10

 

Sie war immer vorsichtig. Sie war jetzt Tessa Bruno, hübsch, anonym, eine Witwe aus irgendeinem gottverlassenen Dorf in irgendeinem kaum bekannten Gebirgstal. Ihre Papiere waren gefälscht (Freddie war entsetzt gewesen), aber sie taten ihren Dienst. 

Freddie hatte sie überreden wollen, nach Hause zu kommen. Nach Hause  eine Woche, einen Tag, eine Stunde, nachdem sie Ende Oktober 1938 die Grenze nach Italien überquert hatte, hatte Tessa gewusst, dass sie wieder zu Hause war. Ein Teil der Last schien ihr von den Schultern zu fallen; die Luft, die sie atmete, war vertraut und tröstlich. 

Zuerst war sie bei einem Freund untergeschlüpft, einem Modeschöpfer, der am Comer See lebte. Sie hatte früher oft mit Fabio zusammengearbeitet; er und sein Liebhaber Jean-Claude nahmen sie mit offenen Armen auf. Das Haus war elegant, der Garten, direkt am See, wunderschön. Sie ging ein bisschen spazieren, las ein bisschen und schlief viel. Aber nach einer Weile merkte sie, dass Fabio Bescheid wusste – kein Wunder, er liebte Klatsch und davon gab es in der Welt der haute couture jede Menge. 

Also zog sie weiter, zunächst nach Venedig, wo sie eine kurze Affäre mit einem distinguierten älteren Mann, einem Witwer, hatte. Aber Venedig tat ihr nicht gut, sie fühlte sich von einem verzehrenden Schmerz gequält, vielleicht wegen der Melancholie des dunklen Wassers und der wie auf Winternebeln schwebenden Inseln. Unschlüssig und niedergeschlagen verließ sie die Stadt wieder. 

Die folgenden Monate waren chaotisch, ein Kaleidoskop von Begegnungen und Trennungen, kurzen Liebschaften und endlosem Herumreisen. Damals glaubte sie, sie wolle sich damit ablenken. Später fragte sie sich, ob sie sich damit hatte strafen wollen. 

Einer ihrer flüchtigen Liebhaber, ein zwielichtiger und unberechenbarer Mensch, der sich am Rand der Legalität bewegte, hatte ihr die gefälschten Papiere beschafft. Irgendwo zwischen Bologna und Florenz wurde aus Tessa Nicolson die Signora Bruno, eine ruhige, ehrbare Witwe. Sie fand eine kleine Wohnung im Oltrarno-Viertel und Arbeit in einem Modegeschäft in der Via de’ Tornabuoni. Sie lernte, mit ihrem geringen Lohn auszukommen. Sie kochte sogar selbst, obwohl das nicht zu ihren Talenten gehörte. 

Zurück in Florenz, erinnerte sie sich an Guido Zanetti. Er war ihre erste Liebe gewesen, und während sie die Stadt, in der sie beide aufgewachsen waren, neu entdeckte, erinnerte sie sich auch wieder der Wonnen und des Schmerzes jener ersten Liebe, ihrer ganz besonderen, bitteren Süße. Sie hatte sich umgehört und erfahren, dass Domenico Zanetti gestorben war und Guido die Seidenwerkstätten übernommen hatte. Er lebte mit seiner Frau und einem Kind im Palazzo Zanetti in der Via Ricasoli. Er musste jetzt fast dreißig sein, vielleicht nicht mehr die strahlende, aristokratisch wirkende Erscheinung von einst. Vielleicht hatte er um die Mitte ein wenig angesetzt, und das lockige dunkle Haar begann sich über der Stirn zu lichten. Als verheirateter Mann war er wahrscheinlich bequem und vermutlich auch eine Spur selbstzufrieden geworden. Nein, sie hatten heute sicher nichts mehr gemeinsam. 

Im September 1939, nach der Besetzung Polens durch die Deutschen, blieb Italien zu Tessas Erleichterung neutral. Vielleicht würde sie an dem bescheidenen Leben, in dem sie sich eingerichtet hatte, festhalten können. Vielleicht würde der Krieg nichts ändern. Die Monate verstrichen. Sie ging keine engen Freundschaften ein und wehrte Einladungen der anderen Frauen im Laden ab, indem sie sich auf ihre vorgebliche Witwenschaft berief. In dem Antiquariat unter ihrer Wohnung arbeitete ein Mann, Mitte dreißig, freundlich, ein wenig rundlich und mit Brille, der ihr stets Guten Morgen wünschte. Manchmal trank sie in dem kleinen dunklen Laden, in dem es nach altem Papier und Spinnweben roch, einen Kaffee mit ihm. »Ich würde Sie ja bitten, einmal mit mir essen zu gehen«, sagte er eines Abends, als er seinen Laden schloss, »wenn ich auch nur das kleinste Fünkchen Hoffnung hätte, dass Sie zusagen, aber es besteht keine Chance, wie?« 

Sie hatte gelernt, sich auf nichts einzulassen. Wenn man gar nicht erst mit einem Mann essen ging, würde es nie zu einem Kuss kommen. Wenn man ihn nicht zum Geburtstag einlud, würde man nicht am Ende mit ihm ins Bett gehen. Wenn man vorsichtig war, verliebte man sich nicht in den Falschen und wurde nicht verletzt. In der Rückschau meinte Tessa zu erkennen, dass viele ihrer Liebhaber falsche Männer gewesen waren. 

Sie war in diesem harten Winter 39/40 oft sehr einsam. Die Sonntage waren am schlimmsten, mit ihrer erzwungenen Muße und dem Anblick glücklicher Familien, die im Sonntagsstaat auf den Straßen spazieren gingen. Es fiel ihr schwer, sonntags etwas mit sich anzufangen – nähen, lesen, waschen, ein Spaziergang – und noch schwerer, die Trauer abzuwehren, die sie bedrängte wie die Enge ihres Zimmers. 

An einem bitterkalten Sonntag, als der Himmel wie eine graue Betonplatte auf die Stadt drückte, ging sie zum Bahnhof, um die Abfahrtszeiten der Züge nachzusehen. Sie würde nach England zurückkehren; sie vermisste Freddie. Oder sie würde nach Paris fahren – sie hatte Paris immer geliebt. Doch am folgenden Morgen war der Himmel klar und spiegelte sich wolkenlos blau im Wasser des Arno. Sie war immer ihrer Intuition gefolgt, und es erschien ihr jetzt richtig, hier zu sein, in dieser Stadt, trotz ihrer Einsamkeit und trotz den Gefahren. War das Flucht? Ja, vermutlich. Weigerte sie sich, der Realität ins Auge zu sehen, wie Freddie angedeutet hatte? Nein, das glaubte sie nicht. Die Geschichte war hier hautnah, Liebe und Schmerz, Eifersucht und Reue von Jahrhunderten waren in jeden Stein eingeschrieben, spukten in den Schatten jeder Gasse. Schreckliche Dinge waren hier geschehen; diese Stadt würde sie nicht verurteilen. Sie wusste, dass sie wartete, darauf wartete, ein Ziel für ihr Leben zu finden. 

Der Frühling kam, und in der Luft lag eine Wärme, die ihr neuen Mut verlieh. Im Grunde hatte sie immer gewusst, dass Hitler sich nicht mit Polen zufriedengeben würde. Im April marschierten seine Truppen zuerst in Dänemark, dann in Norwegen ein. 

Tessa sparte und kaufte sich auf dem Flohmarkt ein altes Radio. Der Mann im Antiquariat, ein Amateurfunker, bastelte daran herum, bis eine blecherne Stimme aus dem Lautsprecher zu hören war. In der Stadt war die Spannung zum Greifen, schien in der Luft zu zittern wie die zu straff gespannte Saite einer Geige. Im Laden kicherten und kreischten die Frauen beim geringsten Anlass oder weinten beim Briefschreiben an ihre Verlobten beim Militär. 

Die allgemeine Unruhe steckte auch Tessa an. Sie ging viel spazieren, sie rauchte viel und schrieb Briefe an Freddie, in denen sie sie anflehte, aufs Land zu übersiedeln, nach Land’s End, John o’Groats, so weit weg wie möglich von der Hauptstadt, wo die Bomben fallen würden. Eines Tages Anfang Mai machte sie einen Spaziergang in den Boboli-Gärten. Sie ging die lange Hauptallee hinunter, als sie ihn sah. Guido war in Begleitung seiner Frau und seiner kleinen Tochter. Er war weder dicklich noch war sein Haar schütter, sie erkannte ihn augenblicklich. Sie überlegte, ob sie umdrehen und davonlaufen und sich hinter den Zypressen auf der Seite verstecken sollte. Aber irgendetwas trieb sie vorwärts, vielleicht der Wille, sich selbst auf die Probe zu stellen. Vielleicht würde er sie gar nicht erkennen. Sie war älter, unscheinbarer geworden – das kurze Haar, die Narbe auf der Stirn.  

Sie kamen näher: Seine Frau, schlank und blond in einem weißen Kostüm mit erdbeerroter Bluse und einem Hut gleicher Farbe, lachte über irgendetwas. Das Kind im Sportwagen hatte hellblonde Locken und trug ein weißes Rüschenkleidchen. Sie gingen vorbei – er hatte sie nicht erkannt – die Geschichte war vorbei. Ja, natürlich. Es war ja so lange her. 

»Tessa!« 

Der Klang seiner Stimme; sie erinnerte sich, wie diese Stimme sie früher elektrisiert hatte. Sie drehte sich herum. 

»Tessa, du bist es wirklich.« Er ging auf sie zu. 

