2

Simon schaute zu Schloss Charmot hinauf, das sich in der purpurnen Düsternis der Dämmerung starr und grau von seiner nebligen Insel erhob. Seine Außenmauern waren mit Dornenranken und Flechten bedeckt, als wäre die Festung einige Zeit verwaist gewesen, aber die Zugbrücke wirkte fast neu, die mit Nägeln bestückten Planken mit Eisenbändern verbunden. Sir Gabriel war vielleicht ein Einsiedler, aber er war auch bereit, sich zu verteidigen. Simons Vampirgehör konnte selbst vom entgegengesetzten Ufer des Burggrabens aus Bewegung hinter den Mauern wahrnehmen, angespannte Stimmen rasch sprechen, das Klirren von Pferdezügeln und das Rasseln von Kettenpanzer-Rüstungen hören. Er blickte zu Orlando hinab, dem großen Weisen, der ihn davon überzeugt hatte, unbewaffnet hierherzukommen. »Du bist dir ganz sicher, Zauberer«, fragte er den Zwerg halbwegs im Scherz. »Das ist der einzige Weg?«

»Natürlich nicht«, antwortete Orlando lächelnd. Er läutete erneut die Glocke. »Aber wir können es zuerst auf diesem Weg versuchen.«

Isabel spähte durch einen schmalen Spalt in der Mauer zu den Fremden hinab. »Seht Ihr, Mylady?«, sagte Tom, der neben ihr stand. Der Junge hatte hier den ganzen Nachmittag Wache gehalten und auf den Franzosen gewartet. »Es sind ein Priester, kein Ritter, und ein Kind. Sie haben nicht einmal ein Pferd.«

»Nein.« Sie konnte die beiden Gestalten im schwindenden Licht kaum ausmachen, konnte ihre Gesichter nicht erkennen. Aber beide wirkten nicht wie der Schurke, vor dem sie gewarnt worden waren. Der Größere trug eine Art langes Gewand. Er hätte ein Priester sein können, aber er war größer als alle Männer Gottes, die sie je zuvor gesehen hatte, und hatte breitere Schultern. Und obwohl die zweite Gestalt gewiss klein genug war, um ein Kind zu sein, bewegte sie sich jedoch nicht wie eines. »Sag Brautus, er soll zuhören und sich bereithalten hinauszureiten – er wird mein Zeichen erkennen.« Sie berührte den Jungen an der Schulter und lächelte. »Alles wird gut.«

Simon läutete erneut die Glocke, verlor allmählich die Geduld. »Hallo?«, rief er über das Wasser hinweg. »Hallo, ist da jemand?«

»Euch auch ein Hallo.« Es war die Stimme einer Frau. Als er aufschaute, sah er sie auf den Zinnen stehen, eine Schönheit mit kupferrotem Haar, mit einem schneeweißen Gewand bekleidet – ein Wesen aus den Balladen eines Barden. »Wer seid Ihr?«, fragte sie. »Was wollt Ihr?«

»Ich bin auf der Suche nach Sir Gabriel von Charmot.« Der große Mann verbeugte sich elegant vor ihr, eine höchst unpriesterliche Geste, wie Isabel dachte. »Ich suche seinen Rat.«

»Und in welchem Verhältnis steht Ihr zu Sir Gabriel?«, rief sie so laut, dass Brautus sie im Hof hören konnte. »Woher kennt er Euch?«

Simon schaute erneut zu Orlando. »Wir sind Verwandte«, antwortete er und hasste es zu lügen. »Wenn er nur käme …«

»Ich spreche in seinem Namen«, unterbrach ihn die Frau. Simon konnte ihr Gesicht aus dieser Entfernung im Dämmerlicht kaum sehen, obwohl er ein Vampir war. Aber ihre Stimme klang betörend, beschwingt, aber nicht lieblich, intelligent, aber kalt. »Und ich sage, Ihr seid ein Lügner. Sir Gabriel hat keine Verwandten – zumindest nicht außerhalb dieser Mauern.«

»Ich bin sein Cousin«, beharrte der Mann. »Ein entfernter Cousin – aus Irland. Mein Name ist Simon.« Er klang aufrichtig, dachte Isabel. Und was noch wichtiger war – er klang irisch, nicht französisch. Wenn dies ein Trick des Schurken war, den sie erwartet hatte, so war es ein wohl erwogener Trick. Ihr Vater hatte niemals von irischer Verwandtschaft gesprochen, aber es war doch möglich. Er entstammte einer großen Familie in der Normandie, und all seine Onkel waren Ritter im Dienste Wilhelms des Eroberers gewesen.

