6

Simon stellte an den Toren eine Wache auf, bevor er in den Keller ging. Wenn er Recht hatte und Michel ein Vampir war, und wenn Isabel Recht hatte und er Charmot anzugreifen plante, wollte er so gut wie möglich vorgewarnt sein. Als er Sir Gabriels Arbeitszimmer erreichte, hatte Orlando bereits jede Truhe geöffnet und Schriftrollen von einer Ecke des kleinen Raumes bis zur anderen verstreut.

»Nichts«, sagte er, und warf eine weitere Schriftrolle beiseite, als der Vampir hereinkam und auf einen Stuhl sank. »Hier ist nichts – oder nichts für diesen Zweck.« Er nahm eine beliebige Schriftrolle hoch und las: »›Als Ethelred der Weise die Ehefrauen seines Neffen gerettet hatte, erhielt er vierzig Ochsen, wie zu Ehren der Göttin erfolgt‹. Ich frage Euch, wen kümmert das?«

»Ethelred vermutlich«, sagte Simon. »Und vielleicht die Göttin. Und wahrscheinlich die Ochsen.«

»Das ist nicht lustig, Simon«, sagte der Zauberer stirnrunzelnd.

»Nein«, gab Simon zu. »Ich weiß.«

»Ich habe einen weiteren Hinweis auf das gefunden, was der Kelch sein könnte.« Er sah einen anderen Stapel durch. »Hier ist es. ›Als ich mein vollständiges Alter und meine vollständige Urteilskraft erreichte, wurde mir das Wissen von der Wahrheit zuteil, wie es meinen Vorfahren aus den fernen Ländern des Ostens überliefert worden war, durch die Waffen und das Gefäß des Lichts.‹ Aber er sagt nicht, was diese Gegenstände sind oder wo sie vielleicht gefunden werden können.« Er ließ die Schriftrolle seufzend wieder sinken. »Vielleicht haben sie es niemals niedergeschrieben.« Er betrachtete die Schriftrollen rund um sich herum. »Vielleicht wurde es mündlich von Vater zu Sohn weitergegeben, oder von Priester zu Ministrant.«

»Das ergibt Sinn«, sagte Simon, der nicht wirklich zuhörte. Hannah hatte ihm zusammen mit der geborgten Kleidung einen Dolch dagelassen, und er zog ihn nun aus seinem Gürtel, eine einfache, schnörkellose Waffe, aber auf beiden Seiten tödlich scharf und wunderbar ausbalanciert.

»Wir müssen vielleicht beginnen, die Tunnel aufs Geratewohl zu durchforsten, so sehr ich den Gedanken auch hasse.« Simon antwortete nicht, und Orlando sah ihn verärgert an. »Was plagt Euch? Habt Ihr auch nur ein Wort von dem gehört, was ich gesagt habe?«

»Ich habe es gehört«, antwortete Simon und steckte den Dolch wieder ein.

»Oh, nein.« Der Zauberer setzte sich zu ihm auf die andere Seite des Schreibtischs. »Was sollt Ihr für sie tun?«

»Nicht mehr, als meine Pflicht wäre, selbst wenn sie nicht gefragt hätte.« Er begegnete Orlandos Blick. »Ich denke, ich muss Michel versehentlich zu einem Vampir gemacht haben.«

»Was? Wer ist Michel?«

»Der Schurke, den ich an der Kirche getötet habe.« Er berichtete alles, was Isabel ihm erzählt hatte, von Pater Colins erster Warnung bis zu ihrem Auffinden des aufgewühlten Grabes. »Zumindest hat sie es im hellen Tageslicht gefunden«, schloss er. »Ich zittere bei der Vorstellung, was wohl geschehen wäre, wenn sie es im Dunkeln gefunden hätte.«

»Hört auf zu zittern«, sagte Orlando. »Ich glaube das nicht.«

»Also ist Isabel eine Lügnerin?«, fragte Simon mit einem warnenden Stirnrunzeln.

»Natürlich nicht«, antwortete der Zwerg. »Lady Isabel ist eine freundliche, gutherzige junge Frau, die ihr Leben unter Barbaren verbracht hat, die noch immer den Mond anbeten. Und Ihr, Simon, seid ein Vampir, der glaubt, alles Übel auf der Welt wäre seine Schuld.«

»Orlando, sie hatte das Kreuz, das Michel trug.« Er erhob sich von seinem Stuhl. »Und was ist mit dem Mädchen, das tote Mädchen, das gefunden wurde?«

»Sie trug ein Kreuz wie fünfhundert andere, die wir gesehen haben«, sagte Orlando und erhob sich ebenfalls. »Und selbst wenn es dasjenige war, das Michel trug, was heißt das? Wir haben es wohl beim Verbringen seines Leichnams ins Grab verloren.«

»Und das Mädchen?«, fragte Simon wenig überzeugt.