»Hallo, Guido«, sagte sie. »Wie geht es dir?« 

»Sehr gut. Und dir?« Sein Blick verriet Verwirrung und Schock. Und auch Freude, dachte sie. »Was für ein außerordentlicher Zufall, dich hier zu sehen«, sagte er. »Wo bist du abgestiegen?« 

Seine Frau sagte sanft: »Amore …« 

»Ich bitte um Entschuldigung. Maddalena, das ist Tessa –« 

»Tessa Bruno.« Sie reicht Maddalena Zanetti die Hand. »Es freut mich sehr, Sie kennenzulernen, Signora.« 

»Ganz meinerseits, Signora Bruno.« 

Tessa sah lächelnd zu dem Kind im Sportwagen hinunter. »Was für ein entzückendes kleines Mädchen.« 

»Sie heißt Lucia«, sagte Maddalena, »aber wir nennen sie immer Luciella.« 

»Wie alt ist sie?« 

»Fast drei.« 

»Sie sind sicher sehr stolz auf sie.« Sie fügte hinzu: »Guido und ich kennen uns aus unserer Kindheit.« 

»Bist du zu Besuch hier?«, fragte Guido. »Wie lange bleibst du?« 

»Ich lebe hier«, antwortete sie. »Und jetzt –«, ein schneller Blick auf ihre Uhr, »muss ich leider gehen. Ich bin ein bisschen in Eile. Es war wirklich schön, euch beide zu treffen.« Neuerliches Händeschütteln. »Auf Wiedersehen, Guido. Auf Wiedersehen, Signora.« 

Sie ging weiter, die Allee hinunter. Damals, im Sommer 1933, hatte sie es immer gespürt, wenn er sie ansah. Beim Abendessen ein Blick über den Tisch, und da war er – gut aussehend, dunkel, unruhig, grüblerisch. Auf dem Heimweg von der Schule ein Gefühl, als zöge etwas an ihr, und wenn sie aufschaute, sah sie ihn auf der anderen Seite der Piazza stehen. Als wären sie durch ein unsichtbares Band miteinander verknüpft. Auch jetzt spürte sie es, spürte seinen Blick wie ein Brennen in ihrem Rücken. Sie ballte die Fäuste und beschleunigte ihren Schritt. 

Zwei Tage nach ihrem Zusammentreffen in den Boboli-Gärten wartete er vor ihrem Haus auf sie, als sie von der Arbeit kam. 

»Guido«, sagte sie. »Wie hast du mich gefunden?« 

»Ich habe herumgefragt. Es war nicht schwierig. Du arbeitest bei Ornella, nicht?« So hieß das Modegeschäft. »Ich kenne jeden in der Via de’ Tornabuoni«, fügte er hinzu. »Es wundert mich, dass wir uns nicht schon früher über den Weg gelaufen sind.« 

Er blickte die Gasse hinunter. An langen Leinen über ihnen hingen Wäschestücke schlaff in der stillen Luft. Ein Mann in einer zerrissenen Arbeitshose und einem ölverschmierten Unterhemd schraubte an einem Motorrad herum. Kindern spielten mit einer Orangenkiste, zogen sie als Auto über das holprige Pflaster und stritten sich, wer sich hineinsetzen durfte. Guido verzog ein klein wenig den Mund. 

»Ich verstehe dich nicht, Tessa«, sagte er. »Warum hast du mich nicht angerufen? Warum hast du mich nicht wissen lassen, dass du wieder hier bist?« 

Sie seufzte. »Komm rein, Guido. Der Tag war lang, und ich bin müde und würde mich gern setzen.« 

»Dein Mann –« 

»Ich bin nicht verheiratet.« 

Sie öffnete die Tür, und er folgte ihr ins Haus. In ihrer Wohnung bot sie ihm ein Glas Wein an. 

»Nein, danke. Maddalenas Eltern kommen zum Essen zu uns. Und ich möchte gern Luciella noch sehen, bevor die Kinderfrau sie zu Bett bringt.« Er setzte sich nicht, sondern ging zum Fenster und schaute hinaus. »Du bist also nicht verheiratet? Bist du Witwe?« 

»Nein.« 

Er runzelte die Stirn. »Geschieden dann?« 

»Nein, auch nicht. Ich habe nie geheiratet.« Tessa erzählte ihm von Signora Bruno und dem gottverlassenen Dorf in einem kaum bekannten Gebirgstal. »Ich hielt es für das Beste«, schloss sie. »Mit einem englischen Nachnamen wäre es hier in Florenz im Moment schwierig. Keine Sorge, Guido, ich habe Papiere auf den Namen Bruno.« 

Er kniff die Augen zusammen. »Gefälschte Papiere?« 

»Ja.« 

»Tessa, was tust du da?« 

»Ich brauchte einen italienischen Namen, um Arbeit zu bekommen. Und eine Wohnung – um überhaupt irgendetwas tun zu können. Ohne diese Papiere hätte ich wahrscheinlich keine Chance gehabt.« 

»Du hast vor, hierzubleiben?« 

»Aber ja. Ich bin sehr vorsichtig. Ich halte mich möglichst im Hintergrund und bemühe mich, nicht aufzufallen.« 

»Nicht aufzufallen? Ausgerechnet du?« Es klang verärgert. »Mach dich nicht lächerlich, Tessa.« 

»Ich habe mich verändert, Guido.« Ihr Ton wurde kalt. »Ich bin nicht mehr die, die ich früher einmal war. Vielleicht hätte ich dir nichts sagen sollen. Vielleicht hätte ich dich anlügen sollen wie alle anderen.« 

»Aber begreifst du denn nicht, dass du dich in ernste Gefahr bringst? Gefälschte Papiere in diesen Zeiten? Lieber Gott, Tessa, das ist Wahnsinn.« 

»Aber ich habe mich so entschieden. Und es geht dich wirklich nichts an.« Sie sah ihn kühl an. »Unsere Freundschaft ist schließlich seit Langem beendet.« 

Er sah wütend aus. Er nahm seinen Hut. »Das stimmt. Entschuldige, dass ich dich belästigt habe.« 

Sie ging zur Tür und öffnete sie. »Auf Wiedersehen, Guido.« Sie hörte seine Schritte, als er die Treppe hinunterrannte. 

Sobald er gegangen war, legte sich ihr Zorn. Sie presste die Lippen aufeinander und kämpfte gegen die plötzliche Niedergeschlagenheit. Im Schlafzimmer zog sie eine Schublade auf und strich mit der Hand über die Dinge, die darin aufbewahrt waren. Sie hatte Fotografien, ein paar Schühchen und einen kleinen Stoffhasen. Das waren ihre Andenken an ihren Sohn. Es gab noch andere Dinge, die Angelo gehört hatten, aber die hob Ray für sie auf, bis sie es ertragen konnte, sie wieder anzusehen. 

Es quälte sie, dass sie sich an die letzten Tage mit ihrem Sohn nicht erinnern konnte. Es quälte sie, dass sie nicht mehr wusste, wann sie ihn zum letzten Mal im Arm gehalten hatte. Ein so bedeutender Teil eines so kleinen Lebens, und dennoch waren diese Erinnerungen ausgelöscht, in undurchdringlicher Nacht versunken. Die Ärzte im Krankenhaus hatten ihr erklärt, dass Gedächtnisverlust bei Patienten mit Kopfverletzungen häufig vorkam. Die Erinnerung an die Tage vor dem Unfall könne wiederkehren oder auch nicht. Auch die Tage und Wochen nach dem Unfall, als sie zuerst bewusstlos gewesen war, dann betäubt von starken Schmerzmitteln, waren verloren. Einer der Ärzte hatte versucht, ihre Amnesie mit einem Bild zu erklären. Es sei wie an einem Strand, hatte er gesagt – ganz hinten der feine, trockene, glatte Sand, wo die Erinnerungen an die fernere Vergangenheit klar und deutlich waren, dann die Kräuselwellen im Sand am Rand des Wassers, ein Übergang, und dann der Unfall und die Tage unmittelbar davor und danach, von den Wellen fortgespült. 

Einige Lücken hatte sie in Gesprächen mit Freunden gefüllt. Weil Angelo erkältet gewesen war, hatte sie in jener Woche nicht gearbeitet. Sie war zu einem Fest eingeladen gewesen, war aber nicht hingegangen, weil es Angelo nicht gut ging und sie selbst sehr müde war. Max hatte sie am Abend vor dem Unfall angerufen. Er hatte den Eindruck gehabt, sie sei ein wenig niedergedrückt – vielleicht weil sie zu viel allein war. Sie hatte immer gern Menschen um sich. 

Der Unfall hatte sich auf der Straße nach Oxford ereignet. Tessa vermutete, dass sie nach Oxford gefahren war, um mit Milo zu sprechen. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass sie zu Freddie gewollt hatte; sie hatte Freddie noch nie an einem Montagnachmittag besucht. Außerdem hatte Freddie ihr später gesagt, dass sie sie nicht erwartet hatte. Freddie hatte sogar bei ihrer Tutorin, Miss Fainlight, nachgefragt, und die hatte bestätigt, dass sie – Tessa – in den Tagen vor dem Unfall nicht angerufen hatte. Es war allerdings immer möglich, dass sie ganz spontan beschlossen hatte, nach Westdown zu fahren. 

Dann also Milo. Mit ihm hatte sie nicht gesprochen. Sie hätte ihn fragen können, ob sie verabredet gewesen waren, aber sie hatte es nicht getan. Viele Wochen waren vergangen, bevor sie sich so weit erholt hatte, dass sie daran denken konnte, Milo anzurufen oder zu schreiben. Er hatte in dieser ganzen Zeit nichts von sich hören lassen. Sie hatte nicht versucht, ihn zu erreichen, weil sein Schweigen ihr deutlicher als alle Worte gesagt hatte, dass er sie nicht mehr liebte. Ihre tiefe Enttäuschung über diese Lieblosigkeit zusammen mit der Verzweiflung über den anderen, weit größeren Verlust hatte sie in einen Abgrund gestürzt. Mit der Zeit war die Enttäuschung Zorn gewichen. Und dann sehr bald Resignation und Trauer, als sie begriffen hatte, dass sie, soweit das überhaupt möglich war, die Vergangenheit hinter sich lassen und versuchen musste, aus dem, was ihr von ihrem Leben geblieben war, doch noch etwas zu machen. 

