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Außenaufnahmen an einem Kieselstrand der Küste von Suffolk: Max Fischer kämpfte mit dem Wind, während er für Harper’s Bazaar die neuen Frühjahrsmodelle fotografierte. Als er später Fotoapparat und Stativ zusammenpackte, sagte er: »Du könntest mich heiraten, Tessa, wenn das eine Hilfe wäre. Eine Ehe mit einem einundvierzigjährigen jüdischen Flüchtling mag nicht das sein, was du dir erträumt hast, aber mich würde es sehr glücklich machen.« 

Tessa hatte niemandem außer Milo und Freddie gesagt, dass sie schwanger war. Sie hatte sich eingebildet, alle gekonnt zu täuschen. Als sie das zu Max sagte, schüttelte er den Kopf. »Ach, Tessa, alle Welt weiß Bescheid. Hast du das nicht gemerkt?« Sie schaffte es, sein Hilfsangebot mit Grazie abzulehnen, aber sie hatte Mühe, nicht zu zeigen, wie gedemütigt sie sich fühlte.  

Nicht lange danach begann sie, dick und dicker zu werden. Max setzte alle möglichen Mittel ein – Mäntel und Capes, eine geschickt platzierte Topfpflanze –, um dennoch weiter mit ihr arbeiten zu können, aber ihr war schnell klar, dass sie in der verbleibenden Zeit allenfalls noch auf die gelegentliche Porträtaufnahme hoffen konnte. Und schön war die Schwangerschaft nicht: Sodbrennen, Erschöpfung, Rückenschmerzen und schwere Beine. Wenn man bedachte, wie viele Frauen Kinder bekamen, hätte man meinen sollen, das Ganze sei eine Kleinigkeit, aber so war es nicht. 

Einige ihrer Freundinnen litten mit ihr; einige erzählten ihr Geschichten von verpfuschten Abtreibungen. Ein oder zwei bewunderten sie, weil sie in ihr eine Frau sahen, die für ihre Überzeugung eintrat und sich der Konvention verweigerte. Andere – die Sprechstundenhilfe ihres Arztes und die Leiterin der Damenmodenabteilung bei Selfridges – versuchten gar nicht erst, ihre moralische Entrüstung zu verbergen. 

Sie merkte, dass sie in gewissen Kreisen nicht mehr willkommen war. Ihre Anrufe wurden nicht erwidert, ihre Briefe nicht beantwortet, ihre Einladungen dankend abgelehnt. Als sie eines Morgens die Regent Street hinunterging, begegnete sie einer Bekannten, einer Gastgeberin der Londoner Gesellschaft, und wünschte ihr lächelnd Guten Tag. Nur eine kurze Verhärtung im Blick der Frau verriet Tessa, dass sie nicht plötzlich unsichtbar geworden war. Sie wiederholte ihren Gruß. Die Frau blieb stehen. Ihre schmalen Lippen verzogen sich zu einem kalten Lächeln, als sie mit gesenkter Stimme sagte: »Sie werden verstehen, dass ich auf Ihre Bekanntschaft keinen Wert mehr lege, Miss Nicolson. Ersparen Sie also sich und mir in Zukunft diese Peinlichkeiten.« Obwohl sich Tessa später über den Vorfall mokierte, war sie getroffen, vielleicht weniger durch die Ausgrenzung an sich als die Erkenntnis, dass es sie nicht gleichgültig ließ. Von diesen Leuten war sie vermutlich immer nur unter der Bedingung des Wohlverhaltens akzeptiert worden; sie hatten genau gewusst, dass sie nicht so war wie sie.  

Aber wo die einen sie zurückwiesen, kamen ihr andere teilnehmend entgegen. »Ja, ja, in solchen Zeiten merkst du eben, wer deine wahren Freunde sind«, spottete Tessa im Kaffeetantenton, aber es stimmte. Paddy Collison sagte: »Mensch, Tessa, da hast du dir ja was Schönes eingebrockt, was?«, und bot ihr dann das Geld an, um die Sache zu regeln, wie er es formulierte. Julian Lawrence wollte sie heiraten. 

Die Heiratsanträge von Max und Julian bewegten sie, Rays Antrag rührte sie zu Tränen. Eines Abends, nachdem sie im Quaglino’s zusammen gegessen hatten, kniete er in ihrer Wohnung in seiner ganzen stattlichen Größe vor ihr nieder und bat sie, seine Frau zu werden. 

»Es wäre mir eine große Ehre«, sagte er, »wenn du dich entschließen könntest, mich zu heiraten, Tessa.« 

»Ach Ray, wie lieb von dir. Aber …« Sie ergriff seine Hände, und er stand etwas schwerfällig wieder auf. 

»Ich nehme an, das heißt nein.« 

Sie umarmte ihn. »Bitte nimm es mir nicht übel, Darling. Aber ich wäre dir eine schlechte Frau.« 

»Unsinn. Du wärst mir eine wunderbare Frau. Du würdest jeden Tag zu einem Abenteuer machen.« 

»Ich kann nicht glauben, dass du dir wirklich eine dritte Ehefrau antun willst, Ray.« 

»Überleg es dir wenigstens. Ich weiß, dass du mich nicht liebst, Tessa, aber ich glaube, dass du mich gern hast. Und ich liebe dich. Ich habe dich immer geliebt. Nein –«, er hob abwehrend die Hand, als sie etwas sagen wollte, »lass mich ausreden. Ich glaube, du hast keine Ahnung, welch schwierige Zeiten auf dich warten. Ich glaube, du kannst dir nicht vorstellen, wie engherzig die Menschen sein können. Am Ende sind immer die Frauen die Dummen und die Männer kommen ungeschoren davon. Es ist ungerecht, aber es ist so.« 

»Mach dir um mich keine Sorgen, Ray. Meine Freunde – meine besten Freunde – sind immer für mich da.« 

»Sicher, aber ich versuche gerade, dir zu erklären, dass sich durch das Kind für dich alles verändern wird.« 

»Das werde ich nicht zulassen. Ich fange sofort wieder an zu arbeiten, wenn ich nicht mehr wie ein Elefant durch die Gegend trample.« 

»Und was willst du mit dem Kind machen? Willst du es adoptieren lassen?« 

»Keine Ahnung. Darüber habe ich noch nicht nachgedacht.« 

»Tessa –« Es klang beinahe gereizt. 

Sie versuchte eine Erklärung. »Ich meine, wie soll ich denn über das Kind entscheiden, bevor ich es überhaupt gesehen habe? Kann sein, dass ich nichts mit ihm zu tun haben will, kann aber auch sein, dass ich es sofort ins Herz schließe. Ich weiß es nicht, ich kann es nicht sagen. Ich hatte nie vor, ein Kind zu bekommen. Ich entscheide mich, wenn es auf der Welt ist.« 

»Es wäre vielleicht besser, über die praktischen Dinge vorher zu entscheiden«, sagte er vorsichtig. »Frauen neigen nach meiner Erfahrung dazu, ihre Kinder behalten zu wollen.« 

»Wenn es bei mir auch so ist, engagiere ich eine Kinderfrau, die für es sorgen kann, während ich arbeite.« Tessa sah Ray fest in die Augen. »Auf keinen Fall lasse ich mich zu Hause festbinden. Du weißt, das wäre das Schlimmste für mich. Und glaubst du nicht, dass es für dich genauso schlimm wäre, so zu tun, als wäre das Kind eines anderen Mannes dein eigenes?« 

»Nein, das glaube ich nicht. Ein Kind ist ein Kind. Man fühlt sich instinktiv aufgerufen, es zu behüten. Ich bin mir nicht sicher, ob ich an diesen ganzen Quark vom eigenen Fleisch und Blut glaube. Und ich habe wirklich darüber nachgedacht.« Er nahm etwas aus seiner Jackentasche. »Ich habe sehr viel darüber nachgedacht. Es ist mir ernst, Tessa, ich möchte, dass du mich heiratest.« 

Als er die Hand öffnete, fiel ihr Blick auf den Brillantring darin. »Oh, Ray.« Tränen schossen ihr in die Augen. Sie konnte nicht sprechen. 

Er wartete eine Zeit lang, dann steckte er den Ring wieder ein. »Tja, ich wollte es wenigstens versuchen. Wer nichts wagt und so weiter. Wenn du es dir doch noch anders überlegst, dann lass es mich wissen. Das Angebot steht.« 

»Danke, Ray.« Sie küsste ihn auf die Wange. 

»Was ist mit dem Vater? Kannst du den nicht heiraten?« 

Sie schüttelte den Kopf. 

