie im Übrigen auch alles andere einschließlich Lebensmitteln, weswegen sie ein Gemüsebeet anlegte und die Hecken nach Beeren absuchte. Sie fand einen Schreiner, der ihr den Rahmen für das geplante große Fenster an der hinteren Werkstattwand zimmerte, und ein junger Mann aus dem Dorf half ihr beim Bau des Brennofens. Dann nahm sie ihr neues Atelier in Besitz und begann zu arbeiten. 

Nach der Entlassung aus der Marine machte sich Lewis, wie Tausende anderer entlassener Soldaten, auf Arbeitssuche. Ein Freund, der in Bristol eine Autowerkstatt hatte, bot ihm eine Stellung an, aber da Benzin immer noch streng rationiert war und neue Autos wegen Materialmangels nicht hergestellt wurden, gab es kaum Arbeit. Nach drei Monaten kündigte Lewis. Er wolle keine Almosen, sagte er zu Freddie; er wolle nicht herumsitzen und Däumchen drehen, nur weil sein Freund, der ein anständiger Kerl sei, ihm helfen wolle.  

Sie zogen nach London zurück. Sie gingen aus, amüsierten sich, tanzten auf dem Fest, das die Leavingtons zur Feier der Taufe ihres neugeborenen Sohnes veranstalteten, verbrachten einige ausgelassene Abende mit ehemaligen Marinesoldaten. Freddie schlug vor, sie sollten ein Abendessen geben – sie waren einigen Leuten Einladungen schuldig –, aber Lewis schaute sich nur kurz in der kleinen möblierten Wohnung um und sagte, nein, damit wollten sie lieber warten, bis sich die Lage gebessert habe. Freddie wollte ihm entgegnen, dass es den Leuten doch nichts ausmache, wenn sie am Tisch ein bisschen enger zusammenrücken und von unterschiedlichen Tellern essen müssten, aber dann sah sie den Ausdruck seiner Augen. Es war ein Ausdruck, den sie inzwischen gut kannte, eine Mischung aus Groll, Bitterkeit und Scham. 

Er fand eine Anstellung als reisender Vertreter von Rezeptbüchern. Das Geschäft lief hervorragend – er war attraktiv, hatte gute Manieren, die Hausfrauen, die ihm auf sein Klopfen öffneten, waren begeistert. Es gebe Nachfrage nach einem brauchbaren, modernen Rezeptbuch, erklärte er Freddie – diese Frauen, die vorher alle beim Militär oder in Fabriken gearbeitet hatten, seien jetzt zu Hause und hätten vom Kochen keine Ahnung. Doch im Lauf der Monate verflüchtigte sich sein Enthusiasmus. Die langen Abwesenheiten von zu Hause, die Nächte in trostlosen Fremdenheimen, die hastig hinuntergeschlungenen Mahlzeiten, die schlechte Bezahlung, die einsamen Abende – das alles zermürbte ihn mit der Zeit. Dann wurde ein neuer Verkaufsleiter ernannt; Lewis hatte sich um den Posten beworben, aber nicht er bekam ihn, sondern ein Freund des Chefs. Der Kerl sei ein Idiot, erklärte Lewis wütend, schicke sie nur in der Gegend herum, heute Exeter, morgen Hull, ohne Plan und Ziel. Kurz danach kündigte er. 

Sie übersiedelten nach Southampton. In einem Pub lernte Lewis eines Abends einen Mann namens Barney Gosling kennen. Barney, ein ehemaliger Soldat, fast kahl, mit nur noch etwas dünnen, grauen Flaum auf dem rosigen Schädel, war Eigentümer einer Zeitschrift für Segler und Angler, die sich ›Boating and Fishing World‹ nannte. Er war sofort angetan von Lewis und bot ihm eine Stellung bei der Zeitschrift an. Lewis sollte in der Redaktion mitarbeiten, ein paar Artikel schreiben, ein paar Fotos machen. Barney hatte noch niemanden für den Vertrieb des Hefts angeheuert, also übernahm Lewis auch diese Aufgabe. Endlich hatte er eine Arbeit gefunden, die ihm gefiel. Die Zeitschrift war bisher noch nicht recht auf die Beine gekommen, magere zweitausend Auflage, aber Lewis war zuversichtlich, dass sie sich entwickeln würde. Er begann davon zu sprechen, mit seiner Abfindung von der Marine ein Haus in Southampton anzuzahlen, und sie wurden in den Kreis von Barneys Freunden aufgenommen, den Klub der Fischer und Jäger, wie Tessa es ausgedrückt hätte, lauter Leute mit Landbesitz und einer Leidenschaft für das Leben im Freien, die sich Hundemeuten hielten und vielleicht ein, zwei Pferde. Freddie fiel auf, dass Lewis streng auswählte, wenn er in ihrem Beisein über seine Herkunft sprach. Er erwähnte seine Freunde aus Winchester, nie jedoch seine drei Tanten. Immer war er es, der die erste Runde Getränke spendierte, nie vergaß er, der Gastgeberin ein kleines Geschenk mitzubringen. Freddie gefiel seine Großzügigkeit, aber sie sorgte sich um das Geld. Wenn sie mit ihm darüber reden wollte, wehrte Lewis ab. Es sei alles in bester Ordnung, sagte er. Endlich kämen sie voran, endlich seien sie in den richtigen Kreisen angekommen. 

Sechs Monate nach ihrer Ankunft in Southampton betrank sich Barney, der sich immer gern ein Gläschen genehmigte, eines Abends bis zur Besinnungslosigkeit, ja, bis zum heulenden Elend und eröffnete Lewis dann weinerlich, dass die Zeitschrift immer nur Geld verschlungen habe und jetzt pleite sei und dass er keine Arbeit mehr für ihn habe. Die beiden Männer trennten sich mit einem Händedruck.  

Zwei Wochen später fing Lewis bei einer Versicherungsgesellschaft an. Er verdiente halb so viel wie vorher bei Barney, und wenn sie an den Wochenenden zum Strand fuhren, hörte Freddie sich seine Klagen an, während sie am Wasser auf und ab marschierten. Er fühle sich eingesperrt, sagte er. Er könne sich nicht daran gewöhnen, den ganzen Tag am Schreibtisch zu sitzen. Die Arbeit sei langweilig, immer das Gleiche, er sei weder körperlich noch geistig ausgelastet, seine Gedanken gingen ständig auf Wanderschaft. Und es waren keine schönen Gedanken, dachte Freddie. Dann hör doch auf, sagte sie, umschloss sein Gesicht mit den Händen und sah ihm in die Augen. Lass uns etwas anderes anfangen. 

In der Zeitung stand ein Bericht über die große Zahl ehemaliger Offiziere, die ins Lehrfach gewechselt hatten. Lewis konnte gar nicht verstehen, warum er daran nie gedacht hatte. Eine private Grundschule mit Internat suchte einen Lehrer für Mathematik und Physik, Lewis bewarb sich und wurde angenommen. 

In dieser ganzen Zeit, während sie, immer auf der Suche nach etwas Besserem, kreuz und quer durchs Land zogen, hatten sie in kalten, verwohnten Pensionen und möblierten Zwei-Zimmer-Wohnungen gehaust, wo man den Stromzähler mit Münzen füttern musste, oder in dunklen, feuchten kleinen Häusern, in denen es überhaupt keine Elektrizität gab. Die Schule in Leicester stellte neben dem ausgeschriebenen Posten eine Wohnung. Beim Packen war Freddie voller Optimismus. Vielleicht wendete sich jetzt das Blatt. Sie stellte sich ein schmuckes Häuschen im Grünen vor. Lewis würde das Unterrichten Spaß machen, und der Enthusiasmus, mit dem er jede halbwegs lohnende Aufgabe anpackte, würde seine Schüler mitreißen. Und vielleicht gab es dort auch Arbeit für sie, ein paar Stunden im Büro vielleicht oder als Hilfe der Hausmutter. Denn auch sie konnte sich nur schwer an ihr neues Leben gewöhnen und kämpfte mit der Langeweile, während sie versuchte, ihre einsamen Tage mit Hausarbeit zu füllen. Seit Jahren hatte sie immer irgendwo in einem Büro oder einer Fabrik gearbeitet, sie war es nicht gewöhnt, so viel allein zu sein. Und sie hasste die Auseinandersetzungen, zu denen es immer öfter kam, wenn sie Lewis sagte, dass sie gern wieder arbeiten würde. Sein kalter Zorn machte ihr, wenn sie ehrlich war, ein wenig Angst, denn er verriet eine Seite von ihm, die sie bisher nicht gekannt hatte. In letzter Zeit passierte es ganz leicht, dass ein harmloses Gespräch in Streit ausartete. Du würdest dich nicht langweilen, sagte er, wenn du ein Kind hättest. Aber so weit bin ich noch nicht, entgegnete sie. Wann dann?, fragte er. Bald, sagte sie. Es war nicht so, dass sie kein Kind wollte, aber sie wusste, sie hatte es bei Tessa und Angelo gesehen, dass Säuglinge Regelmäßigkeit und Zuverlässigkeit brauchten, während sie und Lewis bisher nur ständigen Wechsel kannten.  