Drei Jahre waren mittlerweile vergangen, und doch war ihr manchmal, als hörte sie sich selbst, wie sie zu Milo Rycroft sagte, die Liebe dauert eben, so lange sie dauert. Das ist meine Meinung. So naiv, so destruktiv. Sie dachte nur noch selten an ihn. Geblieben waren nur misstrauische Vorsicht und die Erkenntnis, welch ungeheure Fehler sie gemacht hatte. 

Ich habe mich verändert, Guido. Ich bin nicht mehr die, die ich früher einmal war. Sie hatte ihm die Wahrheit gesagt: Sie war nicht mehr die Frau, für die sie sich einmal gehalten hatte. Tessa Bruno taugte so gut wie jeder andere Name. Tessa Nicolson gab es nicht mehr. 

Als sie am nächsten Abend von der Arbeit nach Hause kam, stand er wieder vor dem Haus. Dunkler Anzug, wundervoll geschnitten, seidene Krawatte, blankpolierte Maßschuhe. Er wirkte fehl am Platz in dieser Gasse mit den Wäscheleinen und den beschmierten Hausmauern. 

Er schien die Schultern zu straffen, als sie sich näherte. »Ich möchte mich entschuldigen für das, was ich gestern Abend zu dir gesagt habe«, erklärte er förmlich. »Ich war nur besorgt.« 

Guido war immer stolz gewesen. Tessa konnte sich vorstellen, was diese Entschuldigung ihn gekostet hatte. »Ich war vielleicht auch unüberlegt«, räumte sie ein. 

Er wirkte beunruhigt, als er leise auf sie einzureden begann. »Hier hat sich vieles verändert, Tessa. Florenz hat sich verändert. Wenn herauskäme, dass du mit gefälschten Papieren hier lebst, würde die Polizei dich für eine Spionin halten.« 

»Ich werde vorsichtig sein, Guido.« 

Er blickte zu dem schmalen Streifen Himmel zwischen den hohen Mauern hinauf. »Es ist ein schöner Abend«, sagte er. »Wollen wir ein Stück laufen?« 

Sie gingen die Via Romana hinauf. »Es war mir ernst mit dem, was ich gesagt habe, Tessa«, fuhr Guido fort. »Du bist hier nicht sicher. Vielleicht sind wir schon in ein paar Wochen im Krieg.« 

Sie warf ihm einen raschen Blick zu. »Glaubst du?« 

»Ich hoffe, es wird nicht dazu kommen – ich bete darum«, erwiderte er. »Aber es gibt Leute, die den Krieg förmlich herbeisehnen, die darauf drängen. Sie wittern billigen Ruhm.« 

»Und du, Guido? Was meinst du?« 

»Bisher haben wir uns aus dem Krieg herausgehalten und davon profitiert. Ich hatte eigentlich gehofft, dass wir dank dem Zynismus und der Korruptheit der Regierung so weitermachen könnten. Aufseiten Deutschlands in den Krieg einzutreten wäre absolute Dummheit. Es wäre Wahnsinn. Es würde uns vernichten.« 

Ein Bande kleiner Jungen rannte an ihnen vorbei einem Dreikäsehoch in einem Tretauto hinterher. Ein Hund schnüffelte im welken Laub der Gosse. 

»Du hast gestern gesagt, unsere Freundschaft sei beendet, Tessa«, bemerkte Guido. »Aber wenn es so ist, dann war das deine Entscheidung.« 

»Nein, das ist nicht wahr.« Sie erinnerte sich an die ersten unglücklichen Wochen in England – die Schule, der Regen, die Trennung von fast allem, was ihr etwas bedeutete. »Ich habe dir geschrieben«, sagte sie. »Aber du hast nie geantwortet.« 

»Ich habe nicht einen einzigen Brief von dir bekommen.« 

Sie blieb stirnrunzelnd stehen. »Das verstehe ich nicht.« 

»Nicht einen. Überhaupt nichts. Und ich habe – oh, bestimmt ein Dutzend Briefe an dich geschrieben.« 

Log er? Nein, das konnte sie sich nicht vorstellen. »Ich dir auch, Guido«, sagte sie. »Ich schwöre es.« Sie dachte an Westdown mit seinen altjüngferlichen Lehrerinnen und seinen unverständlichen Regeln. Sie hatte nicht zum Briefkasten gehen dürfen; sie hatte ihre Briefe immer einer Präfektin geben müssen.  

»Das war wahrscheinlich die Schule. Vielleicht wollten sie nicht, dass wir mit Jungen korrespondieren. Vielleicht haben die Lehrerinnen unsere Briefe gelesen. Vielleicht haben sie sie zerrissen.« 

»Am Ende habe ich aufgegeben«, sagte er. »Ich dachte, du hättest mich vergessen.« 

»Nein, niemals, Guido.« 

»Wenn ich das gewusst hätte«, sagte er leise. »Warum bist du nach Florenz zurückgekommen, Tessa?« 

»Weil ich hierhergehöre.« 

»Nicht nach England?« 

»Nein. Eine Zeit lang glaubte ich, ich wäre dort zu Hause, aber das war ein Irrtum.« 

»Warst du dort nicht glücklich?« 

»Am Anfang schon.« Sie lächelte. »Ich war vernarrt in London. Ich habe es genossen, mein eigenes Geld zu verdienen.« 

»Was hast du gemacht?« 

»Ich war Mannequin. Ich stolzierte in teuren Kaufhäusern vor Frauen mit zu viel Geld herum.« Sie nahm eine Pose ein, und er lachte.  

»Du hattest Erfolg?« 

»O ja. Ich konnte mich selbst unterhalten und Freddies Schulgeld bezahlen. Darauf war ich stolz.« 

»Und jetzt arbeitest du in einem Modegeschäft … Warum, Tessa?« 

Ihre Stimmung stürzte wieder ab. »Weil etwas passiert ist«, antwortete sie. 

»Die Narbe auf deiner Stirn – hast du deine Karriere als Mannequin deshalb aufgegeben?« 

Automatisch hob sie die Hand und zog die Stirnfransen tiefer. »Ich hatte einen Autounfall«, sagte sie.  

»Warst du schwer verletzt?« Sie nickte. »Ach Tessa, du Arme«, sagte er. 

Sie blieb stehen, um an den Rosen zu riechen, die über eine Mauer fielen. Sie sagte leise: »Ich habe Dinge getan, für die ich mich heute schäme.«  

Sie war ihm dankbar, dass er nicht weiter fragte. Das ließ ihr Zeit, Atem zu holen und das Thema zu wechseln. »Aber dich hat das Leben offensichtlich gut behandelt, Guido. Du hast geheiratet. Du hast eine entzückende kleine Tochter.« 

»Ich habe Glück gehabt, ja, das ist wahr.« 

»Wie hast du Maddalena kennengelernt?« 

Maddalena stammte, wie Guido ihr erzählte, aus einer wohlhabenden florentinischen Familie. Sie war die einzige Tochter, und er kannte sie seit seiner frühesten Kindheit. Die Heirat war ganz im Sinn der beiden Familien gewesen. Maddalena war schön, elegant und gutherzig, eine gewandte Gastgeberin, eine wunderbare Hausfrau und Mutter. 

Seine Beschreibung, dachte Tessa, klang irgendwie matt. Es fehlte ihr an Leidenschaft. Sie stellte sich die beiden vor, Guido und Maddalena, wie sie an einem Sonntagmorgen zur Kirche gingen, sie ganz gelassen, sich innerlich auf den Gottesdienst vorbereitend, er ein wenig gelangweilt, ungeduldig, wie meistens, mit dunklen Augen die Kirchgänger musternd, die die Treppe zum Portal hinaufstiegen, während seine Gedanken wanderten. 

Sie hatten das alte Stadttor erreicht. »Es hat mich traurig gemacht, vom Tod deines Vaters zu hören«, sagte sie. »Ich habe ihn gerngehabt. War er längere Zeit krank?« 

»Zwei Jahre. Es war schrecklich, ihn so zu erleben. Meine Mutter hat ihn gepflegt.« 

»Wie geht es ihr?« 

»Oh, es geht ihr gut. Sie und Faustina leben in der Villa im Chianti. Mamma hat sich auf dem Land immer schon wohler gefühlt.« 

»Wie alt ist Faustina jetzt?« 

»Einundzwanzig.« 

»Ist sie verheiratet – verlobt?« 

»Keins von beidem.« Guido zog die Mundwinkel herab. »Es macht ihr anscheinend nichts aus, sich da draußen in der Wildnis zu vergraben. Ich würde anfangen zu trinken.« 

Tessa erinnerte sich an Faustina Zanetti. Sie kommandiert einen ständig herum, hatte Freddie sich immer beschwert, wenn sie einen Nachmittag mit Faustina spielen musste. 

»Und Sandro?«, fragte sie. 

»Er arbeitet in Bologna.« Guido lächelte. »Er baut Straßen und Brücken. Was macht Freddie, Tessa?« 

»Ach, es geht ihr wirklich gut. Sie arbeitet in einer Zeitschriftenredaktion in London. Sie fehlt mir sehr.« 

Seine dunklen Augen – die Farbe bitterer Schokolade – hielten sie fest. »Dann geh doch nach England zurück«, sagte er leise. 

»Das kann ich nicht«, erwiderte sie. »Ich kann nicht, Guido.« 

Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander her. Dann sagte sie unvermittelt: »Wenn ich heute zurückdenke, wird mir klar, was für eine merkwürdige Situation das damals war. Meine Mutter und deine Mutter. Meine Mutter hat deine Mutter besucht. Sie haben zusammen zu Abend gegessen, die Frau deines Vaters und seine Geliebte. Glaubst du nicht, dass das schlimm war für deine Mutter? Es muss schlimm gewesen sein.« 

»Vielleicht hat sie es nicht gewusst.« 

»Wie denn? Sogar wir haben es gewusst. Du selbst hast es mir erzählt, weißt du das nicht mehr? Du kamst von der Universität zurück und eines Tages hast du mir mitgeteilt, dass meine Mutter und dein Vater eine Affäre haben. Eigentlich hätte ich es selbst merken müssen.« 

»Vielleicht hätte ich den Mund halten sollen. Du warst ja kaum mehr als ein Kind.« 

Ich war alt genug, dachte sie. Wenn sie auf ihre Kindheit zurückblickte, erkannte sie Unstimmigkeiten, die sie irritierten. Sie hatten so viel Freiheit genossen, so leichten Zugang zu Kunst und Schönheit, und waren doch gleichzeitig viel zu naher Berührung mit den Leidenschaften und Bosheiten von Erwachsenenbeziehungen ausgesetzt gewesen. Sie hatte Liebe gesehen, ohne sie zu verstehen, sie hatte erlebt, wie ihr Vater und ihre Mutter einander verletzt hatten und hatte es für etwas ganz Normales gehalten. Diese Erfahrungen hatten sie geprägt, das erkannte sie jetzt. 