»Warum nicht? Ist er schon verheiratet? Wenn es so ist, sollte der Mistkerl sich scheiden lassen. Wenn du willst, schicke ich jemanden bei ihm vorbei.« Bei Rays Firma gab es jede Menge kräftiger Bauarbeiter. 

»Nein, Darling.« 

»Warum willst du mir nicht sagen, wer es ist? Du solltest das nicht alles allein ausbaden müssen.« 

»Ich bin nicht allein. Ich habe ja dich.« 

»Wie sieht es finanziell aus? Ist da alles in Ordnung?« 

»Bestens.« 

Aber das stimmte nicht. Erst vor zwei Wochen hatte sie bei Raynes in der Bond Street drei Paar Schuhe gekauft, um sich selbst ein bisschen aufzumuntern. Ein strenger Brief vom Filialleiter ihrer Bank zwei Tage später hatte sie zu der Einsicht gebracht, dass sie sparsamer sein musste. Aber sie war es nicht mehr gewöhnt, sich Gedanken um Geld zu machen. Milo hatte darauf bestanden, ihre Arztrechnungen zu bezahlen und, wenn es so weit war, die Kosten für die Klinik zu übernehmen. Das ist das Mindeste, was ich tun kann, hatte er gesagt. Da sie zu dem Zeitpunkt schon im sechsten Monat gewesen war und nur noch sporadisch Aufträge bekam, hatte sie das Angebot angenommen. Auch ein Korsett konnte keine Wunder wirken. 

»Ich muss morgen vielleicht mal kurz nach London.« Milo nahm seine Krawatte ab. »Es gibt einiges zu erledigen.« 

»Ich könnte doch mitkommen.« Rebecca stieg aus ihrem Kleid und hängte es über einen Bügel. 

»Was?«, fragte er, und als sie sich herumdrehte, sah sie seine zusammengekniffenen Augen. »Traust du mir nicht?« 

»Milo!« 

»Du überwachst mich also immer noch, wie?« 

Die Schlafzimmertür fiel krachend zu. Sie hörte, wie im Bad der Riegel vorgeschoben wurde. 

Als er wieder ins Zimmer kam, sagte sie ruhig: »Es ging nicht darum, dich zu überwachen, Milo. Ich dachte, es wäre schön, wenn wir wieder einmal zusammen nach London führen. Wir haben das seit Ewigkeiten nicht mehr getan. Ich könnte einen Bummel machen, während du in der Bibliothek arbeitest, und wir könnten über Nacht bleiben, abends vielleicht ins Theater gehen.« Sie trat hinter ihn und legte den Kopf an seine Schulter. »Das wäre bestimmt nett, meinst du nicht?« 

War es aber nicht. Sonst waren sie immer im Savoy abgestiegen, aber das wollte Milo diesmal nicht. Die guten Hotels waren alle voll, sodass ihnen nichts anderes übrig blieb, als sich in einer ziemlich tristen Pension in der Marylebone Street einzumieten. Und obwohl sie pflichtschuldig ihren Bummel durch die Oxford Street machte, während Milo sich mit Roger Thoday traf, hatte sie nicht halb so viel Spaß wie erhofft. Sie hatte sich daran gewöhnt, ihre Kleidung bei Zélie einzukaufen und fand die riesige Auswahl bei Selfridges eher anstrengend. Am Morgen im Zug hatte Milo sie gedrängt, sich etwas Hübsches zu kaufen, nur deshalb nahm sie schließlich zwei Kostüme mit, das eine kirschrot, das andere aus einem braun gesprenkelten Tweed. Als sie die Sachen im Hotel noch einmal probeweise überzog, stellte sie fest, dass die kirschrote Jacke über der Brust spannte und der braune Tweed sie blass machte. Sie zog das Kirschrote zum Mittagessen an und wünschte dann, sie hätte es nicht getan. Die anderen Frauen im Restaurant trugen Schwarz, Marineblau oder Taubengrau mit Weiß abgesetzt. Sie kam sich vor wie eine scheckige Kuh. Offensichtlich war sie nicht mehr auf dem Laufenden. Modisch hinkte Oxford London wohl hinterher. 

Am Abend sahen sie sich im Criterion ›Französisch ohne Tränen‹ an, eine Komödie, bei der Rebecca sich so lange gut amüsierte, bis sie einen Blick auf Milo neben sich warf. Er wirkte gelangweilt. »Gefällt es dir nicht, Schatz?«, flüsterte sie, und er fuhr ein wenig zusammen und sagte leise »Doch, es ist großartig.« Dann bat eine Frau hinter ihnen um Ruhe, Rebecca entschuldigte sich und richtete den Blick wieder zur Bühne. Nein, nicht gelangweilt, dachte sie. Unglücklich. 

Es war natürlich ihre Schuld. Sie schämte sich bei der Erinnerung an ihren Streit mit ihm – an ihre Unbeherrschtheit und ihre voreiligen Schlussfolgerungen. Sie wusste, dass eine Distanz zwischen ihnen geblieben war. Als sie am nächsten Morgen im Zug nach Oxford saßen, erster Klasse zusammen mit einer älteren Dame im Hahnentrittkostüm und einem Geistlichen, dachte sie betrübt darüber nach, wie weit sie sich voneinander entfernt hatten. Beinahe unbemerkt von ihnen selbst hatten ihre Wege sich immer weiter getrennt. Früher hätten sie miteinander getuschelt, sich irgendwelche verrückten Geschichten zu ihren Mitreisenden ausgedacht. Kindischer Unsinn, gewiss, aus dem man irgendwann einmal herauswachsen musste, aber irgendetwas, das sie in diesem Moment nicht benennen konnte, fehlte ihr, und der Mangel machte sie unendlich traurig. Vielleicht war es die Nähe, die Gemeinsamkeit. Wann hatte diese Gemeinsamkeit aufgehört? Wann hatten sie begonnen, nebeneinanderher zu leben, statt ihr Leben miteinander zu teilen? 

Tessa dankte dem Portier, der ihre Einkäufe nach oben getragen hatte, und sperrte die Wohnungstür auf. Draußen ging ein eiskalter Novemberregen nieder, und sie hatte, um zu sparen, statt eines Taxis den Bus genommen. Sie zog den Regenmantel aus und hängte ihn ins Bad, wo er verdrießlich vor sich hin tropfte. Im Schlafzimmer streifte sie die durchnässten Strümpfe ab. Unglaublich, dachte sie, wie sehr die Schwangerschaft einen veränderte. Sie war jetzt fast im achten Monat, und ihre Beine waren völlig außer Form, aufgedunsen und unförmig wie die der dicken, erschöpften Frau, die im Bus neben ihr gesessen hatte. 

In der Küche packte sie die Taschen aus. Weil Milo in Restaurants immer Angst hatte, gesehen zu werden, hatte sie ihn zum Essen bei sich eingeladen. Sie hatte die Speisenfolge sorgsam zusammengestellt: pikante Ananas mit Rahmkäse, Rindsrouladen (etwas Köstliches) und zum Nachtisch ein gâteau de pommes. Es war fast drei Wochen her, dass sie sich das letzte Mal gesehen hatten, und er fehlte ihr schrecklich. Aber jedes Mal,wenn er nach London fahren wollte, war etwas dazwischen gekommen. Sie hatte ihm angeboten, ihn in Oxford zu treffen, aber er war nicht begeistert gewesen. Und wenn dann etwas passiert?, hatte er gefragt. Wenn das Kind früher kommt? 

Als sie in die Knie ging, um eine Schüssel aus dem Unterschrank zu nehmen, fürchtete sie einen schrecklichen Moment lang, nicht wieder hochzukommen, aber dann schaffte sie es mit Hilfe der Schrankgriffe, sich aufzurichten. Zuerst der Salat, beschloss sie. Man musste den Rahmkäse mit Salatsoße mischen und ihn dann laut Rezept auf einem feuchten Küchenbrett mit feuchtem Messer ausrollen. Danach wurde die Masse zu Kugeln geformt und diese in die Mitte eines Ananasrings gedrückt. 

Vielleicht war ihre Unterlage zu feucht oder nicht feucht genug, auf jeden Fall klebte der Käse am Messer, am Brett und ihren Händen fest, sodass sie ihn schließlich mit einem Löffel abkratzen und mit den Fingern in die Ananasringe pressen musste. Als Nächstes nahm sie sich die Rinderrouladen vor. Das Telefon läutete, als die Zwiebeln in der Pfanne brutzelten. Sie stürzte an den Apparat, weil sie glaubte, es sei Milo, der versprochen hatte anzurufen, wenn er aus Oxford abfuhr. Aber es war nicht Milo, es war Antonio, um ihr mitzuteilen, dass Bee ihm ihr Jawort gegeben hatte. Ob sie nicht ins Lamb in der Lamb’s Conduit Street kommen wolle, um mit ihnen zu feiern? Tessa gratulierte ihm, sagte, sie habe leider schon etwas anderes vor und brach das Gespräch abrupt ab, als aus der Küche Brandgeruch kam. 