Nun also die Schule. Die Ansammlung unscheinbarer Häuser lag auf dem Grund eines dunstigen Tals einige Kilometer außerhalb von Market Harborough. Ihre Unterkunft war nicht das idyllische Häuschen, das Freddie sich erhofft hatte, sondern ein kalte, enge Dachwohnung in einem der Häuser für die Schüler. Bei der Ankunft erfuhr Lewis, dass er neben Mathematik und Physik auch Sport unterrichten und die Rugby-Mannschaft trainieren musste. Ach ja, und dann komme noch etwas Religionsunterricht hinzu. 

Er hielt zwei Trimester durch. Irgendetwas vergiftete die Atmosphäre an der Schule, etwas Undefinierbares, wie der Dunst, der über den Feldern hing. Der Schulleiter und sein Stellvertreter, die beide im Ersten Weltkrieg gedient hatten, mochte keine kleinen Jungen. Der Französischlehrer mochte sie ein bisschen zu sehr und lud seine Lieblinge gern zum Tee in sein Arbeitszimmer ein, wo er hellblonde Locken zauste oder auch einmal ein Knie tätschelte. Die anderen Lehrer waren Zyniker oder Trinker oder völlig ausgebrannt. Die Schule überlebte, weil die Gebühren niedrig waren und in den meisten Fällen schon die Väter der Schüler, Berufssoldaten oder Geschäftsleute, die im Ausland tätig waren, die Schule besucht hatten. Freddie hatte den Eindruck, dass sie sich nach dem Motto verhielten, warum soll’s dir besser gehen als mir. 

Lewis fiel völlig aus dem Rahmen, weil er sich bemühte. Er stellte ein Rugby-Turnier auf die Beine und las abends sogar die Bibel, um zu wissen, wovon er redete, wenn er seine Religionsstunden hielt. Aber die graue Dumpfheit der Schule drückte ihn nieder. Er trank mehr, schlief schlecht. Er vertraute sich ihr nicht mehr an. Wenn sie versuchte, mit ihm zu reden, blaffte er sie an. Auch wenn er nicht ins heulende Elend verfiel wie der arme alte Barney, konnte sie zusehen, wie er allmählich alle Lebenslust verlor. 

Mit ihrem Hochzeitstag hatte sich ein Muster herausgebildet, das sich aus enttäuschten Erwartungen und Misserfolgen zusammensetzte. Der Unterschied zwischen ihnen war, dachte Freddie, dass sie ihre Erwartungen in Zaum hielt, sie nicht in den Himmel wachsen ließ. Nach den Jahren endlosen Hin und Hers auf dem eisigen Atlantik, nach all der Angst und dem Schrecken hätte Lewis, fand er, mehr verdient gehabt als eine Folge schlecht bezahlter, unbefriedigender Arbeitsstellen. Es tröstete ihn nicht, dass Tausende anderer ehemaliger Soldaten den gesellschaftlichen Umbruch genauso deprimierend erlebten wie er. Sie konnte verstehen, dass er damit haderte, das hätte wahrscheinlich jeder getan, aber es kränkte sie, dass sie ihn nicht trösten konnte und er sich in seiner Enttäuschung vor ihr zurückzog. Sie liebte ihn immer noch, erinnerte sich noch an den Lewis, der im Pub für sie gesungen, der sie in ihrer Hochzeitsnacht in einem aquamarinblauen Zimmer geliebt hatte, aber manchmal ertappte sie sich bei der Frage, ob dieser zornige, grollende Lewis sie noch liebte oder je geliebt hatte. 

In den Londoner Museen gab es Halsketten, die mehr als zweitausend Jahre alt waren, blaue Glasperlen im Wechsel mit Glasfischen und –fröschen und einer drallen blauen Glasfrau mit gefleckten Flügeln. Es gab eine Schale aus farbigen Glasbändern, die an die Gesteinsschichten eines Küstenfelsens erinnerten, und einen italienischen Teller mit Quadraten und Streifen wie bunte Lakritze. Und es gab Lalique-Schalen von milchiger Transparenz wie Eis, in deren Innerem das zarte geometrische Gebilde eines Löwenzahnsamens eingeschlossen war. 

Im Frühjahr 1947 reiste Rebecca an die Ostküste Schottlands, um mit einer Gruppe Glaskünstler zu arbeiten. Sie studierte die verschiedenen Techniken der Glasverschmelzung und des sogenannten Slumping, bei dem sich das flache Glas in eine Form absenkte, sie lernte das Glanzschleifen und das Sandstrahlen von Glas und wie es sich im Ofen gießen ließ. John und Romaine Pollen waren aus den USA zurück und lebten jetzt in Cornwall, in St. Ives, in der Nähe der Wainwrights, und im Sommer fuhr Rebecca sie besuchen. Sie und Romaine machten Spaziergänge auf den Klippenpfaden und sahen den Wellen zu, die sich tief unten weiß schäumend an den Felsen brachen. Bevor sie abreiste, zeigte John Pollen ihr, wie man Keramikformen herstellte, und Romaine gab ihr den Namen der Londoner Galerie, in der sie ihre Arbeiten ausstellte. 

Müssen es bei dir immer Töpfe und Pfannen sein, Rebecca, hatte Connor Byrne sie einst gefragt. Ja, im Grunde genommen war es dabei geblieben. Sie holte gern die Schönheit aus dem Alltäglichen heraus. Sie besaß kleine Metallpfannen, in denen sie früher, in der Alten Mühle, als sie die Gäste noch mit ihren Kochkünsten beeindrucken wollte, französische Crêpes gebacken hatte; jetzt benutzte sie sie als Formen, um Glasteller herzustellen. Sie kaufte in einem Geschäft für Baumaterial Fensterglas und legte dünne Bündel Kupferdraht zwischen die Glasschichten, sodass die Fäden durch die grünliche gewellte Oberfläche schimmerten. 

›Ich habe versucht, dürre Blätter zwischen durchsichtige Gläser zu legen‹, schrieb sie Connor. ›Beim Brennen ist das Pflanzenmaterial verbrannt, aber es sind Eindrücke geblieben wie Schatten von Blättern.‹ 

Connor war nach dem Ende des Krieges in Irland geblieben. Aoife ging es nicht gut, und es hatte Ärger mit Brendan gegeben, der mit einer Verwarnung durch die Polizei endete. ›Nichts Schlimmes‹, schrieb Connor, ›aber ich weiß, wie ich in dem Alter war, und wie eins zum anderen führen kann, wenn man in die falsche Gesellschaft gerät.‹ Er hatte sich darauf gefreut, sie wiederzusehen, schrieb er. Es wäre schade, dass sie sich so lange nicht gesehen hätten. 

Eines Morgens, als Rebecca im Atelier arbeitete, kam ein Brief von Meriel. Ihre Schwester teilte ihr mit, dass sie und Dr. Hughes sich verlobt hatten. 

Freddie und Lewis lebten jetzt an der Südküste, in Lymington in Hampshire am Westende der Solent-Meerenge. Ein Mann namens Jerry Colvin hatte dort auf einem alten Kai in der Nähe der Meerwasser-Bäder eine kleine Bootswerft gebaut. Nicht weit entfernt segelten und tauchten kreischende Möwenscharen, und das Watt glänzte wie Zuckerguss. Jerry war schon vor dem Krieg im Bootsbau tätig gewesen und hatte Lewis’ erste Korvette befehligt. Der Bootsbau sei eine Branche mit Zukunft, sagte Jerry. Sobald das Land wieder halbwegs auf die Beine komme, würden die Leute ihre eigenen Boote haben wollen, eine nette kleine Jolle oder eine Jacht für die lustige Seefahrt am Wochenende. Freddie mochte Jerry; er war ein ruhiger, sanfter und höflicher Mann, allerdings fielen ihr eine gewisse Reizbarkeit und die bis aufs rohe Fleisch abgekauten Fingernägel auf. 