Am zehnten Mai überfielen Hitlers Truppen Belgien, die Niederlande und Nordfrankreich. In Florenz klebten faschistische Gruppen Plakate an die Hausmauern, die den Duce aufforderten, Frankreich und Großbritannien den Krieg zu erklären. In dem Modegeschäft, in dem Tessa arbeitete, drehten sich die Gespräche um den so gut wie gewonnenen Krieg, die bevorstehende Kapitulation Frankreichs und die unvermeidliche Niederlage Großbritanniens. 

Manche Brunnen und Standbilder der Stadt waren mit dickem Schutzmaterial umkleidet worden; andere wurden in einem Betonbunker in den Boboli-Gärten untergebracht. Gemälde wurden aus Kirchen und Museen entfernt und in Villen der Umgebung in Sicherheit gebracht. In Sackleinwand gehüllt reisten Botticelli-Göttinnen Seite an Seite mit Caravaggio-Bravi über holprige Landstraßen, um in Keller und Verliese zu wandern, eine Kunstdiaspora. 

Die wenigen verbliebenen Engländer packten ihre Koffer und beeilten sich, die letzten Züge zur Grenze zu erreichen. Tessa schrieb einen Brief an Freddie und brachte ihn zum Bahnhof. Dort bat sie eine Engländerin, die auf ihren Zug wartete, ihn bei ihrer Ankunft in England für sie aufzugeben. Ein schriller Pfiff, eine Dampfwolke, und Tessa sah zu, wie der Zug aus dem Bahnhof hinausfuhr und verschwand. 

Am zehnten Juni, als der französische Widerstand gegen die Nazi-Truppen bröckelte und die Briten begannen, ihre Soldaten von den Kanalhäfen aus zu evakuieren, trat Mussolini aufseiten Deutschlands in den Krieg ein. Aber von Kriegsbegeisterung bemerkte Tessa, wenn sie von der Arbeit nach Hause ging, kaum etwas. Im Gegenteil, auf den Straßen und Plätzen war es ruhiger als gewöhnlich, die Cafés waren halb leer, Hitze und Entsetzen hingen wie eine finstere Wolke über der Stadt.  

In ihrem Zimmer setzte sie sich ans Fenster und blickte hinaus in die blauschwarzen Schatten, die sich in der Gasse sammelten. Ein so jämmerliches Ende eines so jämmerlichen Jahrzehnts, dachte sie. Mussolinis Opportunismus und Hitlers Machtgier und Gewalt waren vom ängstlichen Zaudern der anderen westlichen Mächte noch gefördert worden. Und wem galt nun ihre Treue – die Treue einer Frau, die mit gefälschten Papieren unter falschem Namen lebte? Den Menschen, die sie liebte. Aber sie war jetzt eine feindliche Ausländerin in einem Land, das mit Großbritannien im Krieg lag. Mussolinis Kriegserklärung hatte sie in große Gefahr gebracht. 

Plötzlich sah sie Guido durch die Gasse kommen. Einen Moment beobachtete sie ihn, seinen ausholenden, elastischen Gang und sein entschlossenes Gesicht, dann ging sie nach unten, um ihn ins Haus zu lassen. 

Er wartete, bis sie in der Wohnung waren, bevor er sprach. »Ich reise morgen ab«, sagte er. »Ich muss auf die Offiziersschule in Modena.« 

Tessa, die gerade Wein einschenken wollte, hielt inne. »Wie lange weißt du das schon?« 

»Nicht lange.« 

»Und wie lange wirst du weg sein?« 

»Das weiß ich nicht.« Er runzelte die Stirn. »Es hängt davon ab, wo ich stationiert werde. Mussolini hat abgewartet, bis er sicher sein konnte, dass Frankreich fallen würde. Er ist überzeugt, dass Großbritannien allein nicht durchhalten kann, sondern schon in einigen Woche – höchstens ein oder zwei Monaten – den Deutschen Verhandlungen anbieten wird.« 

Tessa dachte an die Männer, die sie in England gekannt hatte – Ray, Julian, Max, Paddy. Würden sie verhandeln wollen? Sie konnte es sich nicht vorstellen. 

Sie reichte ihm ein Glas und setzte sich. »Und was glaubst du, Guido?« 

»Ich halte es für möglich, dass die Amerikaner in den Krieg eintreten. Im Moment halten sie sich zurück, aber das wird vielleicht nicht so bleiben.« Er setzte sich neben sie und trommelte mit den Fingerspitzen auf die Armlehne des Sofas. »Ich hatte gestern Abend eine Auseinandersetzung mit meinem Schwiegervater. Er war von Anfang an ein treuer Anhänger Mussolinis. Er erinnerte mich daran, dass in Amerika sehr viele Italiener leben, und fragte, ob ich ernstlich glaubte, dass sie gegen ihre eigenen Landsleute in den Krieg ziehen würden. Ich hielt ihm entgegen, dass Amerika wohl kaum Geschäfte mit einem faschistischen Europa machen möchte.« 

»Und welcher von euch hat den anderen überzeugt?« 

»Keiner. Ich habe Maddalena angesehen, dass sie irritiert war. Sie hasst es, wenn ich mit ihrem Vater streite. Also habe ich das Thema gewechselt.« Er sah sie ernst an. »Du musst raus aus Florenz, Tessa. Früher oder später wird jemand Fragen stellen. Ich habe deswegen an meine Mutter geschrieben.« 

»Ich verstehe nicht.« 

»Ich habe dir erzählt, dass meine Mutter und meine Schwester in unserer Villa im Chianti leben. Seit dem Tod meines Vaters kümmert sich meine Mutter um unsere Pachthöfe und bemüht sich, sie auf den neuesten Stand zu bringen. Sie hält die contadini dazu an, nach modernen landwirtschaftlichen Methoden zu arbeiten, und sie hat eine Schule und eine Klinik für ihre Familien eingerichtet. Meine Mutter ist dort allgemein beliebt und respektiert, und keinem wird es auffallen, wenn eine zusätzliche Person in der Villa einzieht. Faustina hat –« 

Sie unterbrach ihn. »Willst du mir sagen, dass ich zu deiner Mutter ziehen soll, Guido?« 

»Ja. Du bist dort sicherer.« Er nahm einen Brief aus der Innentasche seines Jacketts. »Faustina hat mir geschrieben. Das ist ihre Antwort – sie ist heute Morgen gekommen. Lies bitte.« 

Sie nahm den Brief nicht. »Guido, ich weiß, du meinst es gut, aber ich kann unmöglich zu deiner Mutter ins Haus ziehen.« 

»Warum nicht?« 

»Es geht einfach nicht, das musst du doch einsehen.« 

»Damit bringst nicht nur dich selbst, sondern auch mich in Gefahr.« 

»Nein«, widersprach sie scharf. »Das stimmt nicht. Was ich tue, entscheide ich. Du hast damit nichts zu tun.« 

»Du lebst aber nicht auf einer einsamen Insel, Tessa. Glaubst du, ich hätte Maddalena von dir erzählt? Glaubst du, ich hätte ihr erzählt, dass die erste Frau, die ich wirklich geliebt habe, jetzt wieder in Florenz ist? Nein, natürlich nicht. Wenn du hierbleibst, werde ich mich verpflichtet fühlen, dich zu besuchen. Ich werde mich verpflichtet fühlen, dafür zu sorgen, dass du sicher bist und dir nichts geschieht. Und wenn du in Schwierigkeiten geraten solltest, glaube ich nicht, dass ich es schaffen werde, mich einfach herauszuhalten.« 

»Das ist nicht fair«, rief sie. 

»Wir haben uns einmal geliebt. Das kann ich nicht vergessen.« 

Sie sagte zornig: »Ich kann auf mich selbst achten. Das habe ich immer schon getan.« 

»Wirklich, Tessa?« 

Instinktiv hob sie die Hand an ihre Stirn. Dann stand sie schnell auf und ging von ihm weg zum Fenster. Unten rumpelte ein Eselskarren mit einer Ladung leerer Flaschen vorbei. In einer Tornische küsste sich ein Pärchen. 

Sie hörte das Zufallen der Tür, als Guido ging. In einem Spinnennetz in einer Ecke des Fensterrahmens kämpfte ein Schmetterling mit zitternden Flügeln um seine Freiheit. Vorsichtig löste sie ihn von den klebrigen Fäden und öffnete das Fenster, um ihn fliegen zu lassen. Sein Flug war taumelnd und unsicher, und sie fragte sich, ob sie ihm bei der Befreiung die Flügel verletzt hatte. 

Vor einem Jahr hatte sie Freddie erklärt, dass ihrer Meinung nach im Fall eines Krieges London nicht sicherer sein würde als Florenz. Sie hatte ihr auch gesagt, dass sie England wegen der schmerzhaften Erinnerungen verlassen musste, die sie mit dem Land verbanden. Beides war die Wahrheit gewesen. Dennoch fragte sie sich jetzt zum ersten Mal, ob sie richtig gehandelt hatte oder nicht doch besser mit den anderen Engländern aus Italien abgereist wäre. 