»Seid Ihr dann ein Priester?«, rief sie diesem Simon zu. »Ein Priester und Sir Gabriels Cousin?«

»Kein Priester, Mylady«, antwortete Simon und begegnete stirnrunzelnd Orlandos Blick. Sie hatten über diesen Punkt gestritten, aber Simon wollte sich nicht dazu bewegen lassen. Eine solch üble Lüge würde er nicht einmal für den Kelch riskieren. »Ein Büßer, der von einer Pilgerreise ins Heilige Land zurückkehrt. Ich hatte eine Vision dieses Schlosses und meines Cousins. Wenn ich nur mit ihm sprechen könnte …«

»Dieses Schloss ist verflucht, Sir Simon«, unterbrach Isabel ihn und bemühte sich zu entscheiden, was zu tun wäre. Der Mann sagte, er sei ihr Cousin, aber wie konnte sie sicher sein? Wenn er wirklich ihr Verwandter war, könnte sie ihn vielleicht dazu überreden, ihr zu helfen, vorausgesetzt er hatte im Heiligen Land mehr getan als nur gebetet. Aber wenn er es nicht war, könnte es noch schlimmer werden, als es bereits war. Er wirkte nicht gefährlich. Vielleicht könnte Brautus ihn vergraulen. Und wenn nicht, könnte er vielleicht wirklich von Nutzen sein. Sie erhob ihre Stimme, versicherte sich, dass ihr betagter Kämpe sie im Hof unten hören könnte. »Der Schwarze Ritter behält es sich selbst vor.«

»Der Schwarze Ritter?«, wiederholte Simon. Pater Colin hatte einen Schwarzen Ritter erwähnt – er hatte Simon mit diesem Namen bedacht, als der Vampir ihn in Trance versetzt hatte. Isabels Schwarzer Ritter. Er blickte zu der Frau auf den Zinnen hinauf. »Isabel?«

»Er wird Euch prüfen, Pilger«, fuhr Isabel fort, ohne auf eine Antwort zu warten – aber halt, hatte er ihren Namen genannt? Nein, das war nicht möglich. Sie hatte ihn ihm nicht verraten. »Vielleicht lässt er Euch passieren.«

Die Zugbrücke öffnete sich quietschend. »Was für ein Wahnsinn ist das?«, murrte Orlando und trat einen Schritt zurück.

»Ich weiß es nicht«, antwortete Simon und wappnete sich. »Aber ich wette, du wünschst dir jetzt, du hättest mich mein Schwert behalten lassen.«

»Nein«, sagte der Zwerg. »Alles wird gut.«

Isabel beobachtete, wie Brautus auf Malachi hinausritt, das pechschwarze Schlachtross, dessen Vater das Lieblingspferd ihres Vaters gewesen war. Niemand hätte angesichts der Art, wie er hinausritt, so kühn und schrecklich wie ein Dämon nur sein konnte, vermutet, dass der Schwarze Ritter in Wahrheit ein verwundeter, alter Mann war. Er hielt mitten auf der hölzernen Zugbrücke inne und riss die Zügel zurück, damit Malachi sich aufbäumte und die Luft peitschte.

»Jedermann, der diese Tore zu passieren wünscht, muss sich dem Dämon stellen, Pilger«, rief sie zu dem Mann hinab, der ihr Cousin zu sein behauptete. »Viele Männer sind bereits gestorben.«

»Das bezweifle ich nicht«, murmelte Simon vor sich hin. Das Wesen auf dem Pferd war ein Mensch, kein Dämon, wie ihm seine Dämonensinne sagten. Aber er wirkte überaus schreckenerregend. Er hätte Simon im Stand überragt. Sein Kopf und sein Gesicht waren von einem schwarzen, mit gedrehten Hörnern versehenen Helm vollständig bedeckt, dessen Visier als heimtückischer Blick eines Dämons gestaltet war.