»Das Mädchen wurde von einem Wolf getötet, genau wie sie glaubten, oder von einem Rudel wilder Hunde oder einem Schurken auf der Straße.« Er sammelte die Schriftrollen ein und verstaute sie. »Sie war eine wehrlose Frau, und Ihr fühlt Euch schuldig, weil sie Euch zu Willen war und Ihr sie verlassen habt – und daran tut Ihr wahrscheinlich nicht ganz unrecht. Aber ihr Tod war nicht Euer Werk.«

»Ihr Herz und ihr Blut wurden genommen«, beharrte Simon. »Isabel hat gesagt …«

»Nein, das hat sie nicht«, unterbrach ihn der Zwerg. »Ich habe ihnen in der Halle sehr sorgfältig zugehört, auch wenn das für Euch nicht gilt. Die Bauern sagten, das Herz und das Blut seien genommen worden. Aber Isabel hat nur einen verstümmelten Leichnam gesehen.«

»Aber welchen Unterschied …«

»Einen großen Unterschied.« Er legte eine Hand beschwörend auf Simons Arm. »Auf dieser Insel wimmelt es von Dämonen, wenn man die Leute reden hört. Die Engländer leben und sterben mit dem Aberglauben, fast ebenso sehr wie die Iren.« Der Vampir runzelte die Stirn, und er lächelte. »Es ist gut, dass Ihr versprochen habt, ihr zu helfen, Simon. Sie wird Euch jetzt vertrauen, und unsere Arbeit wird umso schneller vollbracht sein. Aber sie braucht diesen Mann, Michel, nicht zu fürchten. Sie braucht Euch nicht aufzufordern, ihn zu töten. Das habt Ihr bereits getan.«

»Und wenn ich es nicht getan habe?« Orlando klang stets so sicher, so vernünftig, aber Simon erkannte, dass er selbst es nicht war. Seine Gefühle beherrschten ihn, wie sie es schon immer getan hatten. Das war der Grund, warum er dem Urteil des Zauberers so oft mehr traute als seinem eigenen. Aber dieses Mal war er sich nicht sicher.

»Simon, ich schwöre Euch, das habt Ihr«, sagte der Zauberer seufzend. »Denkt an Eure eigene Erschaffung zurück. Ihr habt Kivars Blut getrunken. Hat Michel Euer Blut getrunken?«

»Nein«, gab Simon zu. »Zumindest kann ich mich nicht daran erinnern.«

»Ihr würdet Euch erinnern«, versprach Orlando. »Die Erschaffung eines Dämons ist keine müßige Angelegenheit, Krieger. Das solltet Ihr besser wissen. Es geschieht nicht versehentlich.« Er lächelte. »Wenn dem so wäre, würde Euch ein bis zum Ural zurückreichender Zug von Ungeheuern auf den Fersen folgen.«

Simon verzog bei dem Gedanken das Gesicht. »Du könntest Recht haben, Orlando«, sagte er und fühlte sich eher töricht, war aber immer noch nicht ganz überzeugt. »Ich bete … ich hoffe, du hast Recht. Aber ich werde mich versichern müssen.«

»Ihr habt Wichtigeres zu tun«, sagte der Zwerg, der die Geduld verlor. »Der Kelch …«

»Ich werde den Kelch finden, wenn er gefunden werden kann«, unterbrach Simon ihn. »Aber egal ob er tot ist oder ein Ungeheuer, ich werde Michel finden.«

Isabel hatte erwartet, dass Brautus in der Halle auf sie wartete, aber er war nicht mehr da. »Er ist nach oben gegangen, Mylady«, sagte Susannah. »Er hat Hannah gesagt, er sei müde.«

»Das bin ich auch«, räumte Isabel ein. »Sind alle gut untergebracht? Haben alle genug Platz zum Schlafen?« Die Halle war seit dem Tod ihres Vaters nicht mehr so bevölkert gewesen.

»Wir werden uns darum kümmern«, sagte sie. »Die meisten Leute haben ihr Bettzeug mitgebracht.« Sie lächelte und hatte einen spitzbübischen Glanz in den Augen. »Wie ich übrigens sehe, hat das Gewand seine Wirkung getan.«

»Was meint Ihr?«, fragte Isabel, ehrlich verwirrt.

»Sir Simon hat Euch geküsst«, antwortete sie. »Ich habe es durch das Fenster des Sonnenraums gesehen, und Brautus und Tom ebenfalls.« Sie lächelte breiter. »Ich habe Euch ja gesagt, dass er Euch begehrt.«

»Gute Nacht, Susannah.« Sie eilte auf die Treppe zu, ihr Gesicht war tief gerötet, obwohl sie vermutlich nicht hätte überrascht sein sollen. Die Treppe, die zum Schloss hinaufführte, war wohl kaum der abgeschiedenste Ort für ein Stelldichein.