In Rauchwolken gehüllt nahm sie die schwarzgebrannten Zwiebeln vom Herd und suchte, zu müde, um noch einmal Zwiebeln aufzuschneiden, die besterhaltenen für die Rouladen heraus, bereitete mit gekörnter Brühe etwas Soße, goss sie über die Rouladen und schob das Ganze ins Rohr. Dann kochte sie sich erst einmal eine Tasse Tee und setzte sich aufs Sofa. Sie sollte lieber aufräumen, dachte sie angesichts des Durcheinanders von Büchern, Zeitschriften und gebrauchten Teetassen auf dem Couchtisch. Sie ließ das Hausmädchen jetzt nur noch zwei Tage die Woche kommen, um Geld zu sparen, aber seitdem sah die Wohnung immer unordentlich aus. Nur eine Minute noch, dachte sie, streckte sich auf dem Sofa aus und schloss die Augen. Sie legte beide Hände auf den Bauch und spürte die trägen Schwimmbewegungen des Kindes. 

Als sie erwachte, war es Viertel vor sieben. Milo war offenbar zu sehr in Eile gewesen, um sie vor seiner Abfahrt noch anzurufen. Schlapp und müde ging Tessa in die Küche. Die Rouladen im Rohr sahen unappetitlich aus: Ein Teil der Füllung war herausgequollen und schwappte rötlich grau in der Soße. 

Mit dem gâteau de pommes hatte sie noch gar nicht begonnen. Kopf und Rücken taten ihr weh, während sie am Spülbecken stehend die Äpfel schälte und entkernte. Nur noch sechs Wochen, versuchte sie sich zu trösten. Sechs Wochen, dann war es vorbei. Sie wusste immer noch nicht, was sie tun würde. Sie wusste, dass es am vernünftigsten wäre, das Kind adoptieren zu lassen. Wie es vernünftig gewesen wäre, Rays Heiratsantrag anzunehmen. 

Als die Äpfel geschnipselt waren, gab sie sie in einen Topf mit Wasser und stellte sie auf den Herd. Dann las sie den nächsten Teil des Rezepts: ›Geben Sie Zucker und Wasser in einen Topf und lassen Sie die Lösung köcheln, bis sie wieder zu Zucker wird.‹ Sie runzelte verwirrt die Stirn. Was sollte das denn heißen? Wozu die ganze Mühe, wenn der Zucker am Ende nur wieder seinen Originalzustand erreichte? 

Sie las weiter. ›Geben Sie die Apfelmischung in eine Form und stürzen Sie sie, wenn sie ganz erkaltet ist.‹ Wie lange brauchten gekochte Äpfel, um kalt zu werden? Eine halbe Stunde – länger? Sie hatte keine Ahnung. Sie sah auf die Uhr. Viertel nach sieben. Milo wollte um halb acht hier sein, und sie hatte sich noch nicht einmal umgezogen.  

Sie kippte die Äpfel, die zu einer schaumigen Masse verkocht waren, in ein Sieb, um die Flüssigkeit ablaufen zu lassen, rührte etwas Zucker hinein und goss alles in eine Puddingform, die sie in den Kühlschrank stellte. Die Küche sah aus wie ein Schlachtfeld, und ihre Schuhsohlen klebten an Spritzern von Apfelkompott auf dem Fußboden. 

Keine Zeit, um ein Bad zu nehmen. Während sie das Becken einlaufen ließ, betrachtete sie sich im Spiegel: ein hohläugiges, blasses Gesicht mit einem schwarzen Fleck auf einer Wange. Nach der Wäsche ging sie ins Schlafzimmer. Im Schrank hingen die schicken schräggeschnittenen kleinen Fummel, die sie früher, in einem anderen Leben, getragen hatte. Bei ihrem Anblick empfand sie etwas wie Trauer um alte Freunde. Sie zog ein dunkelgrünes Wickelkleid an, das sie selbst geschneidert hatte, weil die Umstandskleider in den Läden so abschreckend waren und sie immer schon gern genäht hatte. Dann schminkte sie sich, verdeckte die dunklen Schatten unter ihren Augen und verrieb etwas Rouge auf ihren Wangen. 

Zehn vor acht. 

Milo ließ auf sich warten. Wahrscheinlich der Verkehr – bei Regen war es oft schwierig, ein Taxi zu ergattern. Noch schnell ein Tupfer Véga von Guerlain hinter die Ohren, saßen die Strumpfnähte auch gerade?, dann ging sie wieder ins Wohnzimmer. 

Während sie aufräumte und die schmutzigen Teetassen ins Spülbecken stellte, überfiel sie plötzlich das Gefühl, dass er nicht kommen würde. Anfangs tat sie es als Unsinn ab, aber mit den verstreichenden Minuten wurde es immer mehr zur Gewissheit. Sie deckte zwar den Tisch und zündete die Kerzen an, aber der Elan war weg. 

Sie setzte sich wieder aufs Sofa, zog die Beine hoch und wartete. Vielleicht, dachte sie, hatte es einen Unfall gegeben. Unruhig drehte sie das Radio an. Der Refrain aus irgendeiner komischen Oper füllte das Zimmer. Keine Eilmeldungen von Zugunglücken oder schweren Überschwemmungen unterbrachen die Musik, und nach einer Weile schaltete sie den Apparat wieder aus. 

Sie sehnte sich danach, Milos Stimme zu hören. Vielleicht hatte er seinen Zug verpasst und wartete in seinem Büro in Oxford, von dem aus er oft stundenlang mit ihr telefonierte. Sie ließ sich von der Vermittlung mit der Nummer verbinden. Niemand meldete sich. Sie dachte daran, ihn zu Hause anzurufen und wusste, dass sie es lieber sein lassen sollte. Er würde bald hier sein. In diesem Augenblick saß er wahrscheinlich schon im Taxi nach Highbury, in der Hand einen Blumenstrauß und in der Manteltasche eine Flasche Wein. Gleich würde der Wagen unten halten, er würde herausspringen und in großen Sätzen die Treppe hinauflaufen. Er nahm niemals den Aufzug. Wenn sie die Tür öffnete, würde er die Blumen auf einen Stuhl werfen, oder sie würden den Strauß in ihrer Umarmung zerquetschen. 

Sie trat ans Fenster und zog den Vorhang zur Seite. Unten fuhr ein Taxi durch die Straße. Halt an, dachte sie, aber es fuhr weiter. Die Rücklichter schimmerten im Regen, als das Fahrzeug um eine Ecke bog und verschwand. 

In der Küche nahm sie das Apfeldessert aus dem Kühlschrank und tunkte einen Finger hinein. Es war immer noch flüssig. Sie stellte es zurück in den Kühlschrank. Dann setzte sie sich wieder ins Wohnzimmer, zündete sich eine Zigarette an und drückte sie gleich wieder aus. Sie sollte stricken lernen, dachte sie. Diese Stille, dieses Warten – es war besser zu ertragen, wenn man etwas zu tun hatte. 

Als das Telefon klingelte, stürzte sie zum Apparat, vor lauter Angst, es könnte aufhören zu läuten, bevor sie es erreichte. 

»Milo?«, stieß sie atemlos hervor. 

»Tessa?« 

»Oh, Gott sei Dank.« Eine Welle der Erleichterung. »Ich dachte schon, es wäre etwas passiert. Wo bist du?« 

»Leider immer noch zu Hause.« 

»Aber wir wollten doch zusammen essen.« 

»Ich weiß, ich weiß. Ich bin so wütend.« 

»Was ist denn passiert, Darling?« 

»Das verdammte Auto macht Schwierigkeiten. Als Rebecca heute Nachmittag von Abingdon zurückfuhr, fing es an, irgendwelche Geräusche von sich zu geben. Wir mussten es in die Werkstatt bringen. Ich wollte dann eigentlich mit dem Taxi zum Bahnhof fahren, aber der alte Fred Holland war unterwegs, weil er jemanden aus Radcliffe abholen musste. Ich dachte natürlich sofort an den Bus – aber ich fahre sonst nie mit dem Bus, und Rebecca hat mich sowieso schon so komisch angesehen, da habe ich mich gar nicht getraut, das vorzuschlagen. Es ist verdammt schwierig – sie passt auf wie ein Schießhund.« Er klang verdrossen. 

