Demnächst erscheint der mitreißende zweite Roman von Lucy Blue

Gefangene

der Dunkelheit

Siobhan stieg die Wendeltreppe hinauf, sie wollte den neugierigen Blicken und den Fragen der Leute ihres Bruders verzweifelt entkommen. Sie hatte gedacht, es wären auch ihre Leute, dass sie und Sean Partner bei ihrer Suche nach Freiheit nicht nur für sich selbst, sondern auch für ihr Volk wären. Aber nun wusste sie es besser. Sean war der Ritter mit einer Aufgabe. Sie war nur eine Schachfigur.

Der Raum oben im Druidenturm war bis auf den Schein des Vollmondes draußen vor dem Fenster dunkel. Jemand hatte einen fleckigen Spiegel an die Wand gegenüber der Tür gelehnt, und sie betrachtete ihr schemenhaftes Spiegelbild. Dies war der Preis, für den Sean glaubte, ein Rittergut erringen zu können? Sie musste fast lachen. Ihr ererbtes Gewand war so zerschlissen wie ein Lumpen, am Hals ausgefranst und an einem Ärmel eingerissen, und ihre Lederkniehose war inzwischen so matt wie Leinen, da sie sie schon so lange trug. Sie wäre sogar für einen Jungen eine Schande gewesen. Ihr Gesicht war sauber, doch die eine Wange verunstaltete eine vertraute, blasse Quetschung vom Rückstoß ihrer Bogensehne.

Sie wies auch noch andere Quetschungen auf. An ihrem Hals befanden sich fünf deutliche Male, die vom Griff ihres toten, normannischen Ehemannes herrührten. Vier waren zu einem matten Gelbgrün verblasst, aber eines über ihrem Puls war noch immer fast schwarz. Er hätte mich töten können, dachte sie, während sie es berührte, und erinnerte sich des Zorns in seinen grün-goldenen Augen. »Tristan DuMaine«, flüsterte sie fast unhörbar, ihre Lippen bildeten eher seinen Namen.

Der Ritter des Teufels, ihr Feind, der Normanne, den sie getötet hatten. Er hatte gesagt, sie sei wunderschön.

Sie löste ihren Zopf und ließ ihr wogendes, im weichen Licht blau-schwarzes Haar auf ihre Schultern fließen. Wie Seide, hatte er gesagt, als sie zugelassen hatte, dass er es berührte. Sie fuhr mit den Händen hindurch, genauso wie er es getan hatte, ließ es durch ihre Finger gleiten. Er hatte verzweifelt entkommen wollen. Er hatte gewusst, dass sie ihn töten wollten. Sie hatte ihn niemals etwas anderes glauben machen wollen. Sie hatte ihn nur berührt, um ihn zu demütigen, als Beweis dafür, dass sie eine Brigantin war wie die Übrigen. Er hätte ihr jede Lüge erzählt, um die Oberhand zu gewinnen. Sie hatte gewusst, dass er log, als er es sagte. Aber wie hätte es sich wohl angefühlt zu glauben, er hätte die Wahrheit gesagt?

Sie begegnete ihrem Blick im Spiegel und lachte kurz und verächtlich, angewidert von ihrer Torheit. Sie war eine Kriegerin, keine Frau, was auch immer Sean denken mochte.

Eine plötzliche Bewegung im Spiegel ließ sie zusammenzucken, und ihre Hand wanderte instinktiv zu ihrem Schwert, obwohl sie wusste, dass es Sean oder einer seiner Leute sein musste, die gekommen waren, um sie zum Feuer zurückzubringen. »Geh weg«, befahl sie und wandte sich der Tür zu. »Lass mich in Frieden.«

»In Frieden?« Die Stimme erklang aus den Schatten am Fenster und ließ ihr Blut gefrieren. »Warum solltest du Frieden haben?« Eine Gestalt tauchte aus der Dunkelheit auf, ein Mann wie ein Berg, und die Stimme fuhr spöttisch und vertraut fort. »Mörder gehören in die Hölle.«

»Tristan?« Ihre Zunge fühlte sich in ihrem Mund trocken an. Sie konnte das Wort kaum formulieren. Schließlich trat er ins Licht, und sie spürte, wie ihre Knie nachgaben. »Nein … du bist nicht hier.«