Sie gelangte zu ihrem Zimmer und schlug die Tür mit pochendem Herzen zu, als eine Stimme hinter ihr sagte: »Das ist also das Ende.«

»Brautus!« Sie wirbelte herum und fand ihn in einem Sessel am Fenster vor, auf die Kissen aus ihrem Bett gestützt. »Hast du Schmerzen?«, fragte sie ruhiger. »Solltest du dich nicht hinlegen?«

»Ich brauche kein Kindermädchen.«

»Ich auch nicht.« Sie trat zum Schreibtisch und setzte sich hin, als hätte sie das ohnehin vorgehabt. »Susannah sagte, du hättest gesehen, wie ich Simon geküsst habe.«

»Nein, Mädchen, ich habe gesehen, wie er dich geküsst hat.« Er wandte sich ihr mit offensichtlicher Anstrengung zu, sein Gesicht bleich und vor Schweiß glänzend. »Du hast es nur zugelassen.«

»Ich bin mir sicher, dass ich es beim nächsten Mal besser machen werde.« Sie zog ein Bündel Schriftrollen zu sich heran, die sie aus dem Arbeitszimmer ihres Vaters mitgebracht hatte, und löste das Band. »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, Brautus. Er hat mir das Versprechen abgenommen, mich von jetzt an von ihm fernzuhalten, damit ich ihn nicht von seiner Suche ablenke.«

»Sicher hat er das getan«, sagte der uralte Ritter stirnrunzelnd. »Was ist bloß an einem hübschen Gesicht, das eine vernünftige Frau in eine Närrin verwandelt?«

»Das weiß ich ganz sicher nicht.« Sie betastete eine Ecke der obersten Schriftrolle, berührte die verschlüsselten Notizen, die ihr Vater dort festgehalten hatte. Würde er sie auch schelten, wenn er hier wäre und sie sehen könnte?

»Isabel, was denkst du?«, wollte er wissen. »Hast du keinen Gedanken für das Schloss deines Vaters übrig, für seine Leute …«

»Wann habe ich jemals an etwas anderes gedacht?« Die bloße Ungerechtigkeit des Vorwurfs genügte, sie zur Raserei zu bringen. »Wer war es, der das Schloss meines Vaters heute Nacht gesichert hat? Wer ist hinausgeritten, um seine Leute in Sicherheit zu bringen? Simon …«

»Also hast du so einfach nur deine Dankbarkeit gezeigt?«

»Was geht dich das an?« Er erbleichte, als hätte sie ihn geschlagen, und heiße Scham erglühte auf ihren Wangen. Brautus hatte immer wieder sein Leben riskiert, um sie und ihre Tugend zu beschützen. Sie hätte eher sterben als seine Sorge in Frage stellen sollen. Aber er verstand nicht. Sie verstand es ja nicht einmal selbst. »Susannah hat Recht«, sagte sie, und wandte den Blick ab. »Du hättest mich am liebsten in ein Kloster gesteckt.«

»Das hätte ich nicht!«, protestierte er.

»Warum sollte ich dann nicht …«

»Weil ich diesem Mann nicht traue. Und du solltest es auch nicht tun. Wäre er ein wahrhafter, bekannter Adliger, hätte irgendjemand irgendwann einmal von ihm gehört und hätte er dich offen als ein Mann umworben, der dich verdient, dann hätte ich niemals nein gesagt.«

»Er hofiert mich überhaupt nicht«, beharrte sie. »Der Kuss, den du gesehen hast … es ist einfach geschehen. Und es wird nicht wieder geschehen.«

»Diese Dinge geschehen nicht einfach, meine Liebe«, erwiderte er. »Und sie geschehen immer wieder.«

»Brautus, was soll ich deiner Meinung nach tun?«, fragte sie. »Wir brauchen ihn.«

»Das tun wir nicht …«

»Doch.« Sie kniete sich zu seinen Füßen auf den Boden und nahm eine narbige, betagte Hand zwischen die ihren. »Ich wollte es dir schon vorher sagen, aber es war keine Zeit.« Und so erzählte sie ihm alles, was sie an der Kapelle des Heiligen Joseph gesehen hatte, und alles, was sowohl dort als auch zwischen ihr und Simon gesagt worden war. »Er glaubt nicht, dass Michel kommt«, schloss sie. »Aber er hat versprochen, Charmot zu verteidigen, falls er doch kommt.«

»Und du glaubst ihm.« Er berührte mit traurigem Blick ihre Wange.