»Du Armer.« 

»Ich wusste nicht, wie ich schnell genug zu einem Telefon komme. Ich wollte nicht, dass du dich umsonst mit der ganzen Kocherei abplagst.« 

»Da mach dir mal keine Sorgen.« Tessa lachte. »Du kannst wahrscheinlich von Glück reden. Ich bin eine erbärmliche Köchin.« 

»Nein. Nein, es wäre bestimmt ein wunderbarer Abend geworden. Ich hatte mich so sehr darauf gefreut. Ach, es tut mir so leid, Darling. Ich mache es wieder gut, das verspreche ich dir.« 

»Wo bist du jetzt?« 

»In der Telefonzelle in Little Morton. Zum Glück haben wir den Hund, mit dem ich raus muss. Hier gießt es in Strömen.« 

»Hier auch. Ich wollte, es wäre Sommer.« 

»Wie geht es dir, Liebes?« 

»Gut. Ich bin nur ein bisschen müde, und die Füße tun mir weh.« Sie lachte wieder. »Wie eine alte Frau.« 

»Ich wollte, ich könnte bei dir sein. Dann könnte ich dir die Füße massieren.« 

»Morgen –« 

»Morgen geht es nicht. Wir haben Gäste. Aber ich bin nächste Woche in London. Ich habe einen Termin bei der BBC.« 

»Du fehlst mir«, sagte sie. »Ich liebe dich.« 

»Ich liebe dich auch. Ganz wahnsinnig.« 

Kurz danach beendete er das Gespräch – vor der Telefonzelle habe sich schon eine Schlange gebildet, erklärte er, und er könne es nicht wagen, zu lange auszubleiben. 

Tessa nahm die Rouladen aus dem Rohr, die Ananas und das Apfeldessert aus dem Kühlschrank. Was hast du anderes erwartet?, dachte sie erbittert, während sie das missratene Abendessen im Mülleimer verschwinden ließ. Du gehörst nicht zu seinem Leben, du füllst nur hier und da eine Lücke. Du hast kein Recht auf ihn, er gehört zu einer anderen. Er gehört zu seiner Frau Rebecca. So war es von Anfang an. 

Sie konnte seine Schwächen erkennen – seinen Egoismus, seine Eitelkeit –, aber an ihrer Liebe zu ihm änderte das nichts. Sie hatte nicht oft geliebt, auch wenn sie sich etwas anderes eingebildet hatte. Wahrhaft geliebt hatte sie Guido Zanetti, damals, als sie siebzehn gewesen war, und jetzt liebte sie Milo. Die anderen Männer in ihrem Leben hatte sie gemocht und geschätzt. Aber geliebt hatte sie keinen von ihnen. 

Sie stapelte das schmutzige Geschirr im Spülbecken und drehte das Wasser auf. 

Während sie wartete, dass das Becken sich füllte, dachte sie über Rebecca nach, der sie nie begegnet war. Liebte Milo Rebecca? Eine gewisse Unzufriedenheit, eine Ernüchterung waren bei ihm zu spüren, über die er aber nur selten sprach. Hatten die beiden sich einmal geliebt? Ja, dachte sie, Milo hätte niemals ohne Liebe geheiratet. Milo brauchte Liebe. Und er fürchtete Rebeccas Eifersucht. War Eifersucht ein Zeichen von Liebe oder von Besitzanspruch? Vor noch nicht allzu langer Zeit wäre sie ihrer Antwort sicher gewesen. Liebe, die den anderen besitzen, für sich allein haben will, hätte sie gesagt, ist nichts als eine Verzerrung, die entstellte Schwester der Liebe. Abhängigkeit, Eifersucht, Schuldgefühle: Das waren Empfindungen, die sie verachtete und die für sie nie zum Wesen der Liebe gehört hatten. 

Sie hatte sich entschieden. Wenn sie nicht bereit war, die Einschränkungen der Ehe hinzunehmen, konnte sie auch keine Forderungen an ihn stellen. Die Liebe dauert, so lange sie eben dauert, erinnerte sie sich einmal zu ihm gesagt zu haben. Wenn sie aufhört, lässt man sie hinter sich. 

Sie ließ das Geschirr zum Einweichen im Becken, machte in der Küche das Licht aus und löschte die Kerzen auf dem Esstisch. Durch das Fenster blickte sie zur Straße hinunter wie vorher, als sie auf ihn gewartet hatte. Es hatte aufgehört zu regnen. Geh doch einfach aus, sagte sie sich. Nimm ein Taxi und fahr zu Antonios Verlobungsfeier. Oder ruf jemanden an. 

Stattdessen ging sie ins Schlafzimmer und kleidete sich aus. Ihr nackter Bauch hatte die ebenmäßig glockenförmige Schwellung einer reifen Birne. Sie setzte sich auf die Bettkante, bedeckte ihr Gesicht mit den Händen und drückte die Finger fest auf die Augen, um die Tränen zurückzudrängen. Die Liebe dauerte, so lange sie eben dauerte, aber diese Beziehung konnte sie nicht einfach hinter sich lassen. Durch sein Kind würde Milo Rycroft immer ein Teil von ihr bleiben. Ach Tessa, dachte sie müde, was hast du getan? 

Die Wehen begannen frühmorgens am siebenundzwanzigsten Dezember. Freddie, die noch Schulferien hatte, fuhr mit Tessa im Taxi zur Klinik in Bayswater. Danach wusste sie nicht recht, was sie mit sich anfangen sollte, und nahm schließlich kurzerhand die Untergrundbahn nach South Kensington, wo Julian Lawrence wohnte. Als er auf ihr Läuten öffnete, sagte sie: »Ich habe Tessa eben in die Klinik gebracht.« 

»Oh. Und wie lang wird es dauern, was meinst du?« 

»In der Klinik haben sie gesagt, wahrscheinlich nicht vor morgen früh.« 

»O Gott.« 

»Ich durfte nicht bei ihr bleiben. Es ist richtig gruslig dort, und die Schwestern sind die reinsten Drachen. Ich komme mir so überflüssig vor. Ich wollte, ich könnte etwas tun.« 

»Wenn ich helfen kann …« 

»Ja, du könntest mit mir frühstücken gehen. Wir haben vor der Abfahrt gar nichts mehr gegessen, weil Tessa so schlecht war.« 

Julian rannte nach oben, um Jackett und Brieftasche zu holen. Dann gingen sie zu Fuß die Pembroke Road hinunter zur Earl’s Court Road. Es war bitterkalt und dünner Schnee sprenkelte Ligusterhecken und rußige Hausmauern.  

In dem Café tranken Arbeiter in blauen Monteuranzügen Tee aus schweren Henkelbechern und aßen dicke Brote dazu. Julian fragte Freddie, was sie haben wolle. 

»Toast am liebsten.« Ihr war selbst ein bisschen übel bei dem Gedanken an Tessa, ganz allein in dieser grässlichen Klinik.  

»Kopf hoch, Kleine«, sagte Julian, als er mit zwei Bechern Tee zurückkam. 

»Ich versuche krampfhaft, nicht an die Geburtsszenen zu denken, die ich in Büchern gelesen habe. Du weißt schon, wie in David Copperfield, als die Mutter gestorben ist.« 

»Tessa ist keine matte viktorianische Heldin. Sie wird das ganz prima machen.« 

»In der Klinik haben sie dauernd Mrs. Nicolson zu ihr gesagt, als würde es dadurch schicklicher. Sollte ich eigentlich jemanden anrufen? Oder soll ich damit warten, bis das Baby da ist?« 

»Was ist mit dem Vater?« Julian rührte Zucker in seinen Tee. »Solltest du den nicht anrufen?« 

»Würde ich ja gern tun, aber Tessa hat mir bis heute nicht gesagt, wer es ist. Obwohl ich ihr Löcher in den Bauch gefragt habe.« Freddie sah Julian direkt in die Augen. Er hatte schöne Augen, mit langen Wimpern und so dunkel wie ihre eigenen. »Es ist wohl nicht zufällig dein Kind?« 

Er schüttelte den Kopf. 

