18

 

Die Fenster der Galerie in Pimlico waren erleuchtet. Rebecca hielt einen Moment inne und holte tief Atem, dann ging sie hinein. Drinnen war es voll, und sie sah Connor Byrne nicht gleich. Ihr war plötzlich flau. Vielleicht würde sie ihn nach so vielen Jahren der Trennung gar nicht wiedererkennen. Oder er sie nicht – sie hatte sich in diesen neun Jahren verändert. Sie wusste, dass sie gealtert war. 

Sie schob sich durch das Gedränge zu einer Skulptur, die ihr ins Auge fiel, in Stein gehauene Windungen wie die eines Schneckengehäuses, und dann weiter zu einem mächtigen schwarzen Stein, in den ein eiförmiges Fenster gehauen war. 

In der Mitte des Raumes erhob sich ein monumentales Bildwerk aus grauem Granit, schlicht und streng, das sie blitzartig wiedererkannte. Im selben Moment sagte eine Stimme an ihrer Schulter: »Manannan mac Lir, der Meeresgott der Manx. Ich dachte mir, du würdest die Bekanntschaft mit ihm gern erneuern, Rebecca.« 

Connor trug einen dunklen Anzug mit weißem Hemd und Krawatte. Sein lockiges dunkles Haar, mittlerweile grau gesprenkelt, war brav gescheitelt. 

»Ach, Connor«, sagte sie, und alle Nervosität fiel von ihr ab. »Wie wunderbar, dich wiederzusehen. Und wie großartig du aussiehst.« 

Seine Augen funkelten. »Ich komme mir vor wie ein Rollbraten. Ich kriege kaum Luft.« 

»Aber es steht dir.« 

»Ja, ja, du warst immer schon eine liebenswürdige Person, Rebecca.« Er nahm ihre Hände und drückte sie. »Ich freue mich so, dass du gekommen bist.« 

»Nie im Leben hätte ich mir das entgehen lassen.« 

Ein hochgewachsener blonder Mann trat zu ihnen. Adrian Calder, mein Agent, stellte Connor vor. 

Eine Zeit lang unterhielten sie sich zu dritt, dann nahm Adrian Connor mit, um ihn mit anderen Gästen bekannt zu machen.  

Rebecca suchte sich eine ruhige Ecke und beobachtete Connor, wie er die Leute begrüßte und mit ihnen sprach. Sie erinnerte sich, dass etwas von ihm immer schon zu ihr gesprochen hatte. Connor war der einzige Mensch, dem sie von ihrem Engel erzählt hatte. Sie musste plötzlich an ihr Zusammentreffen mit Milo denken und ihren Impuls, ihm von dem Anruf bei Tessa Nicolson zu erzählen, der ihrer aller Leben verändert hatte. Hinterher war sie froh gewesen, dass Godfrey Warburton, dieser elende Langweiler, sie daran gehindert hatte. Ihr Geständnis wäre von Milo abgeperlt wie ein Tropfen Wasser von einer Feder. Aber immer noch sagte ihr Gefühl, dass sie einen Weg finden musste, die Wahrheit zu sagen, denn nur die Wahrheit befreite. 

Ein Mann trat auf sie zu. »Darf ich mich vorstellen? Ich bin Michael Lyndhurst. Dr. Michael Lyndhurst.« 

»Rebecca Rycroft.« Sie bot ihm die Hand. 

Er war um die fünfzig, groß, sah gut aus und wirkte sehr distinguiert. »Interessieren Sie sich für Bildhauerei – äh –«, ein Blick zu ihrer linken Hand, »Mrs. Rycroft?« 

»Ja, sehr. Ich kenne Connor Byrne schon einige Jahre.« 

»Ist Ihr Mann auch hier?« Er schaute sich um.  

Die Erfahrung hatte sie gelehrt, dass es immer das Beste war, von vornherein klare Verhältnisse zu schaffen. »Nein«, sagte sie. »Ich bin geschieden.« 

Manche Männer sahen darin eine Einladung. Dr. Lyndhurst gehörte offenbar zu ihnen. Er lächelte.  

»Darf ich Ihnen noch etwas zu trinken holen?« 

Als er zurückkam, unterhielten sie sich eine Weile über die Ausstellung, dann ging das Gespräch zu Büchern und Theaterstücken über, die ihnen gefielen. Er war beredt und wusste eine Menge, aber es fiel ihr schwer, sich zu konzentrieren. Immer wieder suchte sie in der Menge nach Connor, machte sich von Neuem vertraut mit seiner besonderen Art, sich zu bewegen und zu lächeln. 

Um acht begann die Gesellschaft sich aufzulösen. Rebecca entschuldigte sich bei Dr. Lyndhurst und ging zu Connor, um sich zu verabschieden. Dann holte sie ihren Mantel und trat auf die Straße hinaus. 

Dr. Lyndhurst wartete vor der Tür. »Ich würde Sie gern zum Essen einladen, Mrs. Rycroft«, sagte er. 

»Das ist nett von Ihnen, aber es geht nicht. Vielen Dank.« 

»Wenn Sie schon verabredet sind, vielleicht morgen Abend?« 

»Tut mir leid, das geht auch nicht.« 

Er wirkte auf einmal schlecht gelaunt. »Wenn ich gewusst hätte, dass Sie so sind«, sagte er kalt, »hätte ich mir die Zeit gespart.« 

Die Tür der Galerie wurde aufgestoßen, und Connor kam heraus. Dr. Lyndhurst zog ab. 

Connors Blick folgte ihm. »Hat der Bursche dich belästigt?« 

»Nicht der Rede wert.« Rebecca seufzte. »Manche Männer bilden sich ein, wenn sie so gnädig sind, sich mit einer Frau meines Alters zu unterhalten, hätten sie das Recht, auch mit ihr ins Bett zu gehen.« 

»Ich geb ihm eins auf die Nase, wenn du willst.« 

»Ach, das ist er gar nicht wert.« Sie sah Connor lächelnd an. »Müsstest du nicht noch drin sein und mit den Kennern und Mäzenen plaudern?« 

»Wahrscheinlich, aber ich gehe lieber mit dir essen, wenn es dir recht ist.« 

»Ich würde mich freuen.« 

Sie fanden ein kleines italienisches Kellerrestaurant in Soho, wo die runden Tische nicht zu eng standen. Ein Jazztrio unterhielt die Gäste. 

Rebecca erkundigte sich nach Connors Familie. Aoife und Brendan gehe es gut, sagte er. Brendan wolle im Herbst in Dublin sein Studium beginnen. 

»Er will Geschichte studieren«, sagte Connor. »Ein gescheiter Junge. Ich bin stolz auf ihn.« 

»Du bist ihm aber auch ein guter Vater, Connor.« 

»Nein, das stimmt nicht. Ein guter Vater wäre bei seiner Mutter geblieben.« Er zündete ihnen beiden Zigaretten an. »Aoife arbeitet jetzt halbtags in einem Textilgeschäft. Ich habe ihr gesagt, dass sie nicht zu arbeiten braucht, dass ich immer für sie und Brendan sorgen werde.« 

»Vielleicht möchte sie gern arbeiten gehen. Brendan wird ihr fehlen. Vielleicht möchte sie etwas zu tun haben.« 

Connor schüttelte den Kopf. »Aoife war immer sehr konventionell. Sie war immer der Ansicht, dass in einer Ehe der Mann die Familie ernähren und die Frau sich um das Haus und die Kinder kümmern sollte.« 

»Aber eure Ehe ist nicht konventionell«, entgegnete sie. »Vielleicht hat sie das akzeptiert.« 

Er antwortete nicht gleich. Dann sagte er: »Sie hat mir erklärt, dass sie jeden Tag darum betet, dass ich zu ihr zurückkomme. Sie wird es nie akzeptieren, Rebecca. Und es macht sie krank.« 

»Ach, Connor.« 

»Weißt du, ich schäme mich, so etwas zu denken, aber ich habe mich schon gefragt, ob sie sich die Arbeit gesucht hat, um mir ein schlechtes Gewissen zu machen.« 

»Hast du denn eines?« 

»Manchmal. Und wenn ihr das Frieden gibt, bin ich nur froh.« 

»Vielleicht ist das der Preis der Freiheit. Keiner von uns hat alles, was er will.« 

Er nickte. »Ich wäre schon viel früher wieder hierhergekommen, aber ich habe mir Sorgen um Aoife gemacht. Aber jetzt erzähl mir von dir, Rebecca. Wie geht es dir? Was macht deine Arbeit? Wie geht es deiner Schwester und ihrem Mann?« 

Und sie erzählte. Nach dem Essen bestellte Connor Brandy, und während sie ihn tranken, hörten sie der Musik zu. 