Das, erklärte Lewis, sei endlich die Gelegenheit, auf die er gewartet habe. Praktische Arbeit liege ihm, und er habe nichts dagegen, sich die Hände schmutzig zu machen. Er und Jerry würden sich die Verkaufsarbeit teilen – Jerry hatte Kontakte. Jerry würde den Papierkram machen und sein Schiffbauer, Walter, Lewis das Handwerk lehren. Die Werft bestand aus zwei langen, einstöckigen schwarz gebeizten Holzbaracken. Die Helling zum Wasser war im größeren Gebäude, das Büro im kleineren. 

Sie kauften ein Haus. Freddie beunruhigte die finanzielle Verpflichtung, aber Lewis war nicht von seinem Vorhaben abzubringen. Jeder, der ein bisschen was auf sich hielt, kaufe statt zu mieten, sagte er; ein eigenes Haus werde ihnen Sicherheit und gesellschaftliches Ansehen geben. Er erinnerte sie daran, dass er seine Abfindung für eine Anzahlung auf die Seite gelegt hatte. 

Es war ein kleines freistehendes Haus mit rotem Dach am südlichen Rand von Lymington. Durch die oberen Fenster konnte man das Meer sehen. Freddie beobachtete gern, wie es sich je nach Sonne oder Wind veränderte, bald wie blaue Seide schimmerte, bald bleigrau unter schaumgekrönten Wellen wogte. Hier konnten sie sich niederlassen, dachte sie. Dies war ein neuer Anfang.  

Es machte sie glücklich, dass Lewis vergnügt pfeifend von der Werft nach Hause kam und sie manchmal, sobald er die Haustür geschlossen hatte, in die Arme nahm und ins Schlafzimmer hinauftrug. Oft ging sie mittags zum Bootshaus hinüber. An schönen Tagen setzten sie und Lewis sich ins Freie und blickten aufs Wasser hinaus, während sie die belegten Brote aßen, die sie mitgebracht hatte. Wenn es regnete, blieben sie im Bootshaus, wo es nach Salz und Teer roch. Manchmal, wenn Jerry unterwegs war und Walter frei hatte, liebten sie sich im Halbdunkel des Bootshauses zum Plätschern des Wassers an die Helling. Der zornige Fremde war verschwunden. Freddie verliebte sich noch einmal ganz neu in ihren Mann. 

Lewis bestand darauf, dass Freddie sich eine Hilfe für das Haus nahm, und Samstagabends gingen sie zum Essen aus oder wurden zu Partys eingeladen. Lewis mit seinem Charme und seiner Geselligkeit fand schnell Kontakt zu den Bankleuten, Rechtsanwälten und Geschäftsleuten des Orts. Seine Freunde kamen mit ihren Frauen zum Abendessen oder zu Cocktails in das kleine Haus mit dem roten Dach. Freddie fand wenig Gemeinsamkeiten mit den Ehefrauen. Sie bemühte sich, bewunderte ihre Kleider oder ihre Frisuren, fragte nach der Familie. Meistens sprachen die Frauen über ihre Kinder und ihre Gärten. Freddie hatte noch nie einen Garten gehabt und hätte nicht gewusst, was sie damit anfangen sollte. Der einzige Garten, den sie kannte, war der Park der Villa Millefiore in Fiesole, und sie bezweifelte, dass es ihr gelingen würde, ihn in seiner halb verwilderten Schönheit auf einem taschentuchgroßen Flecken Gras in Hampshire neu zu erschaffen.  

Aber nach sechs Monaten oder so war es mit dem vergnügten Pfeifen bei der Heimkehr vorbei, und Lewis wollte auch nicht mehr, dass sie zur Mittagspause ins Bootshaus kam. Er blieb abends länger auf der Werft und arbeitete auch an den Wochenenden. Freddies Haushaltsgeld wurde gekürzt – Lewis bedauerte es, ein Auftrag, auf den Jerry sich verlassen hatte, war nicht zustande gekommen, aber bestimmt würde es bald wieder aufwärts gehen. Freddie sagte ihrer Haushaltshilfe, dass sie sie nicht mehr brauchte. Sie kamen irgendwie über die Runden, aber in Freddie wuchs das Gefühl, dass sie an einem Abgrund lebten, dass, was früher fest und sicher gewesen, unter ihnen ins Schwanken geraten war. 

Als Meriel sich für die Trauung fertig machte, blieb sie mit dem Daumennagel an ihrem Strumpf hängen. »Verflixt!«, schimpfte sie. »Mein einziges gutes Paar.« 

»Nimm meinen«, sagte Rebecca. 

»Nein, nein, ich kann meine Florstrümpfe anziehen.« 

»Unsinn.« Rebecca streifte einen Strumpf ab und reichte ihn ihrer Schwester. »Nimm.« 

Sie waren in Meriels Wohnung in der Westdown-Schule. Meriel trug ein kornblumenblaues Kostüm und eine weiße Bluse, dazu einen Hut. Nachdem sie den Strumpf gewechselt hatte, musterte sie sich im Spiegel und zupfte an ihrem Rocksaum. 

»Findest du –« 

Rebecca klappte ihre Puderdose auf und puderte sich die Nase. »Was?« 

»Findest du es nicht lächerlich von mir, mit einundfünfzig noch zu heiraten?« 

»Ich finde es überhaupt nicht lächerlich. Ich finde es wunderbar.« Rebecca umarmte Meriel. »Du siehst so hübsch aus.« 

»Unsinn.« Meriels Stirnrunzeln vertiefte sich. »Und du findest nicht, dass ich David gegenüber treulos bin?« David Rutherford war der Verlobte, der an der Somme gefallen war. 

»Ich bin überzeugt, David hätte gewollt, dass du glücklich wirst.« 

Meriel kaute auf der Unterlippe. »Ich wollte, Mama könnte jetzt hier sein.« 

Rebecca klappte die Puderdose wieder zu. »Ja. Obwohl sie sich bei meiner Hochzeit schrecklich benommen hat. Weißt du noch?« 

»Ja, was sie über das Essen gesagt hat. Und wie unfreundlich sie zu Milo war. Und dir ist das alles nicht zu viel? Dieses ganze Theater. Du hast so viel Arbeit damit gehabt.« 

Rebecca hatte den Empfang vorbereitet, der in Dr. Hughes’ Haus stattfinden würde, hatte für die Lieferung der Speisen und für Personal gesorgt und die Hochzeitstorte gebacken. Aber sie spürte, dass Meriel von etwas anderem sprach. In Wirklichkeit wollte Meriel sagen, kränkt es dich, dass ich heirate, nachdem deine Ehe mit Milo in einer Scheidung geendet hat? Kränkt dich diese krasse Umkehrung der Schicksale? 

»Aber nein«, sagte sie entschieden. »Es hat mir großen Spaß gemacht.« 

Unten hupte jemand, und Rebecca ging ans Fenster. »Das Taxi.« Sie wandte sich Meriel zu. »Bist du so weit?« 

Im Wagen neben ihrer Schwester, sah Rebecca auf ihre Hände. Sie waren, wie immer, voller Schwielen und kleiner Schnittwunden. Sie hätte sich die Zeit für eine Maniküre nehmen sollen, dachte. Sie lechzte nach einer Zigarette und kam sich merkwürdig vor in Rock und Jacke statt Cordhose und Baumwollbluse. Sie hatte das kirschrote Kostüm angezogen, das sie vor dem Krieg bei Selfridges gekauft hatte. Sie hatte abgenommen seit jener Zeit und Rock und Jacke enger machen müssen. Der Wollstoff war eigentlich zu dick für einen warmen Augusttag, und sie spürte auch schon die Hitzewelle, die ihr inzwischen gut bekannt war, in sich aufsteigen. Ihre Oberlippe war schweißfeucht. Am liebsten hätte sie sich die steifen, unbequemen Kleider vom Leib gerissen. 