Nach dem Unfall, nachdem sie aus den schwärzesten Tiefen von Schmerz und Depression langsam wieder ans Licht gekommen war, war nichts geblieben als Leere. Sie hatte weder geweint noch gelacht. Nichts hatte sie berührt. Gleich, was sie getan hatte – ob sie sich von der Welt zurückzog oder verzweifelt Hektik und Zerstreuung suchte –, das Grau in ihr war nicht gewichen. Sie hatte es für möglich gehalten, dass sie nie wieder etwas empfinden würde. Sie hatte gewusst, so wie man eben Fakten weiß, dass sie Freddie liebte. Sie hatte auch gewusst, dass sie an Max und Ray und ihren anderen engsten Freunden hing. Aber sie hatte diese Liebe nicht empfunden – davon gewusst, aber nichts gefühlt. Dennoch war hier, in Italien, etwas in ihr wieder lebendig geworden. 

Sie setzte sich aufs Sofa und zündete sich eine Zigarette an. Guido war gegangen, aber etwas von ihm war zurückgeblieben, ein Gefühl. Sie strich mit der flachen Hand über die Armlehne, auf der seine Hand gelegen hatte. Ich glaube nicht, dass ich es schaffen würde, mich einfach herauszuhalten, hatte er gesagt. Darin lag eine Warnung. Zeit zu verschwinden. Sie würde nicht sein Leben, das Maddalenas und Luciellas, durcheinanderbringen. Sie hatte ihre Lektion gelernt. 

Aber wohin sollte sie gehen, was sollte sie tun? Sie schreckte zurück vor der Vorstellung, noch einmal neu anfangen zu müssen, wieder allein, sich auf die zermürbende Suche nach einer Bleibe und nach Arbeit zu begeben. 

Sie griff nach Faustina Zanettis Brief und öffnete ihn. Faustina schrieb sachlich, aber nicht unfreundlich. Für ein zusätzliches Paar Hände gebe es in der Villa immer etwas zu tun, Tessa sei selbstverständlich herzlich willkommen, wenn sie bereit sei, mit anzupacken. Im Krieg würden die Lebensmittel knapp werden, man müsse also umso stärker auf Selbstversorgung bauen. Aber Tessa könne, wenn ihr das lieber sei als landwirtschaftliche Arbeit, auch in der Schule oder der Klinik aushelfen. Dafür bot ihr Faustina Kost und Logis. 

Mit Italiens Kriegseintritt hatte sich alles geändert. Guido hatte recht, sie war in Florenz nicht mehr sicher. Sie musste fort aus der Stadt, auf dem Land untertauchen, denn wenn sie das nicht tat, gefährdete sie nicht nur sich selbst, sondern auch andere. Und wenn sie wirklich ins Chianti ging, um in der Villa Zanetti unterzuschlüpfen, musste sie Freddie Bescheid geben. Aber Briefe konnten geöffnet und gelesen werden und wenn ihre Nationalität bekannt wurde, würde man sie, wie Guido gesagt hatte, vielleicht der Spionage beschuldigen. Sie musste sehr, sehr vorsichtig sein. 

Zwölf Tage später besetzten italienische Truppen Menton. An diesem Abend schrieb Tessa an Faustina, um ihr mitzuteilen, dass sie ihr Angebot annehme. 

Das nächste Mal begegnete Freddie Jack Ransome im Dezember 1940, auf dem Höhepunkt des Londoner Blitz, im Dorchester.  

Sie saßen zu fünft am Tisch: Sie selbst und Angus Corstophine, Ray, Susan und Julian. Freddie trug den Granatschmuck ihrer Mutter, das rote Feuer ein schöner Gegensatz zu ihrem schwarzen Abendkleid. An einem Ecktisch auf der anderen Seite des Restaurants amüsierte sich laut und mit viel Gelächter und gelegentlichem Applaus eine große Gesellschaft. 

Susan erzählte gerade von ihrer Begegnung mit der Pianistin Myra Hess auf der Treppe des Funkhauses, als von der Gesellschaft gegenüber ein mehrstimmiger lauter Ruf ertönte. »Jack!« 

Ray brummte: »Guter Gott, man versteht ja sein eigenes Wort nicht mehr. Wenn sie doch endlich mal die Klappe halten würden.« 

Freddie sah sich nach dem Mann um, der das Restaurant betreten hatte. Es war Jack Ransome. Er sah anders aus – er war in Uniform und wirkte weit ordentlicher, gepflegter und gesünder als vor anderthalb Jahren, als sie ihn zuletzt gesehen hatte. Jack, dachte sie – Jack, der sie auf diese albtraumhafte Flucht durch die Berge geschleppt hatte. Jack war in London. 

Angus, der ihren Blick bemerkte, fragte: »Kennst du ihn?« 

»Jack Ransome? Flüchtig, ja. Du?« 

»Ich war mit seinem älteren Bruder zusammen auf der Schule.« 

Freddie wandte sich wieder Susan zu. »Hatte sie ein tolles Kleid an?« 

»Leider nur Rock und Bluse.« 

»Es war eine Rundfunkaufnahme, Freddie«, sagte Julian. »Für den Rundfunk braucht man sich nicht in Schale zu werfen.« 

Freddie lächelte. »Ich stelle mir Myra Hess immer im Abendkleid vor. Sogar beim Abwasch.« 

Der Kellner brachte Kaffee und petits fours. »Hat jemand von Max gehört?«, fragte Julian.  

»Er hat gesagt, er käme vielleicht später«, antwortete Freddie. 

Nach dem Überfall auf Belgien, die Niederlande und Frankreich im Sommer 1940 waren alle in Großbritannien lebenden feindlichen Ausländer als potenziell bedrohlich für den Staat verhaftet und interniert worden, unter ihnen auch Max. Als die Gefahr einer Invasion geschwunden war, hatte die Angst sich gelegt und die Internierten waren nach und nach wieder freigelassen worden. Seit er aus dem Internierungslager auf der Insel Man zurück war, arbeitete Max für das Ministry of Information.  

Wieder eine Lachsalve am Ecktisch. Freddie stand auf und gab Angus einen Kuss auf die Wange. »Ich bin gleich wieder da, Darling. Ich gehe nur hinüber und begrüße Jack.« 

Sie trat an den Ecktisch. »Guten Abend, Jack«, sagte sie. 

Er drehte sich um. »Allmächtiger! Freddie Nicolson.« Lachend sprang er auf. »Ich kann’s nicht glauben. Wunderbar, Sie wiederzusehen.« 

»Was macht das Bein?« 

»Dank Ihrer Fürsorge wieder völlig in Ordnung. Und wie geht es Ihnen? Sie sehen großartig aus.« 

»Ich fühle mich auch etwas ansehnlicher als bei unserer letzten Begegnung.« 

Jack sagte zu seinen Freunden: »Das ist Miss Nicolson«, dann spulte er, halb zu Freddie gewandt, eine ganze Liste von Namen herunter. »Sind Sie zum Essen hier, Freddie?« 

»Wir sind fast fertig. Ich glaube, wir gehen nachher noch tanzen. Ich muss weg – vielleicht sehen wir uns später, Jack.« 

Sie kehrte an ihren Tisch zurück. Angus hatte ihr das hübscheste petit four aufgehoben, eines, das aussah wie ein kleines Schokoladeneclair. 

Freddie arbeitete jetzt als Schreibkraft im Verteidigungsministerium. Im Oktober hatte sie den Auftrag erhalten, einen Berg Akten in ein Zimmer im zweiten Stock hinaufzubringen. Sie hatte geklopft und war aufgefordert worden einzutreten. Der Mann am Schreibtisch hatte kurz aufgeblickt und sich bedankt, als sie ihm die Akten gab. Dann hatte er sie nach ihrem Namen gefragt. »Nicolson«, sagte sie. »Frederica Nicolson.« »Ich bin Angus Corstophine«, sagte er. »Würden Sie mir den Gefallen tun und heute Abend mit mir zusammen ein Glas trinken, Miss Nicolson? Bitte, haben Sie Erbarmen mit mir, ich bin hier in der Fremde. Ich verspreche, dass ich mich tadellos benehmen werde. Aber Sie haben einfach umwerfend schöne Augen.« 

Sie traf ihn nach der Arbeit im Claridges, wo er wohnte. Nach zwei Martinis – Angus trank Whisky – nahm er ihr das Versprechen ab, in der folgenden Woche mit ihm essen zu gehen, dann setzte er sie in ein Taxi. Mit vollem Namen hieß er Angus James Macready Corstophine. Major Angus James Macready Corstophine. Sein Zuhause war ein Schloss in Schottland, zwischen Perth und Braemar, in dem die Corstophines seit Generationen lebten. Angus war zwölf Jahre älter als Freddie, groß, rothaarig, mit blauen Augen. Als Zeitsoldat war er mit dem britischen Expeditionskorps in Frankreich gewesen und mit einem der letzten Schiffe aus Dünkirchen entkommen. Er hatte ab und zu im Verteidigungsministerium zu tun, hielt sich aber die meiste Zeit in einem Ausbildungslager in Schottland auf. Er war interessant, aufmerksam und ein guter Gesprächspartner. Er tanzte nur ungern, bezwang aber ihr zuliebe seinen Widerwillen, obwohl er eine lange Wanderung oder einen Nachmittag beim Angeln vorgezogen hätte, und schickte ihr am Morgen nach einem gemeinsamen Abendessen immer Blumen. Die Rosen und Orchideen mussten aus einem Treibhaus stammen. Wo sonst hätte man im bitterkalten, vom Krieg gebeutelten London des Winters 1940 so schöne Blumen herbekommen können? 

Ray und Susan gingen nach dem Essen, weil Susan bei der BBC Spätschicht hatte. Freddie warf ab zu einen Blick zu Jack und seiner Clique hinüber. Sie fragte sich, ob eine der schönen Frauen, die an seinem Tisch saßen, vielleicht sagen würde, Aber doch nicht hier, Jack, gehen wir lieber woanders hin, und sie ihn dann aus den Augen verlöre, wie man im Krieg ständig Menschen aus den Augen verlor, und dieses kurze Zusammentreffen unter demselben Stichwort ablegen würde wie das von damals: unerwartet, gefährlich, außerhalb des Alltäglichen. 