»Deine Ausstellung hat mir sehr gefallen, Connor«, sagte sie. »Ich könnte nicht sagen, welche deiner Arbeiten mich am meisten angesprochen hat. Wahrscheinlich werde ich immer eine Schwäche für deinen Meeresgott haben. Ich weiß noch, wie du mit David zusammen diesen Riesengranitbrocken mit Seilen und Winden in deine Werkstatt befördert hast. Und ich weiß noch, wie ich eines Tages hinter dem Scheunenfenster dieses Gesicht gesehen habe – so stark und streng. Du hast mich hereingeholt, um mich mit ihm bekannt zu machen. Das war das erste Mal, dass wir richtig miteinander geredet haben.«  

»Du hast mich eingeschüchtert, Rebecca. Du hattest immer so etwas Wildes.« 

»Wild?« Sie lachte. »Oh, Connor, nein, ich war lammfromm. Ich, mit meinen Tweedkostümen und meinen Twinsets, meinem Hausmädchen und meinen eleganten kleinen Einladungen, wild? Ich wusste ja nicht einmal, was wild sein heißt. Aber ich glaube, ich habe es gelernt.« 

Er schüttelte den Kopf. »Doch, in dir hat immer etwas Wildes gesteckt. Ich habe dich oft in Mayfield gesehen, wie du bei Wind und Wetter auf dem Feld gestanden und deinen Spaten in die Erde gestoßen hast.« 

»Wahrscheinlich habe ich mir vorgestellt, es wäre Milo.« 

Er lachte. »Du hast ausgesehen wie eine heidnische Göttin mit deinem wilden schwarzen Haar, der blassen Haut und diesen glühenden grünen Augen.« 

Sie griff über den Tisch und nahm seine Hand. »Ich war immer gern draußen in der Natur. Vielleicht hat mich dieses häusliche Leben in der Alten Mühle auf die Dauer ein bisschen in den Wahnsinn getrieben.« 

»Denkst du noch an ihn?« 

»An Milo? Nein, kaum. Habe ich dir erzählt, dass ich ihn vor einiger Zeit zufällig hier in London getroffen habe? Er hat jetzt zwei Töchter. Helen und Laurabeth.« Rebecca krauste die Nase. »Ich vermute, die Laurabeth ist auf Monas Mist gewachsen. Milo fand selbst gebastelte Vornamen immer fürchterlich. Ich muss lachen, wenn ich ihn mir als Familienvater vorstelle.« 

»Du bist eine Schlimme, Rebecca.« Er drehte ihre Hand in der seinen und streichelte mit dem Daumen ihre Innenhand. Sie fühlte die trockene Wärme seiner Haut, die kleinen Verletzungen und die Schwielen, die sie von ihren eigenen Händen kannte. 

Er sagte: »Glaubst du, dass ich mindestens hundertmal versucht habe, dich zu zeichnen, und es nie ganz richtig hingekriegt habe? Deine Stirn hat eine Wölbung, die ich vergessen hatte, und diese kleinen Mulden an deinen Mundwinkeln auch. Ich müsste dich sehr lange und intensiv betrachten, um dir so nahe zu kommen, dass ich dich zeichnen kann.« 

Es ging, dachte sie, gerade etwas Wunderbares vor, eine Veränderung, eine Verwandlung, von der sie nicht zu träumen gewagt hatte.  

»Glaubst du?« 

»Ja, weil deine Schönheit mich so ergreift, verstehst du.« 

»Ach, Connor.« Sie hatte Tränen in den Augen. »Ich bin alt und müde. Ich war einmal schön, aber jetzt bin ich es nicht mehr.« 

Er schüttelte den Kopf. »Du warst damals schön und du bist es heute. Und du wirst auch in zehn oder zwanzig Jahren noch schön sein. Das weiß ich. Wenn ich alles niedergeschrieben hätte, was ich dir in den Jahren unserer Trennung sagen wollte, wären meine Briefe endlos geworden. Ich liebe dich, Rebecca, und ich möchte dich bei mir haben, wenn ich morgens aufwache. Und wenn ich nachts erwache, möchte ich nach deinem Gesicht suchen. Ich mag nicht mehr allein sein und ich mag nicht mehr von dir getrennt sein. Ich möchte immer mit dir zusammen sein. Ich weiß nicht, wie wir es hinkriegen werden, ich mit meiner Frau und dem Sohn, und du mit deinem Mann, ich mit meinen Steinen und du mit deinem Glas, aber das wünsche ich mir. Und du, wäre das vielleicht auch dein Wunsch?« 

»Ja«, sagte sie. »Ja, Connor.« 

Freddie und Lewis verließen Lymington im Sommer 1949. Sie hatten Käufer für das Haus gefunden, und Lewis war bei einem Unternehmen in Croydon untergekommen, das in der Luftfahrttechnik tätig war. Die ganzen letzten Monate in Lymington, hatte Freddie in ständiger Angst vor dem Klingeln an der Tür, dem Läuten des Telefons gelebt, vor dem Moment, da die Vergangenheit – in Gestalt der Polizei, der Versicherungsgesellschaft, Frank Kites – sie einholen würde. 

Sie mieteten eine kleine Wohnung in St. John’s Wood. Freddie begann in einer Kunstgalerie in der Cork Street zu arbeiten. Der Galerist, Caspar de Courcy, trug Samtjacken und gepunktete Fliegen, und er war ein Schlitzohr. Sein Freund Tony, mit dem er in der Wohnung über der Galerie lebte, hatte in einem Gespräch mit Freddie ausgeplaudert, dass er ihr nur halb so viel bezahlte wie ihrem Vorgänger. Mr. de Courcy war unsicher gewesen, ob er Freddie als Assistentin engagieren sollte (er finde Männer zuverlässiger, sagte er), doch als Freddie erwähnte, dass sie Gerald Nicolsons Tochter war, bekamen Mr. de Courcys Augen einen gierigen Glanz. »Sie besitzen nicht zufällig noch Arbeiten von ihm?« Leider nein, sagte sie. Ihre Mutter hatte alle in ihrem Besitz befindlichen Bilder verkauft, um Kleidung und Schulbildung ihrer Töchter bezahlen zu können. Tessa hätte es sich in der Hochzeit ihrer Karriere als Fotomodell vermutlich leisten können, dies oder jenes Bild ihres Vaters zu kaufen, aber sie hatte es nicht getan. Vielleicht waren ihr Gerald Nicolsons Jähzorn und Sarkasmus noch zu gegenwärtig gewesen, als dass sie an sie hätte erinnert werden wollen. 

