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Isabel eilte durch den Keller und ignorierte die Stimmen, die nach ihr riefen. Sie war ebenso ängstlich und besorgt wie jeder andere im Schloss und hatte keine Antworten.

Sie zündete mit ihrer Kerze eine Fackel an und stieß die eisenbeschlagene Tür auf, die hinter den Körben mit neuen Kartoffeln verborgen lag. Staub tanzte im flackernden Licht, stieg in kleinen Wolken auf, wo auch immer sie auf dem Weg die kleine Wendeltreppe hinab hintrat. An deren Fuß befand sich eine weitere Tür, die so dicht mit Spinnweben bedeckt war, dass sie kaum das Steinrelief, die Gestalt eines uralten Mönchs, erkennen konnte, von dem sie verziert wurde. Nur seine Nase, die scharf und gebogen war wie ein Falkenschnabel, war noch deutlich erkennbar.

»Seid gegrüßt, Joseph«, sagte sie und zwickte die Gestalt ungeachtet des Schmutzes. Als Kind hatte sie diese Figur stundenlang betrachtet, hatte sich mit dem schon lange verstorbenen Geistlichen unterhalten, während ihr Vater in seinem Arbeitszimmer auf der anderen Seite der geöffneten Tür beschäftigt war. »Hast du mir nichts zu sagen?« Sie nahm einen Schlüssel aus ihrer Tasche und steckte ihn ins Schloss. »Ich brauche, ehrlich gesagt, deinen Rat.« Mit beiden Händen konnte sie den Schlüssel schließlich unter knirschendem Kreischen im Schloss drehen. »Ich fürchte, wir könnten verloren sein, wir beide.« Sie schob die Tür mit der Schulter auf und erschauderte leicht, als eine Spinne ihren Arm hinab und dann wieder in das Netz unmittelbar über der Tür zurücklief. Die Tür öffnete sich quietschend und offenbarte das Arbeitszimmer ihres Vaters, das einst ihr Lieblingsraum im Schloss, aber während der vergangenen zehn Jahre verwaist gewesen war. Es war noch immer so sauber und ordentlich wie eh und je, als hätte ihr Vater es gerade in diesem Moment und nur für die Nacht verlassen. Steinerne Truhen standen an den Wänden aufgereiht, die mit zu schweren Deckeln verschlossen waren, als dass Isabel sie hätte anheben können, aber sie wusste, was sich darin befand. Sie hatte die uralten Pergamente viele Male gesehen, war mit einem Finger die Seiten hinabgefahren, hatte die Schrift in einer Sprache betrachtet, die kein lebender Mensch mehr lesen konnte. Der Schreibtisch ihres Vaters war jedoch mit neueren Schriftrollen bedeckt, jede ordentlich mit einem Band verschnürt, und eine Kerze stand bereit, um angezündet zu werden.

Ihr Vater hatte das Schloss entdeckt, als er die Vierzig bereits weit überschritten hatte. Der zerstörte Bergfried auf einer überwachsenen, scheinbar verlassenen Insel war dem Ritter, der des Kampfes müde war, wie das Paradies auf Erden erschienen. Er hatte auf dem alten Gemäuer eine ordentliche Festung mit Graben und Burghof errichtet und sich eine Frau aus einem der nahe gelegenen Dörfer genommen, ein siebzehnjähriges Mädchen mit den roten Haaren und den grünen Augen einer Keltin. Niemand hatte erwartet, dass aus ihrer Verbindung ein Kind hervorgehen würde, am allerwenigsten Sir Gabriel selbst. Er wollte an seinem Lebensabend nur Bequemlichkeit und dass eine geistreiche Gefährtin mit gesundem Menschenverstand seine Zufluchtsstätte mit ihm teilte.

Aber gegen Ende ihres ersten gemeinsamen Jahres, unmittelbar nachdem sein Schloss schließlich vollendet war, wurde seine hübsche, junge Frau schwanger. Neun Monate später wurde Isabel geboren, seine kleine, rothaarige Tochter, und seine Frau starb.

»Es muss hier doch etwas geben«, murmelte die erwachsene Isabel, zündete eine zweite Kerze an und ließ sich im Sessel ihres Vaters nieder. Sie griff nach Strohhalmen, das wusste sie, klammerte sich in ihrer Angst verzweifelt an Phantome. Aber ihr fiel nichts Besseres ein. Sir Gabriel hatte alle Texte in diesen Truhen erforscht, und sie wusste, dass er die Sprache der Druiden lesen gelernt hatte, die die Texte dort zuerst versteckt hatten. Sie hatte immer vermutet, dass er sogar ein wenig ihrer Magie beherrschte, obwohl er das niemals zugegeben hätte. Aber er hatte ihr häufig wundersame Geschichten erzählt, die er in den alten Schriftrollen gelesen hatte, Geschichten, die vermuten ließen, dass er mehr gewusst hatte, als er zuzugeben bereit war. »Ich brauche einen Zauber, Papa«, sagte sie jetzt, während sie eine der Schriftrollen nahm, die ihren Augen zu seinen Lebzeiten vorenthalten geblieben waren. »Etwas, das Charmot retten kann.« Sie benutzte das Band der Schriftrolle, um ihr Haar zurückzubinden, und entrollte sie dann auf dem Schreibtisch.

Es gibt keine Magie, Bella, konnte sie ihn fast antworten hören, dasselbe, was er immer gesagt hatte. Keine Magie, sondern Gottes Gnade.