»Das tue ich.« Sie wünschte, sie könnte ihm die Verbundenheit, die sie Simon gegenüber empfand, so fremd er auch war, begreiflich machen, eine Verbindung, die tiefer reichte, als es durch das gemeinsame Blut zu erklären war. Aber sie wusste, er würde sie dennoch für töricht halten, er würde dennoch denken, dieses Gefühl sei nur ein weiteres Symptom ihrer Torheit. »Und selbst, wenn ich es nicht täte, welche andere Wahl habe ich? Du hast vom Schloss meines Vaters und seinen Leuten gesprochen. Wie sonst kann ich sie beschützen?« Sie umfasste seine Hand fester. »Ich würde alles tun, um Charmot zu retten. Das musst du doch wissen.«

Er lächelte noch immer so traurig. »Ja, Kind, das weiß ich.« Er streichelte mit seiner freien Hand ihr Haar und machte dann Anstalten aufzustehen.

»Komm, lass mich dir helfen.« Sie erhob sich, um ihn zu stützen.

Er stieß einen fürchterlichen Fluch aus, der sie hätte erröten lassen sollen, aber sie schwieg. Er fluchte nicht wirklich wegen seiner Schmerzen. Er stützte sich auf ihre Schulter, ihren Arm hatte sie um seine Taille gelegt, und sie sah Tränen in seinen Augen. »Dein Vater hat dich meiner Obhut anvertraut, wenn auch vielleicht nicht absichtlich.«

»Ich weiß«, sagte sie und kämpfte selbst gegen die Tränen an. »Und genauso hat er mir Charmot anvertraut.« Sie stützte sich auf den Sessel, reckte sich und küsste seine Wange. »Und jetzt werden wir beide sicher sein.«

Sie half ihm schweigend in sein Zimmer und ins Bett. Was blieb noch zu sagen? Die Kerzen waren fast vollständig heruntergebrannt, als sie in ihr Zimmer zurückkehrte, aber Susannah oder Hannah war hereingekommen, hatte die Kissen zurückgelegt und das Bett aufgedeckt. Sie hatten zweifellos die ganze Zeit im Gang gelauscht.

»Dein Schloss hat Ohren, Papa«, sagte sie und wandte sich wieder den Schriftrollen auf ihrem Schreibtisch zu. »Ohren und Augen und ein Herz.« Sie betrachtete erneut den Kode, dieses Rätsel, von dem er immer geglaubt hatte, es würde ihre Frauenaugen verderben. »Und jetzt, so hoffe ich, auch ein Schwert.« Die Buchstaben des Kodes waren ihr immer unverständlich erschienen, ein unsinniges Gemisch aus Symbolen, aber plötzlich bemerkte sie etwas. In einigen der Ecken waren die Buchstaben umgekehrt geschrieben.

Sie sah die Seiten durch, blätterte sie um. Der gesamte Haupttext war auf die gleiche Art geschrieben, aber der Text in den Ecken unterschied sich. Einige Notizen führten gerade aufwärts, einige umgekehrt, einige zur linken und einige zur rechten Seite. Aber stets bildete die jeweilige Notiz ein vollkommenes Dreieck, jedes von genau der gleichen Größe wie die anderen, alles in allem in dreizehn Ecken. Sie setzte sich hin, um dem schwindenden Licht näher zu sein. Selbst wenn sie sie alle in einer Richtung las, ergab der Kode keinen Sinn, keine Worte, die sie erkennen konnte. Aber eine Reihe von Symbolen wiederholte sich immer wieder, mindestens einmal auf jeder Seite. »Was ist das, Papa?«, flüsterte sie. »Wolltest du, dass es vergessen wird?«

Sie dachte an den Abend, an dem Simon eingetroffen war, und an die Visionen, die er ihr beschrieben hatte. Simon hatte ihr berichtet, hier sei Weisheit verborgen. Weisheit, die den verfluchten Ritter wieder ins Licht führen könnte.

»Ist das die Weisheit, Papa?«, sagte sie in die leere Luft hinein. »Ist es das, was du ihn hier finden lassen wolltest?« Aber ihr Vater sprach nicht aus dem Himmel zu ihr. Er erschien nicht in ihren Träumen. Er hatte sie geliebt, aber sie war eine Frau. Sie könnte es niemals verstehen.

»Ich werde Simon fragen«, sagte sie und ließ die Papiere sinken. »Vielleicht werde ich sie ihm geben.«

Simon eilte zu den Ställen, sobald die Sonne am folgenden Abend untergegangen war, entschlossen, selbst nachzusehen, was bei der Kapelle des Heiligen Joseph begraben lag. Malachi hatte ihm gegenüber am Vorabend Nachsicht gezeigt. Er hoffte, er würde es wieder tun. »Ein schöner Abend, Freund«, murmelte er und ignorierte das ungehaltene Schnauben und Wiehern der übrigen Tiere bei seinem Herannahen. »Willst du deine Beine ausstrecken?« Malachi bewegte den Kopf rasch auf und ab, als er ihn erreichte, und schob seine Nase über das Gatter, um sich kraulen zu lassen. »Guter Junge«, sagte Simon grinsend, während er den Wunsch erfüllte.