Sie legte Meriels Strauß auf den Sitz neben sich. »Stört es dich, wenn ich das Fenster aufmache?« 

Meriel sah aus, als wäre ihr ebenfalls heiß. »Nein, im Gegenteil, mach nur. Ich komme mir vor wie Kochpudding.« 

Rebecca kurbelte das Fenster herunter, hielt den Kopf ins Freie, und die Hitzewelle legte sich. Sie glaubte, Meriels Bedenken wegen einer Heirat mit fünfzig zu verstehen. Sie entsprangen, vermutete sie, einer Unsicherheit, wie eine Frau an diesem Punkt ihres Leben eigentlich sein sollte. Ihr selbst, neunundvierzig, geschieden und in den Wechseljahren, erschien der Grat zwischen der Versuchung, sich einfach gehen zu lassen, und dem lächerlichen Wunsch, mit aller Macht an der Jugend festzuhalten, manchmal sehr schmal. Modezeitschriften und die schicken kleinen Fähnchen in den Geschäften stießen die Frauen immerzu mit der Nase auf die selbstverständliche Schönheit der Jugend und den zu erwartenden Abstieg in beigefarbene Gediegenheit, wenn sie die vierzig und fünfzig erreichten. Man war dann angeblich nicht mehr begehrenswert und sollte selbst über jedes Begehren hinaus sein. Der Gedanke deprimierte sie, obwohl sie schon vor geraumer Zeit akzeptiert hatte, dass sie wahrscheinlich den Rest ihres Lebens allein bleiben würde. Connor war noch immer in Irland; die Gefühle, die sie ihm entgegengebracht hatte, kamen ihr jetzt ziemlich albern vor, Phantasien einer einsamen Frau, die zu viel in etwas hineingelegt hatte, das bei objektivem Hinsehen doch recht wenig gewesen war. 

Sie hatten keinen Wermut mehr, und Lewis hatte gesagt, sie müssten auf jeden Fall welchen dahaben. Freddie bildete sich ein, vor ein paar Tagen noch eine halb volle Flasche gesehen zu haben, aber offenbar hatte sie sich getäuscht. 

Sie öffnete ihre Geldbörse. Ein Schilling und eine Drei-Penny-Münze. Eine Flasche Wermut kostete ungefähr sieben Schillinge. Sie sah in ihrer Handtasche nach, fuhr mit der Hand über das Futter am Boden und fand einen Penny und einen halben. Dann suchte sie in den Taschen ihres Regenmantels und in der Schale auf dem Flurtisch, in die Lewis manchmal sein restliches Kleingeld warf. Nichts.  

Sie zog die Küchenschublade auf, in der sie das Geld für den Milchmann und den Bäcker aufbewahrte. Selbst mit den vier Sechs-Pence-Stücken dort fehlten ihr immer noch drei Schillinge. Die Canapés standen auf dem Tisch, die Gläser – gespült, getrocknet und poliert – auf dem Abtropfbrett. Freddie kaute an einem Fingernagel und überlegte. Dann ging sie ins Wohnzimmer zurück und fuhr mit der Hand in die Ritzen des Sofas, kramte aber nur ein Bonbonpapier und einen Bleistift heraus. Herumliegendes Kleingeld gab es nicht mehr, jeder Penny zählte. 

Sie konnte zur Werft gehen und Lewis fragen, ob er Geld hatte. Aber das widerstrebte ihr. Er mochte es schon lange nicht mehr, wenn er bei der Arbeit gestört wurde. Und vielleicht würde er es, wenn Jerry und Walter da waren, als beschämend empfinden, vor den beiden um Geld gebeten zu werden. Außerdem hatte er vielleicht auch nichts. Sie überlegte, ob sie den Wermut einfach weglassen sollte. Aber eine Cocktailparty ohne Wermut, der für so viele Mixgetränke gebraucht wurde? 

Sie ging nach oben, setzte sich aufs Bett und ließ die Münzen auf die Steppdecke fallen. Einen Moment starrte sie die gerahmte Fotografie auf dem Toilettentisch an, ihr Hochzeitsfoto, Lewis in seiner Marineuniform, sie in dem veilchenblauen Mantel. Dann bürstete sie sich die Haare, schminkte sich, nahm die Münzen an sich und lief nach unten.  

Draußen riss ein böiger Wind die Blätter von den Bäumen. Der Schlamm und die Salzmarsch am Wasserrand sahen immer durchnässt aus, gleich, ob die Sonne schien oder nicht. Meer und Land verschmolzen in kleinen Buchten, Mündungsarmen und Schilfgürteln miteinander. Bei Ebbe schrumpfte der Fluss zu einem schmalen Kanal zwischen Wattflächen. Sie liebte ihr kleines Haus, aber die Landschaft war ihr fremd geblieben. Das Meer nagte am Festland, drängte es zurück, fraß es auf, und an manchen Tagen war der Wind schneidend. 

Aus sie aufblickte, sah sie, dass Ebbe war. Das Licht auf dem Meer wechselte, und die Wolken warfen Schatten auf die Marschen. Das Land schien zu schwanken, zu schwinden, als wollte es sich jeden Moment in Nichts auflösen. 

An diesem Abend bemühte sie sich nicht einmal um Lewis’ Freunde. Sie reichte die Canapés herum, während Lewis Drinks einschenkte, und dachte die ganze Zeit, was für ein Schwindel das alles war, diese Vorspiegelung von Eleganz und wohlbetuchter Sorglosigkeit, während sie in den Sofaritzen nach Kleingeld suchte. Die Ehefrauen klagten über Probleme mit dem Personal, und Freddie knallte die schmutzigen Teller ins Spülbecken in der Küche und starrte zum Fenster hinaus auf die schwarzen Wolken, die über den opalisierenden Himmel zogen. 

Um halb neun brachen die Gäste auf. Auf Wiedersehen, auf Wiedersehen, vage Einladungen wurden hingeworfen, die Autos setzten sich in Bewegung. Lewis schloss die Tür, Freddie ging mit einem Tablett ins Wohnzimmer. Es hatte einmal eine Zeit gegeben, dachte sie, da hätte sie gesagt, es war nett, nicht?, selbst wenn sie es gar nicht nett gefunden hätte. An diesem Abend sagte sie nichts, während sie die Gläser einsammelte und aufs Tablett stellte. 

Lewis schenkte sich einen Whisky ein. »Du hättest dich ruhig ein bisschen mehr anstrengen können«, sagte er. 

Sie fuhr herum . »Ich habe mich sogar sehr angestrengt. Ich habe den ganzen Tag das Haus sauber gemacht und das Essen vorbereitet.« 

»Das habe ich nicht gemeint.« Er macht die fahrig ausholende Handbewegung, an der sie erkannte, dass er zu viel getrunken hatte. »Ich meinte heute Abend. Du hast ja kaum einen Ton gesagt.« 

»Ich war müde.« 

»Müde? Herrgott noch mal, Freddie, wir sind alle müde. Ich arbeite sieben Tage die Woche.« 

Sie versuchte, ihren Ärger hinunterzuschlucken. Sie setzte sich. »Ich mache mir Sorgen, Lewis.« 

»Ach was? Worüber?« 

»Vor allem über Geld.« 

»Geld.« Er lachte. »Wozu sich über Geld Sorgen machen.« 

»Ich hatte nicht genug für die Flasche Wermut. Ich musste Ronnie im Pub sagen, dass ich ihm den Rest morgen bringe.« 

»Eher am Ende des Monats. Oder am Ende des Jahres.« 

Sein leerer Blick erschreckte sie; sie konnte nicht erkennen, ob er zornig war oder sie auslachte. 

Sie entschied sich für das Lachen. »Ich finde das nicht komisch.« 

»Nein, es ist überhaupt nicht komisch.« Er hielt die Whiskyflasche hoch. »Willst du ein Glas?« 

»Nein, danke.« 

»Du musst eben auf deine Ausgaben achten«, sagte er. 

Auf deine Ausgaben achten. Sie hatte ihr Leben lang nichts anderes getan. Tochter ihrer Mutter und Tessas Schwester: Natürlich achtete sie auf die Ausgaben. 

»Du gibst mir neuerdings nicht genug Geld, Lewis. Jedenfalls nicht genug, um Leute einzuladen.« 

Plötzlich stand er vor ihr, beugte sich, eine Hand auf der Armlehne des Sessels, tief zu ihr hinunter, bis sein Gesicht nur noch wenige Zentimeter von ihrem entfernt war. »Es ist kein Geld mehr da, Freddie. Ich kann dir nichts geben. Verstehst du nicht?« 

Sie war entsetzt. »Ich meinte doch nur fünf oder zehn Schillinge«, sagte sie rasch. 