»Wo ist Gottes Gnade jetzt, Papa?«, fragte sie in den Raum hinein, während ihr Blick die Seite absuchte. »Wo war Er, als du starbst?« Sir Gabriel hatte seine Festung Charmot siebzehn Jahre lang auf eigene Kosten unterhalten, ohne wie auch immer geartete Hilfe seines Königs. Aber noch bevor sein Körper im Grab erkaltete, hatte der König sie schon für sich beansprucht. Seine Majestät war über Isabels Erbe benachrichtigt worden und sandte einen königlichen Boten.

»Macht Euch bereit, Mylady«, hatte dieser Fremde ihr befohlen und sich vollendet verbeugt. »Euer adliger Ehemann wird sogleich eintreffen.« Sechzehn Jahre alt, noch in Trauer um ihren Vater, elend vor Kummer, hatte sie den Boten verwundert angesehen, unfähig, ihren Ohren zu trauen. Ihr Ehemann? Wozu brauchte sie einen Ehemann? Als sie sich nun an diesen Moment erinnerte, der bereits zehn Jahre zurücklag, presste sie noch immer vor Zorn die Zähne zusammen.

»Schon gut, Kind«, hatte Brautus, der riesige Hauptmann der Wache ihres Vaters sie getröstet, als der Bote gegangen war. »Lass ihn nur kommen.«

Und so war der Schwarze Ritter geboren worden. Als der vom König erwählte Favorit eingetroffen war, um Anspruch auf sie und Schloss Charmot zu erheben, hatte er einen bereits dort ansässigen Dämon vorgefunden, einen mit einem Kettenpanzer bekleideten Berg mit einem kohlschwarzen Helm wie ein Teufelskopf. Brautus war schon damals kein junger Mann mehr gewesen, aber er war dem aufgeblasenen Höfling, den König Henry erwählt hatte, um über dieses abgelegene, überwiegend unrentable Landgut zu bestimmen, mehr als gewachsen. Tatsächlich hatte er den armen Ritter so mühelos besiegt, dass Isabel Mühe hatte, ein Lachen zu unterdrücken, während sie in ihrem besten weißen Gewand von den Zinnen aus zusah, die perfekte junge Maid in Not. »Rettet mich, Herr Ritter«, hatte sie gerufen, als die Schildknappen des armen Säufers ihn, verletzt und verwirrt, über die natürliche Brücke zurückschleiften, die die Insel sozusagen mit dem Festland verband. »Rettet mich vor diesem Ungeheuer.« Aber der Untertan König Henrys hatte bereits genug von ihr und ihrem Schloss gesehen. Sobald er auf sein Pferd gehievt worden war, ritt er ohne einen Blick zurück davon.

Andere waren gekommen, um den Schwarzen Ritter herauszufordern, ausreichend viele, damit daraus eine Legende entstand. In den ersten Jahren endeten die meisten der Ritter, die kamen, ebenso erbärmlich wie der erste – die verzweifelten jüngeren Söhne unbedeutender Adliger, die ein eigenes Gut erringen wollten, oder ältere, in Ungnade gefallene Männer, die sich nach einer Zuflucht sehnten. Aber im Laufe der Zeit verloren die wahren Adligen das Interesse an Isabel und ihrem Schloss, da beide mehr Ärger bedeuteten, als sie wert waren. Stattdessen kamen Söldner und Schurken, böse Männer mit wenig Interesse an jungen Mädchen und Schlössern, Männer, die sich einen Namen als noch tödlichere Mörder machen wollten, als es der Schwarze Ritter von Charmot war. Und während dieser ganzen Zeit wurde Brautus älter. Mit inzwischen über sechzig war sein Herz noch immer gleich stark, aber seine Glieder wurden täglich schwächer. Bisher hatte er es immer noch geschafft, jeden Herausforderer, der kam, zu besiegen, aber es war jedes Mal unsicherer, ob er noch einmal siegen würde. Im Vormonat hatte er sich bei einem Geplänkel mit einem flämischen Söldner, der nur halb so alt und fast gleich groß war, die Schulter gebrochen. Nun kam ein weiterer Herausforderer, ein Franzose namens Michel.

»Ein Mittel gegen Fieber – nützlich, Papa, aber nicht das, was ich brauche.« Isabel legte die erste Schriftrolle beiseite und entrollte eine weitere. Ihr Vater hatte einen Großteil der in den Höhlen gelesenen, uralten Heilkunde der Druiden in einem Buch zusammengefasst, das sie oben aufbewahrte. »Ich brauche ein Wunder.« Ihr Vater würde ihr zweifellos sagen, sie solle einen Priester konsultieren, aber das hatte sie, im Vertrauen, bereits getan. Pater Colin von der Kapelle des Heiligen Joseph hatte sich als ihr Unheilsverkünder erwiesen. Charmot besaß kein eigenes Dorf, aber es war die einzige Festung in der Region, die einzige Zuflucht in Zeiten der Unruhen, und das einfache Volk kannte Isabel und bemitleidete sie in ihrer Not. Sie errichteten für sie eine Art Spitzelsystem, hielten auf allen Straßen nach Rittern mit Forderungen Ausschau, damit sie und Brautus stets vorbereitet waren, um sie wieder fortschicken zu können. An diesem Morgen hatte Pater Colin von seiner Kirche aus eine seltene Pilgerfahrt unternommen, um ihr zu sagen, er habe von einem schurkischen Ritter gehört, der gerade aus Frankreich gekommen sei, mit einem Gefolge reiste und sich unterwegs seiner empörenden Niedertracht rühmte.