Aber als die Band ›Let There Be Love‹ anstimmte, sah sie ihn an ihren Tisch kommen. Sie tanzte gerade mit Julian, während Jack und Angus sich miteinander unterhielten. Als sie zurückkam, fragte Jack, ob sie sich nicht zu ihnen an den Tisch setzen wollten. 

Also zogen sie um. Freddie erhielt einen Platz zwischen Angus und einer jungen Frau in einem nilgrünen Kleid mit Glitzersteinen um den Ausschnitt, die ihr als Marcelle Scott vorgestellt wurde. Sie trug das dunkelbraune Haar in einem Nackenknoten, wodurch ihre sehr schönen, schmalen grünen Augen, die fast niemals still standen, besonders auffallend zur Geltung kamen. Fingernägel und Lippen leuchteten im selben klaren Rot. Sie rauchte viel und spielte mit den Ringen an ihren Fingern. 

»Wir haben Jack einmal besucht, als wir in Italien waren«, bemerkte sie. »Er schleppte uns stundenlang durch irgendwelche alten Steine – griechisch oder römisch, ich weiß nicht mehr. Denzil hat es gefallen, aber ich mag die Hitze nicht.« 

»Ist Denzil Ihr Mann?«, fragte Freddie. 

»Um Gottes willen, nein.« Miss Scott hob die ringgeschmückte Hand mit den scharlachroten Fingerspitzen. »Die haben meiner Mutter gehört. Ich bin weder verlobt noch verheiratet. Im Moment wäre das doch völlig sinnlos, die Männern wären die ganze Zeit weg.« Sie zog an ihrer Zigarette. »Nein, ein paar von uns waren auf einer Rundreise. Denny ist die meiste Zeit gefahren.« 

»Wo waren Sie überall?« 

»Südfrankreich, Schweiz, Italien … Jack und Denny wollten nach Griechenland weiter, aber ich musste zu meinem Vater zurück.« 

»Geht es ihm nicht gut?« 

»Er ist alt und ziemlich klapprig, der Arme. Kennen Sie Jack gut, Miss Nicolson?« 

»Wir sind einmal eine Weile zusammen gereist.« Freddie fasste kurz den Ursprung ihrer Bekanntschaft mit Jack zusammen: eine zufällige Begegnung auf ihrer Heimreise nach einem Besuch bei ihrer Schwester in Florenz, ein Abschied in Frankreich. Es hörte sich an, dachte sie, als hätten sie im Zug zusammen ein belegtes Brot mit Ei und Kresse gegessen, aber sie hatte keine Lust auf neugierige Fragen von Miss Scott. »Das war vor mehr als einem Jahr, und ich habe ihn seither nicht gesehen«, sagte sie abschließend. 

»Ja, Jack kann wahnsinnig unzuverlässig sein«, erklärte Miss Scott. »Sie kennen die Ransomes wohl nicht, Miss Nicolson?« 

»Nein.« Freddie erinnerte sich an ein Gespräch mit Jack in dem gestohlenen Fiat. »Ich hatte nur den Eindruck, dass er sich mit seinem älteren Bruder nicht besonders gut versteht.« 

»Sie meinen George? Nein. Natürlich ist George um einiges älter als Jack, wie Sie vielleicht wissen. Wir machen gern unsere Witze darüber, dass Ransome mère et père nur alle fünf Jahre einmal miteinander schlafen, wenn sie wieder ein Kind produzieren wollen. Georges Frau Alexandra ist eine grässliche Person. Auf dem Debütantinnenball ist ihr der Saum am Kleid aufgegangen, und sie hat sich wie eine Wahnsinnige gebärdet. Sie wickelt George um den kleinen Finger. Aber manche Männer mögen das ja.« 

»Wahrscheinlich. Aber komisch eigentlich, dass das immer nur von Frauen gesagt wird. Fast nie sagt jemand, er wickelt sie um den Finger.« 

»Vielleicht tun Männer das ja nicht.« Sie blickte Freddie forschend an. »Jack präsentiert uns gern, was er so am Wegrand aufgelesen hat, meistens hält es allerdings nicht lange. Aber ich glaube, Sie sind von anderem Kaliber. Gott, es ist Jahre her, dass ich Angus zuletzt gesehen habe. Sind Sie beide ein Paar?« 

Was er so am Wegrand aufgelesen hat, dachte Freddie. »Ja«, sagte sie dann. 

»Lieben Sie Angus, Miss Nicolson?« 

»Ich finde«, antwortete Freddie, »das geht Sie nun wirklich nichts an.« 

»Ja, natürlich. Verzeihen Sie, manchmal geht einfach die Neugier mit mir durch.« Miss Scott sah nicht im Geringsten verlegen aus. »Aber wissen Sie, meiner Theorie zufolge ist die Liebe bei Paaren nie auf beiden Seiten gleich. Zum Beispiel: Er liebt sie, aber er ist nicht ganz das, was sie sich erträumt. Trotzdem lässt er nicht locker, sie fühlt sich geschmeichelt oder hat vielleicht keinen anderen gefunden, und denkt sich mit der Zeit, ach, warum eigentlich nicht?, und dann heiratet sie ihn. Oder das passiert nicht, dann gibt er schließlich auf und bemerkt plötzlich die Frau, die ihn schon seit Ewigkeiten anschmachtet. Und aus gekränktem Stolz heiratet er dann eben sie.« Miss Scott nahm sich eine Zigarette aus ihrem Etui, hielt sie zwischen Zeige- und Mittelfinger und lächelte. »Was halten Sie von meiner Theorie, Miss Nicolson?« 

»Manchmal stimmt sie sicher. Aber manchmal ist die Liebe auch gegenseitig. Oder wird es mit der Zeit.« 

Miss Scott beugte sich zu dem Mann auf ihrer anderen Seite hinüber und ließ sich Feuer geben. Dann wandte sie sich wieder an Freddie. »Soll ich Ihnen sagen, wer die Leute hier alle sind?« 

»Das wäre nett.« 

»Ollie Piper und Jane Hedley sind die beiden am Ende des Tischs. Sie heiraten nächste Woche. Hat Jane nicht beneidenswert schönes Haar? Manchmal wünschte ich, ich wäre eine Blondine, aber ich glaube, ich bin nicht nett genug dazu.« 

»Sind Blondinen immer nett?« 

»Finde ich jedenfalls. Jane und ich sind zusammen zur Schule gegangen. Die Trauung wird wahrscheinlich zum Gähnen, aber das Fest hinterher wird sicher toll. Die Hedleys geben immer fabelhafte Feste. Der Große auf Janes anderer Seite ist Monty Douglas. Herzensgut, aber nicht besonders intelligent. Inzucht, sagt mein Vater. Und das da, neben Monty, ist Denzil Beckford. Seine Eltern haben ein phantastisches Haus in Cornwall. Wir sind früher im Sommer immer hingefahren – der Garten geht bis hinunter ans Meer. Die nächste ist Betty Mulholland, eine ganz Liebe, Monty war jahrelang in sie verliebt. Ich glaube, er ist es immer noch, auch wenn er es bestreitet. Betty und Frances – das ist die Rothaarige – sind Schwestern. Sie gehen beide zur WAAF, zur Women’s Auxiliary Air Force. Das wollten sie schon lange, aber ihre Eltern erlaubten es nicht, aber jetzt fürchten sie, dass Betty und Frances in irgendeine Fabrik geschickt werden, da lassen sie sie lieber als Helferinnen zu den Fliegern gehen. Die beiden haben überhaupt keine Ähnlichkeit miteinander, nicht? Na ja, ihre Mutter hatte jahrelang eine Affäre mit Boy Trevelyan, wer weiß.« 

»Und die hübsche Frau im rosa Kleid?« 

»Das ist Clare Stuart. Sie finden sie hübsch? Ich nicht. Ich kann Frauen, die dauernd ihr Näschen krausen, nicht ausstehen. Ich habe immer den Verdacht, sie üben das vor dem Spiegel, um niedlich auszusehen.« 

Freddie lachte. »Ist das nicht ein wenig hart?« 

»Vielleicht, aber ich bin sicher, dass ich recht habe. Also, wen haben wir noch? Lewis –« 

»Redest du von mir, Marcelle?« 

Ein hochgewachsener Mann in Marineuniform war zu ihnen getreten. Seine Hand lag auf Marcelles Schulter. Er hatte dunkle Locken und eine schmale, gerade Nase, sein Mund und seine hellbraunen Augen waren an den Winkeln leicht nach oben gekrümmt, koboldhaft, fand Freddie. 

»Ich tratsche nur ein bisschen«, sagte Marcelle, »und erzähle Miss Nicolson alles über dich.« 

»Glauben Sie ihr kein Wort, Miss Nicolson.« Er gab Freddie die Hand. »Ich bin Lewis Coryton. Es freut mich, Sie kennenzulernen.« 

Marcelles Augen blitzten. »Ich kenne alle deine Geheimnisse, Lewis.« 

»Ich habe keine Geheimnisse«, entgegnete er ungerührt. »Es gibt nichts zu erzählen.« 

Marcelle verzog unwillig das Gesicht. »Wenn du langweilig sein willst, tanze ich nicht mit dir.« 

»Liebchen, ich verspreche dir, nicht langweilig zu sein.« 

Sie stand auf, zauste Lewis Coryton kurz das dunkle Haar und gab ihm einen Kuss auf die Wange. Ehe sie mit ihm zur Tanzfläche ging, sagte sie noch zu Freddie: »Wo arbeiten Sie, Miss Nicolson?« 

»Im Verteidigungsministerium.« 

»Ich bin bei der Requirierung – im Ministry of Works. Wir sollten bei Gelegenheit einmal zusammen Mittag essen. Ich schreibe Ihnen.« 

Die Kapelle spielte Oh Jonny. Marcelle Scott und Lewis Coryton traten auf die Tanzfläche. Die Gruppe um den Tisch hatte sich gelichtet. Angus saß am anderen Ende, in ein Gespräch mit einem Mann in Uniform vertieft. Freddie versuchte, ihn auf sich aufmerksam zu machen, aber er schaute nicht auf. 