Die Tür schlug hinter ihm zu, und er sah überrascht Orlando auf sich zustapfen, so schnell seine kleinen Beine ihn tragen wollten. »Ich dachte, du hättest Hunger«, sagte der Vampir, und wandte sich wieder seinem Pferd zu.

»Ihr habt sie geküsst?« Der kleine Zauberer war so zornig, dass seine Nasenspitze vor den geröteten Wangen blau-weiß wirkte. »Dieses törichte Mädchen im Haus sagte, Ihr hättet Lady Isabel geküsst. Stimmt das?«

Simon sah ihn über die Schulter hinweg stirnrunzelnd an. »Was interessiert es dich, ob ich es getan habe?« Er ging, um den Sattel des Pferdes zu holen, während der Zwerg hinter ihm her hastete.

»Was es mich interessiert? Seid Ihr verrückt geworden?« Simon betrat geduckt die Box des Pferdes, wohin Orlando ihm nicht zu folgen wagte. »Ihr müsst verrückt geworden sein.« Simon warf ihm einen verärgerten Blick zu, während er das Pferd sattelte, schwieg aber. »Wollt Ihr unsere Gastgeberin töten, das unschuldige Wesen, dessen Freundlichkeit vielleicht unsere Rettung bedeutet?« Simon befestigte das Zaumzeug und kraulte das Pferd am Kinn. »Oder habt Ihr vergessen, dass Ihr ein Vampir seid?«

»Magst du noch ein wenig lauter brüllen, Zauberer?«, fragte Simon. »Sie haben dich drinnen vielleicht nicht gehört.«

»Ich meine es ernst, Simon …«

»Ich auch.« Er führte das Pferd aus dem Stall und flüsterte ihm währenddessen ermutigend zu. »Ich habe nichts vergessen«, sagte er und tätschelte Malachis glänzend schwarzen Hals. »Und ich will niemanden töten.«

»Vielleicht solltet Ihr es«, erwiderte Orlando. »Ich denke, Euer Geist versagt vor Hunger.«

»Zu schade, dass du nur ein Happen bist«, giftete der Vampir zurück. Der Zauberer trat erschreckt einen Schritt zurück, und Simon lächelte. »Warum öffnest du nicht diese Tür?«

»Was ist mit Eurer Suche?«, beharrte Orlando und folgte ihm. »Ihr habt eine Pflicht …«

»Ich sagte bereits, dass ich es nicht vergessen habe.« Simon schwang sich in den Sattel und empfand das Gefühl, auf einem Pferderücken zu sitzen, wieder als tröstlich. Es ließ ihn sich weniger wie ein Ungeheuer fühlen, was auch immer Orlando sagen mochte. »Ich werde weit vor der Dämmerung zurück sein.«

»Simon …« Der Zwerg öffnete eilig die Stalltüren, als das Pferd in Trab verfiel.

Isabel hatte gesehen, wie Simon den Hof überquerte, und war in ihr Zimmer gelaufen, um die Schriftrollen ihres Vaters zu holen. »Simon!«, rief sie ihm hinterher, als die Zugbrücke herabgelassen wurde, und lief ihm nach. Aber er hörte sie nicht mehr.

»Ich fürchte, er hat Euer Pferd gestohlen«, sagte eine Stimme neben ihr – Orlando, der aus dem Stall trat. »Aber ich nehme an, dass er zurückkommt.«

»Das hoffe ich gewiss«, erwiderte sie lächelnd. »Ich bin diesem Pferd sehr zugetan.«

»Das wundert mich nicht«, antwortete er, ohne ihr Lächeln zu erwidern. »Es ist ein schönes Tier.« Er beobachtete sie mit nicht allzu freundlicher Miene, wie sie bemerkte. »Außerdem hat er versprochen, Euer Schloss zu verteidigen.«

»Simon? Ja, das hat er getan.« Sie ging wieder in Richtung Halle, und er folgte ihr. »Er hat es Euch natürlich erzählt.«

»Und Ihr habt versprochen, ihn in Ruhe zu lassen.« Sie blieb im Torbogen stehen und wandte sich überrascht zu ihm um. »Und doch seid Ihr hier.«

Nun lächelte er, aber es war dennoch keine beiläufige Bemerkung gewesen. »Ich wollte ihm etwas zeigen – etwas sagen«, erwiderte sie. Wie viel hatte Simon seinem seltsamen, kleinen Diener über die vorige Nacht erzählt? »Ich denke, ich kann ihm helfen.«

»Das könnt Ihr nicht«, antwortete er in einem Tonfall so kalt wie Stein, alle vorgetäuschte Artigkeit war verschwunden.