Mr. de Courcy engagierte sie trotzdem. Die Gemälde ihres Vaters waren, wie Freddie feststellte, in den Jahren nach seinem Tod an Wert gestiegen, und Mr. de Courcy hatte einen Hang zu kindischen Prahlereien. Ein paarmal hörte sie, wie er einem Interessenten zumurmelte: »Ja, Gerald Nicolsons Tochter, eine ungemein gescheite junge Frau.« 

Sie wusste, dass Lewis ihre Arbeit in der Galerie nicht gern sah. Sie hatte sie dennoch angenommen, weil beides, die Arbeit und der Umzug nach London, für sie lebenswichtig gewesen waren. Sie musste ihre Selbstständigkeit wiedergewinnen, und das bedeutete für sie, ihr eigenes Geld zu verdienen. Und ach, die Erleichterung, wieder in London zu sein, wo alles vertraut und richtig war, wo es keine Marschwiesen und kein trügerisches Watt gab, nur die altbekannten Straßen und Häuser, die Läden und die Kaufhäuser und die Menschen, die für die notwendige Ablenkung sorgten. Denn Ablenkung brauchten sie beide, sie und Lewis; es gab so vieles, worüber sie nicht redeten; auf dem dünnen Eis, auf dem sie sich bewegten, so viele gefährliche Stellen, die gemieden werden mussten. 

In der ersten Zeit war Lewis niedergeschlagen. Sie gingen selten aus, saßen abends entweder zu Hause und lasen oder machten Spaziergänge in den Parks. Manchmal fand sie, wenn sie nachts erwachte, seine Seite des Bettes leer und hörte ihn in der Wohnung umhergehen, im Hintergrund das gedämpfte Dröhnen des Radios. Lewis hatte seine Schulden bei Frank Kite mit dem Geld von der Versicherung und dem Gewinn aus dem Hausverkauf zurückbezahlt. Aber etwas Ungesundes war zurückgeblieben, das ihr Leben vergiftete, und immer noch konnte ein Läuten spätabends an der Tür sie erschrecken und daran erinnern, was Angst war – dieser eisige Hauch im Rücken, dieses Schwanken des Bodens unter den Füßen. 

Der Beginn des neuen Jahrzehnts schien eine gewisse Entspannung mit sich zu bringen. Lewis wurde befördert und hatte endlich den Erfolg, den er immer erstrebt hatte. Sie zogen in eine größere Wohnung um und Lewis nahm wieder Kontakt zu alten Freunden auf. Er wirkte glücklicher und zufriedener, hatte wieder Ähnlichkeit mit dem alten Lewis. Freddie ging mit ihm auf Feste und in Restaurants, aber sie zog die Gesellschaft ihrer eigenen Freunde vor. Sie war lieber mit Julian, Max und den Leavingtons zusammen, die einmal Tessas Freunde gewesen und jetzt die ihren waren. Julian hatte geheiratet und war Vater eines kleinen Sohnes; Ray und Susans zweites Kind, ein Mädchen, kam im Juli 1950 zur Welt. 

In diesem Sommer zeigte eine Galerie in Soho eine MaxFischer-Retrospektive. Viele der ausgestellten Aufnahmen waren Bilder von Tessa, Max’ Muse. Tessa lachend an der Serpentine im Hyde Park, Tessa auf dem Laufsteg in Abendkleidern von Dior, und da war auch das Foto von Tessa mit dem Zebra, das früher in der Wohnung in Highbury gestanden hatte. Ein Foto entdeckte Freddie, das sie noch nie gesehen hatte. Max hatte es kurz vor Tessas Abreise nach Italien aufgenommen. Tessa saß in langer Hose und kurzärmeligem Pullover auf einem Bett, die Arme um die angezogenen Beine geschlungen. Sie war ungeschminkt, und das Haar fiel ihr aus dem Gesicht, sodass die Narbe auf ihrer Stirn zu sehen war. Ihre Schönheit und ihre Zerbrechlichkeit waren anrührend. Auf dem Schild darunter stand, ›Tessa Nicolson 1916–1944‹. 

Eines Morgens, als Freddie in dem kleinen Büro hinter der Galerie saß und eine Quittung für einen Verkauf ausschrieb, hörte sie die Türglocke bimmeln. Sie ging in den Laden hinaus. Der Kunde war hochgewachsen und blond, und einen Moment lang stand ihr das Herz still, aber als er sich ihr zuwandte, erkannte sie, dass es nicht Jack war. 

Er stellte sich vor. Sein Name war Desmond Fitzgerald, und er war Tessa in Italien begegnet. Sie verabredeten, sich zu treffen, wenn Freddie mit der Arbeit fertig war. 

Desmond Fitzgerald führte sie ins Savoy. Er habe seit Ewigkeiten mit ihr sprechen wollen, sagte er, habe aber die größte Mühe gehabt, sie ausfindig zu machen. Er erzählte ihr von seiner Bekanntschaft mit Tessa, von seiner ersten Begegnung mit ihr im Mirabelle vor dem Krieg bis zu dem Tag, an dem Faustina Zanetti ihm mitteilte, dass Tessa tot war. »Dass das passieren musste«, sagte er. Seine Augen waren feucht. »So grausam.« Dann schnäuzte er sich und erzählte Freddie, wie er sich, zusammen mit vielen anderen alliierten Kriegsgefangenen, beinahe ein Jahr lang in den Wäldern auf dem Gut der Zanettis versteckt gehalten hatte. Und er erzählte von Tessa, die sie im Winter regelmäßig mit Nahrung versorgt hatte. »Jeden Abend musste ein anderer von uns auf sie warten«, sagte er. »Aber am liebsten wäre unsere ganze Bande losgerannt, nur um sie zu sehen. Sie war eine wunderbare Frau, Freddie. Sie sollten stolz auf sie sein.« 

Nach dem Abendessen trennten sie sich und versprachen, in Verbindung zu bleiben. Als Freddie in dem Taxi nach Hause fuhr, das Desmond für sie geholt und bezahlt hatte, musste sie daran denken, wie sie und Tessa die Erinnerung an ihre tote Mutter lebendig erhalten hatten, indem sie von ihr gesprochen hatten. Als sie mit Desmond Fitzgerald über Tessa gesprochen, von ihrem Leben in Italien gehört hatte, hatte sie sich ihr näher gefühlt. 

Einmal, als sie mit Marcelle Scott und ihren Freunden beim Essen waren, erkundigte sich jemand nach Jack. »Jack ist wieder in Italien«, sagte Marcelle. »Seit – ach, seit Ewigkeiten.« 

Freddie fragte: »Kommt er manchmal her? Auf Besuch?« 

»Nein, nie.« Marcelle wirkte verschnupft. »Ich nehme ihm das, ehrlich gesagt, ziemlich übel. Sonst ist er nie so lange weggeblieben.« 

Oktober 1950. Sie war gerade von der Arbeit nach Hause gekommen und schnitt in der Küche Zwiebeln und Karotten für einen Eintopf, als sie Lewis die Tür aufsperren hörte. 

Er kam direkt in die Küche. »Freddie, wir müssen reden.« 

»Gleich.« Sie warf die gewürfelten Zwiebeln in den Topf. »Lass mich nur das hier aufsetzen.« 

Er drehte das Gas aus. »Jetzt bitte, Freddie.« 

Sie wischte sich die Hände an der Schürze ab und folgte ihm ins Wohnzimmer. 

»Setz dich«, sagte er, während er die Ginflasche und zwei Gläser herausholte. 

»Lass nur, ich möchte nichts trinken«, sagte sie. 

»Marcelle und ich haben uns ineinander verliebt.« 

Sie sah ihm zu, wie er Gin einschenkte, die Zitrone schnitt. Was er gesagt hatte, war ein Schock, unbegreiflich. Sie konnte es nicht fassen. 