»Ich fürchte keinen aus der Hölle geborenen Dämon, Mylady«, rief Simon der Frau zu, wobei er sich nicht sicher war, ob er es als Trost oder als Herausforderung meinte. Hielt der Schwarze Ritter sie gefangen? Er konnte den Schweiß des Mannes aus dieser Entfernung riechen, und auch Blut – der Schwarze Ritter war bereits verwundet. Aber Simon roch bei ihm keine tatsächliche Arglist, keinen aufreizenden Geruch des Bösen, wie er ihn bei dem französischen Ritter, Michel, am Vorabend gerochen hatte. Er blickte erneut zu dem Mädchen hinauf. Sie lehnte auf den Zinnen und beobachtete die Szene offensichtlich interessiert, aber sie schien nicht sonderlich verängstigt zu sein. Konnte dieser Ritter Sir Gabriel selbst sein? »Ich bin weit gereist, um den Rat meines Cousins einzuholen«, sagte Simon und hielt auf die Zugbrücke zu. »Ich lasse mich nicht abweisen.«

»Wie Ihr wollt, Krieger«, murrte Orlando. »Denkt nur bitte daran, dass einer von uns sterblich ist.«

»Dann soll es so sein, Pilger«, erwiderte Isabel. Malachi bäumte sich erneut auf, als Brautus das Pferd drehte, aber dieser Simon hielt nicht inne oder verlangsamte auch nur sein Tempo. Ihr Cousin, wenn er das wirklich war, war zumindest tapfer. Wenn er tatsächlich kein Schwert besaß, könnte Brautus ihn, selbst mit seiner Verletzung, mühelos bezwingen. Aber ihr wurde bewusst, dass sie das Gegenteil erhoffte. »Ich werde für Euch beten«, sagte sie und hoffte, der Schwarze Ritter könnte sie hören. Wer auch immer dieser Simon sein mochte, sie glaubte nicht, dass er ihnen Schaden zufügen wollte. Und sie merkte, dass sie ihn kennenlernen wollte, ob er nun ein Cousin war oder nicht. Es war so lange her, dass sie jemandem begegnet war, so lange her, seit sie irgendeinem Mann begegnet war, der nicht Brautus oder der Ehemann einer anderen Frau war. Und wenn er tapfer genug war, einem Dämon ohne auch nur eine Steinschleuder als Verteidigung zu trotzen, könnte er gegen Michel vielleicht wirklich eine Chance haben, vorausgesetzt sie könnte ihn davon überzeugen, gegen ihn zu kämpfen.

»Danke, Mylady«, sagte Simon und hoffte, dass sie es ernst meinte. Er ahnte, dass der Mann auf dem Pferd ihn passieren lassen würde, wenn er glaubte, dass sie es wollte. Aber was war mit dem Pferd?

»Erlöse diesen Büßer, ich bitte dich, Christus«, sagte Isabel laut. Simon und sein kleiner Weggefährte waren nun auf die Zugbrücke gelangt, gerieten in den Schatten der Schlossmauer, wo sie sie nicht mehr so deutlich sehen konnte. Drei weitere Schritte, und Simon wäre in Reichweite des Schwertes des Schwarzen Ritters. »Rette Ihn vor diesem Dämon«, betete sie laut.

Das Gebet des Mädchens hallte in Simons Kopf seltsam wider, als er in den Schatten des Schlosses trat. Rette ihn vor diesem Dämon … Er spürte ein Kribbeln auf der Haut, ein Brennen, wie er es in einer Kirche empfand, aber anders, als Trost statt als Schmerz. Als er aufblickte, sah er, wie sich der Abendwind leicht in reinem, weißem Stoff verfing, sah das herabhängende Ende ihres Ärmels. Erlöse diesen Büßer, betete sie um seinetwillen.

Plötzlich bäumte sich das Pferd auf, durchbrach seine Trance. Der Schwarze Ritter schwankte im Sattel, hatte offensichtlich Mühe, sich festzuhalten, während die Zügel in seiner Faust flatterten. Simon sah, dass das Dunkelbraun der Augen des Pferdes rot gerändert war, wild, nicht vor Entsetzen, sondern vor Zorn. Der Schwarze Ritter und die Frau mochten sich vielleicht täuschen lassen, aber das Tier nicht. Es erkannte ihn als genau das, was er war – ein Ungeheuer. Der Vampir kauerte sich auf die Zugbrücke, während die mächtigen Hufe unmittelbar vor ihm die Luft peitschten, und Orlando fiel neben ihm aufs Gesicht und murmelte eigene Gebete.

Aber gerade als Simon glaubte, der Schädel müsse ihm zertrümmert werden, beruhigte sich der Hengst. Er senkte die Hufe gefahrlos unmittelbar vor Simon und wieherte leise, eine Art Pferde-Seufzen. Simon richtete sich wieder auf, und das Pferd senkte den Kopf, als grüße es ihn.