»Unmöglich. Tessa hat vor über einem Jahr mit mir Schluss gemacht.« 

»Du bist der Einzige, den ich bisher direkt gefragt habe. Schon ein bisschen dreist, nicht, aber ich dachte mir, dass du es nicht übel nehmen würdest.« 

»Nein, tu ich auch nicht. Ich vermute, es ist Max Fischer, dieser schäbige Kerl.« 

Sie fragte neugierig: »Was hast du gegen Max?« 

Julian machte ein finsteres Gesicht. »Wahrscheinlich, dass er Tessa lieber ist als ich, und ich nicht verstehe, warum. Max ist älter als ich, hat weniger Geld und sieht, finde ich, lange nicht so gut aus wie ich. Aber inzwischen habe ich es verschmerzt.« 

Trotz des halb scherzhaften Tons glaubte Freddie ihm nicht. »Du siehst fabelhaft aus, Julian«, sagte sie tröstend. »Wirklich. Ich war selbst drauf und dran, mich in dich zu verlieben, aber dann habe ich es doch lieber gelassen.« 

»Warum?« 

»Bei mir in der Schule ist ein Mädchen, die sich in einen Jungen zu Hause verknallt hat und den ganzen Tag nur von ihm redet. Du kannst dir nicht vorstellen, wie öde das ist.« 

Er lachte. »Warte, bis es dir selber passiert, Freddie.« 

Das Mädchen an der Theke rief ihnen zu, ihr Frühstück sei fertig, und Julian ging die Teller holen. Als er Freddie ihren Toast hinstellte, sagte er: »Es könnte auch Paddy Collison sein. Sie waren ungefähr zur richtigen Zeit zusammen.« 

»Na, hoffentlich nicht. Habe ich dir erzählt, dass er mal versucht hat, sich an mich ranzumachen? Ich war bei ihm zu Hause, um ihm eine Nachricht von Tessa zu bringen, und er mixte mir einen Martini und wollte mich dann küssen. Ich war erst sechzehn.« 

»Der alte Bock. Hast du es Tessa erzählt?« 

»Natürlich nicht.« Freddie schnitt ihren Toast in Viertel. »Ray könnte es natürlich auch sein, obwohl ich das eigentlich nicht glaube. Oder dieser Mann in Paris –« 

»André.« 

»Genau. Dann war da noch so ein fürchterlicher Lord Sowieso, den sie beim Rennen in Ascot kennengelernt hatte. Ich glaube, er war verheiratet. Der könnte es sein. Ich bin ihm nur ein Mal begegnet.« 

Ich kann ihn nicht heiraten, hatte Tessa an dem Abend gesagt, als sie Freddie gestanden hatte, dass sie schwanger war. Freddie bedauerte es jetzt, dass sie Tessa nicht gedrängt hatte, ihr zu erklären, was sie damit meinte. Ich kann ihn nicht heiraten – weil er verheiratet war? Oder weil Tessa trotz allem, trotz des Kindes, in ihrer Ablehnung der Ehe unerschütterlich war? 

»Es macht mich so wütend«, sagte sie. 

»Du meinst, weil er kneift und Tessa die ganze Sache allein ausbaden lässt?« 

»Ja, so ungefähr. Aber Tessa scheint das anders zu sehen.« »Gräm dich nicht, Freddie. Eines habe ich irgendwann begriffen – Tessa ist so schön, dass man meint, sie wäre aus Porzellan. Aber in Wirklichkeit ist sie ziemlich robust.« 

Freddie strich Orangenmarmelade auf ihren Toast. »Vielleicht erkenne ich den Vater, wenn ich das Baby sehe. Vielleicht sieht es aus wie er.« 

»Mit rotblondem Schnauzer, wenn es von Ray ist?« 

Sie kicherte. »Aber wie geht es eigentlich dir, Julian? Wie war Weihnachten?« 

»Großartig.« Mit blitzenden Augen beugte er sich vor. »Ich bin zur Pilotenausbildung angenommen. Ich gehe zur Royal Air Force. Na, sind das tolle Neuigkeiten?« 

»Mensch, Julian.« Sie strahlte ihn an. »Ich gratuliere. Das hast du gut gemacht.« 

»Die Prüfung vor dem Auswahlausschuss war vor ein paar Wochen. Ich dachte, ich hätte es gründlich vermasselt, aber dann teilten sie mir mit, ich hätte bestanden. Danach kam die ärztliche Untersuchung, und am Heiligen Abend erhielt ich die Benachrichtigung, dass ich mich Ende April im Ausbildungslager melden soll.« 

»Und deine Eltern? Freuen sie sich?« 

»Mein Vater, ja. Meine Mutter ist nicht so begeistert. Sie glaubt, dass es Krieg gibt.« 

»Und du glaubst das nicht?« 

»Doch, schon. Aber das ist doch der springende Punkt. Wenn es Krieg gibt, muss ich bei den Fliegern sein. Und wie sieht es bei dir aus, Freddie? Wie lange musst du noch die Schulbank drücken?« 

»Mindestens ein Jahr.« 

»Was hast du vor, wenn du fertig bist?« 

»Miss Fainlight, meine Haustutorin, findet, ich solle studieren.« 

»Hast du denn Lust dazu?« 

»Ja, ich glaube schon.« Ein Studium gehörte schon seit einiger Zeit zu ihren Plänen. »Aber es kommt natürlich darauf an«, fügte sie hinzu. 

Vor allem kam es aufs Geld an. Freddie hatte die Bankschreiben gelesen, die Tessa hinter die Uhr auf dem Kaminsims gestopft hatte. Wieder hatte sie angeboten, von der Schule abzugehen und sich eine Arbeit zu suchen, und wieder hatte Tessa energisch gesagt, nein, das komme nicht infrage, eine von ihnen müsse studieren und es zu etwas bringen. Als Freddie entgegnete, Tessa hätte es doch auch ohne Studium ganz schön weit gebracht, hatte Tessa mit einem Fingerschnippen gesagt: »Eine bessere Vorführdame … nein, aus dir soll mal was anderes werden, Schatz.« Tessa hatte so müde und blass ausgesehen, dass Freddie es nicht übers Herz gebracht hatte zu widersprechen. 

Sie sah auf ihre Uhr. Halb zehn. Erst anderthalb Stunden waren vergangen, seit sie Tessa in die Klinik gebracht hatte. »Wir rechnen nicht damit, dass das Kind vor morgen Vormittag kommt«, hatte einer der Drachen gesagt, dabei war Tessas Gesicht schon auf der Taxifahrt schmerzverzerrt gewesen. 

Kopf hoch, Kleine. Sie hatte gelernt, der Welt ein ruhiges, zuversichtliches Gesicht zu zeigen. Wie man zu sein vorgab, so wurde man mit der Zeit wirklich. 

Sie sagte zu Julian: »Erzähl mir von der Fliegerei. Ich möchte alles wissen.« 

Sie hatten Freddie weggeschickt, obwohl sie gefragt hatte, ob sie nicht bleiben könne. »Selbstverständlich nicht, Mrs. Nicolson«, fuhr die Schwester sie an, als hätte sie etwas Unanständiges verlangt. Nach allen möglichen Untersuchungen wurde sie dann in ihr Bett gepackt und allein gelassen. Es war ein schönes Zimmer mit Blick auf ein Stück winterbraunen Garten, aber sie kam sich verloren vor, gefangen unter gestärkten Leintüchern und Wolldecken. Sie hatte scheußliche Schmerzen – sie hatte die Schwester gebeten, ihr etwas gegen die Schmerzen zu geben, hatte aber nur zu hören bekommen, dass sie noch nicht weit genug sei. 

Die Stunden krochen dahin. Ab und zu kam jemand, maß Puls und Temperatur und verschwand wieder. Um eins brachte eine Schwester ihr das Mittagessen, das sie nicht anrührte. Um fünf das Abendessen. Eine Oberschwester in dunkelblauer Tracht kam ins Zimmer und sagte: »Sie müssen essen, Mrs. Nicolson. Sie brauchen Ihre ganze Kraft.« Also würgte Tessa ein belegtes Brot hinunter und würgte es über dem gestärkten weißen Leinen wieder heraus. Zwei Schwestern kamen und bezogen ziemlich mürrisch das Bett neu. 

Danach war sie lange allein. Sie sehnte sich nach Milo, sie sehnte sich nach Freddie. Sie wollte sterben, sie schrie so laut, dass sofort drei Schwestern ins Zimmer gerannt kamen. Die Oberschwester in der dunkelblauen Tracht untersuchte sie und befahl den anderen, sie in den Kreißsaal zu bringen. Nach einer unsäglichen Fahrt in einem ratternden Rollstuhl durch endlose Linoleumgänge half man ihr in einem hell erleuchteten Raum auf eine hochbeinige Liege. Sie bekam Lachgas und Sauerstoff und den Befehl zu pressen, und eine nette Schwester hielt ihr die Hand und versicherte ihr, sie mache das sehr gut. Eine Stunde später kam ihr Sohn zur Welt. Sie wogen ihn – zweitausendneunhundert Gramm –, und die nette Schwester wickelte ihn in eine Decke und legte ihn Tessa in den Arm. Die Oberschwester kam zurück ins Zimmer und zischte: »Was tun Sie da, Dawkins? Nehmen Sie ihn ihr weg. Er wird adoptiert.« 

»Nein, wird er nicht«, widersprach Tessa. »Ich behalte ihn.« 

So leicht fiel die Entscheidung schließlich. Das Gesicht ihres Sohnes war zerknittert wie ein ungebügeltes Taschentuch, er hatte feines helles Haar und dunkle Augen, die er nur ganz kurz öffnete, um einen fragenden Blick in die Welt zu werfen. Niemals hätte sie ihn hergeben können. 