Die zweite Schriftrolle enthielt nur Notizen, keine zusammenhängende Schilderung – ein Teil der Forschung ihres Vaters. Eine Ecke trug den eigenartigen Kode, den Sir Gabriel benutzt hatte, um seine Aufzeichnungen zu katalogisieren, eine Mischung aus griechischen Buchstaben und denselben keltischen Symbolen, die in die Steintruhen in seinem Arbeitszimmer und in die Wände der dahinterliegenden Höhlen eingemeißelt waren. »Lehre mich, Papa«, hatte sie ihn häufig gebeten, aber er hatte sich stets geweigert.

»Derlei Dinge sind nicht für die Unschuldigen bestimmt, Bella«, hatte er streng gesagt und sie zum Spielen hinaufgeschickt. Aber wie unschuldig wäre sie noch, wenn dieser Franzose ihr Schloss eroberte?

»Haben die Druiden niemals einen Verteidiger gebraucht?«, fragte sie nun laut. »Wer hat ihre großartigen Schätze vor den Römern geschützt?« Sie blätterte eine weitere Seite um, ein Bericht in Lateinisch über die Ernte in dem Jahr, in dem sie zehn Jahre alt wurde. Sie konnte Lateinisch mühelos lesen, auch Französisch, und ein wenig Griechisch – vielleicht nutzlose Gaben für eine Frau, aber es hatte ihrem Vater Freude bereitet, sie zu unterrichten. »Konnten sie keinen Dämon aus der Hölle herbeirufen, wenn sie einen brauchten?« Der Gedanke war ihr zum ersten Mal in den Sinn gekommen, als Pater Colin ihr seine Neuigkeiten mitgeteilt hatte.

»Ihr solltet fliehen, Mylady«, hatte der Priester ihr geraten. »Nehmt Eure Frauen mit Euch, und flieht in den Wald, nehmt Zuflucht in einem der Dörfer. Überlasst ihnen das Schloss, es ist das Einzige, was sie wirklich wollen.«

»Nein«, hatte sie ihm ohne eine Sekunde des Nachdenkens geantwortet. Charmot war das Schloss ihres Vaters, sein Traum. Diese Menschen waren ihre Familie. Sie würde sie nicht der Herrschaft eines Schurken überlassen. Und außerdem, wenn sie Charmot verließe, was würde dann mit den Schriftrollen der Druiden geschehen, mit dem toten Heiligen Joseph und seinen Katakomben? Sie empfand aus einem unbestimmten Grund das Bedürfnis, diese Dinge ebenso zu beschützen wie das Schloss und seine Menschen. Sie waren ihr heilig, weil sie für ihren Vater wichtig gewesen waren, auch wenn er ihr niemals wirklich erklärt hatte, warum. »Brautus wird uns beschützen, wie er es immer getan hat, oder ich werde einen wirklichen Teufel heraufbeschwören, der an seiner Statt kämpft«, hatte sie im Scherz zu Pater Colin gesagt.

»Blasphemie, Mylady«, hatte der Priester sie stirnrunzelnd getadelt. »Ihr dürft über solche Dinge nicht einmal scherzen.«

Aber hatte sie wirklich gescherzt? Je mehr sie darüber nachgedacht hatte, desto mehr war ihr dunkle Magie wie die perfekte Lösung erschienen. Wäre sie eine Hexe gewesen, hätte sie es sofort getan, Blasphemie hin oder her. Sie würde jeden Dämon der Hölle heraufbeschwören, wenn das bedeutete, dass sie Charmot retten konnte. Aber ihr Vater hatte gesagt, Magie sei nicht real. »Schickt mir einen Dämon«, flüsterte sie der Kerzenflamme zu, wollte die Geister, welche diese Höhlen sicher noch immer heimsuchten, zwingen, sie anzuhören. »Schickt mir einen wahren Schwarzen Ritter.« Die Kerze flackerte, und sie glaubte einen Moment, einen Windhauch gehört zu haben, ein unheimliches, stöhnendes Seufzen.

»Mylady.« Susannah, eine der Dienstmägde des Schlosses, stand im Eingang. »Einer der Waldarbeiter der Stadt am Fluss ist gekommen. Er sagt, diese Franzosen hätten in der Taverne Halt gemacht und sich bis zur Besinnungslosigkeit betrunken. Sie werden es heute Abend nicht mehr bis Charmot schaffen.«

»Gott sei gepriesen«, antwortete Isabel und sammelte die Schriftrollen ihres Vaters ein, als wäre das die ganze Zeit ihre Absicht gewesen. Sie hatte nichts Nützliches darin finden können, aber vielleicht würde sie noch etwas finden. »Zumindest haben wir so eine weitere Nacht Zeit.«

Die Kapelle des Heiligen Joseph sah genau wie der Ort aus, an dem man einen magischen Kelch finden konnte, ein römischer Tempel, halb zerfallen, inmitten einer nebligen englischen Ebene. All die Hinweise und Zeichen, die Simon und Orlando in zehn Jahren Suche gefunden hatten, hatten sie zu diesem Ort geführt. Aber der Kelch war nicht hier.

»Die Sachsen haben die Kirche viele Male überfallen«, erklärte der Priester, der die Kapelle hütete, und hielt seine Fackel hoch, um ihnen die Brandmale auf den rissigen, verputzten Wänden zu zeigen. »Alles, was hier von Wert war, wurde schon vor langer Zeit gestohlen.« Er sah Simon durchdringend an. »Was sucht Ihr, Mylord?«

Mein Seelenheil, hätte Simon beinahe gesagt, aber was hätte das für einen Sinn gehabt? Der Priester – Pater Colin – hatte kaum geblinzelt, als er nach Einbruch der Dunkelheit einen Ritter in einer Rüstung mit einem zwergenhaften Schildknappen, aber ohne Pferd auf seinem Hof sah. Tatsächlich war er einfach in die Kirche zurückgegangen. Vielleicht dachte er, sie hätten den ganzen Nachmittag gewartet.