»Würden Sie mit mir tanzen, Freddie?« 

Sie erkannte Jacks Stimme und drehte sich lächelnd um. »Gern, Jack.« 

Sie drängten sich ins Gewühl. 

»Wie finden Sie meine Cousine?«, fragte er. 

»Miss Scott ist Ihre Cousine?« Sie war überrascht.  

»Marcelle und ich sind früher zusammen auf sämtliche Bäume geklettert.« 

Freddie konnte sich nicht vorstellen, dass die tadellos elegante Miss Scott auch nur in die Nähe eines Baumes gehen würde. »Sie hat mir erzählt«, sagte sie, »dass Sie des Öfteren mitbringen, was Sie am Wegrand aufgelesen haben, und dass das nie etwas für längere Zeit wäre. Wozu sie offenbar auch mich zählt.« 

Er lachte. »Sie sollten Marcelle nicht alles glauben.« 

»Ich kam mir vor wie in einer Prüfung.« 

»Die Sie bestimmt bestanden haben. Marcelle kann manchmal ein bisschen scharf sein. Sie sorgt sich um ihren Vater.« 

»Ja, sie sagte mir, dass es ihm nicht gut geht.« 

»Er ist nach dem letzten Krieg nie wieder richtig auf die Beine gekommen. Ihre Mutter ist tot, und Marcelle hat keine Geschwister, da bleibt natürlich alles an ihr hängen.« 

»Gut, ich verzeihe ihr. Ich hätte ihr sowieso verziehen. Sie hat mich zum Lachen gebracht.« 

Während sie tanzten, ließ Freddie ihren Blick durch den Saal schweifen. In der Nähe der Tanzfläche entdeckte sie Max und winkte ihm zu. 

Mit einem Crescendo von Saxofon und Schlagzeug ging die Nummer zu Ende. Der Solist verbeugte sich zum Dank für den Applaus. Als die Musik mit einem langsamen, schnulzigen Stück wieder einsetzte, nahm Jack sie in den Arm. 

»Sie sind also doch nicht nach Südamerika gegangen, um den Krieg auszusitzen«, sagte sie. 

Er blickte zu ihr hinunter. »Ohne Sie hätte es keinen Spaß gemacht.« 

»Wobei zu Ihrer Vorstellung von Spaß vermutlich eisige Kälte, strömender Regen und ständige Angst gehören.« 

»Seien Sie ehrlich«, neckte er. »Es hat Ihnen gefallen.« 

»Zu einem kleinen Teil vielleicht.« Sie zeigte es mit Daumen und Zeigefinger an. »Zu einem sehr kleinen Teil.« 

»Was tun Sie zurzeit?« 

»Ich bin Schreibkraft beim Verteidigungsministerium. Und Sie?« 

»Ich sitze die meiste Zeit in einem Militärlager in Yorkshire fest.« 

»Das passt Ihnen doch bestimmt nicht, Jack. Wieso lassen Sie sich nicht irgendwohin versetzen, wo es richtig scheußlich und gefährlich ist? Da wären Sie bestimmt glücklich.« 

Er spielte den Gekränkten. »Sie haben wirklich einen miserablen Eindruck von mir.« 

»Ich habe eine Vorliebe für schicke Restaurants und komfortable Hotels. Für Übernachtungen im Auto und Käsebrotdiäten habe ich nichts übrig.« 

»Das nehme ich Ihnen nicht ab. Ich glaube, dass sich hinter der züchtigen Fassade ein rebellischer Geist verbirgt.« 

»Züchtig?«, fragte sie empört. 

»Wohlerzogen … sittsam …« 

»Also hören Sie, Sie stellen mich hier als altjüngferliche Tante hin.« 

»Sie sind viel hübscher als meine altjüngferlichen Tanten.« 

»Jack!« 

Er lachte. 

Es war voll auf der Tanzfläche. Immer wieder rief jemand »Hallo, Jack, nett, dich zu sehen«, oder klopfte ihm im Vorbeitanzen auf die Schulter. Jack winkte oder grüßte, und Freddie bekam mit der Zeit das gleiche Gefühl wie einst mit Tessa im Ritz oder Savoy, dass sie zur interessantesten und beneidenswertesten Clique im Saal gehörte. Sie bemerkte, dass Leutnant Coryton jetzt mit Clare Stuart tanzte und Marcelle Scott sich mit Julian und Max unterhielt. Angus, nun nicht mehr im Gespräch mit dem Armeeoffizier, stand allein etwas abseits und wippte mit dem Fuß, wie er das oft tat, wenn er sich langweilte. 

»Ist Angus Corstophine Ihr Freund?«, fragte Jack.  

»Ja. Kennen Sie sich?« 

»Oberflächlich. Wir haben über Spanien geredet«, sagte Jack. 

»Ach, Sie mussten damals nach Spanien?« 

»Ja.« 

»Und was haben Sie da gemacht?« 

»Dies und das.« 

Spioniert, dachte sie. Der britische Marinehafen von Gibraltar lag am Eingang zum Mittelmeer am äußersten Südzipfel Spaniens. Nach Jahren eines zerstörerischen Bürgerkriegs hatte Spanien sich bisher neutral verhalten, und es lag sehr im britischen Interesse, dass es weiterhin so blieb. 

»Wie war es?«, fragte sie. 

»Trostlos.« Einen Moment verdüsterte sich sein Blick. »Der Lebensgeist ist zerstört.« 

»Wie lange waren Sie dort?« 

»Sechs Monate. Ich war ehrlich gesagt froh, als ich wieder in England war. Und jetzt, wo ich Sie wiedergefunden habe, bin ich doppelt froh.« 

»Ach, hören Sie auf, Sie haben bestimmt kein einziges Mal an mich gedacht.« 

»Stimmt nicht.« 

Der Blick, mit dem er sie ansah, kam völlig unerwartet. Schnell und scherzhaft sagte sie: »Miss Scott hat mich schon vor Ihnen gewarnt. Vor Ihrer Unzuverlässigkeit.« 

»So eine Frechheit«, sagte Jack, ohne dabei verlegen zu wirken. »Sie hat Sie mir praktisch als unnützen Aristokraten geschildert.« 

»Ach ja?« Andere Paare rempelten sie an. Er hielt sie fester. 

»Aristokraten sind wahrscheinlich oft unnütz.« 

»Das gehört zum Stand, meinen Sie?« 

Sein Ton war amüsiert. 

»Wogegen die bürgerlichen Klassen eine Tendenz zur übertriebenen Sittsamkeit haben.« 

»Sie können einen wirklich wütend machen. Außerdem bin ich überhaupt nicht bürgerlich. Ich bin ausgesprochen unbürgerlich.« 

»Natürlich, Freddie. Wie konnte ich das nur vergessen?« 

»Obwohl ich nicht sicher bin, ob das Unbürgerliche mir so richtig liegt.« 

»Ach, ich würde sagen, Sie sind ziemlich anpassungsfähig. Sie wachsen an den Aufgaben.« 

»Als ich noch auf der Schule war, wollte ich immer wie meine Schwester sein. Sie hatte so etwas Strahlendes.« Freddie dachte an Tessas Wohnung mit den gerahmten Fotografien und dem schwarz-weiß gefliesten Kamin. Sie lächelte. »Ich war Tessas Kurier.« 

»Ihr Kurier?« 

»Ja, ich habe immer ihre Briefe zu ihren Verehrern getragen.« Freddie lachte. »Manche waren nett, aber manche waren auch fürchterlich. Ich glaube, Tessa hat gar nicht gemerkt, wie fürchterlich sie waren. Einer wollte mich küssen, ein anderer wollte mit mir essen gehen, als Tessa nicht konnte.« 

»Sind Sie gegangen?« 

»Natürlich.« Sie sah ihn triumphierend an. »Da sehen Sie’s. Gar nicht so sittsam.« 

»Und war es nett?« 

»Am Anfang kam ich mir unheimlich wichtig vor. Aber dann hat er nur mit seinen Freunden gequasselt und mich völlig vergessen. Ich bin schließlich einfach nach Hause gefahren. Mit der U-Bahn.« 

»Wie alt waren Sie?« 

»Fünfzehn. Es hat mir nichts ausgemacht. Ich bin gern allein unterwegs.« 

»Ja, scheint so. Und Ihre Schwester? Wo ist sie jetzt?« 

Freddie seufzte. »Tessa ist in Italien geblieben. Ich habe einen Brief von ihr bekommen – sie hat ihn über jemanden geschickt, der in Schweden lebt. Sie war ziemlich zurückhaltend – wahrscheinlich hatte sie Angst, er könnte gelesen werden –, aber sie schrieb, dass sie jetzt bei Freunden auf dem Land lebt. Ich habe ihr zurückgeschrieben, aber ich habe keine Ahnung, ob der Brief sie erreicht hat.« 

Die Musik verklang mit einem Trommelwirbel, und sie klatschten. Sie sagte: »Es war schön, Sie wiederzusehen. Melden Sie sich, Jack.« 

Er versprach es, und sie stellte sich auf Zehenspitzen, um seine Wange zu küssen. »Oh, Sie haben da eine Narbe«, sagte sie und berührte seine Augenbraue. 

»Ich bin aus dem Flugzeug gesprungen und in einem Baum gelandet.« 

»Wie leichtsinnig von Ihnen.« 

»Ja, nicht wahr?« Sein Lächeln wurde breiter. Er dankte ihr für den Tanz und wollte gehen. 

»Sie geben auf sich acht, ja?«, rief sie ihm nach. 

Er drehte sich um. »Natürlich.« 

Die eisige Luft stach wie mit Nadeln, und in der Ferne waren die dumpfen Einschläge von Bomben zu hören, als sie aus dem Hotel traten. Von geborstenen Dachrinnen hingen Eiszapfen herab, und wo das trübe Licht abgedunkelter Autoscheinwerfer auf Eis und die Scherben zerbrochener Fensterscheiben traf, brach es sich weihnachtlich glitzernd darin und ließ die Gebäude trügerisch festlich erscheinen. 