»Wo sollte ich sonst sein?« Sein Gesicht, so voller blauer Flecken und blutig, als sie es zuletzt gesehen hatte, war wieder heil, die Haut war blass, aber perfekt. Sein dunkelblondes Haar schimmerte im Mondlicht wie poliertes Gold, und seine grünen Augen glitzerten vor Niedertracht. »Ist dies nicht mein Schloss?« Sein Mund kräuselte sich zu einem Lächeln, das auch in ihrer Erinnerung umhergeisterte, grausam und süß zugleich. »Bist du nicht meine Frau?«

»Du bist tot.« Sie konnte keine Waffe bei ihm sehen, aber sie zitterte dennoch. Er ragte über ihr auf, seine Schultern doppelt so breit wie ihre – er konnte ihre Faust mit einer Handfläche bedecken. Selbst jetzt, voller Angst und Schrecken, konnte sie sich an das seltsame Gefühl erinnern, das sie empfunden hatte, als sich seine Hand über ihrer schloss, ein angstvoller Schauder. »Sie haben dich fortgebracht. Bruce und Calum. Du lagst im Sterben.«

»Bist du dir sicher?« Tristan verspottete sie, trat näher heran. Dies war der Moment, von dem er wochenlang im Fieber geträumt hatte, die ganze Zeit, seit er ein Vampir geworden war. Der Moment, in dem er Siobhan schließlich töten würde. Er hatte ihr sein Gesicht zeigen wollen, sie einen Moment erschrecken und quälen wollen, bevor er ihr den Hals umdrehte oder sie völlig ausblutete. Aber nun, wo er endlich hier war, genügte ein Moment einfach nicht mehr. »Sind deine Freunde jemals zurückgekehrt?« Ihre großen, blauen Augen waren vor Angst geweitet, aber sie wandte den Blick nicht ab. Jede andere Frau, die mit einem Ehemann konfrontiert worden wäre, bei dessen Ermordung sie geholfen hatte, hätte den Anstand besessen, zu schreien oder in Ohnmacht zu fallen, aber nicht dieses wunderschöne Ungeheuer, Siobhan. Sie war vielleicht blass geworden und zitterte, aber eine Hand lag auf ihrem Schwert. »Diese Kreaturen, die dein Chaos beseitigen sollten, wo sind sie jetzt?« Sie zog das Schwert, Trotz in den Augen, und er lächelte. »Soll ich es dir sagen, Liebste?« Er trat noch einen Schritt näher. »Möchtest du raten?«

»Du könntest sie nicht töten«, beharrte sie.

»Du wärst erstaunt.« Sie wich zur Tür zurück. »Ich kann töten, wen auch immer ich will.« Er wusste, dass sie gleich davonlaufen würde. Seine kleine Kriegerin konnte spüren, dass sie bezwungen war.

»Du warst tot!«, rief sie, und ihre Stimme überschlug sich im schrillen, panischen Kreischen einer Frau. »Ich habe dich gesehen.«

»Du sahst, dass ich im Sterben lag.« Er sollte sie jetzt töten und es gut sein lassen. Aber irgendwie konnte er es nicht. »Du hättest dich versichern sollen, meine Liebe.« Er hob den Dolch an, den er aus dem Gürtel ihres Bruders gestohlen hatte. »Dein Bruder, Sean, hätte sich versichern sollen.«

»Nein, ich habe ihn erst vor einer Stunde gesehen«, sagte sie und schüttelte den Kopf. »Du kannst ihn nicht getötet haben …«

»Kann ich nicht?« Er wollte, dass sie eingestand, was sie getan hatte, wollte sie erneut sagen hören, wie sehr sie ihn verachtete. Dann könnte er es zwischen ihnen beenden. Dann könnte er Rache nehmen. »Ich habe ihn noch nicht getötet, Siobhan«, sagte er und trat noch näher heran. »Aber ich schwöre dir, dass ich es tun werde.«

»Nein!« Sie traf ihn mit dem Schwert, ein Stoß, der seinen Arm hätte spalten sollen. Aber er zuckte kaum zusammen. Er ergriff ihr Handgelenk, entwand ihr das Schwert, und sie hörte einen leisen Laut, wie Dampf auf einem glühenden Stück Holz. Sie schaute abwärts und sah, dass der Ärmel seines Hemdes aufgerissen und die Ränder blutverschmiert waren. Aber die Haut unter dem Riss war heil. »Gütiger Gott!«, flüsterte sie und fühlte sich schwach.