»Wissen, Pater«, belehrte Simon ihn nun. Er trat einige Schritte näher an den Altar heran und betrachtete das dahinter montierte Kreuz. Vor zehn Jahren hätte allein dieser Anblick seine Augen brennen und ihn blutige Tränen weinen lassen. Aber nun konnte er sich dem stellen, ohne zurückzuschrecken, zumindest einen Moment lang; der einzige Schmerz, den er empfand, war ein kalter Schmerz in der Höhlung, die einst sein Herz enthalten hatte. Kreuze konnten ihm schaden, wie auch Weihwasser und jedes Relikt, das von einem Priester gesegnet worden war. Orlando schrieb dies Simons Vertrauen in jegliche wahre Macht zu, die in den Objekten selbst enthalten war. Wie dem auch sein mochte, hatte er gelernt, nichts zu riskieren. »Ich bin ein Gelehrter.«

Das Altarbild war direkt auf die Mauer gemalt, seine Farben nun verblasst und abgeplatzt. Aber er konnte noch immer das leere Grabmal und die körperlosen Gesichter der darüber versammelten Engel ausmachen, deren Gewänder nun zu Staub zerfallen waren. »Ein Gelehrter und ein Ritter«, schloss er und berührte die Wand.

»Mylord ist ins Heilige Land gereist«, erklärte Orlando. »Er hat viele Anzeichen großer Macht an diesem Ort verborgen gesehen.«

»Ein Pilger aus den Ländern unseres Herrn?«, fragte der Priester in ehrfürchtigem Tonfall.

»Ursprünglich aus Irland, Pater«, sagte Simon und wandte sich ihm wieder mit höchst gewinnendem Lächeln zu. »Aber ja.« Der Himmel vor dem Fenster war inzwischen fast schwarz, ein intensives Dämmerlicht. »Ich habe Jerusalem gesehen.« Er hatte sich nicht genährt, aus Furcht, den Hüter der Kirche zu ängstigen. Es war ein seltsames Merkmal seines Fluchs, dass er fast dämonisch erschien, unmittelbar nachdem er gesättigt war, seine Augen vor Teufelsfeuer glühend. Wenn er hingegen ausgehungert und daher gefährlich war, konnte er leicht für einen Menschen gehalten werden. »Wollt Ihr es mir also erzählen, Pater? Gibt es hier einen heiligen Schatz?«

»Nicht hier, Mylord.« Pater Colin zündete eine weitere Fackel an. »Aber es gibt ein Schloss.« Er deutete auf eine Bank neben dem Fenster, und Simon setzte sich hin. »Ein weiterer Gelehrter, Sir Gabriel von Charmot, erbaute es vor vielen Jahren auf einem uralten Gemäuer. Dieses Schloss könnte enthalten, was Ihr sucht.«

»Das Schloss Charmot?« Simon wechselte einen Blick mit Orlando. Sie hatten den Namen Charmot auf ihren Reisen in vielen Texten gelesen, aber sie hatten geglaubt, es wäre eine Person, nicht ein Ort, einer der uralten Beschützer des Kelchs.

»Genau«, stimmte der Priester ihm zu. »Sir Gabriel war ein gottesfürchtiger Mann. Ich kannte ihn gut. Er erzählte mir, dass es unter dem Schloss Katakomben gäbe, ein unendliches Tunnel-Labyrinth.« Er lächelte Simon derart erwartungsvoll an, dass der Vampir sich jäh fragte, ob der alte Mann vielleicht verrückt war. »Wenn Eure Suche rechtschaffen ist, dann wird Gott Euch vielleicht zu der Belohnung führen, die Ihr sucht.«

Die Glocke am Tor erklang laut, bevor Simon eine Antwort finden konnte. »So spät noch ein Besucher?« Pater Colin runzelte die Stirn. »Ich bin heute Abend wohl sehr gesegnet.« Er nahm seine Fackel. »Wartet hier, Mylord, bitte. Ich würde gerne weiter mit Euch über diese Angelegenheit sprechen.«

»Wie Ihr wünscht«, antwortete Simon und erhob sich, als der Priester den Raum verließ.

»Wir sollten diese Kirche verlassen«, sagte Orlando, sobald der Priester gegangen war. »Wir werden zu diesem Schloss Charmot ziehen und sehen, was sie uns dort erzählen können.«

»Ja, Zauberer, das werden wir.« Während ihrer ersten gemeinsamen Abende war Simon für Orlandos Anleitung dankbar gewesen. Aber nun, wo er den Dämon allmählich begriff, der er war, war er weitaus weniger bereit, sich wie ein Kind schelten zu lassen. »Aber wir haben hier noch etwas zu erledigen.« Er hatte etwas wahrgenommen, als die Torglocke erklang, einen Geruch, den er aus tausend anderen heraus zu erkennen gelernt hatte, sei es im vielschichtigen Gestank Venedigs oder im klaren, kalten Wind dieser Ebene. Er roch Übel. Er roch Beute.