»Geht«, sagte der Schwarze Ritter, und die tiefe Stimme in seinem Helm klang schroff, aber Simon hörte dennoch die Erschütterung heraus. Der Reiter hatte nicht gewusst, dass sein Pferd angreifen wollte oder dass es jäh innehalten würde. »Geht rasch oder sterbt!« Er erhob sein Schwert, und Simon lief auf das Tor zu, half Orlando unterwegs auf. Hufschläge donnerten auf der Zugbrücke hinter ihnen, als sie unter dem Fallgitter hindurch und in den dahinter liegenden Hof gelangten. Isabel sah Brautus in den Wald galoppieren, noch immer sein Schwert schwingend – Brautus, der eigentlich ins Bett gehörte. Sie eilte zur Treppe und in den Hof hinab.

Simon fand sich von Menschen umringt, mehr lebende Seelen, als er seit der schrecklichen Nacht, in der er verflucht worden war, auf einmal gesehen hatte. Die meisten waren Frauen und Kinder, aber es waren auch ein paar Jungen und Männer darunter – Stallburschen und Bauern, ihrem Aussehen nach zu urteilen, keine Wächter, wie er erkennen konnte. Sie alle sahen ihn und Orlando an, einige neugierig, einige offensichtlich verängstigt. »Schaut«, sagte ein Junge und deutete hin. »Der Kleine ist ein Mann.«

Isabel betrachtete den Fremden und seinen kleinen Begleiter einen Moment aus dem Schutz der Menge heraus und empfand jähe Scheu. Er sah gut aus, dieser Simon. Sie hatte es zuvor nicht erkannt, aber nun konnte sie sein Gesicht sehen. Sein Haar war dunkelbraun, und er trug es lang, wie ein Sachse oder ein Kelte – ein Ire sei er, hatte er gesagt, und er sah auch so aus. Sein Bart war ebenfalls dunkel, aber kaum überhaupt ein Bart, da er sich wohl nur einen oder zwei Tage nicht rasiert hatte. Wäre er nicht so blass gewesen, hätte sie es vielleicht gar nicht bemerkt. Seine Haut war cremig weiß wie ihre eigene und schien genauso zart, zu perfekt, um zu einem Mann zu gehören. Aber er war kein feinsinniger Barde. Sie konnte unter dem groben, braunen Gewand, das er trug, seine kräftigen Schultern und Arme erahnen, und sie glaubte, den hellrötlichen Strich einer Narbe an seinem Hals zu erkennen, sein einziger Makel. Er sah sich im Kreise der Menschen auf dem Hof um, und schließlich traf sein Blick auf ihr Gesicht, dunkelbraune Augen mit dichten, schwarzen Wimpern.

»Seid gegrüßt, Cousin«, brachte sie heraus, während sie vortrat. »Ich bin Isabel.«

»Mylady.« Simon nickte und lächelte zum ersten Mal seit zehn Jahren, ohne darüber nachzudenken. Die kalte, ätherische Schönheit, die er auf den Zinnen gesehen hatte, erwies sich nun doch als ein herzliches, wirkliches Mädchen. Ihr erstaunlich rotes Haar rahmte ein hübsches Gesicht mit haselnussbraunen Augen und einer kecken, kleinen Nase ein, die mit Sommersprossen übersät war.

»Eure Cousine«, korrigierte sie ihn und erwiderte sein Lächeln. Sie trat einen weiteren Schritt vor und umarmte ihn als einen Verwandten, und er glaubte einen Moment, verloren zu sein.

Der Vampirhunger, von dem er gedacht hatte, dass er ihn zu kontrollieren gelernt hatte, flammte in einem einzigen Moment, durch eine unschuldige Berührung wieder auf. Als sie ihren warmen Körper an seinen presste, konnte er spüren, wie seine Augen ihre Farbe von Braun zu grünlichem Gold veränderten, konnte die Zähne scharf an seiner Zunge spüren. Er hatte seit seiner ersten Nacht als Vampir, seit seiner ersten schrecklichen Tötung, keinen solchen Hunger und solches Entsetzen mehr verspürt. Er wollte diese Frau zerstören, sie verschlingen, auch wenn sie arglos war. Er konnte sie bereits schmecken. Er zog sich entsetzt von ihr zurück, rang um Kontrolle.