Am nächsten Tag zur Besuchszeit kamen alle: ihre Freunde und Freddie, immer paarweise, weil nicht mehr als zwei Besucher im Zimmer erlaubt waren. Sie überschütteten sie mit Blumen, Schokolade, Büchern und Zeitschriften, und hinterher waren die Schwestern freundlicher zu ihr, weil unter ihren Besuchern eine berühmte Schauspielerin war, die vor allem in musikalischen Komödien brillierte, und ein blendend aussehender Polarforscher. 

Am Abend, als alle gegangen waren, kletterte Tessa vorsichtig aus ihrem Bett, holte sich Briefpapier und einen Umschlag und schrieb an Milo. Die nette Schwester Dawkins gab den Brief für sie auf. 

Rebecca war im Bad, als er unten den Briefkasten klappern hörte. Er lief hinunter, neuerdings versuchte er immer, als Erster an die Post zu kommen. Und ans Telefon. 

Er erkannte Tessas Handschrift sofort, legte die anderen Briefe auf den Flurtisch und riss den Umschlag auf.  

»Was ist das?« 

Er hob den Kopf. Oben an der Treppe stand Rebecca. 

»Ach, nur wieder mal ein Verehrerbrief«, sagte er und tat so, als läse er. »Sie war begeistert vom Regenbogen, aber ihr Lieblingsbuch ist immer noch Penelope. Komisch, dass sie immer glauben, es wäre ein Kompliment, wenn sie das schreiben.« 

»Hm«, sagte sie nur. »Rührei oder Bückling?« 

»Bückling«, antwortete er automatisch. 

Rebecca ging in die Küche. Milo verschwand in seinem Arbeitszimmer und schloss die Tür hinter sich, bevor er Tessas Brief zu lesen begann. 

Mein liebster Milo, schrieb sie, ich habe einen kleinen Sohn. Er ist am Donnerstagmorgen in aller Frühe zur Welt gekommen, das Wunderbarste, was ich je gesehen habe. 

Der Ansturm widerstreitender Gefühle – Erschütterung, Stolz, Angst und Erleichterung, dass sie die Strapazen der Geburt offenbar gesund überstanden hatte – war so heftig, dass er sich setzen musste, ehe er mit hämmerndem Herzen weiterlesen konnte. 

Ich nenne ihn Angelo Frederick. Angelo, weil er mit seinem blonden Haar und den blauen Augen aussieht wie ein kleiner Engel, und Frederick natürlich nach Freddie. 

Milo hielt stirnrunzelnd inne. Ich nenne ihn Angelo Frederick  

Schnell las er den Rest des Briefs. Sie hatten über die Möglichkeit gesprochen, das Kind adoptieren zu lassen. Nein, das stimmte nicht ganz – er hatte mehrmals zaghaft versucht, das Thema anzusprechen, ängstlich wie ein Pferd vor einem hohen Gatter, weil er wusste, dass er kein Recht hatte, Tessa seine Meinung aufzuzwingen, auch wenn er überzeugt war, dass eine Adoption die beste und vernünftigste Lösung wäre. Aber als wäre sie mit einem siebenten Sinn ausgestattet, lenkte sie jedes Mal ab, wenn er nur daran dachte, ein heikles Thema zur Sprache zu bringen. 

Sie war selten ernst; gerade das liebte er an ihr, aber es war manchmal auch ungeheuer ärgerlich. Einmal, als sie zusammen im Bett waren, hatte er mit seltener Klarheit erkannt, dass er sich nichts mehr wünschte, als den Rest seines Lebens mit ihr zu verbringen, und zum Teufel mit allen Schwierigkeiten, aber als er sprechen wollte, legte sie ihm den Zeigefinger auf die Lippen und sagte leise: »Nein, Milo. Sag nichts. So wie es ist, ist es vollkommen.« 

Aber er hatte gehofft, sie würde das Kind adoptieren lassen. Er hatte fest damit gerechnet. Es war ja in jeder Hinsicht die gescheiteste Lösung. Das Beste für Tessa und sicher auch das Beste für das Kind. Ein Junge brauchte einen Vater. 

Milo starrte zum Fenster hinaus. Es schneite in dicken Flocken, die liegen bleiben würden. Er dachte, ein Sohn, und hatte eine betörende Vision, wie er den Jungen langsam kennenlernen, und einer das Leben des anderen bereichern würde. Der Junge würde ihn natürlich Onkel nennen, und er würde Tessa überreden müssen, ihm nicht ausgerechnet einen Namen wie Angelo anzutun, der ihn von den anderen abheben und ihm in der Schule Hänseleien eintragen würde. 

Das schöne Bild zerrann; er sah die kalte Realität. Er erinnerte sich an einen Mitschüler in der Grundschule. Der Junge war ein uneheliches Kind gewesen und die ganze Schulzeit mit einem grauen Hauch von Schande behaftet, der bei Milo Mitleid und gleichzeitig Abscheu hervorgerufen hatte. Er las noch einmal den Brief. Von Adoption war nirgends die Rede; jedes Wort, das Tessa geschrieben hatte, sagte ihm, dass sie entschlossen war, das Kind bei sich zu behalten. 

Was würde das für ihn bedeuten? Eine Verlängerung der Ängste und der qualvollen Spannung der letzten sechs Monate auf Lebenszeit und ewige Furcht vor Entdeckung. Dieses halbe Jahr war ein Drahtseilakt gewesen, und sich vorzustellen, dass es so weitergehen würde, war fürchterlich. Tessa schien zu glauben, sie würden ihre Beziehung wie bisher fortführen und die Abkunft des Kindes geheim halten können, aber Milo wusste, dass das Illusion war. Früher oder später würde man sie zusammen sehen. Sie standen beide im Licht der Öffentlichkeit, sie durch ihre Karriere als internationales Fotomodell, er durch seinen Erfolg als Autor. Der Skandal würde ihn vernichten. 

Milo begann zu schreiben. Liebste Tessa, ich habe mich so sehr über deine Nachricht gefreut. Starrte auf die Worte hinunter, zerriss das Blatt in kleine Fetzen und nahm ein neues. Liebste Tessa, ich bin so glücklich und erleichtert, dass alles gut gegangen ist  

Sehr zu Freddies Enttäuschung zeigte der Kleine mit niemandem auffallende Ähnlichkeit. Nicht einmal mit Tessa, fand sie. Angelo sah aus – diese Meinung wurde von Tessa nicht geteilt – wie ein kleines Wesen von einem anderen Stern, außerirdisch, nicht wie ein richtiger Mensch. Tessa fand ihn bezaubernd schön, aber das war nur verständlich. Er hatte eine erstaunlich große Nase und erstaunlich große Hände und Füße, ein rotes Kussmäulchen und sehr dunkle blaue Augen, die manchmal unabhängig von einander zu agieren schienen, während das eine geschlossen blieb, wanderte der Blick des anderen lebhaft umher. Aber er war trotzdem sehr süß, und sein komisches Maunzen, wenn er hungrig war, die Art, wie er sich an ihrer Brust zu einem kleinen Bündel zusammenkuschelte und einschlief, entzückten sie immer wieder. 

Als Tessa nach zehn Tagen aus der Klinik nach Hause kam, beobachtete Freddie aufmerksam die Reaktionen der männlichen Besucher auf Angelo, immer auf der Suche nach – ja, was? Schuldbewusstsein? Väterlicher Zuneigung? Natürlich war es nicht besonders anständig, so neugierig zu sein, aber sie konnte nicht anders. Ihr war schon der Gedanke gekommen, dass Tessa vielleicht selbst nicht wusste, oder zumindest nicht mit Sicherheit, wer Angelos Vater war. Was für ein Leben, dachte Freddie beinahe sehnsüchtig, wenn es einem passieren konnte, dass man den einen Liebhaber mit dem nächsten verwechselte. 