»Sei vorsichtig, Liebste«, neckte er sie, als die Anspannung in ihrem Arm unter seinem Griff wich. »Du solltest Ihn vielleicht nicht anrufen.« Er hielt den Dolch an ihre Kehle und ließ die Spitze über ihre Haut abwärtsgleiten. »Blasphemie ist eine Todsünde. Aber warum sollte es dich eigentlich kümmern?« Ihr Herz schlug schneller. Er konnte es hören. Endlich hatte sie richtige Angst. »Was bedeutet dir schon ein Schwur?« Er ließ den Dolch ihre Haut ritzen, reizte sich mit ihrem Blut, und sie keuchte, ein süßer, femininer Laut. Aber er sah in ihren Augen ebenso viel Zorn wie Angst. Selbst jetzt würde sie ihn ermorden, wenn er es zuließe. »Du hast vor Gottes Altar gelobt, mich zu lieben und mir zu gehorchen, erinnerst du dich?«, spottete er. »Du hast gelacht, als du es sagtest, wohl wissend, dass es eine Lüge war.« Er trat noch einen Schritt näher heran, und sie wand sich erneut in seinem Griff, zerrte an der Faust, die ihr Handgelenk festhielt. »Oder hast du das vergessen, holdes Eheweib?«

»Nein«, antwortete sie und rang mit sich, die Ruhe zu bewahren. Sie wusste jetzt, was er wollte. Er wollte, dass sie Angst hatte, wollte sie um Gnade betteln hören. Aber das würde sie nicht tun. »Ich habe es nicht vergessen.« Sie ließ ihren freien Arm sinken und atmete tief durch. Dann sah sie ihm in die Augen.

»Du wolltest mich tot sehen, aber du bist ein Feigling, genau wie dein Bruder«, sagte er und sah sie mit solchem Zorn an, dass sie dachte, sie könnte allein durch diesen Blick sterben.

»Ich wollte dieses Land befreien«, zwang sie sich zu einer Antwort, bei der ihre Stimme kaum vor Angst zitterte. »Ich wollte, dass du unser Volk in Ruhe lässt …«

»Euer Volk?«, höhnte er lachend.

»Ja, Mylord«, erwiderte sie, und neuer Zorn überlagerte ihre Angst. »Das Volk meines Vaters, das ebenso in diesem Land geboren wurde wie Sean und ich, in Freiheit geboren …«

»Die Freiheit zu verhungern, meinst du«, sagte er und lachte erneut. Selbst jetzt, wo sie den Tod unmittelbar vor Augen hatte, würde die kleine Närrin nicht ihre Überzeugung aufgeben. »Wenn ich dich leben lasse, wenn ich dich in Frieden lasse, wie du sagst, was dann? Was wird dein Volk in diesem Winter zu dir sagen, nun, wo seine Ernte vernichtet ist?«

»Du weißt nichts über dieses Land.« Er klingt wie Sean, dachte sie und musste fast selbst aus reinem Irrsinn lachen. Ein Sklave kann zufrieden sein, wenn sein Bauch voll ist, hatte ihr Bruder vor noch nicht einmal einer Stunde gesagt, und sie hatte ihn dafür geschlagen. »Du weißt nichts …«

»Und was weißt du, kleines Ungeheuer?«, erwiderte er. »Wie man kämpft und wie man wie ein Mann vögelt.« Sein Lächeln durchfuhr sie wie ein Messer. »Was wirst du deinem Volk nützen?«

»Bastard!«, schrie sie, Sinn und Verstand zerbarsten an ihrer Wut. Sie sprang auf ihn zu, griff nach der Hand, die Seans Dolch hielt, und spürte, wie die Klinge ihre Wange streifte. Aber er hatte ihren Angriff nicht erwartet. Sie hatte Schwung. Sie zwang den Dolch zurück und unmittelbar über dem Herzen in seine Schulter.