Sie schüttelte den Kopf. »Ich verstehe nicht.« 

»Marcelle und ich lieben uns«, wiederholte er ruhig, »und wir wollen heiraten.« 

»Aber das könnt ihr nicht. Du bist mit mir verheiratet.« 

»Ich möchte die Scheidung, Freddie.« 

Er stellte das Glas auf den Tisch neben ihr. Sie starrte es einen Moment an, dann fegte sie es so heftig zur Seite, dass es zu Boden fiel und zersprang. »Du bist mit mir verheiratet.« 

»Das ist doch schon lange keine Ehe mehr.« Er setzte sich ihr gegenüber aufs Sofa. »Schon seit Jahren nicht mehr. Du vertraust mir nicht und du brauchst mich nicht. Es tut mir leid, wenn es dich verletzt, aber du weißt, dass es so ist. Du hast dich verändert, Freddie. Du bist nicht die Frau, die ich geheiratet habe. Die Dinge, die wir einmal beide wollten, willst du jetzt nicht mehr. Es ist meine Schuld, das weiß ich und akzeptiere es. Aber ich spüre ständig deinen Vorwurf. Ich merke, dass du nicht vergessen kannst, was ich getan habe. Du willst vielleicht nicht herablassend sein, aber du bist es, Freddie. Mit Marcelle ist es anders. Sie weiß nichts. Und selbst wenn sie es wüsste, würde sie mich nicht richten.« 

Sie musste hinaus. Steifbeinig, als hätte sie einen hohen, steilen Berg bestiegen, stand sie auf und ging in die Küche. Sie nahm Kehrschaufel und Handfeger aus dem Besenschrank, ging wieder ins Wohnzimmer und kniete sich auf den Boden, um die Glasscherben aufzusammeln. 

»Und was heißt das genau?«, fragte sie. »Dass du mich verlässt?« 

»Ja, ich gehe noch heute Abend. Das ist das Beste.« 

Mit zusammengekniffenen Augen sah sie zu ihm hinauf. »Das Beste für wen, Lewis?« 

»Für uns beide.« 

»Wie lange geht das schon mit dir und Marcelle?« Sie sagte den Namen mit Hass. 

Er sah beschämt aus. »Seit Anfang des Jahres.« 

Zehn Monate, dachte sie. Zehn Monate. Sie drückte die Glasscherbe in ihrer Hand zusammen. Blut quoll aus ihrer Faust. Lewis wollte ihr helfen, aber sie sprang auf, rannte an ihm vorbei ins Schlafzimmer und schlug die Tür zu. Sie umwickelte ihre Hand mit ihrer Schürze und drückte den zusammengeknüllten Stoff fest in die Wunde. Es sollte wehtun. 

Rebecca hatte die Idee seit ihrem Gespräch mit Meriel an deren Hochzeitstag mit sich herumgetragen. Sie hatte damit begonnen, eine Reihe von Figuren aus Glas zu gießen. Insgesamt waren es sieben Figuren, alle stellten sie Frauen dar, echte Frauen – alt, jung, dick, dünn, schwanger, unfruchtbar, hässlich, schön –, keine Idealbilder, wie so oft in der Kunst.  

Sie arbeitete bei jeder Figur mit unterschiedlichen Techniken. Die erste goss sie nach einem Tonmodell: eine Frau mit breiten Wangenknochen und vollen Lippen, die mit geschlossenen Augen das Gesicht der Sonne entgegenhielt. Das lange Haar fiel ihr dicht gekraust über die Schultern, wie bei den gemalten Frauenköpfen in ägyptischen Grabkammern. Dieses Stück nannte sie ›Isis‹. Die nächste Figur stellte eine Frau mit breiten Hüften und Falten um Augen und Mund dar. Dazu verwendete sie Glas in satten Türkis- und Smaragdtönen, Nuancen von Bronze und Braun, und gab der Figur den Namen ›Elisabeth‹. Sie dachte daran, ihre Schwangere ›Mona‹ zu taufen, nannte sie dann aber doch lieber ›Gaia‹. 

Sie schuf die Glasskulpturen im Lauf eines Jahres. Connor half ihr bei der Gestaltung der Formen. Nachts träumte sie von ihren sieben Frauen, sah sie stark und stolz über die Hügel von Oxfordshire bei der Alten Mühle schreiten, Sterne in den Augen, die durchscheinenden Gesichter vom Mondlicht durchströmt.  

Das letzte Stück war technisch das schwierigste. Es sollte nur eine Büste werden. Zunächst arbeitete Rebecca den Kopf in Wachs, dann überzog sie die Wachsplastik mit einer Mischung aus Gips und Silikon. Als der Gips trocken war, schmolz sie das Wachs über Wasserdampf, sodass eine hohle Form zurückblieb, die sie dann mit Glasstücken füllte. 

Nun kam der heikelste Teil. Ihre ersten drei Versuche gingen daneben, entweder das Glas zersprang ihr im Ofen oder es stellte sich nicht der Effekt ein, den sie wünschte. Beim vierten Mal füllte sie die Form zum Teil mit Glas und deckte dann eine Schicht gekrümelte Töpfererde auf den oberen Kopfteil. Danach füllte sie den Rest der Form mit Glas auf. 

Sie konnte kaum ihre Spannung zügeln, als sie das abgekühlte und gehärtete Stück aus dem Ofen holte und die Gipsform abnahm. Der gläserne Kopf entstieg durchscheinend und lichterfüllt der Form. Dann entfernte sie ganz vorsichtig, zuerst mit den Fingern, dann mit einem weichen Pinsel die Tonbrösel. Der Kopf war, wie von ihr beabsichtigt, von einem feinen Riss durchzogen. 

Freddie zog aus der Wohnung aus und suchte sich etwas Kleineres in South Kensington. Die traurigen Formalitäten der Scheidung, das Feilschen und Handeln, die Abfindungsregelung wurden abgewickelt. Sie wollte nichts von Lewis. Sie wollte sich nur frei fühlen. 

Aber das konnte sie nicht. Sechs Jahre Ehe ließen sich nicht einfach mit einem Stück Papier ungeschehen machen. Ihre Verachtung für Lewis und ihr Hass auf Marcelle ließen sich nicht einfach abstellen. Monatelang blieb sie davon besessen. Wenn sie in der Galerie war, wenn sie im Bus nach Hause fuhr, spielten sich in ihrem Kopf erregte Szenen ab, Auseinandersetzungen mit Marcelle, bei denen ihr die Worte wie tödliche Pfeile von den Lippen flogen, während Marcelle klein und demütig um Verzeihung bettelte. 

Aber eines Tages erwachte sie und war nicht mehr wütend. Dafür zu Tode erschöpft. Es kostete große Mühe, sich die Zähne zu putzen, sich anzuziehen, zur Arbeit zu gehen. Sie weinte viel, und abends, wenn sie aus der Galerie nach Hause kam, hatte sie keine Lust, etwas zu kochen, aß stattdessen eine Schale Weetabix oder eine Scheibe Toast. Die Müdigkeit hielt Monate an; der Arzt, der ihr ein Eisenpräparat verschrieb, erklärte ihr, sie sei eine Reaktion auf das Trauma der Scheidung. Aber bei näherem Überlegen kam sie zu dem Ergebnis, dass es mehr als das war. Tessas Tod, der ständige Existenzkampf in ihrer Ehe mit Lewis, der Brand der Werft: Es war eines zum anderen gekommen. 

Im Sommer 1951 reiste sie mit Ray und Susan und ihren Kindern nach Frankreich. Später erschien ihr dieser Urlaub als Wende. Ray hatte eine Villa in der Provence gemietet; Freddie half Susan mit den Kindern, machte lange Wanderungen und las viel. Oft aber lag sie auch nur dick eingecremt, mit einem Strohhut auf dem Kopf, irgendwo im Schatten, döste und ließ ihre Gedanken schweifen. 