»Nein, tut mir leid, ich schaffe nicht mal fünf Schillinge.« Er trat einen Schritt zurück. »Die Werft ist pleite.« 

Jetzt brauchte sie einen Whisky. Sie stand auf, schenkte sich ein und kippte einen Schluck hinunter, bevor sie sich zu ihm herumdrehte. »Das ist nicht dein Ernst«, sagte sie. »Das ist doch nur ein Engpass. Jerry wird schon wieder Arbeit hereinholen.« 

»Ich habe Jerry seit drei Wochen nicht mehr gesehen.« 

Sie starrte ihn ungläubig an. »Was soll das heißen?« 

»Genau das. Er war vor drei Wochen das letzte Mal auf der Werft.« 

»Und wo ist er?« 

»Keine Ahnung.« 

»Aber du musst es doch wissen.« 

»Nein. Ich habe ihn nicht mehr gesehen. Kein Brief, kein Anruf.« 

»Aber zu Hause –« 

»Da ist er nicht. Das Haus ist abgesperrt, die Vorhänge sind zugezogen.« Lewis füllte sein Glas auf und legte sich auf das Sofa, den Kopf auf einem Kissen, das Glas auf seiner Brust. Er schloss die Augen. »Jerry ist abgehauen«, sagte er stockend. »Entweder das oder er hat sich umgebracht und liegt mausetot in seinem Haus.« 

»Mach nicht solche Scherze«, sagte sie scharf. 

»Das sind keine Scherze. Ich habe mir schon überlegt, ob ich bei ihm einbrechen soll.« Er öffnete die Augen und schaute auf seine Uhr. »Vielleicht erledige ich das gleich heute Abend noch.« 

»Lewis!« 

»Auch wenn er noch quicklebendig ist – ich brauche die Geschäftsbücher für die Werft. Im Büro sind praktisch keine Unterlagen. Jerry muss alles mit nach Hause genommen haben.« 

»Seit drei Wochen«, flüsterte sie tonlos. »Warum hast du nie etwas zu mir gesagt?« 

»Ich wollte dich nicht beunruhigen. Ich weiß, finanzielle Schwierigkeiten belasten dich.« 

Das stimmte. Weil sie gelernt hatte, vorsichtig mit Geld umzugehen, fürchtete sie nichts mehr als Schulden. Sie schämte sich plötzlich. War sie so starr in ihren Ansichten, war ihre Angst vor Armut so groß und ihr Mitgefühl für seine Schwierigkeiten so gering, dass er nicht gewagt hatte, sich ihr anzuvertrauen? Oder lag es an seinem Stolz? 

»Du hättest es mir sagen sollen«, beharrte sie. 

Er zuckte die Achseln. »Ich habe gehofft, irgendetwas würde auftauchen. Deswegen auch der heutige Abend. Tim Renwick redet seit Monaten davon, dass er sich eine Jacht kaufen will. Und gerade vorhin hat mir dieser verdammte Knicker eröffnet, dass er es sich anders überlegt hat.« 

Sie setzte sich auf die Sofakante und sah zu ihm hinunter. Seine Mundwinkel waren herabgezogen, die hellbraunen Augen blickten düster. »Lass mich doch etwas tun, Lewis«, sagte sie. »Lass mich dir helfen.« 

Er ergriff ihre Hand und drückte einen Kuss auf die Innenfläche. »Lächle einfach. Das ist das Beste, Schatz.« 

»Ich meinte, ich könnte mir doch eine Arbeit suchen.« 

Zornig ließ er ihre Hand fallen. »Geht das jetzt wieder los?« 

»Wir müssen praktisch denken. Halbtags, wenn du willst.« 

»Nein, Freddie.« 

»Lewis, ich möchte arbeiten. Es macht mir Spaß 

»Und was würdest du arbeiten?« 

»Irgendetwas, ganz gleich. In einem Laden oder Büro. Ich würde auch putzen gehen.« 

»Putzen?« Er kniff die Augen zusammen. »Meine Frau, die Putzfrau. Was glaubst du wohl, was die Leute sagen würden?« 

»Das ist mir gleich. Wir können nicht wählerisch sein, wir brauchen das Geld, das hast du eben selbst gesagt.« 

Er stand plötzlich auf und stieß sie dabei beinahe um. »Wir leben in einer Kleinstadt«, sagte er kalt. »Kein Mensch würde uns je wieder einladen, wenn sich herumspricht, dass ich meine Frau zum Putzen schicke.« 

»Dann lass mich dir in der Werft helfen. Wenn Jerry nicht mehr kommt, brauchst du jemanden für die Buchhaltung und den Schreibkram. Ich habe früher schon solche Arbeit gemacht, ich kann das. Und du hättest mehr Zeit, dich um neue Aufträge zu kümmern.« 

»Nein.« Lewis kippte den Rest seines Whiskys hinunter. Dann sagte er leise und wütend: »Du hast es immer noch nicht begriffen. Ich habe dich nicht geheiratet, damit du für mich oder irgendjemanden sonst das Dienstmädchen spielst. Hier ist meine Zuflucht.« Er schlug mit der Faust in seine Handfläche. »Hier ist mein Heim, wo ich den ganzen Dreck in meinem Leben hinter mir lasse. In diesem Haus, bei dir.« 

Jetzt hatte sie Angst. »Aber du bist doch nie hier, Lewis«, entgegnete sie leise. »Du bist immer weg und arbeitest. Und wenn du mal hier bist, wechselst du kaum ein Wort mit mir.« 

»Das ist Blödsinn, und das weißt du auch.« 

»Ich meine, wir reden nie mehr richtig miteinander. Du sagst mir nichts von Jerry – dass du mir so etwas verschweigst! Das war nicht recht von dir.« 

»Ich habe dir gesagt, ich wollte dich nicht beunruhigen.« Er stellte das leere Glas auf den Tisch. »Ich kriege das schon wieder hin. Aber auf meine Weise und allein.« 

Er ging in den Flur und zog seinen Mantel an. Sie folgte ihm. »Wohin willst du?« 

»Zu Jerry. Nachschauen, ob der Idiot irgendeinen Hinweis darauf hinterlassen hat, wohin er verschwunden ist.« 

Lewis eilte zur Tür hinaus. Es regnete jetzt stark, dicke Wassertropfen spritzten auf die Straße. »Lewis!«, rief sie, aber er war schon weg. Sie kehrte ins Wohnzimmer zurück, goss sich noch einen Whisky ein und kippte ihn hinunter, obwohl ihr schon übel war. 

Als sie am Morgen erwachte, war er nicht da. Aber er musste nach Hause gekommen sein; seine Seite des Betts war zerwühlt, und der Anzug, den er am Abend angehabt hatte, hing auf einem Bügel. Lewis war sehr ordentlich: Marinedrill. 

Freddie setzte sich auf. Der Kopf tat ihr weh, sie hatte einen säuerlichen Geschmack im Mund. Der Whisky musste sie eingeschläfert haben – sie trug immer noch ihre Uhr, das Armband und die Kette. Ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass es noch früh war, erst zehn vor sechs. Sie ging ins Bad und wusch sich das Gesicht mit kaltem Wasser. Der Streit fiel ihr ein, die Worte, die gefallen waren, wie zornig sie beide gewesen waren. Vor ihrer Ehe hätte sie jedem gesagt, dass sie Streitereien hasste und zu vermeiden suchte. Sie hatte sich nie als streitsüchtige Person empfunden. 

Sie schlüpfte in ihren Morgenrock und ging nach unten. Es war kalt, als hätte der Herbst über Nacht beschlossen, dem Winter Platz zu machen. Lewis war nicht da, das wusste sie, schon bevor sie in den Zimmern nachsah. Sie wusste immer, wenn er da war, genau wie sie es früher bei Tessa immer gewusst hatte, es hatte mit der starken Ausstrahlung ihrer Persönlichkeiten zu tun, mit einer Großzügigkeit, die ihr, kleingeistig und engherzig, wie sie sich fand, fremd war. 

In der Küche machte sie sich eine Tasse Tee und trank sie stehend, mit dem Rücken ans Spülbecken gelehnt. Die schmutzigen Teller und Gläser vom vergangenen Abend standen auf dem Tisch. Sie sollte Wasser einlaufen lassen, um sie zu spülen, aber sie tat es nicht. Die Werft ist pleite. Jerry ist abgehauen. Lewis hatte eine Neigung dazu, in tiefste Düsternis zu verfallen und alles schwarz zu sehen. Bestimmt war es nicht so schlimm, wie er fürchtete. Er hatte wie ein Wahnsinniger gearbeitet, um sich irgendwie allein über Wasser zu halten, kein Wunder, dass er sich solche Sorgen machte. Und sich verraten fühlte – er hatte Jerry als Freund betrachtet. 