Wenn Freddie Tessas Freunden den kleinen Angelo entgegenhielt und fragte, ob sie ihn einmal auf den Arm nehmen wollten, wichen manche erschrocken zurück und erklärten, sie hätten Angst, ihn fallen zu lassen, während andere routiniert zupackten, den Kleinen an die Schulter drückten und ihm den Rücken klopften. Die einen erschienen mit imposanten Blumenarrangements und riesigen Pralinenschachteln, andere überreichten Tessa ein Sträußchen Schneeglöckchen in Zeitungspapier oder eine Tüte voll Petits Fours. Als Freddie Mitte Januar ins Internat zurückfuhr, war sie hinsichtlich Angelos Herkunft so klug wie zuvor. Tessa verstand es, ihre Geheimnisse zu hüten. 

Wenn er weinte, war es ein Schluchzen ohne Tränen. Dafür flossen bei Tessa die Tränen reichlich und bei jedem Anlass – wenn sie sich beim Wickeln mit der Sicherheitsnadel in den Finger stach, wenn sie daran dachte, dass ihre Mutter gestorben war, ohne ihren Enkel kennenzulernen, wenn ihre Brüste schmerzten. Der Anblick seines nackten kleinen Körpers in der Wanne, sein Gewicht, wenn er auf ihrem Bauch liegend langsam einschlief, beglückten sie so tief und schmerzlich, dass sie das Gefühl hatte, durch die Geburt sei ihr eine schützende Haut genommen worden. 

Wenn sie nachts im Morgenrock schlaftrunken in die Küche tappte, um sein Fläschchen warm zu machen, war es, als bewohnten sie und Angelo ihre eigene geheime Welt, in die kein Geräusch eindrang außer seinen regelmäßigen Atemzügen und ihrer leisen Stimme, wenn sie für ihn sang. Die Augen fielen ihr zu, während sie ihn fütterte; sie zuckte zusammen und setzte sich aufrecht, um wach zu bleiben. Schreckensbilder tauchten vor ihr auf – ein Säugling, von seiner schlafenden Mutter erdrückt, ein anderer, erstickt, während seine Mutter eingenickt war. Auch wenn nach den ersten Wochen keine Milch mehr aus ihren Brüsten austrat und sie langsam wieder ihre frühere Figur bekam, wusste sie, dass die Geburt sie verändert hatte. Sie hatte ihre Unbekümmertheit, ihr unbegrenztes Vertrauen in einen glücklichen Ausgang der Dinge verloren. Die Pflichten, die sie so dankbar abgeschüttelt hatte, als sie nach London gekommen war, holten sie jetzt hundertfach ein. Sie war immer wachsam, achtete mit scharfer Aufmerksamkeit darauf, dass ihr nicht aus Übermüdung oder Leichtsinn irgendein schrecklicher Fehler unterlief – dass sie etwa das schlafende Kind in seinem Körbchen im Taxi zurückließ oder nachts keine Milch mehr für es hatte, weil sie vergessen hatte, sie einzukaufen. Es gab Tage, an denen sie es nicht vor dem Nachmittag schaffte, sich zu waschen und anzuziehen. Als sie das erste Mal mit Angelo im Kinderwagen, einem hochrädrigen Silver Cross mit glänzendem Metallchassis, den Ray ihr geschenkt hatte, zum Einkaufen ging, brauchte sie Stunden für die Vorbereitungen. 

Milo sah seinen Sohn das erste Mal, als dieser drei Wochen alt war. Wegen Freddies Verbindung mit Meriel Fainlight wartete er sicherheitshalber, bis sie ins Internat zurückgekehrt war. Tessa bedauerte ihn, weil er die ersten Lebenswochen seines Kindes versäumte. Angelo veränderte sich täglich, wie eine Blume, die sich langsam öffnet. Milo kam mit Geschenken für sie und das Kind und einer Tüte voll Delikatessen von Fortnum and Mason’s. Er bestand darauf, das Mittagessen selbst zu machen. Sie werde jetzt einmal keinen Finger rühren, sagte er, sie solle sich ein bisschen Ruhe gönnen, er werde den Tisch decken, das Essen richten und hinterher abspülen. Sie war ihm dankbar dafür, zumal das Mädchen nicht da gewesen war und die Wohnung chaotisch aussah – überall schmutziges Geschirr, Babyfläschchen, Windeln, kleine Nachthemdchen, die zum Trocknen aufgehängt waren. Milo räumte auf, spülte Geschirr, kochte Tee. Er hielt Angelo behutsam und vorsichtig im Arm, und nach dem Essen, als Tessa müde war, legten sie sich beide, das schlafende Kind zwischen sich, aufs Bett. 

Manchmal hatte Rebecca Angst, sie würde verrückt werden. Sie begann, ihr Misstrauen als etwas Lebendiges zu sehen, ein hässliches, graues, unförmiges, fratzenhaftes Wesen, das sie verfolgte, sie auf ihrer Schulter hockend mit höhnischem Grinsen daran erinnerte, dass Milo wieder einmal zu spät aus Oxford zurückkam, oder ihr spöttisch ins Ohr zischelte, wenn Milo vor dem Frühstück nach unten rannte, um die Post zu holen. 

Sie überlegte, ob sie mit ihrem Arzt sprechen sollte. Ich habe diese seltsamen Vorstellungen; jeden Tag versuche ich, nicht daran zu denken, aber sie kommen einfach. Doch der Gedanke, in Dr. Hunters nach Karbol und Bodenwachs riechendem Sprechzimmer zu sitzen und sich seine gönnerhaften Ratschläge anzuhören, sie solle doch einen Abendkurs belegen oder einen Ausflug nach London unternehmen – Tapetenwechsel kann nur guttun, Mrs. Rycroft – war abschreckend.  

Vielleicht hatte der Dr. Hunter ihrer Phantasie ja recht. Vielleicht brauchte sie einfach mehr Beschäftigung. Die Monate nach Weihnachten waren immer trostlos – im Garten gab es kaum etwas zu tun und eine Ausfahrt mit dem Auto hatte wenig Reiz. Sie würde ihren Tag neu einteilen, beschloss sie. Sie würde jeden Morgen einen langen Spaziergang mit Julia machen und darauf achten, dass sie jeden Tag mit jemandem Kontakt hatte, mit Meriel oder Glyn oder einer ihrer Bekannten im Dorf. An den Tagen, an denen Milo den Wagen nicht brauchte, würde sie es übernehmen, alte Damen ins Radcliffe-Krankenhaus zu fahren. Sie würde neue Kochrezepte ausprobieren, um ihr Repertoire zu erweitern. Ende März wollten sie ein Fest geben, um die Veröffentlichung von Mittwinterstimmen zu feiern.  

Rebecca räumte die Schränke in der Alten Mühle aus, gab Kleidung und Bücher an eine Wohltätigkeitsorganisation und trug Kartons voller Sachen, die seit Jahren nicht mehr benützt worden waren, auf den Dachboden. Dort entdeckte sie ein Bündel Briefe und Karten. Während sie es durchging, war sie sich bewusst, dass sie nach Beweisen suchte – einem Liebesbrief, einer Ansichtskarte, Geliebter Milo … Grüße und Küsse … Von wem? Nicht von Grace King. Sie war sicher, dass Milo ihr da die Wahrheit gesagt hatte. Aber die Briefe waren alt und viele an sie selbst gerichtet – weitschweifige Episteln von Schulfreundinnen, mit denen sie längst keine Verbindung mehr hatte, Einladungen zu Festen, Hochzeiten, Taufen, aus Sentimentalität aufbewahrt. Wäre ihr Leben anders verlaufen, wenn sie ein Kind gehabt hätten? Wahrscheinlich ja, ein Kind hätte ihr zu tun gegeben, und sie hätte nicht ihre ganze Liebe und Leidenschaft einzig auf Milo konzentriert. Aber wäre es besser gewesen? Das war die Frage. Ihr imaginäres Kind, Archie oder Oscar, mit dem freundlichen, offenen Gesicht, seiner Selbstständigkeit und seinem intuitiven Verstehen ihrer Stimmungen – hätte Milo es übel genommen, wenn sie einen Teil ihrer Liebe diesem Kind gegeben hätte? 

Sie holte ihre Staffelei und ihre Bleistifte. Während sie einen Krug mit Palmkätzchen zeichnete, zeichnete sie in Gedanken ganz andere Bilder. Angenommen, er war in irgendeine junge Frau verliebt. Angenommen, sie lebte in Oxford, wie damals Annette Lyle. Ein Leichtes, sich mit ihr zu treffen – zum heimlichen Stelldichein am Nachmittag oder auf ein Stündchen am Abend, beschwingt vom Erfolg seiner Vorlesung. Aber hätte er nicht Angst, gesehen zu werden, so wie er schließlich mit Annette Lyle gesehen worden war? Der Seitensprung war ans Licht gekommen, als eine Bekannte die beiden in einer Hotelbar außerhalb von Oxford beobachtet hatte. Dann also nicht Oxford, sondern London. Milos Geliebte würde ihre Briefe an sein Büro an der Universität schicken; er würde sie anrufen, nicht sie ihn. Er würde sie anrufen, wenn er allein im Haus war, oder aber von der Telefonzelle im Dorf aus. So einfach. 