Oft dachte sie an Jack. Unmittelbar nach dem Bruch mit Lewis war sie zu verwundet gewesen, um auch nur daran zu denken, wieder Verbindung mit ihm aufzunehmen. Sie wollte sich nur zurückziehen, nicht neuen Verletzungen aussetzen. Und als die Talsohle der Depression endlich hinter ihr lag, glaubte sie, zu lange gewartet zu haben. Mehr als zwei Jahre waren vergangen, seit sie sich am Strand geküsst hatten, mehr als zwei Jahre, seit sie ihm erklärt hatte, sie liebe ihn nicht. Sie hatte ihm keine Möglichkeit des Zweifels gelassen. Jack würde sie vergessen, eine andere gefunden haben. Es war ihm wahrscheinlich ohnehin nicht ernst gewesen – Jack war so selten ernst.  

Sie erhielt einen Brief von Faustina, die nach dem Krieg die Verbindung aufrechterhalten hatte. Sie war inzwischen verheiratet und lebte in Paris, wo sie als Kinderärztin tätig war. Sie schrieb, dass Olivia Zanetti gestorben war. ›Sie hat sich nach dem Krieg nie wieder richtig erholt. Er hat sie Jahre ihres Lebens gekostet.‹ Aber sie hatte auch Erfreuliches zu berichten. Ihre Schwägerin, Maddalena, hatte vor Kurzem einen gesunden kleinen Jungen zur Welt gebracht. Seinen Namen hatte Guido ausgewählt – er sollte Domenico heißen, nach Guidos Vater. 

Freddie fühlte, wie es langsam aufwärts ging. In London zurück, verbrachte sie viele Samstage damit, in Kunstgalerien und Antiquitätengeschäften herumzustöbern. Es machte ihr Spaß, auf dem Straßenmarkt in der Petticoat Lane auf Schatzsuche zu gehen. Hin und wieder lernte sie einen Mann kennen, aber keiner konnte sie fesseln. Sie schienen ihr alle zu jung, zu unausgegoren, zu unerfahren. Ihr amerikanischer Journalist damals im Krieg hatte recht gehabt, dachte sie. Nichts kam an sie heran, sie hatte Mauern um sich errichtet. So englisch . Sie fühlte sich zu diesen Männern nicht so tief und unwiderstehlich hingezogen wie anfangs zu Lewis und später zu Jack. 

Jack, dachte sie. O Gott, wie sehr er ihr fehlte. 

Eines Samstags sah sie auf einer ihrer Wanderungen im Fenster einer Kunstgalerie in der Lisle Street die Glasstatuette einer Frau. Sie trug afrikanische Züge, das lange Haar war fest geflochten. Der Ausdruck ihres Gesichts war stolz und erhaben. Man konnte nicht an ihr vorbeigehen. 

Freddie trat in die Galerie. An der Wand standen noch mehr Glasstatuetten. Ein junger Mann in Nadelstreifen näherte sich. »Kennen Sie die Arbeiten von Rebecca Rycroft?«, fragte er. 

Rebecca Rycroft. Sie kannte natürlich den Namen. Rebecca Rycroft war mit Milo Rycroft verheiratet, Tessas Freund, dem Schriftsteller. Rebecca Rycroft war zu Angelos Beerdigung gekommen. 

»Nein, ich kenne nichts von ihr«, antwortete sie. 

»Echte Sammlerstücke. Die Amerikaner sind ganz wild darauf.« 

»Wie schön«, sagte Freddie höflich. 

Sie ging von Skulptur zu Skulptur. Die sieben Frauenfiguren unterschieden sich in Größe und Stil. Einige waren farbig, andere aus durchsichtigem Glas, aber allen gemeinsam waren Kraft und Stärke. Jedes Stück trug einen Frauennamen: Isis, Elisabeth, Gaia, Rachel. Lauter symbolische Benennungen. 

Bis auf die letzte. Freddie blieb vor dem Sockel stehen, auf dem die siebte Skulptur stand, eine Büste. Das Glas war milchig, mit einem Blaustich, wie Eis. Das Gesicht wäre ein Bild heiterer Schönheit gewesen, wären nicht die feinen Risse gewesen, die sich, von einem Punkt ausgehend, durch das Glas zogen, es beinahe zu sprengen drohten. 

Freddie las den Namen auf dem Schild. Tessa. Ihr Herz stand still. 

Eine Kleinigkeit, dem Mann im Nadelstreifenanzug mit etwas unverbindlichem Geschwätz von einem Auftrag Rebecca Rycrofts Telefonnummer zu entlocken. Auf dem Weg zur nächsten Telefonzelle dachte sie an ihren Anruf bei Mrs. Rycroft nach Tessas Unfall. 

Vor der Telefonzelle stand eine Schlange. Während Freddie wartete, knüpfte sie in Gedanken die Kette: Milo Rycroft, Rebecca Rycroft, die Glasfigur ›Tessa‹ mit dem bewusst gesetzten Riss. 

Als sie an der Reihe war, trat sie ein und wählte die Vermittlung. 

Rebecca Rycroft lebte in Hampshire, ein ganzes Stück vom nächsten Bahnhof entfernt. Freddie lieh sich Max’ großen alten Alvis für die Fahrt. Hinter Weyhill wurden die Straßen immer schmaler, bis sie schließlich kaum noch breit genug waren für den Wagen. Hohe Hecken aus Haselnussbüschen und Spindelsträuchern, schwer von Früchten, standen wie Mauern zu beiden Seiten der Straße. Hin und wieder versank das Sonnenlicht in Düsternis, wenn der Wagen in einen Wald eintauchte. 

In einem Pub musste sie nach dem Weg zu Rebecca Rycrofts Haus fragen, zu dem eine weitere schmale, von Buchen gesäumte Straße führte. ›Die Schmiede‹ war ein rotes Backsteinhaus; neben ihm stand ein ebenerdiger Bau, der mit Wellblech gedeckt war. Freddie stellte den Wagen ab und stieg aus. Gerade, als sie an die Haustür klopfen wollte, kam aus dem Nachbargebäude eine Frau, die sich die Hände an einem Tuch abwischte. 

Rebecca Rycroft, in hellgrauer Baumwollhose und weißem Leinenhemd, trug das schwarze Haar mit einem grünen Tuch hochgebunden. Ihr Gesicht war sonnengebräunt, ihr Mund breit und großzügig. Das Bemerkenswerteste an ihr waren die tiefgrünen lebhaften Augen. 

»Mrs. Coryton.« Sie reichte Freddie die Hand zum Gruß. »Wie war die Fahrt? Sie sind sicher müde. Ich finde diese kleinen Straßen immer richtig anstrengend.« 

Ein Mann, groß, mit lockigem graugesprenkeltem Haar kam aus der Werkstatt. »Mrs. Coryton ist gerade angekommen, Connor«, sagte Rebecca Rycroft. »Mrs. Coryton, das ist Connor Byrne.« 

Connor Byrne gab Freddie die Hand, küsste Rebecca auf die Wange und verschwand wieder in dem langen, niedrigen Bau. 

Rebecca Rycroft sagte: »Ich dachte, wir setzen uns ins Wohnzimmer.« 

Auf dem Weg ins Haus sagte Freddie: »Ihr Mann, Milo –« 

»Milo und ich sind seit vielen Jahren geschieden. Er lebt jetzt in Amerika – er ist wieder verheiratet und hat zwei Töchter. Connor und ich leben zusammen. Er ist Bildhauer – wir teilen uns das Atelier. Heiraten können wir nicht, weil Connors Frau, sie lebt in Irland und ist streng katholisch, sich nicht scheiden lassen will. Ich weiß sowieso nicht, ob ich noch einmal heiraten würde. Ich liebe Connor sehr, aber irgendwie habe ich das Gefühl, ein Ehemann ist genug.« 

Sie führte Freddie in das nach vorn gelegene Wohnzimmer. Ein Sessel war mit einem geblümten Stoff bezogen, der andere mit einem gestreiften. Bücherregale nahmen eine ganze Wand ein. Auf einer niedrigen Kommode standen Dutzende Glasobjekte, Schalen, Teller, Statuetten. 