»Verzeiht mir«, sagte er, den Blick auf die Pflastersteine gesenkt, auf alles andere als ihr Gesicht, seine Stimme schroff, die Stimme des Dämons. »Ich kann nicht …«

»Nein, mir tut es leid«, unterbrach Isabel ihn verlegen. Er klang so seltsam, und er hatte sich so heftig von ihr zurückgezogen, dass sie nicht wusste, was sie denken sollte. Sie hatte ihn berührt, ohne darüber nachzudenken, eine beiläufige, normale Grußgeste, aber sie hatte in diesem flüchtigen Moment etwas gespürt, eine Art angespannte, grausame Macht, die sie vielleicht geängstigt hätte, wenn sie sie noch länger gespürt hätte. Aber er hatte sie von sich geschoben, fast bevor sie erkannte, dass sie ihn überhaupt berührt hatte. »Ich hätte nicht …«

»Nein, Liebste, bitte.« Das Kosewort entschlüpfte ihm, bevor er es verhindern konnte. Warum sollte es ihn so intensiv getroffen haben, solch einen Hunger bewirkt haben, dieses Mädchen zu berühren? Sie war hübsch, ja, aber was bedeutete das für seinen dämonischen Fluch? Er hatte auf seinen Reisen viele hübsche Mädchen berührt, Frauenzimmer in Tavernen und Huren, von denen die meisten seine Umarmung ohne weiteren Schaden mit einer gewissen Verwirrung und der Erinnerung an einen Traum verlassen hatten. Warum sollte seine angebliche Cousine so anders sein? Er ließ seinen Blick erneut zu ihrem Gesicht schweifen und musste fast lachen. Ihre Schönheit verbarg keines ihrer Gefühle. Sie glaubte ganz offensichtlich, er wäre von Sinnen. Vielleicht war es das, ihre Unschuld, ihr äußerster Mangel an Arglist. Frauenzimmer und Huren waren eine Sache, aber wie lange war es her, seit er ein wahrhaft argloses Mädchen berührt hatte? »Verzeiht mir, Cousine«, sagte er mit bewussterem Lächeln. »Im Vertrauen, es lag nicht an Euch.«

»Mein Herr ist durch einen Schwur an eine Suche nach Erlösung gebunden, Mylady«, unterbrach Orlando sie. »Er will sich keinen näheren Kontakt gestatten, bis sie vollbracht ist.«

»Ich verstehe«, erwiderte Isabel und nickte, obwohl es für sie in Wahrheit überhaupt keinen Sinn ergab. Sie war müde, wie sie jäh erkannte. Sie hatte zwei aufeinander folgende Nächte nicht geschlafen, und nun wollten dieser Fremde und sein kleiner Freund unbedingt in Rätseln sprechen. »Eigentlich verstehe ich nicht«, verbesserte sie sich. »Aber es ist wohl nicht wichtig.« Sie blickte zu dem kleinen Mann hinunter, der neben ihrem Cousin stand. »Und wie heißt Ihr, Herr?«

»Ich bin Orlando, Mylady.« Er berührte als seltsamen Gruß seine Stirn, bevor er sich vor ihr verbeugte. Tom hatte diesen Mann für ein Kind gehalten, und er war in der Tat so klein wie ein Kind. Aber tatsächlich war er alt, so alt wie Brautus, mit langem, grauem Bart. Seine Kleidung unter dem einfachen braunen Umhang war bunt wie die eines Hofnarren, purpurfarben und grün und mit Gold bestickt, und mindestens ein Dutzend verschiedene kleine Beutel und Börsen hingen um seinen Hals, um seine Schultern und an seinem Gürtel.

»Willkommen, Orlando«, antwortete sie ihm und machte einen Hofknicks.

»Orlando ist ein Zauberer, Lady Isabel«, erklärte Simon und lächelte wider Willen erneut. Sir Gabriels Tochter war freundlich. Sie begrüßte Orlando ebenso ernsthaft wie jeden adligen Gutsherrn und so zwanglos, als empfinge sie in ihrem Schloss jeden Tag kleine Männer. Aber er durfte sie niemals wieder berühren, es sei denn, er wollte sie töten. »Er kann Euch Geschichten erzählen, dass Euch die Haare zu Berge stehen.«

»Ja«, stimmte Orlando stirnrunzelnd zu. »Mir fällt besonders eine Geschichte ein, die gewisse Leute eher nicht hören wollen.« Er wandte sich wieder der Lady zu. »Aber wo ist Sir Gabriel, Mylady? Euer Vater, nehme ich an?«