Die Tür des Hauses in Knightsbridge war von zwei Buchsbäumen in Töpfen flankiert, kugelrund beschnitten und mit einem Schneehäubchen garniert, das wie Sahne auf dem Weihnachtspudding aussah. 

Während sie nach oben gingen, wurde Entwarnung gegeben. Angus sperrte die Wohnung auf, wo sie Ölgemälde von feisten Männern in Lockenperücken und von Frauen mit tiefen Dekolletés und schelmischen Gesichtern erwarteten. 

Angus sagte: »Ich schalte schnell die Lampen an, dann merken wir vielleicht nicht so, wie sie uns anstarren. Wie im Eisschrank hier, nicht? Ich mache gleich Feuer.« 

Freddie setzte sich auf ein pflaumenfarbenes Samtsofa beim offenen Kamin. An manchen Stellen war der Flor abgescheuert und hatte einen silbrigen Glanz. Angus kniete nieder, riss ein Streichholz an und hielt es an Papier und Anmachholz. 

»Ich kann mich an einen Winter zu Hause erinnern, da fror das Wasser in den Waschbecken. So kalt wird es in London nie.« Angus setzte sich neben sie. »Du armes Kind, du bist ja starr vor Kälte.« Es gefiel ihr, wie er ›starr‹ sagte, mit rollendem schottischen R. 

Er schenkte jedem von ihnen einen Scotch ein, dann rückten sie eng zusammen und hielten einander fest im Arm, während die Flammen zuckende Schatten auf den Teppich warfen. »Silvester zünden wir im Schloss alle Lampen und Kerzen an und stellen Fackeln im Garten auf«, erzählte er. »Die Leute sagen, man kann das Licht meilenweit sehen. Dann wird gegessen, Musik gemacht und getanzt.« 

»Ich dachte, du tanzt nicht gern?« 

»Das ist etwas anderes. Das ist Highland-Dancing, da wird richtig getanzt. Zu Mitternacht läuten sie die Glocke auf dem Turm und alle stoßen an. Denn geht man nach gutem altem Brauch mit einem Glas Whisky, einem Stück Kohle, Salz und Gebäck zu den Nachbarn, um das neue Jahre einzuläuten.« 

»Und wie weit ist es bis zu euren Nachbarn?« 

»Oh, der nächste ist vielleicht knapp drei Kilometer entfernt. Nicht schlimm.« 

»Bei Schnee?« 

»Ich bin schon durch hüfthohe Schneeverwehungen gestapft. So halten wir uns in Schottland warm, mit Whisky und Wandern. Es gibt natürlich auch andere Mittel.« 

Er streichelte ihr Haar, während sie sprachen, und hielt immer wieder inne, um sie zu küssen. »Es wäre schön, wenn du eines Tages mitkommen und mit mir zusammen das neue Jahr feiern könntest. Meinst du, das könnte dir gefallen?« 

Sie kniete sich aufs Sofa und küsste ihn. »Ich weiß nicht, Angus. Ich glaube, da würde ich ziemlich frieren.« 

»Bestimmt nicht. Ich würde dich schon warm halten.« Er nahm ihr das Whiskyglas aus der Hand und stellte es auf einen Beistelltisch. Dann küsste er ihre Schulter. »Wie eine Vogelschwinge«, sagte er. »Hier, diese kleine Mulde.« Er zog sie auf sein Knie, und während er sie küsste, öffnete er den Reißverschluss im Rücken ihres Kleides und streifte die schmalen Träger von ihren Schultern. 

»Meine schöne Freddie«, murmelte er. »Du würdest es mir doch sagen, wenn du wolltest, dass ich aufhöre?« 

Sie musste flüchtig an Marcelle Scotts Frage denken, Lieben Sie Angus, Miss Nicolson?, und an ihre Theorie von der ungleichen Liebe. 

Aber sie sagte: »Ich will nicht, dass du aufhörst, Angus.« Und sie schloss die Augen und atmete sachte auf, als seine Hand unter ihren Rock glitt. 

In der Nacht erwachte sie und ging in die Küche, um sich ein Glas Wasser zu holen. Vorsichtig, um kein Licht nach außen dringen zu lassen, schob sie die Verdunkelung zur Seite und schaute hinaus. Es schneite in dicken Flocken, die die Trümmer und den Schutt zudeckten. 

Sie war wie aufgezogen. Was für ein Abend – Angus und der Tanz mit Jack. Und dies. Sie hatte zum ersten Mal mit einem Mann geschlafen und bedauerte es nicht, genoss vielmehr das Gefühl, einen großen Schritt nach vorn getan zu haben und endlich richtig erwachsen geworden zu sein. Angus war vorsichtig gewesen – darauf hatte sie in Erinnerung an Tessa geachtet. Sie blickte aus dem Fenster in das Schneetreiben und dachte daran, wie zärtlich er gewesen war und wie leidenschaftlich, dachte an die Worte, die er ihr ins Ohr geflüstert hatte, an seinen Atem, als er einschlief, und fühlte sich von Neuem von ihm umfangen. 

Marcelle Scott schrieb und fragte, ob sie sich zum Mittagessen treffen könnten. Freddie war überrascht. Sie hatte Marcelles Vorschlag für eine dieser gutgemeinten Gesten gehalten, auf die nie Weiteres folgte. 

Sie trafen sich in einem kleinen Café in der Nähe des Charing-Cross-Bahnhofs. Gleich neben dem Café hatte eine Bombe eingeschlagen und einen Teil des Gebäudes weggerissen wie einen mitten im Wort abgebrochenen Satz. In den Mauerstümpfen, die früher einmal ein Zimmer gebildet hatten, hatte sich eine dünne Schneedecke über zertrümmerte Möbelstücke, die verlorenen Räder eines Kinderwagens und eine Klaviertastatur gelegt.  

Drinnen im Café lief Kondenswasser an den Fensterscheiben hinunter. Marcelle Scott saß an einem Tisch beim Fenster. Sie trug einen schwarzen Mantel mit Pelzkragen und einen kleinen schwarzen Hut. Vor ihr stand eine Tasse Tee. 

»Wie nett, Sie wiederzusehen, Miss Nicolson«, sagte sie. »Darf ich Sie Freddie nennen? Ich habe es nicht so mit der Förmlichkeit. Ist Ihnen der Platz recht? Ich gehe hier oft mittagessen. Die meisten anderen nehmen sich belegte Brote und Thermosflaschen mit, aber ich sitze nicht gern den ganzen Tag drinnen.« 

An der Theke bestellten sie Brot und Suppe. Zurück am Tisch, sagte Marcelle: »Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, dass ich Ihnen geschrieben habe. Eigentlich wollte ich es schon früher tun, aber mein Vater ist krank geworden und ich musste nach Hause.« 

»Das tut mir leid. Geht es ihm wieder besser?« 

»Ja, viel besser, danke.« 

Marcelle rührte nachdenklich ihren Tee. 

»Ich sollte wahrscheinlich wieder nach Hause ziehen und bei ihm bleiben. Ihn würde das sicher glücklich machen. Finden Sie es egoistisch von mir, dass ich das nicht tue?« 

»Ich weiß nicht«, antwortete Freddie. »Ich kann das nicht beurteilen.« 

»Ihre Eltern sind tot, nicht wahr?« 

»Sie sind beide gestorben, als ich noch ein Kind war.« 

»Vielleicht ist das ein Glück.« Marcelle biss sich sofort auf die Lippe. »Nein, so etwas sollte ich nicht sagen. Entschuldigen Sie, bitte, verzeihen Sie mir.« Sie seufzte. »In Wiltshire habe ich immer das Gefühl zu schrumpfen.« Sie schob Daumen und Zeigefinger langsam immer näher zusammen, bis nur noch ein schmaler Spalt blieb. »So ungefähr. Ich fühle mich – reduziert. Ich habe Angst, dass nichts von mir übrig bleiben würde, wenn ich immer dort lebte. Wissen Sie, der Krieg macht mir gar nicht so viel aus. Wenn nicht das schlechte Gewissen wäre, würde ich mich ganz wohlfühlen. Dabei sind Schuldgefühle so etwas Sinnloses, ich versuche immer, sie mir vom Leib zu halten.« Sie zündete sich eine Zigarette an. »Wie fanden Sie meine Freunde?« 

»Sehr nett.« 

»Lewis ist absolut verknallt in Clare Stuart.« 

»Die Frau im rosa Kleid? Ach so.« 

Nachdem die Suppe gebracht worden war, sagte Marcelle in vertraulichem Ton: »Ich war auch einmal in ihn verliebt.« 

»In Leutnant Coryton? Er sieht ja auch wirklich gut aus. Und sind Sie immer noch verliebt?« 

»Nein. Wir sind gute Freunde und schreiben uns regelmäßig. Ich verliebe mich ziemlich häufig, eine schlechte Angewohnheit von mir. Sie sind wahrscheinlich viel vernünftiger.« 

»Vernünftig«, sagte Freddie. »Wie niederschmetternd. Jack nannte mich sittsam.« 

»Achten Sie nicht auf Jack. Er kann wirklich sehr ungalant sein.« 

Sie sprachen über ihre Arbeit und den Krieg, und dann war es Zeit, ins Büro zurückzukehren. Als sie die Mäntel anzogen, sagte Marcelle: »Ich gebe freitagabends meistens ein Essen bei mir. Jeder bringt etwas mit. Hätten Sie Lust zu kommen? Natürlich mit Angus. Und bringen Sie Ihren Freund, Mr. Fischer, mit.« Sie zog ihre Handschuhe über. »Ja. Fragen Sie doch Mr. Fischer, ob er kommen möchte.« 

»Nicht Julian?« 

»Julian ist wirklich lieb, aber nein, mich interessiert Ihr Max. Er hat doch niemanden?« 

»Im Moment nicht, nein.« 

»Jemand hat mir erzählt, dass er in Ihre Schwester verliebt war.« 

Die Neugier in Marcelles Blick verriet Freddie, dass der Jemand ihr mehr als das über Tessa erzählt hatte, aber sie sagte nur: »Das war einmal. Es ist lange vorbei. Jahre.«