»Bitte setzen Sie sich, Mrs. Coryton.« Freddie nahm den geblümten Sessel. Rebecca Rycroft fragte: »Darf ich Ihnen eine Tasse Tee anbieten?« 

»Mrs. Rycroft –« 

»Bitte sagen Sie Rebecca.« 

Freddie bot ihr nicht an, sie ebenfalls beim Vornamen zu nennen. Als Rebecca aus dem Zimmer ging, sah Freddie sich die Gegenstände auf der Kommode an und fühlte, genau wie in der Galerie, einen beinahe unwiderstehlichen Drang, die glatten Glasflächen, die Wellen und Rundungen mit den Fingerspitzen zu berühren. 

»Glas ist ein wunderbar sinnliches Material, nicht wahr?« Rebecca stellte ein Teetablett auf einen niedrigen Tisch. »Ich kann das Glas natürlich nicht formen, wie Connor seinen Stein formt, aber dafür kann man Stein nicht verflüssigen, man kann ihn nicht erhitzen und dann gestalten.« 

Sie reichte Freddie eine Tasse Tee. »Aber Sie sind nicht hergekommen, um sich über Glas zu unterhalten. Sie möchten mit mir über Ihre Schwester Tessa sprechen.« 

»Ja.« Freddie sah Rebecca direkt in die Augen. »Die Büste in der Galerie, mit dem Namen Tessa, das ist doch eine Skulptur von ihr 

»Ich bin ihr nie begegnet, aber Milo hat mir gesagt, dass sie sehr schön war. Und das war sie wirklich, nicht wahr? Ich habe Bilder von ihr in der Bibliothek gefunden, in Zeitschriften und Büchern. Und ich war auf einer Fotoausstellung.« 

»Max«, sagte Freddie. »Das waren Max’ Fotos.« 

»Ja, Max Fischer. Ich kann mir gut vorstellen, warum die Kamera sie liebte. Ihr Gesicht hatte etwas so Offenes und Zerbrechliches. Und trotzdem auch etwas Rätselhaftes. Wahrscheinlich hat Schönheit immer etwas Rätselhaftes. Wir können nicht verstehen, warum sie uns so anzieht.« Sie sah Freddie an. »Es hat mir so leidgetan zu hören, dass sie tot ist.« 

»Wirklich?«, fragte Freddie. »Ich hätte eher gedacht, Sie haben sie gehasst.« 

Rebecca wich nicht aus. »Ja, eine Zeit lang habe ich sie gehasst«, sagte sie. »Meine Skulptur war zum Teil eine Botschaft. Ich dachte, wenn Sie sie sähen, könnten Sie selbst entscheiden, ob Sie alles wissen wollen. Man möchte ja gar nicht immer die Wahrheit wissen, nicht wahr? Oft versteckt man sich davor. Eine Beichte kann den, der sie ablegt, befreien und den, der sie empfängt, vernichten. Ich dachte mir, so hätten Sie die Freiheit der Entscheidung. Und Sie haben sich offensichtlich entschieden, Mrs. Coryton, sonst wären Sie nicht hier.« 

»Ich glaube, dass Ihr geschiedener Mann, Milo, der Vater von Tessas Kind war.« 

»Ja, das ist richtig.« 

»Und Sie wussten es?« 

»Ja, ich weiß es schon sehr, sehr lange.« 

»Er hat so viel Schaden angerichtet.« Freddies Stimme zitterte ein wenig. 

»Ja. Und ich auch.« 

»Sie?« 

»Ja, ich. Soll ich Ihnen erzählen, wie es war?« 

Schweigen. Dann nickte Freddie wortlos. 

»Ich habe Milo einmal sehr geliebt.« Rebecca setzte sich in den gestreiften Sessel. »Und ich fürchtete immer, er liebe mich nicht mit gleicher Stärke. Als ich dahinterkam, dass er eine Beziehung mit Ihrer Schwester hatte, war ich außer mir vor Wut. Anders kann man es nicht sagen. Er hatte schon vorher immer wieder Affären gehabt, aber diesmal war es schlimmer, wegen des Kindes. Da habe ich Ihre Schwester angerufen und behauptet, Milo hätte schon wieder eine Andere. Ich behauptete, er liebte sie nicht mehr und hätte kein Interesse an ihr und dem Kind.« Rebecca sah Freddie gerade in die Augen. »Sie war natürlich erregt. Deshalb ist sie an dem Nachmittag nach Oxford gefahren. Sie wollte mit Milo reden. Sie wollte von ihm hören, ob das, was ich behauptet hatte, stimmte.« 

»Sind Sie ganz sicher?«, fragte Freddie leise. 

»Vollkommen sicher können wir nie sein, aber ich glaube, dass es so war, ja.« 

»Und das wussten Sie damals schon?« 

»Ja. Ich hoffte, ich würde auf der Beerdigung mit Ihnen sprechen können und hören, dass Ihre Schwester an jenem Nachmittag aus einem anderen Grund nach Oxford unterwegs war. Aber dazu kam es nicht.« 

»Aber Sie haben mir nichts gesagt 

»Nein.« Rebecca runzelte die Stirn. »Damals war ich erleichtert. Ich dachte wahrscheinlich, ich wäre davongekommen. Und später konnte ich nicht erkennen, was es helfen würde. Ich wusste, dass das Kind gestorben war und Ihre Schwester den Unfall überlebt hatte. Ganz gleich, was ich gesagt hätte, es hätte nichts geändert.« 

Ich dachte wahrscheinlich, ich wäre davongekommen. Freddie erinnerte sich der langen, schrecklichen Monate nach Tessas Unfall, an Tessas Kummer und Schmerz. 

»Und da haben Sie einfach weitergemacht«, sagte sie, »als wäre nichts geschehen?« 

»Nein. Ich habe Milo verlassen und versucht, mir ein eigenes Leben zu schaffen. Aber ich konnte nicht. Es wurde erst möglich, als mein Leben ganz und gar in Scherben lag. Da konnte ich noch einmal von vorn anfangen.« 

»Tessas Leben lag in Scherben, nicht Ihres!« Freddie konnte ihren Zorn nicht länger zurückhalten. »Und das Kind, das arme kleine Kind.« 

»Ja.« Derselbe gerade, stetige Blick. »Natürlich. Das ist wahr.« 

Und doch hatte auch Rebecca Rycroft zweifellos gelitten. Freddie erinnerte sich ihres Hasses auf Marcelle Scott, nachdem Lewis sie verlassen hatte. Wie sie sich in diesen Hass hineingesteigert hatte, sodass er Tag und Nacht ihre Gedanken besetzt hatte. War nicht auch ihr Leben durch das Scheitern ihrer Ehe in Scherben gegangen? Wenn sie eine Möglichkeit gesehen hätte, Marcelle leiden zu lassen, hätte sie sie dann nicht wahrgenommen? 