Sie belegte ein paar Brote und packte sie in Pergamentpapier, dann ging sie nach oben und zog sich an. Der Wind hatte sich gelegt, als sie aus dem Haus trat, und die Sonne glänzte über einem glatten, schimmernden Meer. Der Himmel war ungeheuer weit und blau, und sie fasste wieder Mut. Sie würden das schaffen, dachte sie. Es würde schon besser werden. Sie liebten einander, und das war doch das Einzige, was zählte. Jetzt brauchten sie nur noch ein bisschen Glück. Sie schob den Gedanken weg, der sich aufdrängte: dass sie in den dreieinhalb Jahren ihrer Ehe immer geglaubt hatte, alles würde besser, wenn sie nur ein bisschen Glück hätten, und dass das nie geschehen war. 

Sie fuhr mit dem Rad zur Werft. Es war Flut, und das Wasser im Kanal schwappte träge an die Holzwände der Pier. Möwen schaukelten auf den grauen Wellen, und Fischerboote knarrten mit tuckerndem Motor den schmalen Wasserweg hinauf. Auf einem Holzpfosten hockte eine schwarze Katze und putzte sich. 

Freddie lehnte das Fahrrad an eine Mauer und ging ins Büro. Lewis saß am Schreibtisch, vor sich einen Wust von Papieren. Er hob den Kopf, als sie hereinkam. 

»Hier, die habe ich dir mitgebracht«, sagte sie und legte die Brote auf den Schreibtisch. »Ich wusste nicht, ob du gefrühstückt hast.« 

»Danke.« Sein Gesicht war blass und müde. Er stand auf, nahm sie in die Arme und drückte sie fest an sich. »Ach Freddie«, murmelte er und strich ihr über die Haare. Sie roch den vertrauten Duft seiner Haut, in den sich Salz- und Teergeruch der Werft mischten. 

»Ich habe keine Zigaretten mehr«, sagte er. »Hast du welche?« 

»Nein. Ich kann zum Bahnhof radeln, wenn du willst, und am Automaten welche holen.« 

»Nicht so wichtig.« Er trat einen Schritt zurück und sah sie an. »Es tut mir leid, Freddie. Es tut mir leid, dass ich gestern Abend so ekelhaft war. Ich sollte meine Wut nicht an dir auslassen. Die ganze Schweinerei ist nicht deine Schuld, sondern meine.« 

Sie streichelte liebevoll sein Gesicht. »Mir tut es auch leid, dass ich mit dir gestritten habe. Du gibst dir solche Mühe, Lewis. Du solltest dir keine Vorwürfe machen. Du hast einfach Pech gehabt.« 

Er lächelte schief. »Soll ich uns einen Kaffee machen?« 

»Bitte.« 

Er setzte das Wasser auf.  

»Warst du bei Jerry?«, fragte sie. 

»Ja.« Wieder lächelte er. »Ein sauberer kleiner Einbruch.« 

»Hast du etwas gefunden?« 

»Ja, die Geschäftsbücher, aber keine Spur von Jerry . Keine Leichen im Badezimmer, Gott sei Dank, und nicht der kleinste Hinweis darauf, wo er geblieben ist.« 

»Könnte es nicht sein, dass er –« 

»Was?«  

»Dass er unterwegs ist, um Aufträge an Land zu ziehen, und nur vergessen hat, dir Bescheid zu geben.« 

»Hm, könnte sein.« 

Er stand mit dem Rücken zu ihr und löffelte Pulverkaffee in die Becher. Sie sah an seiner Haltung, dass er selbst nicht daran glaubte. 

»Oder vielleicht ist er krank geworden«, sagte sie verzweifelt. 

Lewis trat zum Schreibtisch. »Die habe ich im Haus gefunden.« Er hob ein Bündel Briefe hoch. »Jerry hat außer einer Schwester in London keine Familie. Das sind ihre Briefe an ihn. Ich habe sie gelesen. Ich weiß, so etwas tut man nicht, aber ich muss wissen, was vorgeht.« 

»Und? Hast du etwas entdeckt?« 

Er schüttelte den Kopf. »Nichts besonderes. Aber eine Telefonnummer habe ich gefunden. Ich habe mir gedacht, ich rufe einfach mal bei ihr an.« 

»Das kann ich machen, wenn du willst.« Sie sah, dass er widersprechen wollte und fügte schnell hinzu: »Mit einer Frau redet sie vielleicht eher.« 

Er runzelte die Stirn. »Hm. Möglich.« 

Das Wasser kochte, er goss den Kaffee auf. Sie setzte sich auf einen Klappstuhl und zwang sich zu sagen: »Du hast gestern gesagt, dass die Firma pleite ist, Lewis. Ist es wirklich so schlimm?« 

»Nein.« Er lachte. »Wir werden uns schon irgendwie durchwursteln. Mach dir bloß keine Sorgen. Gestern Abend – da hat der Alkohol gesprochen.« 

»Vielleicht kauft Tim doch noch ein Boot.« 

»Ja, vielleicht.« 

Er sah erschöpft aus, beinahe krank. »Mach doch Schluss für heute«, sagte sie, »und gönn dir eine Pause. Du siehst so müde aus. Es ist ein herrlicher Morgen, wir könnten irgendwohin fahren und alles vergessen.« 

»Nein, das geht nicht. Ich muss mir einen Überblick verschaffen.« Er wies auf die Rechnungsbücher und die Stapel von Rechnungen und Quittungen auf dem Schreibtisch. »Sonst würde ich nur ständig daran denken. Jerry hat ein fürchterliches Durcheinander hinterlassen. Aber wenn ich das erledigt habe, fahren wir für ein Wochenende nach London und besuchen unsere Freunde. Ich verspreche es dir, Freddie.« 

»Dann iss wenigstens die Brote.« 

»Ja. Danke.« 

Sie sah ihm bei der Arbeit zu. Es war kalt in dem Holzbau, und sie war froh, dass sie Mantel und Handschuhe angezogen hatte. Ihr Blick schweifte über die Borde hinter dem Schreibtisch, die Reihen von Aktendeckeln, Ordnern, Hauptbüchern. Das scharfe weiße Meereslicht glitzerte in den schmalen Spalten zwischen den Holzplanken der Wände. 

Plötzlich blickte Lewis vom Schreibtisch auf. »Warum muss alles so schwer sein, Freddie?«, fragte er unglücklich. »Warum konnte nicht wenigstens einmal etwas klappen? Ich versuche doch wirklich alles. Manchmal komme ich mir vor, als hätte mich dieses gottverdammte Land durchgekaut und ausgespuckt und lässt mich jetzt einfach verrotten. Lieber Gott, wenn ich eine Alternative wüsste, wäre ich längst weg.« 

Sie strich ihm durch die Haare und drückte die Daumen in seine verkrampften Schultern. Er presste sein Gesicht an sie und seufzte. 

»Ich möchte dich nicht enttäuschen.« 

»Das tust du doch auch nicht. Bitte, Darling, bitte denk das nicht einmal.« 

»Ich fühle mich als kompletter Versager. Ich weiß nicht, was ich machen soll, wenn hier alles in die Binsen geht.« 

»Wenn es zum Schlimmsten kommt, fangen wir einfach noch einmal von vorn an. Wir schaffen es schon.« 

Er blickte zu ihr hinauf, schien etwas sagen zu wollen, schwieg dann aber. 

»Wie schlimm ist es wirklich?«, fragte sie vorsichtig. »Du kannst es mir sagen. Geteiltes Leid ist halbes Leid.« 

Er tippte mit dem Finger auf das Auftragsbuch. »Es kommt keine Arbeit herein. Wenn wir nicht in den nächsten Tagen neue Aufträge bekommen, muss ich Walter sagen, dass ich nichts mehr für ihn zu tun habe. Ich habe ihn bis jetzt mit kleinen Reparaturarbeiten beschäftigt.« 

»Kannst du nicht versuchen, mehr von diesen kleinen Aufträgen zu bekommen, damit ihr euch wenigstens über Wasser halten könnt?« 

»Ja, prima Idee.« Seine Munterkeit klang künstlich. 

»Wie ist es mit Schulden?« Sie wartete angespannt auf seine Antwort. 

Er strich sich mit der Hand übers Kinn. »Bei der Bank natürlich.« 

»Wie viel?« 

»So um die fünfzig Pfund.« 

Sie küsste ihn. »Das geht doch noch.« Obwohl sie keine Ahnung hatte, wie sie das zurückzahlen sollten. »Wir schaffen das«, sagte sie wieder. »Ich bin ganz sicher.« 

Er schien neuen Mut zu fassen. Er zog sie auf sein Knie. Sie spürte, wie er sich entspannte, als sie sich küssten. 