»Du solltest mir den Zehnten geben, damit ich hierbleibe, alter Mann«, sagte eine betrunkene Stimme draußen im Gang lachend. »Ich bin ein rechtschaffener Sieger.« Die Tür wurde so fest aufgestoßen, dass sie gegen die Wand krachte, und ein Mann in Rüstung kam herein. Der Ritter, wenn er einen solchen Titel rechtmäßig tragen durfte, wirkte wie viele der Schurken, die sie in England gesehen hatten, eher Räuber als Beschützer. Fast so groß wie Simon, aber doppelt so breit, hatte er das aufgedunsene, fleckige Gesicht eines langjährigen Säufers sowie den entsprechend schwankenden Gang, aber seine kleinen, blassen Augen funkelten vor wachsamer Bosheit. »Morgen kämpfe ich gegen den Schwarzen Ritter.« Zwei weitere Männer in Lederrüstung, die ebenso schmutzig und betrunken waren wie er, folgten ihm, sowie ein kleineres, von Kopf bis Fuß in einen fleckigen grünen Mantel gekleidetes Wesen – eine Frau.

Der Anführer sah Simon. »Aber wer seid Ihr, mein Herr?« Seine Augen verengten sich, als er Simons Kleidung, die Kleidung eines wahren Ritters, bemerkte. »Was führt Euch hierher?«

Simon lächelte. »Ich bin ein Reisender wie Ihr.«

»Herr, ich flehe Euch an.« Orlando zog an seinem Ärmel. »Wir werden heute Abend in einem anderen Haus erwartet.«

»Beim Helm Gottes, seht Euch das an!«, rief der schurkische Ritter aus, und sein gesamtes Verhalten änderte sich im Handumdrehen. »C’est un nain, mes amis – voilà

»Ihr seid alle willkommen, Mylords«, unterbrach Pater Colin ihn. »Kommt und setzt Euch – ich werde hineingehen und unser Abendessen zubereiten.« Er hielt neben der Frau inne, als wollte er sie ansprechen, schien es sich dann aber anders zu überlegen. Er schaute einmal mehr zwischen Simon und dem schurkischen Ritter hin und her und eilte dann zu seiner Unterkunft davon.

»Wo habt Ihr das her?«, fragte der schurkische Ritter, der Orlando noch immer wie ein Dummkopf anstarrte. »War es schon immer so klein?«

»Kleiner, denke ich, oder zumindest ist das um seiner Mutter willen zu hoffen«, antwortete Simon. »Aber als ich Orlando traf, war er bereits ausgewachsen.«

»Ausgewachsen«, wiederholte der Ritter kichernd. Sein Blick wanderte zu Simon und maß nun ihn. »Was wollt Ihr für es haben?« Simon spürte, wie sich der Zwerg neben ihm anspannte, und legte eine Hand auf seine Schulter. »Ich stehe kurz davor, ein Schloss zu erwerben«, fuhr der Franzose fort. »Ich werde einen Narren brauchen. Ist es dafür geeignet?«

»Nicht dass ich wüsste«, antwortete Simon, der sich bemühte, nicht zu lächeln. Wenn Orlando irgendwelche Befürchtungen bezüglich der Absichten des Vampirs hegte, so schwanden sie nun zweifellos dahin. »Mein Diener ist nicht zu verkaufen.«

Das Lächeln des Schurken verschwand. »Sagt das nicht so schnell, Reisender. Du, komm her.« Er packte die Frau am Arm und stieß sie vorwärts. »Ich gebe Euch die dafür.« Er riss ihren Umhang fort, und sie stieß einen empörten Schrei aus und rang einen Moment darum, bevor sie die Arme wieder sinken ließ. Sie war kaum mehr als ein Kind mit goldenem Haar – zweifellos ein hübsches Ding, als sie sie geraubt hatten. Nun waren ihr Mund und ihre Augen geschwollen und verfärbt, und das dünne Hemd, ihr einziges Kleidungsstück, war zerrissen und mit dem befleckt, was Simon für Schlamm halten wollte. Sie sah den Vampir kaum einen Moment an, bevor sie wieder zu Boden blickte, aber Simon glaubte den Hauch eines Lächelns auf ihren Lippen und einen Schimmer der Hoffnung in ihren Augen gesehen zu haben.

»Euer Angebot klingt verführerisch, Mylord«, sagte Simon und betonte den Titel mit unmissverständlicher Ironie. Aber in Wahrheit konnte er kaum seine eigene Stimme hören, so laut tosten sein Hunger und der Herzschlag des Schurken in seinen Ohren. »Aber ich muss ablehnen.«

»Ihr müsst ablehnen?«, wiederholte der Mann, und seine Leute lachten und kamen näher. »Ich muss darauf bestehen, dass Ihr das Angebot annehmt.« Er legte eine Hand an sein Schwertheft, und seine Schergen taten es ihm gleich.

»Ihr wollt in der Kirche mit mir kämpfen?« Orlando trat einen Schritt fort, und Simon machte ihm ein Zeichen. Siehst du?, schien er dem Zwerg zu bedeuten. Der Dummkopf lässt mir keine andere Wahl. »Unmittelbar vor dem Kreuz?«

»Mit Euch kämpfen? Nein, Reisender.« Der Schurke lächelte und zeigte verfaulte Zähne. »Wir werden Euch töten.« Er zog sein Schwert.