»Es tut mir leid«, sagte sie steif. »Ich hätte Sie nicht anschreien sollen.« Sie trank einen Schluck Tee. »Sie sagten, dass Sie noch einmal von vorn angefangen haben. Wie haben Sie das gemacht?« 

»Zuerst ist mir ein Engel begegnet.« 

»Ein Engel?« 

»Ja. Sie können mich für verrückt halten, wenn Sie wollen. Vielleicht war ich das ja auch. Er hatte keine Flügel und keinen Heiligenschein – nein, mein Engel hatte eine Schirmmütze auf und einen Tornister auf dem Rücken. Aber ich glaube heute wie damals, dass an diesem Tag etwas Außergewöhnliches passiert ist. Wie dem auch sei, er sagte, ich solle hinaustreten. Das war der Rat, den er mir gab, hinauszutreten. Und das habe ich getan. Ich bin aus meinem Leben hinausgetreten.« 

Einen ähnlichen Impuls hatte Freddie neuerdings auch manchmal verspürt. Wenn sie morgens vor dem Spiegel gestanden und sich geschminkt hatte oder wenn sie am Morgen die Rolltreppe hinunter zur U-Bahn gerannt war, hatte sie plötzlich der heftige Wunsch gepackt, aus ihrem eigenen Leben zu fliehen. Meistens hatte sie diese gefährlichen Gedanken verdrängt, aber hin und wieder war sie ihnen gefolgt wie durch einen langen Tunnel. 

»Und wie haben Sie das gemacht?«, fragte sie. 

»Ich bin auf einen Bauernhof in Sussex gezogen. Dort habe ich Connor kennengelernt. Ich blieb fast den ganzen Krieg hindurch dort, bis meine Mutter krank wurde. Anfangs war es hart. Ich hatte bis dahin ein sehr komfortables Leben geführt, obwohl es mir jetzt in der Rückschau ziemlich leer vorkommt. Es ist merkwürdig, wie leicht wir uns an ein Leben gewöhnen, das nicht das Richtige für uns ist. Und ich bin mir nicht sicher, ob es uns guttut, nur mit dem Herzen zu leben. Ich glaube, wir müssen auch unseren Verstand und unsere Hände gebrauchen. Ich habe auf dem Hof gearbeitet, und nach einer Weile habe ich angefangen, mit Glas zu arbeiten. Es war, als hätte ich endlich gefunden, was in meinem Leben bis dahin gefehlt hatte. Das ist meine Geschichte, Mrs. Coryton. Wenn es irgendwie möglich gewesen wäre, die Vergangenheit rückgängig zu machen, hätte ich es getan. Aber es war eben nicht möglich. Ich könnte Ihnen bis ans Ende meiner Tage mein Bedauern beteuern, Mrs. Coryton, und es würde nichts ändern. Manche Geschehnisse sind wie ein Sprung in Glas. Sie setzen sich fort und fort und hören niemals auf. Man kann letztlich nichts tun, als die Vergangenheit anzunehmen und weiterzugehen.« 

Freddie sah zum Fenster hinaus. Sie dachte an die schrecklichen Folgen, die Rebeccas Anruf nach sich gezogen hatte. Sie dachte an den Unfall, an Angelos Tod, an Tessas Verletzung und die äußeren und inneren Narben, die sie davongetragen hatte. Wäre Angelo nicht gestorben, so wäre Tessa nicht nach Italien zurückgekehrt. Und wäre Tessa nicht nach Italien zurückgekehrt, so wäre sie dort nicht ums Leben gekommen. Rebecca Rycroft, Milo Rycroft – sie verdienten beide, dass alle Welt die Wahrheit erfuhr. Warum sollte ihr Ansehen unbeschädigt bleiben? 

Aber wenn Tessa nicht nach Italien gegangen wäre, wer hätte sich dann im Krieg um die Kinder gekümmert? Wer hätte im tiefsten toskanischen Winter die alliierten Soldaten – Soldaten wie Jack – mit Nahrung und Kleidung versorgt? Wer hätte geholfen, die Kinder in Sicherheit zu bringen? Sie war eine Heldin, hatte Faustina geschrieben. Sie war stark, treu und mutig, und wir werden sie niemals vergessen und immer vermissen. Und Desmond Fitzgerald: Sie war eine wunderbare Frau, Freddie. Sie sollten stolz auf sie sein. 

Wäre Tessa nicht nach Italien gegangen, so wäre das Leben vieler Menschen ärmer gewesen. Sie selbst wäre niemals Jack Ransome begegnet. Sie hätte niemals die Liebe kennengelernt, auch wenn sie diese Liebe nicht festgehalten hatte. 

Sie wusste, dass Rebecca auf ein Wort von ihr wartete. Wenn Rebecca ihre Skulptur als Botschaft für sie gedacht hatte, was erwartete sie dann jetzt von ihr – Freddie – als Gegenleistung? Vergebung vermutlich. Und konnte sie vergeben? Zu ihren Stärken gehörte es sicher nicht. Ihre Unfähigkeit zu vergeben hatte Lewis vertrieben. Herablassend, hatte er sie genannt. Du willst vielleicht nicht so sein, aber du bist es. 

Verzeihung wäre vielleicht so etwas wie ein Schlussstrich. Sie würde ihr vielleicht erlauben, ebenfalls hinauszutreten. 

Sie stand auf, nahm Tasche und Handschuhe. »Ich glaube, ich gehe jetzt«, sagte sie. »Ich danke Ihnen, dass Sie mir das alles gesagt haben, Rebecca. Es war sicher nicht leicht.« Sie sah Rebecca an. »Tessa wollte nie anderen Menschen wehtun, aber manchmal hat sie es wohl leider doch getan.« 

»Die Statuette gehört natürlich Ihnen, wenn Sie sie haben möchten.« 

»Danke.« 

Rebecca brachte sie zur Tür. Freddie gab ihr die Hand. Dann trat sie hinaus in die Sonne. Noch einmal drehte sie sich nach Rebecca um.  

»Sie dürfen sich keine Vorwürfe machen, bitte nicht. Es gibt Dinge, die einfach passieren, ohne dass wirklich jemand schuld daran hat. Und Tessa war immer eine schlechte Autofahrerin.« 

Einen Monat nach Freddies Gespräch mit Rebecca starb Renate Mayer. Sie hinterließ Freddie ihre Bernard-Leach-Sammlung und tausend Pfund. Einige Wochen später drohte Mr. de Courcy ihr eine Gehaltskürzung an, weil sie mit drei Minuten Verspätung von der Mittagspause zurückgekommen war. Sie kündigte. 

Die Vasen ließ sie nach London transportieren. Sie standen in ihrem Wohnzimmer und waren in ihrer erdfarbenen Schlichtheit eine Erinnerung an die Bedeutung von Schönheit. 

Max kam vorbei, um sich die Gefäße anzusehen. Freddie erzählte ihm von dem Geld, das Renate Mayer ihr hinterlassen hatte. 

»Was willst du damit machen?«, fragte er. 

»Nach Italien fahren«, sagte sie. 

»Ach was?« Seine Augen blitzten amüsiert. »Bravo, Freddie.«  

Bevor sie abreiste, besorgte sie sich bei Hatchards Jack Ransomes Bücher. Sie las sie unterwegs auf den langen Bahnfahrten von London nach Florenz. Das erste Buch erzählte von Jacks Erlebnissen in Italien in der Vorkriegszeit und während des Krieges. Im zweiten beschrieb er sein Leben im Italien der Nachkriegszeit und eine Reise rund um das Mittelmeer. 

Am ersten Tag in Florenz streifte Freddie durch die Stadt, um sich von Neuem mit ihren Straßen und Plätzen vertraut zu machen. Am zweiten Tag stöberte sie in den Geschäften, kaufte Postkarten und eine lederne Handtasche. Sie frühstückte morgens in einem kleinen Café auf der Piazza del Duomo und kehrte gegen elf zu einem Kaffee dorthin zurück. Manchmal besuchte sie ein Museum, aber immer häufiger wanderte sie einfach ziellos und zufrieden durch die Stadt. 