»Ich mache wahrscheinlich aus einer Mücke einen Elefanten«, sagte er. »Weißt du was? Ich baue uns ein Boot, und wir segeln um die Welt. Und dann sehen wir uns all die Orte an, von denen wir immer geträumt haben. Na, was hältst du davon, Freddie?« 

Später fuhr sie mit dem Rad zur Telefonzelle am Hafen. 

Sie wählte die Vermittlung und ließ sich mit der Nummer von Mrs. Davidson, Jerrys Schwester, die in Bayswater lebte, verbinden. 

Sie hörte es ein paar Mal läuten, dann meldete sich ein Mann. Freddie bat, mit Mrs. Davidson sprechen zu dürfen. 

»Wer spricht denn bitte?« 

»Mein Name ist Frederica Coryton. Ich rufe aus Lymington an.« 

Eine kleine Pause. Dann: »Von der Werft?« 

»Ja. Ich muss unbedingt mit Mrs. Davidson sprechen. Es ist dringend.« 

»Augenblick, ich hole sie. Bitte bleiben Sie dran.« 

Eine längere Pause. Freddie hörte helle Kinderstimmen und Erwachsene, die miteinander sprachen. Sie versuchte, etwas zu verstehen, aber es gelang ihr nicht. 

Dann sagte jemand: »Hallo? Hier Mrs. Davidson.« 

»Ich bin Mrs. Coryton. Aus –« 

»Von der Werft, ja.« Sie sprach knapp und klar. »Wie kann ich Ihnen behilflich sein, Mrs. Coryton?« 

»Ich wollte eigentlich Ihren Bruder sprechen, Jerry.« 

»Er ist nicht hier.« 

»Wissen Sie, wo er ist?« 

»Tut mir leid, ich habe seit Längerem nichts von ihm gehört.« 

»Haben Sie eine Ahnung, wie ich ihn erreichen könnte?« 

»Nein, leider. Tut mir leid. Und jetzt müssen Sie mich entschuldigen. Ich habe Gäste.« 

Freddie dankte Mrs. Davidson und hängte den Hörer ein. Die Zuversicht des frühen Morgens war verflogen. Sie fröstelte, als sie aus der Telefonzelle trat und auf ihr Fahrrad stieg. Mrs. Davidson war mit ihren Antworten zu schnell bei der Hand gewesen, dachte sie, war zu wenig neugierig gewesen. Mrs. Davidson hatte gelogen. 

Es war sechs Uhr abends, das Ende eines regnerischen Tages, der nichts als Grau über London zurückgelassen hatte. Rebecca ging die Jermyn Street hinunter, als sie einen Mann aus dem Cavendish Hotel kommen sah. Er trug einen Regenmantel und keinen Hut. Sie erkannte ihn an seinem Gang, seinem schwingenden Schritt.  

»Milo«, rief sie. 

Er drehte sich um. »Allmächtiger, Rebecca, ist das eine Überraschung.« Er sah sie mit scharfem Blick an. Denkt vermutlich, Himmel, ist die Frau alt geworden, sagte sich Rebecca. 

»Ja, wirklich eine Überraschung.« Sie küsste ihn auf die Wange. »Was tust du in London?«  

»Ach, ein bisschen die Werbetrommel rühren … ein Treffen mit Roger. Und du?« 

»Ich bin für ein paar Tage zu Besuch bei einer Freundin.« Sie wohnte bei Simone. 

»Großartig. Du siehst blendend aus, das muss ich sagen.« 

»Du aber auch.« Aber er war dick geworden, dachte sie. 

Milo sah auf seine Uhr. »Du hast doch Zeit für einen Drink?« 

»Ja, gern, danke.« 

Sie gingen ins Cavendish. Rebecca entschuldigte sich und verschwand erst einmal in der Damentoilette, wo sie sich vor dem Spiegel mit den Händen durchs Haar fuhr und dann ihren Lippenstift auffrischte und zum Schluss noch etwas Puder auflegte.  

Als sie in die Bar zurückkam, hatte Milo schon einen Gin mit Zitrone für sie bestellt und einen Whisky mit Soda für sich. 

Sie stießen miteinander an. 

»Früher fand ich es barbarisch«, sagte er, »etwas anderes als Wasser in den Whisky zu mischen. Das Soda ist eine amerikanische Angewohnheit.« 

»Du hast gar keinen amerikanischen Akzent. Nach so langer Zeit, das wundert mich.« 

»Den Studenten gefällt das Britische, darum versuche ich, es zu konservieren.« Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und sah sie nachdenklich an. »Ich habe gerade versucht nachzurechnen, wann wir uns das letzte Mal gesehen haben.« 

»Bei dieser grässlichen Besprechung beim Anwalt vor dem Krieg. Ich glaube, ich war ziemlich gemein zu dir.« 

»Ich hatte es wohl verdient.« 

Im hellen Licht der Bar bemerkte Rebecca das sich lichtende Haar und die aufgedunsenen Falten unter den Augen. Ihr strahlender Held, Milo Rycroft, in den sie sich auf dem Künstlerball in Chelsea unsterblich verliebt hatte, hatte Geheimratsecken bekommen. 

»Wie geht es Mona und Helen?«, fragte sie. 

»Hervorragend. Das blühende Leben. Unser Neuankömmling übrigens auch.« 

»Milo!«, sagte sie verblüfft. »Wann war denn das freudige Ereignis?« 

»Laura ist jetzt neun Monate alt.« 

»Laura – das ist ein hübscher Name.« 

»Getauft wurde sie Laurabeth. Das war Monas Wunsch.« Milo zog seine Brieftasche heraus und reichte Rebecca ein Foto. 

Das ältere Mädchen, Helen, stand neben ihrer Mutter; das Baby, Laurabeth, saß auf Monas Schoß. Die Mädchen, beide sehr niedlich, hatten die gleichen dicken dunklen Haare wie ihre Mutter. Mona war hübsch, aber Rebecca fand, ihre Miene habe etwas Eisernes, was, dachte sie, vielleicht hieß, dass Mona Milo fester an der Kandare hatte als sie ihn früher. 

»Sie sind wirklich süß«, sagte sie und gab ihm den Schnappschuss zurück. 

»Von mir finde ich kaum etwas bei den beiden. Helen ist allerdings eine leidenschaftliche Leseratte. Verkriecht sich am liebsten irgendwo mit einem Buch. Mona ist davon nicht begeistert, sie meint, Helen verdirbt sich damit nur die Augen.« 

»Du bist bestimmt stolz auf die beiden.« 

»Ja.« Er schob das Foto wieder in die Brieftasche. »Aber ich glaube, ich bin nicht zum Vater geschaffen. Ich bin zu egoistisch.« 

»Selbsterkenntnis ist der erste Weg zur Besserung«, sagte sie trocken.  

Milo zuckte die Achseln. »Ich weiß, dass ich egoistisch bin. Das ist keine große Offenbarung. Ich kann nicht schreiben, wenn ich nicht egoistisch bin. Ich brauche Ruhe und Frieden und jemanden, der mir meine Mahlzeiten hinstellt und meine Hemden bügelt. Jemanden, der nicht beleidigt ist, wenn ich allein lange Spaziergänge machen muss. Sonst klappt es nicht. Es gibt eine bestimmte innere Verfassung, die mir das Schreiben möglich macht, ohne dass es zu einer allzu großen Anstrengung wird. Ein Zustand, in dem ich wirklich arbeiten kann.« 

»Eine Art Ruhe«, sagte sie. »Nicht nur das Fehlen von Lärm, sondern eine geistige Ruhe.« 

»Ja.« Er sah sie überrascht an. »Genau. Ich kann nicht schreiben, wenn die Telefone läuten und die Kinder herumtoben. Mona macht das wirklich gut, sie hält sie von mir fern, aber deswegen sind sie natürlich trotzdem da, ich weiß die ganze Zeit, dass sie irgendwo in der Nähe sind.« 

»Kannst du nicht an der Universität arbeiten?« 

»Ich versuche es«, sagte er verdrießlich, »aber die Studenten stören mich dauernd.« 

»Ach du meine Güte, Milo.« Sie konnte sich das Lächeln nicht verkneifen. »Deine Mänaden haben dich also immer noch am Wickel.« 

»Ich glaube, sie sehen eine Vaterfigur in mir«, sagte er beinahe entschuldigend. »Sie erwarten, dass ich mir ihre Probleme anhöre – und was für banale kleine Problemchen, Rebecca, Liebeskummer und Streit mit den anderen Frauen im Wohnheim. Ich könnte ein Buch darüber schreiben, aber ich würde mich dabei zu Tode langweilen. Ehrlich gesagt, ich war froh, hierherkommen zu können. Drei Wochen, in denen ich ausschließlich an mich selbst denken kann. Und natürlich wollte ich England wiedersehen.« 

»Haben wir dir gefehlt?« 

»Mehr als ich für möglich gehalten hätte. Obwohl, London – das war schon ein Schock. Ich meine, der Krieg ist jetzt länger als drei Jahre vorbei und die Stadt sieht immer noch aus wie eine Ruinenlandschaft. Manches habe ich gar nicht wiedererkannt.« Es klang vorwurfsvoll.  