Simon zog ebenfalls sein Schwert, so rasch, dass seine Gegner es kaum hatten sehen können. In einem Moment war er eine leichte Beute, ein einzelner Kämpfer, der ruhig dastand, und im nächsten Moment war er der Dämon. Die Schergen des Schurken griffen ihn zuerst an, einer mit Streitkolben und Dolch bewaffnet, der andere mit einem Schwert. Simon tötete den Schwertkämpfer zuerst, parierte seinen Stoß blitzartig, bevor er ihm den Kopf abschnitt. Der Zweite stach ihm in den Rücken, versenkte seinen Dolch bis zum Heft, aber der Vampir spürte es kaum. Er wirbelte herum, als der Schurke seinen Streitkolben anhob, packte ihn am Handgelenk und verdrehte seinen Arm im Gelenk, wie ein Sterblicher vielleicht einen trockenen Zweig brach. Der Scherge schrie auf, seine Augen rollten wild, und Simon fauchte und versenkte seine Zähne in der Kehle des Schergen.

»Un diable«, sagte ihr Herr gerade mit schweißglänzendem Gesicht. »Tu es Satan.« Er umklammerte sein Breitschwert mit beiden Händen, aber sein Körper stank vor Angst.

Simon hob den Mund von der Blutquelle seiner ersten Beute. »Ihr sprecht, als würdet Ihr mich kennen.« Er drehte den Kopf des Schergen mit einer ruckartigen Bewegung zur Seite und beendete damit welches Leben auch immer noch in ihm weilen mochte. »Sind wir Freunde?« Er ließ den Leichnam zu Boden sinken.

»Hinfort!« Der schurkische Ritter ließ sein Schwert fallen und bekreuzigte sich. »Im Namen Christi, bleibt weg!«

»Ihr wagt es?« Neuerlicher Zorn durchströmte Simon, nährte ihn besser als das Blut, das nun durch seine Adern rann. »Als der Schurke, der Ihr seid, beruft Ihr Euch auf Christus, damit er Euch retten soll?« Seine Zunge brannte bei der Erwähnung des heiligen Namens. Wenn er das Kreuz tragen müsste, das um den Hals dieses Schurken hing, würde sein verfluchtes Fleisch in heiligem Feuer brennen. »Ihr plündert Arglose«, sagte er und trat näher. »Ihr würdet Seine heilige Kirche schänden, Seinen Priester missbrauchen, und doch habt Ihr dieses Recht.« Das Gefühl der Ungerechtigkeit war mächtiger als sein Hunger. Er konnte den Zorn nicht mehr zügeln. Er sprang den Schurken wie ein Wolf an, und beide rollten zusammen über den Boden, während Simon sich mit den Zähnen über das Herz des Franzosen hermachte. Der Schurke schlug mit seinem Dolch immer wieder auf ihn ein, flehte dabei um Gnade, aber Simon hörte ihn kaum, spürte den Schmerz kaum. Es zählte nur das Blut, heiß und süß, noch immer mit einem Schuss des Weins versetzt, den der Mann getrunken hatte, und erfüllt mit der Bosheit seines Herzens. Dies war die Nahrung, die Simon in seinen zehn Jahren als Vampir vor jeder anderen zu ersehnen gelernt hatte, das Blut bereits Verdammter.

»Mein heiliger Gott …« Pater Colin war zurückgekehrt. Er stand im Eingang und blickte entsetzt auf den Vampir, der sich am Altar seines Gottes nährte. »Barmherziger Christus …« Er umklammerte Kraft suchend seinen Rosenkranz, blieb, wo er war, als Simon den toten Mann fallen ließ und sich erhob. Der Vampir wusste aus Erfahrung, wie er erschien, wie seine schwarzen Augen mit teuflischer Flamme loderten, mit scharlachroten Blutflecken an seinem Mund. Aber der Priester wich nicht angsterfüllt zurück. »Fort aus Seiner Kirche, Kind Satans«, befahl er. »Ich befehle es dir, in Gottes heiligem Namen.«

»Ihr könnt mir nichts befehlen, Pater«, sagte Simon, obwohl die Worte des Priesters ihn in Wahrheit beeinflussten, den mächtigen Zwang in ihm erweckten zu gehorchen. Dies war ein wahrhaft rechtschaffener Mann, ein wahrer Priester Christi. »Ihr könnt nicht sehen, was Ihr gesehen habt«, sagte der Vampir traurig. »Ihr könnt Euch an diesen Abend nicht erinnern.«

»An diesen Abend«, wiederholte der Priester, und seine Augen trübten sich in Trance. Von allen Gaben, die sein verfluchter Zustand ihm verliehen hatte, mochte Simon diese am wenigsten und benutzte sie am seltensten, die Macht, den sterblichen Geist zu beeinflussen. Je argloser seine Opfer waren, desto leichter und tiefer konnte er sie in Trance versetzen, ihren Willen seinem Willen beugen. »Der Schwarze Ritter«, sagte Pater Colin, während Verstehen in seinen Augen dämmerte. »Ihr seid Isabels Schwarzer Ritter.«

»Ja«, antwortete Simon, obwohl er in Wahrheit nicht die leiseste Ahnung hatte, was der alte Mann meinte. Manchmal geschah das – der Geist eines Opfers fand seine eigene Lösung, seine eigene Art, das Böse wegzuerklären, dessen Zeuge er geworden war. »Ich bin ihr Schwarzer Ritter.«

»Kommt«, befahl Orlando und brachte Simon sein Schwert. »Ihr müsst fort. Der Pater und ich werden uns um dieses Chaos kümmern.« Er betrachtete den Vampir mit verzerrtem Lächeln von oben bis unten. »Und sucht Euch etwas zum Anziehen.« Simon blickte auf seinen Waffenrock hinab, der aufgeschlitzt und blutdurchtränkt war. »Geht, Krieger«, wiederholte der Zwerg und schubste ihn leicht.