Nach einer Woche hörte sie auf, Pläne zu machen. Etwas in ihr hatte sich gelöst, eine Anspannung oder ein innerer Druck, an den sie sich so gewöhnt hatte, dass sie ihn erst richtig bemerkte, als er aufhörte. Die Wärme der Sonne und die Freundlichkeit der Menschen waren ihr genug. Sie genoss den historischen Reichtum und das Spektakel, die an jeder Ecke warteten, und die vertrauten Bilder, die sie daran erinnerten, dass ein Teil von ihr in diese Stadt gehörte. Als sie eines Nachmittags auf der Piazza della Signoria saß, fiel ihr ein, dass ihre Eltern sich hier das erste Mal begegnet waren. Ihr Vater hatte, so hatte sie es von ihrer Mutter gehört, an seiner Staffelei gearbeitet, die er im Schatten des Palazzo Vecchio aufgestellt hatte. Er hatte die Standbilder der Loggia dei Lanzi gemalt und ihrer Mutter, die in Begleitung einer Tante durch Italien reiste, angeboten, sie zu porträtieren. Die junge Liebe hatte sich ohne Worte entwickelt, weil bei den Sitzungen stets eine Anstandsdame anwesend gewesen war. Aber Blicke und Gesten hatten als Liebesschwüre genügt, und man hatte sich heimlich verabredet. Nach der Fertigstellung des Porträts waren Gerald und Christina miteinander durchgebrannt. Drei Wochen später hatten sie in der englischen Kirche in Rom geheiratet. 

Die Sonne schien in ihre Haut hineinzusinken. Freddie konnte stundenlang in dem kleinen Straßencafé sitzen und, abgesehen von gelegentlichen Blicken zum mächtigen bunten Dom, die Menschen beobachten. Manchmal lag sie den ganzen Tag im verdorrten Gras der Boboli-Gärten und las. Oder sie setzte sich auf eine Bank und betrachtete den Okeanos-Brunnen. Sie fuhr mit dem Bus nach Fiesole und entdeckte, dass jemand die Villa Millefiore gekauft hatte. Die ehemals bröckelnde Fassade war renoviert, und neben der Villa schaufelte ein Arbeiter Sand in einen Zementmischer. Sie erinnerte sich, wie viel Angst ihr und Tessa die nächtlichen Geräusche und Schatten der Villa gemacht hatten, als sie damals bei Mrs. Hamilton eingezogen waren. Sie erinnerte sich, wie die weichen, spitzenähnlichen Wasserlinsen ihre Beine berührt hatten, wenn sie im Becken geschwommen war. Sie hatte sich so frei gefühlt. 

Eines Morgens, drei Wochen nach ihrer Ankunft in Florenz, erwachte sie mit Kopfschmerzen. Als sie die Vorhänge aufzog, sah sie dichte eisengraue Wolken, die schwer und metallisch auf die heiße, stickige Stadt drückten. An Frühstück mochte sie gar nicht denken; ihre Ziellosigkeit hatte plötzlich etwas Niederdrückendes. Sie fühlte sich von der Stadt und ihrem pulsierenden Leben abgeschnitten. Diese Stadt hatte auch ihre finsteren Seiten, die Bettler, die mit ausgestreckten Händen in den Tornischen hockten, zeigten es ebenso wie der Fanatismus und die Grausamkeit, die ihre Geschichte verdunkelt hatten. 

Dann klarte es auf, und die Sonne brannte wieder herunter, als sie die Galleria dell’Accademia betrat. Drinnen drängten sich die Touristen vor den Kunstwerken. Freddie legte den Kopf in den Nacken, um zu den Gemälden hinaufzusehen. Verzerrte Körper an Kreuzen, Blutströme aus dem weißen, wächsernen Körper des Gekreuzigten. Ein Mann rempelte sie an; jäh überfielen sie Schwindel und Übelkeit, und sie lief auf die Straße hinaus. 

Sie ging weiter zur Piazza San Marco und setzte sich in ein ruhiges Café, wo sie ein Glas Wasser und einen Kaffee trank. Sie wusste, dass nicht Florenz sie im Stich ließ, sondern ihr eigener Mut. Hatte sie vielleicht alles falsch gemacht? Hatte sie vielleicht unter der Nachwirkung von Tessas schrecklichem Unfall beschlossen, in Zukunft jedes Abenteuer zu vermeiden? Was, wenn sie damit auch vor dem Risiko der Liebe geflohen war? Wenn sie nur noch nach Sicherheit gesucht hatte –Sicherheit, die sich am Ende als Illusion erwiesen hatte? 

Sie hatte sich gegen Schönheit gewehrt und gegen Liebe, weil sie deren Macht, zu verändern, gefürchtet hatte – aber wollte sie den Rest ihres Lebens davonlaufen? 

Trau dich. Setz dich aufs Spiel. Wag ein Abenteuer. 

Die Kopfschmerzen ließen nach. Sie bezahlte ihren Kaffee und ging über den Platz zum Kloster San Marco. Die hohen Mauern schützten vor der Sonnenglut, und nur wenige Menschen hielten sich im Museum auf. Langsam ging sie von einem Ausstellungsstück zum anderen und blieb dann plötzlich stehen. Auf einem bemalten Holzschrank kniete ein Engel vor Maria. Der Engel hatte gelbes Haar und trug ein braunes, rosa schimmerndes Gewand. Er hatte prachtvolle vielfarbige Flügel, die mit Streifen in Gelb, Kobaltblau, Schwarz und Rot geziert waren, und, nur auf einem ausgebreiteten Flügel sichtbar, mit einem blauen Auge wie auf einer Pfauenfeder. Rebecca Rycrofts Engel mit seiner Schirmmütze und dem Tornister war ein sehr englischer Engel gewesen. Dieser hier, dachte Freddie, mit seinem vielfarbigen Flügeln und den goldenen Haaren, war ein italienischer Engel. 

Als sie aus dem Kloster herauskam, ging sie zum Postamt und bestellte eine internationale Telefonverbindung. Am Nachmittag machte sie ihren Anruf. Sie wartete in der Zelle, während sie mit der internationalen Vermittlung verbunden wurde, die sie wiederum mit London verband, von wo aus endlich die Verbindung mit der Nummer von Lewis und Marcelle in Chelsea hergestellt wurde. Marcelle meldete sich. Nach einem frostigen Austausch höflicher Floskeln bat Freddie sie um Jacks Adresse und Telefonnummer in Rom. Es blieb einen Moment still, als dächte Marcelle ernstlich daran, ihr diese Auskunft zu verweigern. 

Aber dann sagte sie: »Ja, natürlich«, und las ihr die Angaben vor. 

Freddie dankte ihr, verabschiedete sich und rief die Nummer in Rom an. 

Freddie saß in dem kleinen Straßencafé.  

Auf der Piazza marschierte ein halbes Dutzend schwarz gekleideter Priester auf den Dom zu. Ein Pärchen schlenderte Arm in Arm durch die Menschenmenge. Ein Kind rannte einem roten Ballon hinterher, und eine Schar Tauben erhob sich flatternd in die Luft. Ein Tourist richtete seinen Fotoapparat auf das Baptisterium und knipste. 

Sie sah ihn aus der Ferne, klein zu Füßen des gewaltigen Dombaus. Helle Jacke und Hose, dunkelblaues Hemd, das Sonnenlicht auf dem hellen Haar. War er es wirklich? Sie konnte es nicht gleich erkennen. Sie stand auf, um besser sehen zu können. Ja, er war es – ganz bestimmt, er war es – ihr Herz öffnete sich weit. 

Jetzt hatte Jack sie bemerkt. Er hob grüßend die Hand. 

Sie ging ihm über den Platz entgegen.