»Wie könnt Ihr da so sicher sein?«, erwiderte sie. Ihre eigenen Dienstboten sprachen nicht in diesem Ton mit ihr. Warum sollte sie es bei ihm dulden, auch wenn er ein Zauberer war? »Und was geht es Euch an?«

»Ihr könnt Simon nicht helfen, Mylady, sondern ihn nur verletzen.« Die Menschen in der Halle betrachteten sie neugierig, und sie ließ sich von ihm in den Sonnenraum führen, eher um Fragen zu vermeiden, als weil sie unbedingt hören wollte, was er zu sagen hatte. »Er ist nicht der Mann, für den Ihr ihn haltet, Lady Isabel, so gerne er es auch wäre.« Sie sah ihn in seiner Tasche umhertasten, als wollte er etwas darin berühren. »Seine Suche ist wichtiger, als Ihr jemals vermuten könntet, seine Schwüre tödlicher, wenn er sie bricht.«

»Orlando, was ist das für ein Fluch?«, wollte sie wissen. »Was für eine Todsünde hat er begangen?«

Seine Mundwinkel wölbten sich zu einem verzerrten, verbitterten Lächeln. »Ich wünschte, ich könnte es Euch sagen, Mylady«, antwortete er. »Ich wünschte, ich könnte es Euch begreiflich machen.«

»Wann habe ich Euch etwas anderes als Freundlichkeit erwiesen, Orlando?«, fragte sie. »Warum solltet Ihr mich so ablehnen?«

»Euch ablehnen? Nein, Mylady, ich schwöre, das ist es nicht«, protestierte er. »In Wahrheit mag ich Euch sehr, mehr als ich zugeben möchte. Meine Warnung dient ebenso Eurem eigenen Schutz wie dem Schutz meines Herrn.« Er nahm ihre Hand mit warmem, aber kraftvollem Griff zwischen seine Hände. »Er mag Euch, das weiß ich, und das fürchte ich. Er könnte Euch vernichten, Mylady, Euren Körper und Eure Seele vernichten.« Sie öffnete den Mund, um zu widersprechen, aber der Ausdruck in seinen Augen erstickte die Worte, bevor sie ausgesprochen wurden. »Und das würde wiederum ihn vernichten.«

»Orlando, ich verstehe nicht.« Sie umfasste seine Hand stärker, hielt sie fest, als er loslassen wollte.

»Haltet Euch von meinem Herrn fern, Mylady«, antwortete er. »Deutlicher kann ich es Euch nicht sagen. Wenn Ihr ihm helfen wollt, dann haltet Euch von ihm fern.«

Simon fand die Tore des Kirchhofs für die Nacht verschlossen und verriegelt vor. Er beugte sich aus Malachis Sattel herab und läutete die Eisenglocke. Mit etwas Glück würde der Priester ihn nicht erkennen. Simon würde ihn erneut bannen, das Grab öffnen, das er hinter der Kapelle gegraben hatte, und sicherstellen, dass Michel dort war, wo er hingehörte, sicherstellen, dass Orlando Recht hatte. Und wenn nicht …

»Hinfort!« Der Priester hatte die Tür im Tor geöffnet und trat nun hervor, einen kreuzförmigen Stab in der einen und ein Keramikgefäß in der anderen Hand. »Unhold aus der Hölle, hinfort von hier, sage ich!«

Malachi bäumte sich auf und wieherte schrill, als schreckte ihn das Kreuz ebenso sehr wie den Vampir. »Ruhig«, befahl Simon und rang um Kontrolle über das Pferd, während er sein Gesicht abwandte, seine Augen brennend von dem Anblick. »Pater, bitte – ich will Euch nichts antun …«

»Ich sagte hinfort!« Der alte Mann schleuderte das Gefäß mit überraschender Kraft und besprengte den Vampir mit Weihwasser. Dieses Mal war es Simon, der schrie, sein Gesicht brannte wie Feuer. Malachi machte aus eigenem Antrieb kehrt, schrak aber zurück, als die Zügel erschlafften, und Simon hörte durch seine eigenen Schmerzensschreie hindurch, wie die Tür zugeschlagen und der Riegel wieder vorgeschoben wurde.

»Gut gemacht, Pater Colin«, murmelte er, als er wieder sprechen konnte. Seine Haut begann schon zu heilen, aber er hätte es dennoch nicht gewagt, in einen Spiegel zu sehen, aus Angst vor dem, was er zumindest noch eine kleine Weile sehen würde. Malachi tänzelte und schnaubte und scharrte auf dem Weg, als empfände er für seinen Herrn Zorn. »Nein, er hat es richtig gemacht, Freund«, sagte Simon, während er die Zügel wieder aufnahm und das Pferd tätschelte. »Er hat es richtig gemacht.« Er würde den Kirchhof nicht aufsuchen können, zumindest nicht heute Nacht. Und da der Priester so wachsam war, konnte man sich nur schwer vorstellen, dass ein weiterer Vampir vor seinen Augen herumwanderte. Vielleicht hatte Orlando doch Recht.