Draußen war es vollkommen dunkel. Simon stand zwischen den umgestürzten Steinen des alten römischen Tempels und schloss die Augen, atmete die kalte, neblige Luft ein, als ob sein Körper sie noch immer benötigte. Seine Haut kribbelte vor Leben, aber es war eine Illusion, die Lebendigkeit vom Blut seines Opfers gestohlen. Er würde sich einige wenige kostbare Stunden, nachdem er sich genährt hatte, beinahe wieder wie er selbst fühlen, ein Mensch mit einem Herzen und einer Seele. Er würde sich an Irland und an die Träume erinnern, die er einst so hochgehalten hatte, die grünen Felder sehen, sich an die Wärme der Sonne auf seinem Rücken erinnern. Während das Blut eines Toten in seinen Adern floss, würde er sich daran erinnern, wie es sich angefühlt hatte zu leben, sich nach Liebe und einem Heim zu sehnen.

Aber wenn der Morgen käme, würde er wieder sterben. Das Blut der Tötung würde von seinem unendlichen Hunger verschluckt worden sein, dem einzigen Leben, das real war. Er war ein Ungeheuer, ein Raubtier, das nur zu dem Zweck tötete, aufzustehen und erneut zu töten. Nur für das Blut und seine Suche, seine endlose Suche nach einem Relikt, von dem er noch immer nicht glauben konnte, dass es ihn retten würde. Mit jeder Nacht, in der sein verfluchter Körper wanderte, verschmolz er tiefer mit den Schatten, entfernte er sich weiter von Gottes Gnade. Warum sollte dieser magische Kelch ihn akzeptieren, selbst wenn es ihn geben sollte und er ihn irgendwie finden konnte?

Manchmal beneidete er Roxanna, seine Schwester im verfluchten Blute, die während all dieser vergangenen zehn Jahre in einer anderen Welt schlief, als Dunst in einer Flasche. Sie spürte dieses Sehnen, das er jetzt empfand, diese Illusion des Lebens jenseits allen Wissens oder aller Kontrolle nicht mehr. Wenn sie hungerte, so wusste Simon es nicht, und es kümmerte ihn auch nicht.

Die Pferde des französischen Ritters und seiner Leute waren unmittelbar vor der Mauer der Abtei angebunden. Sie schauten bei seinem leisen Herannahen auf, die samtigen Ohren zurückgelegt, während sie unruhig wieherten und schnaubten. »Ihr braucht keine Angst zu haben«, murmelte er und streckte eine Hand aus. »Dieser Wolf will euch nichts tun.« Als Mann hatte er Pferde so geliebt, wie nur ein Ire es konnte. Es gab kein Pferd, das er nicht reiten, keinen Hengst, den er nicht zähmen konnte. »Euer Herr ist tot.« Das größte der drei Pferde, ein dunkelbraunes, gepanzertes Schlachtross, stemmte seine Hufe auf den Boden, warf den Kopf auf und wieherte warnend. »Ich kann nicht glauben, dass du um ihn trauern wirst.« Als er nahe genug war, um die samtige Nase zu berühren, griff er nach dem Zügel des Pferdes.

Aber gerade als seine Fingerspitzen ihn berührten, bäumte das Pferd sich auf, schrie und peitschte mit seinen Hufen die Luft, und seine Gefährten taten es ihm gleich. Die ersten beiden rissen sich mühelos von ihren Pflöcken los und flohen, das Schlachtross zerschmetterte die Holztore der Abtei. Aber das dritte, eine kleinere, graue Stute, war gefangen. Die Augen vor Entsetzen verdreht, bis nur noch das Weiße zu sehen war, wand und krümmte sie sich und wollte verzweifelt entkommen, aber ihr Pflock wollte sich nicht lösen.

»Es tut mir leid«, sagte Simon, beinahe flehentlich, während er das Messer aus seinem Gürtel zog. »Ich schwöre dir, Hübsche, alles ist gut.« Er wich den peitschenden Hufen aus und durchschlug den Haltestrick mit einem Streich. Die Stute stieg so heftig, dass sie auf den Rücken stürzte. »Nein!«, schrie Simon entsetzt und war sich sicher, dass das Pferd Schaden genommen hatte, aber sie kämpfte sich wieder hoch. Sie schrie angesichts des Vampirs erneut und galoppierte dann davon, setzte über das zerbrochene Tor.

»Es tut mir leid«, wiederholte Simon, der ihr nachsah, als sie in die Nacht verschwand.

»Die Pferde fürchten Euch«, sagte eine Stimme hinter ihm leise. Das Mädchen, das der französische Ritter beschimpft hatte, kam auf ihn zu, suchte sich ihren Weg zwischen den Steinen der Ruine. »Aber ich nicht.« Er konnte im Mondlicht kaum ihre Quetschungen sehen. Er sah sie als das hübsche Ding an, das sie war oder zumindest einst gewesen war. Sie blieb vor ihm stehen und ließ ihren Umhang sinken. »Ich habe keine Angst.«

»Warum nicht?« Er berührte ihre Wange mit dem Handrücken, und sie legte den Kopf zur Seite und schloss die Augen, während sie sich in die Liebkosung schmiegte. »Du solltest Angst haben, Kindchen.« Selbst seine Stimme klang wie der alte Simon, der irische Akzent des trällernden Poeten. »Du hast doch deutlich gesehen, was ich bin.«

»Ja.« Sie öffnete die Augen wieder. »Ich habe dich gesehen.« Sie lächelte. »Aber ich gehöre jetzt dir.«

»Nein«, sagte er kopfschüttelnd.