Er ist unruhiger als sonst. Er fährt zusammen, wenn das Telefon läutet oder der Briefträger klopft. Er macht jeden Abend einen langen Spaziergang mit dem Hund, obwohl er sonst bei schlechtem Wetter immer sehr schnell wieder zu Hause ist. Er sieht nicht glücklich aus – wenn er in irgendeine Frau vernarrt wäre, müsste er doch glücklich aussehen, oder nicht? 

In Mantel und Hut vermummt folgte sie ihm eines Abends. Straßenlampen gab es keine, und im feinen Dunst konnte sie nur den schwankenden Lichtkegel seiner Taschenlampe erkennen. Im Dorf ging Milo zielstrebig an der Telefonzelle vorbei. Er gönnte ihr nicht einmal einen Blick. Tief beschämt und mit dem Gefühl, sich lächerlich gemacht zu haben, ging sie wieder nach Hause. 

Die Rückkehr zur Arbeit gestaltete sich schwieriger, als Tessa es sich vorgestellt hatte. Zum einen standen ihr diese lästigen fünf Zentimeter in der Taille im Weg, die nicht weichen wollten. Das andere Hindernis war die Missbilligung, die ihr schon während der Schwangerschaft entgegengeschlagen war. Die großen Kaufhäuser zeigten ihr die kalte Schulter und teilten ihr mit, sie hätten ihre Mannequins für die Frühjahrssaison bereits unter Vertrag. Sie ließ nicht locker, weil sie das Geld brauchte, nicht nur für sich, sondern vor allem für Angelo und Freddie. Sie forderte Gefälligkeiten ein, aktivierte alte Kontakte und schaffte es endlich, als Angelo sieben Wochen alt war, sich zwei Tage Arbeit für die Vogue zu sichern, als Hutmodell. 

Sie engagierte über eine Agentur ein Kindermädchen, das sich tagsüber um Angelo kümmern würde. Am Abend zuvor vergewisserte sie sich, dass genug saubere Windeln, Nachthemdchen, Laken und Handtücher, sowie sterilisierte Flaschen und Sauger da waren. Sie stand früh um halb sechs auf, um genug Zeit zu haben, Angelo zu baden, zu füttern und anzuziehen und sich dann selbst zurechtzumachen. Sie blieb lange genug, um dem Kindermädchen, das sie ein kleines Vermögen kostete, alles zu zeigen, dann gab sie ihrem Sohn einen Kuss, nahm ihre Tasche und rannte los. Im Aufzug dachte sie, sie wirkt eigentlich ganz nett, aber was ist, wenn sie vergisst sein Fläschchen zu wärmen? Wenn sie ihn stundenlang schreien lässt, während sie seelenruhig herumsitzt und in Zeitschriften blättert? Wenn sie in Wirklichkeit gar kein Kindermädchen ist, sondern ihn entführt, und ich ihn nie wiedersehe? 

Sie überlebten es. Das war es, worum es in diesen Tagen ging: das Überleben. Sie hatte keine Vorstellung davon gehabt, wie umständlich es war, mit einem Baby in London von einem Ort zum anderen zu kommen. Taxis waren teuer, und sie wollte sparen, und der Riesenkinderwagen ließ sich weder in den Bus noch die Untergrundbahn bugsieren. Sie gewöhnte sich einen gewissen Rhythmus an, um die Forderungen des Tages zu bewältigen. Manchmal, wenn Angelo schlief und sie die alltäglichen Dinge des Lebens erledigt hatte – essen, schlafen, ausgehen, Freunde treffen –, fand sie, es ginge alles ganz gut. Zu anderen Zeiten, wenn sie keine Arbeit bekam und Angelo die ganze Nacht schrie, wenn sie nicht einmal dazu kam, sich die Haare zu waschen, und kein Mensch anrief, weinte sie sich genau wie ihr Kind in den Schlaf. 

Sie lernte, bei der Arbeit niemals von Angelo zu sprechen. Wenn sie arbeitete, musste sie die strahlende, schöne Tessa Nicolson sein, ganz unverändert, als könnte die Erfahrung von Schwangerschaft und Geburt abgelegt und vergessen werden wie ein vergangener Urlaub oder Zahnschmerzen. Wenn ein Fotograf länger mit ihr arbeiten wollte, durfte sie nur sagen, ich muss meinen Zug erwischen oder, ich bin verabredet – auf keinen Fall Ich muss nach Hause zu meinem Kind, weil ich so müde bin, dass ich keinen klaren Gedanken mehr fassen kann und im Stehen einschlafen werde, wenn Sie von mir verlangen, auch nur einen Moment länger stillzuhalten.  

Sie sah jetzt vieles anders. Sie bemühte sich, auf ihre Ausgaben zu achten, was jetzt, da sie kaum zum Einkaufen kam, leichter war, und sie sorgte dafür, dass die Wohnung auch an den freien Tagen des Mädchens sauber war, weil sie nicht wollte, dass Angelo sich irgendeinen Bazillus holte. Die Zeit war zur Kostbarkeit geworden. Sie lernte es, sich am Morgen eines Arbeitstags in kürzester Zeit fertig zu machen und, wenn nötig, ihre Sachen, Schlüssel, Lippenstift und Portemonnaie, mit Angelo im Arm zusammenzusuchen. Sie lernte, den Kinderwagen reibungslos in den Aufzug und wieder aus ihm heraus zu befördern, Angelos Tragekorb sicher in dem kleinen MG zu verstauen. Angelo liebte es, im Auto herumkutschiert zu werden. In den ersten Wochen packte sie ihn, wenn er spätabends einfach nicht einschlafen konnte, ins Auto und fuhr mit ihm herum, bis ihm die Augen zufielen. Ein wunderbarer Friede breitete sich in ihr aus, wenn sein Weinen allmählich leiser wurde und dann ganz versiegte, während sie durch die dunklen, stillen Straßen rollten. Als sie in den Zwischenferien Ende Februar mit Angelo zu Freddie nach Oxford fuhr und er in seinem Körbchen die ganze Fahrt durchschlief, war sie so stolz, als hätte sie den Mount Everest bezwungen. 

Es gab Dinge, die Tessa kränkten. Es kränkte sie, wenn jemand, dem sie mit dem Kinderwagen begegnete, sagte: »Aber ich dachte, er sollte adoptiert werden.« Oder wenn jemand Angelo ansah, als sollte er besser gar nicht existieren, als wäre er etwas Schmutziges, Krankes, als hätte er den Fehltritt begangen und nicht sie. Solange andere dabei waren, verzog sie keine Miene, aber allein weinte sie bittere Tränen.  

Aber am meisten gekränkt fühlte sie sich durch Milo. Als er seinen Sohn das erste Mal gesehen hatte, war sie tief bewegt gewesen von dem Ausdruck ehrfürchtigen Staunens in seinen Augen. Mit der Zeit kam sie allerdings zu der Überzeugung, dass das ehrfürchtige Staunen eher Bestürzung gewesen war. Sie hatte geglaubt, dass Milo seinem Sohn, auch wenn er ihn nicht öffentlich anerkennen konnte, eine unvergleichliche Zärtlichkeit entgegenbringen würde. Sie hatte sich eine einzigartige Beziehung vorgestellt: Wenn er nicht Angelos Vater im konventionellen Sinn sein konnte, so würde er ihm etwas anderes, ebenso Kostbares sein. 

Was in den frühen Monaten ihrer Beziehung aufregend gewesen war – die Heimlichkeit, das Spielerische, die gestohlenen Stunden –, hatte seinen Reiz verloren. Sie war härter geworden durch die Mutterschaft, weniger nachsichtig. Wollte er die Beziehung abkühlen lassen? War das möglich? Nein, das konnte sie nicht von ihm glauben. Dennoch ertappte sie sich dabei, dass sie nachzählte, wie oft er eine Verabredung hatte platzen lassen, wie oft er ein Telefongespräch abgebrochen hatte, und haderte mit sich selbst, weil sie damit ihre eigenen Regeln brach. Regeln in der Liebe – wie töricht von ihr, geglaubt zu haben, dass der alltägliche Handel und Wandel des Herzens für sie nicht gelte.