Seine Augen weiteten sich einen Moment, und dann lächelte er. »Gut gemacht.« Während er sie noch immer am Handgelenk festhielt, riss er den Dolch aus seinem Fleisch. Sie sah entsetzt dabei zu, wie sich die Wunde schloss, die sie ihm beigebracht hatte, wie sie sich zischend versiegelte. »Zumindest hast du dieses Mal selbst versucht, mich zu töten.« Er drückte das Heft des Dolches in ihre freie Hand. »Möchtest du es noch einmal versuchen?«

Dieses Mal schnitt sie über seine Kehle und an seinen Brustmuskeln hinab, zertrennte sein Hemd. Die Wunde öffnete sich erneut, aber es drang kein Blut aus ihr. Einige wenige dürftige Tropfen quollen an den Rändern der Wunde hervor, dann war das Fleisch wieder geheilt.

»Was plagt dich, Liebste?«, zog er sie auf. »Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen.«

»Dämon«, flüsterte sie und sah in seine Augen. »Du bist wirklich ein Dämon.« Sie ließ den Dolch fallen.

»Ja.« Sie wollte einen Schritt zurückweichen, aber er packte sie bei den Schultern, sein Lächeln wich einem Ausdruck des Unmuts. Jetzt war der Moment der Rache gekommen, dachte er. Sie hatte Angst. Ihr Herzschlag dröhnte in seinen Ohren. Er ließ seine Handflächen ihre Arme hinaufgleiten, und sie erschauderte, zu sehr von Angst erfüllt, um seiner Berührung zu widerstehen. Seine Hände umfassten ihre zarte Kehle, und sie keuchte, biss sich auf die Lippen. Jetzt konnte auch keine Horde Briganten sie mehr retten. Niemand würde jemals ihren Schrei hören. »Ich bin der Teufel, und ich bin gekommen, um dich für deine Sünden zu strafen.« Sie schloss die Augen vor ihm, ihre Lider lagen schwarz auf ihren totenbleichen Wangen. Nun konnte er sie einnehmen, genau wie er es sich erträumt hatte. Eine letzte, schnelle Bewegung seines Handgelenks, und ihr Leben wäre für immer ausgelöscht. »Ich bin dein Ehemann.« Eine Träne glitt ihre zarte Wange hinab, schimmerte im Mondlicht. »Ist es nicht so?«, wollte er mit rauem Tonfall von ihr wissen. Er war begierig, ihre Stimme noch einmal sprechen zu hören.

»Ja.« Er berührte sie fast zärtlich, eher ein Streicheln als eine Drohung. Sie hatte Nacht für Nacht von diesem Moment geträumt, von der schrecklichen Lieblichkeit seiner Berührung, falls er irgendwie zurückkehren sollte. Sie hatte sich Geliebte genommen, aber kein Mann hatte sie jemals auf die Art berührt, wie Tristan es tat. Kein Mann hatte es jemals gewagt. Aber nun wollte er sie nicht berühren, sondern töten. Seine Hände und seine Stimme waren kalt. »Du bist mein Ehemann«, sagte sie.

»Dann küss mich.« Sie öffnete jäh die Augen, und er lächelte sein bitteres Teufelslächeln. »Küss mich zum Abschied.«

Er verspottete sie, quälte sie vor ihrem Tod, wie sie ihn gequält hatte. Aber es kümmerte sie nicht. Sie ließ ihre Hände über seine Schultern gleiten und stellte sich auf die Zehenspitzen, um ihn zu erreichen. Er schien überrascht zu sein. Seine grünen Augen weiteten sich. Dann schloss sie die Augen und presste ihren Mund auf seinen. Erregung durchströmte sie, als seine Arme sich um sie legten, das Verlangen stärker als die Angst. Sie hielt ihn mit all ihrer Kraft fest und konzentrierte sich ganz auf seinen Kuss.

»Siobhan …« Er konnte sie nicht ermorden, noch nicht. Er konnte sie nicht aufgeben. Er presste sie enger an sich, umfing sie mit seinen Armen.

Sein Mund auf ihrem war grausam, forderte Unterwerfung, seine Zunge stieß in ihren Mund, zuckte gegen ihre Zunge. Lebendig, dachte sie. Ihr Ehemann lebte.