Er hörte ein Rascheln hinter sich, sowie ein weiteres Geräusch, das ein Lachen hätte sein können, und er ließ das Pferd sich in engem Kreis drehen, seine rechte Hand lag auf dem geborgten Schwert. »Wer ist da?« Malachi wieherte tief in seiner Kehle leise und beunruhigt, während ihn ein Schauder durchlief. »Was ist los?«

Zwei Augen schimmerten ihm aus dem Gebüsch entgegen, und während er die Zügel fester um seine Faust schlang, um sein Pferd zu kontrollieren, hörte er ein leises, kehliges Knurren. »Ruhig«, murmelte er und zog sein Schwert, als der Umriss des Wesens näher kam, schwarz wie die Schatten, zu schwarz, um ihn deutlich zu sehen, selbst mit Vampiraugen. Malachi schnaubte, mehr zornig als ängstlich, und Simon lächelte. »Ja, wir werden ihn erwischen. Was auch immer er ist.«

Plötzlich griff das Tier sie an, ließ mit einem Sprung die Schulter des Schlachtrosses hinter sich und mit einem weiteren den Kopf des Vampirs, während seine Klauen sich tief in Simons Brust und Malachis Flanke gruben. Das Pferd wirbelte mit einem Aufschrei reinen Zorns herum, fast noch bevor der Vampir die Zügel packte, und galoppierte zur Verfolgung in den Wald.

Die Jagd ging meilenweit durch so dichte Bäume und Gestrüpp, dass Simon seine Beute kaum erblicken konnte. Aber er konnte sie riechen, ihre Bosheit spüren, und Malachi konnte es anscheinend auch – das Pferd wankte nicht und verlangsamte sein Tempo nicht, auch ohne Spuren. Plötzlich öffnete sich der Wald auf eine Lichtung – derselbe Kreis von Bäumen, in dem Simon den Hirsch gerissen hatte, wie er erkannte, und er ließ das Pferd in den Schritt fallen. In der Mitte der Lichtung stand der Wolf.

Malachi bäumte sich einmal auf und blieb dann stehen, stellte sich dem Tier unerschrocken, aber Simon wollte es nicht riskieren, das einzige Pferd der Christenwelt zu verlieren, das seine Gegenwart ertragen konnte. Er stieg langsam ab, umfasste sein Schwert, und die gelben Augen des Wolfes wankten nicht, beobachteten jede seiner Bewegungen. Simon hatte sich nie selbst in Wolfsgestalt gesehen, aber er stellte sich vor, dass dieses Tier sein Zwilling hätte sein können. Sein Fell war pechschwarz, und seine Schultern mit warnend gesträubtem Nackenfell waren so breit wie seine eigenen. Es entblößte knurrend seine Reißzähne, als der Vampir näher kam, und Simon hatte das seltsame und eher erschreckende Gefühl, dass er seiner Beute auch so erscheinen musste, raubgierig und grausam.

Er hob sein Schwert mit der rechten Hand und zog mit der Linken seinen Dolch, während er und der Wolf einander umkreisten und sich mit jedem Schritt einander näherten. Simon fragte sich einen Moment lang, ob dieses Wesen Michel sein könnte, ein Vampir in der Gestalt eines Raubtiers, aber er verwarf den Gedanken rasch wieder. Ein Vampir hätte seine Hände für einen Kampf ebenso zur Verfügung haben wollen wie seine Zähne, hätte in Menschengestalt kämpfen wollen. Sein Blick kreuzte sich herausfordernd mit dem des Wolfes, seine Lippen über die eigenen Zähne zurückgezogen. Das Wesen erstarrte, und er sah ein kurzzeitiges Aufblitzen der Angst in seinen goldenen Augen. Dann griff es augenblicklich an.

Simon spürte das volle Gewicht des Tieres auf sich, als er rückwärts stürzte, aber er wusste, dass der Wolf ihm keinen ernsthaften Schaden zufügen konnte – selbst wenn er ihm die Kehle herausrisse, würde sein Vampirfleisch wieder heilen. Zähne rissen an seiner Schulter, als er sein Schwert erhob und die Kehle des Wolfes traf, während sich sein Dolch in dessen Bauch versenkte. Heißes Blut ergoss sich unwiderstehlich über sein Gesicht, und er trank wie ein Mensch in der Wüste, trank, bis er davon berauscht war, das unbarmherzige Leben strömte in sein Herz.