»Wir haben kein Geld, Milo«, erklärte sie geduldig. »Und wir sind ausgelaugt. Es waren harte Jahre. Und das Leben ist auch jetzt noch hart.« 

»Natürlich. Ich wollte nicht –« Er brach ab, dann sagte er: »Ich habe mich wahrscheinlich an den amerikanischen Pioniergeist gewöhnt. Und ich muss sagen, wenn das hier Amerika wäre, sähe es wohl nicht mehr so aus.« 

Rebecca dachte an die brennende Spitfire, die über dem Wäldchen in der Nähe des Mayfield-Hofs abgestürzt war, und an das junge Mädchen in London, das sie aus den Trümmern zu scharren versucht und das der weiße Staub in eine Marmorstatue verwandelt hatte. 

Sie wechselte das Thema. »Und wie geht es dir mit deiner Arbeit?« 

»Glänzend.« 

Danach folgte Schweigen. Sie schaute zur Uhr über dem Tresen hinauf. Zwanzig nach sechs. Sie sollte um sieben bei Simone zum Abendessen sein. 

Sie wollte sich gerade verabschieden, als er plötzlich sagte: »Ehrlich gesagt habe ich in den letzten fünf Jahren nichts mehr veröffentlicht. Ein paar Aufsätze, Besprechungen, einige Kurzgeschichten, aber nichts Richtiges. Keinen Roman.« 

Er wirkte niedergeschlagen. Und müde. »Komm, ich hole dir noch einen Whisky«, sagte sie. 

»Nein, lieber nur ein Soda.« Als er die Hand hob, um dem Kellner zu winken, fügte er schnell hinzu: »Ich habe ein bisschen mit der Leber zu tun. Zu Hause lässt Mona mich überhaupt keinen Alkohol trinken. Sie selbst trinkt auch nicht – vor der Ehe war das anders, aber seit die Kinder da sind, rührt sie Alkohol nicht mehr an. Sie meint, es wäre ein schlechtes Vorbild. Wir haben auch nie etwas Alkoholisches im Haus.« 

»Tut mir wirklich leid, dass du nicht auf dem Posten bist, Milo.« 

»Ich war zwei Wochen im Krankenhaus.« Er runzelte die Stirn. »Ich war noch nie vorher krank. Das hat mich ganz schön erschüttert. Ich soll abnehmen. Mona passt genau auf, was ich esse.« Er zog eine Packung Zigaretten heraus. »Sie mag es auch nicht, wenn ich rauche. Aber am College rauche ich immer noch.« 

Er hielt Rebecca die Packung hin. Sie nahm eine Zigarette. »Danke.« 

»Ich habe mich oft gefragt«, sagte er, nachdem er ihre Zigaretten angezündet hatte, »ob diese Schreibblockade daher kommt.« 

»Weil du Alkohol und Zigaretten aufgegeben hast?« 

Er lächelte. »Das auch. Aber eigentlich meinte ich das hier alles.« Er ließ den Blick durch den Raum schweifen. »Vielleicht könnte ich schreiben, wenn ich nach England zurückginge.« 

»Wäre Mona damit einverstanden?« 

»Niemals. Ihre ganze Familie lebt in Boston. Ihre Eltern, ihre Geschwister.« 

»Ach Milo«, sagte sie. 

»Ich weiß.« Er seufzte. »Ich kann nicht über Amerika schreiben, weil ich es nicht gut genug kenne, und ich kann nicht über England schreiben, weil ich es nicht mehr kenne.« 

»Dann schreib doch über etwas anderes. Schreib über Familien.« 

»Ich glaube nicht –« 

»Ich weiß, du wolltest von Familienleben nie etwas wissen, aber genützt hat dir das ja offensichtlich nichts«, sagte sie ein wenig bissig. »Oder schreib über die Liebe, Milo. Du hast doch bestimmt einiges über die Liebe gelernt.« 

Er schwieg einen Moment und blies durch die Nase zwei Rauchströme in die Luft. »Ich könnte über Reue und Bedauern schreiben«, sagte er. 

Ich auch, dachte Rebecca. Sie sagte nichts. 

Milo schaute in sein Glas. »Manchmal denke ich an Tessa«, sagte er. »Ich kann mich nicht mehr richtig erinnern, wie sie aussah. Ich sage mir, blonde Haare, groß und schlank und dieses umwerfende Lächeln. Aber sehen kann ich sie nicht.« 

»War Tessa deine große Liebe, Milo?« Es gelang ihr, es ohne Bitterkeit zu fragen. 

»Ich weiß es nicht. Ich glaube, für solche Dinge fehlt mir ein wenig das Gespür.« Er sah Rebecca an. »Es tut mir leid, dass ich ihr wehgetan habe. Und es tut mir leid, dass ich dir wehgetan habe. Ich bedaure, dass ich damals nicht begreifen konnte, worauf es wirklich ankommt. Man ist mit irgendetwas unzufrieden und man ändert es, aber das, was man bekommt, ist nicht unbedingt besser als das, was man vorher hatte. Es tut mir in der Seele leid, was mit Tessa und dem Kind passiert ist. Manchmal fühle ich mich dafür verantwortlich.« 

Wie leicht konnte sie es jetzt aussprechen, konnte ihm sagen, was damals wirklich geschehen war. Ich habe Tessa Nicolson angerufen und behauptet, du hättest eine andere. Deshalb war sie an dem Nachmittag auf der Straße nach Oxford, wegen meines Anrufs. Würde es sie befreien? 

Sie wollte gerade sprechen, als hinter ihr jemand laut rief: »Milo Rycroft! Ist denn das die Möglichkeit? Milo Rycroft.« 

Rebecca, die sich umgedreht hatte, sah einen hochgewachsenen grauhaarigen Mann mit Pferdegebiss auf ihren Tisch zukommen. 

Milos Miene veränderte sich schlagartig. Die Trauer und Niedergeschlagenheit fielen von ihm ab, und sie erkannte ihren alten Milo wieder: aufgeplustert, unbekümmert, hingerissen von der eigenen Witzigkeit – der gut aussehende, berühmte Milo Rycroft. 

»Godfrey!«, rief Milo und stand mit ausgebreiteten Händen auf. »Rebecca, du erinnerst dich bestimmt an Godfrey Warburton. Wie geht es Ihnen, Godfrey?« 

»Sehr gut, alter Junge, sehr gut. Und Ihnen? Halten Sie immer noch die Yankees mit Ihrer literarischen Brillanz in Atem?«  

»Na ja«, sagte Milo bescheiden und schien im selben Moment zu bemerken, dass Rebecca ihren Mantel anzog. »Du gehst doch nicht schon, Rebecca?«, fragte er. »Ich dachte, wir könnten zusammen essen.« 

»Ich kann leider nicht. Ich bin verabredet. Aber es war schön, mit dir zu reden, Milo. Grüße Mona von mir.« 

Sie bot ihm die Wange zum Kuss, gab Godfrey Warburton die Hand und ging. 

Draußen auf der Straße dachte sie, dass Milo sie nicht ein Mal nach ihrem Leben gefragt hatte. Früher hätte sie das tief gekränkt; jetzt amüsierte es sie. Sie wünschte ihm alles Gute, aber sie hatte das Gefühl, gerade noch einmal davongekommen zu sein. 

Die Anfangszeilen eines Shakespeare-Gedichts kamen ihr in den Sinn: Fürchte nicht mehr Sonnenglut, noch des grimmen Winters Droh’n Und das letzte Zeilenpaar, niederschmetternd in seiner gnadenlosen Ehrlichkeit: Knab’ und Jungfrau goldgehaart, zu des Bettlers Staub gepaart.