»Ich kann Dinge tun«, versprach sie. »Ich kann mich um dich kümmern, und du kannst mir Sicherheit geben.« Sie berührte mit den Fingerspitzen seine Wange, zog sie durch die Bluttränen. »Warum weinst du?«

Er lächelte. »Ich weine um dich.« Er nahm ihre Hand und küsste sie, bevor er sie losließ. »Ich brauche keine Köchin, Kleine.«

»Gut«, antwortete sie und kam näher. »Ich wollte auch nicht kochen.«

Sie legte die Arme um seinen Hals. Als er sie küsste, schmiegte sie sich in seine Umarmung, und er stöhnte, verzweifelt und belustigt. Solcherlei Dinge waren nur für den Moment, aber er sehnte sich dennoch nach diesem Mädchen, nach der Wärme ihres Körpers, der Parodie der Liebe. Er drängte sie zwischen den Steinen zu Boden und öffnete ihren Mund mit seinem, um ihre heiße, kleine Zunge zu schmecken. Ihre Hände glitten seine Arme hinauf und hinab und über seine Schultern, als er ihr fadenscheiniges Hemd anhob. Ihre Spalte war so warm wie ihr Mund, wollte ihn ebenso eifrig aufnehmen. Er ließ sich von seinen Empfindungen überwältigen und schloss die Augen, während er sich in ihrer Umarmung verlor. Der Blutrausch, den er nun empfand, war, nachdem er sich zuvor genährt hatte, nur gering, ein weiterer nagender Hunger, wie das Pochen in seinem Geschlecht, ebenso leicht zu befriedigen. Als seine kleine Trösterin aufschrie, küsste er ihre Kehle, fand die Ader. Beide Fäuste fest in sein Haar geklammert, wölbte sie ihm ihre Hüften entgegen, und er biss sie, durchbohrte kaum ihre zarte Haut, nährte sich kaum, während ihr Orgasmus sie erschütterte, schmeckte er Befriedigung in ihrem Blut.

Er hob den Kopf, bewegte sich schneller, blickte in ihre Augen. »Du wirst mich vergessen.« Ihre Lippen bewegten sich verneinend, aber sie konnte nicht sprechen, sie konnte nicht fortsehen. »Du wirst vergessen.« Er versenkte sich tiefer in ihr, hielt sie am Boden fest.

»Ja.« Sie keuchte, als er explosionsartig kam, zitterte wieder. »Ich werde vergessen.«

Er küsste sie auf die Wange, während er sich zurückzog, ließ sie los, während ihr Körper erschlaffte. Er zog ihr Hemd wieder herunter, und sie seufzte und rollte sich auf die Seite. »Schlaf, süßer Liebling«, flüsterte er, und sie gehorchte, so friedlich wie ein Kind. Als er aufblickte, sah er Orlando auf sich zukommen, der lächelte und den Kopf schüttelte.

»Pater Colin schläft jetzt auch«, sagte der Zwerg, als er bei ihm war. »Dein Zauber war heute Abend sehr machtvoll.« Er schaute auf das Mädchen hinab, das auf dem Boden lag. »Er ist ohnehin zu alt, um noch eine große Hilfe zu sein.«

»Ich werde es tun«, antwortete Simon. Er musste in den vergangenen zehn Jahren Hunderte von Gräbern ausgehoben haben. Er sollte für drei weitere nicht lange brauchen. »Gib mir die Geldbörse.« Er nahm eine Handvoll Münzen heraus, gab sie Orlando wieder zurück und steckte die Geldbörse dann unter den Arm des schlafenden Mädchens. »Vielleicht kann sie ihren Weg nach Hause finden.«

»Der gute Pater wird ihr helfen.« Simon breitete den Umhang des Mädchens wie eine Decke über ihr aus, steckte die Ecken fest, und sein Weggefährte lächelte. »Komm, Krieger. Ich denke, ich habe einen Plan.«

Isabel wickelte die Verbände von Brautus’ Schulter ab und lehnte sich zurück. »Besser?«

»Ja, Kind.« Der betagte Riese ließ sich in die Kissen sinken, und die Schmerzensfalten auf seiner Stirn verrieten die Lüge. »Sie ist fast geheilt.« Er nahm ihre Hand und drückte sie. »Lass diesen Franzosen kommen.«

»Morgen.« Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Er wird morgen kommen.« Diese große Hand hatte sie ihr ganzes Leben lang beschützt. Dieser Ritter war ihr ebenso teuer wie ein Vater.

»Vielleicht ist er nicht so schlimm.« Wenn Brautus versuchen würde, den Franzosen zu bekämpfen, würde er sterben. »Vielleicht sollte ich zulassen, dass er mich heiratet, ohne dass gekämpft wird.«

»Nein.« Sein bärtiges Gesicht wurde ernst, und ihr stiegen Tränen in die Augen. »Das wirst du nicht tun.«

Draußen vor dem Fenster war der Mond als kalte, weiße Scheibe aufgegangen. Sie dachte an das Arbeitszimmer ihres Vaters, nun drei Stockwerke unter ihr, und an die Schriftrollen der Druiden, die voller Magie waren, die sie nicht deuten konnte, voller Weisheit, die sie nicht nutzen konnte. Schickt mir einen Teufel, liebe Zauberer, dachte sie erneut, das lautlose Gebet einer Heidin. Schickt mir meinen wahren Schwarzen Ritter.