Isabel befand sich eine Stunde, nachdem Orlando sie verlassen hatte, noch immer im Sonnenraum und betrachtete zum ersten Mal, seit sie ein Kind war, den halb fertiggestellten Wandteppich ihrer Mutter. Im Hintergrund war ein Schloss zu sehen, das Charmot hätte sein können, seine Türme ragten über dem phantastischen Wald auf, und die junge Frau sah genau wie Isabel selbst aus, ihr karmesinrotes Haar floss ihr bis auf die Knie herab. Vor ihr kauerte ein Wolf, den Kopf in ihren Schoß gelegt. Die gelben Augen blickten voller Liebe zu ihr auf, während sie, scheinbar selbstvergessen, ins Leere blickte. Aber eine weiße Hand lag auf der Kehle des tödlichen Ungeheuers.

»Mylady!«, rief Hannah und trat eilig ein. »Lady Isabel! Kommt rasch! Sir Simon hat den Wolf getötet!«

Sie folgte Hannah und den anderen Frauen in den Hof hinaus, wo sich die Männer bereits versammelt hatten, die Stimmen in fröhlicher Feierstimmung erhoben. Eine große, schwarze Gestalt lag vor Simon auf dem Boden – der Kadaver des Wolfes.

»Er hat ihn allein getötet, in pechschwarzer Dunkelheit!«, sagte Kevin lachend, als sie näher kam.

»Geht es ihm gut?« Simon stand einfach da, lächelte nicht und sprach nicht. Malachi wartete noch immer hinter ihm. »Simon, seid Ihr verletzt?« Sein Gewand war an Schulter und Brust zerrissen, und er schien blutüberströmt.

Simon sah sie an, diese Unschuldige, die er nicht haben konnte. Das Blut des Wolfes floss noch durch seine Adern, schuf die Illusion von Leben, von Verlangen, von Bedürfnis. Er wandte sich um, stieß Raymond und seinen Cousin aus dem Weg und zog sich im Gehen das zerrissene Gewand aus. Er tauchte seinen Kopf ins Regenfass, wusch das Blut ab, nahm einen Schluck Wasser und spie es auf den Boden.

»Simon?«, wiederholte Isabel und folgte ihm verwirrt. Orlando war inzwischen auch aus dem Schloss getreten und beobachtete sie mit warnendem Blick, aber sie beschloss, ihn zu ignorieren. »Simon, ich fragte, ob Ihr verletzt seid.«

Er wandte sich ihr zu, das eisige Wasser rann noch immer von seinem Körper, und nahm sie in die Arme. Sie öffnete den Mund, um zu protestieren, doch er küsste sie, sein Mund presste sich auf ihren, seine Zunge teilte ihre Lippen, um sich hineinzudrängen. Sie fühlte sich, als würde der Boden unter ihr wegbrechen, aber er hielt sie dicht an sich gepresst, so fest, dass sie nicht atmen konnte, seine Arme waren eine Bedrohung und eine Zuflucht zugleich. Ihre Hände glitten über seine bloßen, glatten Schultern. Seine Haut hätte warm sein sollen, aber das war sie nicht. Sie war kühl, aber makellos, unter ihrer Berührung die Haut eines Engels. Irgendwo auf der Welt lachten und applaudierten Menschen, riefen ihren und seinen Namen, aber das war weit weg. Hier war nur ihr Engel, ihr Simon, der seine Arme um sie gelegt, seinen Körper an ihren gepresst, seine Zunge in ihrem Mund hatte, und sie fühlte sich verängstigt und unerschrocken zugleich. Sie empfand ein Hungergefühl nach etwas, das sie noch nie gekostet hatte. Sie drängte ihre Zunge forschend zwischen seine Zähne, und er ließ es zu, seine Bewegung verstärkte noch die ihre.

Dann war es plötzlich vorbei. Simon ließ sie los. Er stellte sie wieder auf die Füße, sein Mund zu einem vagen Lächeln gekräuselt. »Es geht mir gut, Mylady.« Als die Männer lachten und ihm auf den Rücken klopften, und die Frauen protestierend schrien und schimpften, nahm er sein Gewand und ging davon, trat auf seinem Weg zum Schloss über den Wolf hinweg, den er getötet hatte. Orlando sah Isabel für einen Moment mit einer Miene an, die sie nicht deuten konnte, bevor er Simon folgte.

»Geht es Euch gut, Mylady?«, fragte Hannah und versetzte ihrem Mann einen Klaps. »Brautus wird hierfür den Kopf des Schnösels fordern.«

»Nein, es ist in Ordnung. Es geht mir gut.« Sie blickte auf den tot zu ihren Füßen liegenden Wolf hinab, dessen gelbe Augen noch immer starr blickten. »Er hat dem Schloss wieder Sicherheit gebracht. Nur das zählt.«