»Ja«, sagte Isabel und blickte an ihm vorbei zu den Übrigen, die noch immer neugierig und ängstlich zusahen und abwarteten, um zu sehen, was sie tun würde. Sie empfand das Schloss ihres Vaters zum ersten Mal, seit sie sich erinnern konnte, als Last und wünschte, sie könnte einfach davonlaufen. Gestern noch, als sie so verängstigt gewesen war, hatte sie nicht gehen wollen. Sie hatte ihr Heim und diese Menschen beschützen wollen. Aber plötzlich wollte sie frei sein. Sie merkte, dass Simon sie auch beobachtete, und begegnete seinen braunen Augen mit ihrem Blick, und für einen seltsamen Moment schien es, als wüsste er genau, was sie dachte. Was wäre gewesen, wenn dieser Mann Michel gewesen wäre?, dachte sie. Was wäre gewesen, wenn er gekommen wäre, um Charmot für sich zu beanspruchen, und den Schwarzen Ritter besiegt hätte? Was wäre gewesen, wenn er sie gewollt hätte?

»Mein Vater ist tot«, sagte sie schroff, und schob damit ihre Phantasien beiseite. »Kommt herein, und erzählt mir von Euren Visionen, dann werde ich Euch von ihm erzählen.«

Sie führte sie in den Rittersaal des Schlosses, ein großer, gut beleuchteter Raum mit einem lodernden Feuer im Hauptkamin. Als Simon eintrat, wurde ihm erneut bewusst, wie lange er sich von den Lebenden ferngehalten hatte und wie einsam er gewesen war. Aber er wagte es nicht, zu lange bei diesen Vorstellungen zu verweilen. Auch jetzt konnte er das Pochen dieser lebendigen Herzen in seinen Ohren lauter werden hören, sein Vampirhunger war bereit, aufzusteigen und alle Vernunft hinwegzufegen. Ich hätte es niemals zulassen dürfen, dachte er, und sein Blick wanderte zu Isabels Gesicht. Ich hätte es niemals zulassen dürfen, dass sie mich berührt.

»Seid Ihr hungrig?«, fragte Isabel, und ihr neuentdeckter Cousin lachte, ein seltsames, hohles, bellendes Lachen. »Ist das lustig?«

»Nein, Mylady«, antwortete er, aber sein bitteres Lächeln strafte ihn Lügen. »Verzeiht.«

»Mein Herr fastet«, erklärte Orlando. »Das gehört zu seiner Buße.« Der Zwerg beobachtete mit sehnsüchtigen Augen, wie eine Dienstmagd eine Servierplatte mit Schweinebraten vorbeitrug.

»Aber mein Diener unterliegt keinem solchen Schwur«, stimmte Simon ihm zu. So schwierig ihr Exil von der Welt der Lebenden für ihn gewesen war, musste es für Orlando, der selbst noch immer ein Lebender war, gewiss noch schlimmer sein.

»Ihr esst überhaupt nichts?«, fragte Isabel, die allmählich die Geduld verlor. Ihr Cousin war ein hübscher Kerl, aber anscheinend so nützlich wie ein vor einen Ochsenkarren gespannter Pfau und nur halb so natürlich. »Wieso seid Ihr dann nicht tot?«

»Ich esse einige Dinge, Mylady«, sagte Simon und bemühte sich, nicht zu lächeln. »Aber niemals Fleisch, und niemals in Gesellschaft.« Er hatte sich vor langer Zeit darauf eingestellt, sich nichts mehr aus dem Duft menschlicher Nahrung zu machen, obwohl der Anblick von Essen ihm nach wie vor eher ein flaues Gefühl im Magen verursachte. »Ich möchte Euch jedoch nicht vom Abendessen abhalten«, versicherte er ihr hastig. »Bitte, setzt Euch …«

»Nein«, unterbrach Isabel ihn, und ihre Verärgerung wuchs. Sie hatte gedacht, sie hätte es vermisst, einen Adligen auf dem Schloss zu beherbergen, aber nun, wo einer da war, war sie sich dessen nicht mehr so sicher. Kaum durch die Tür, lud dieser Simon sie bereits huldreich ein, an ihrem eigenen Tisch Platz zu nehmen, als wäre das seine Aufgabe. »Ich bin eigentlich nicht hungrig.«

»Ihr müsst meinetwegen nicht fasten«, protestierte Simon.

»Das tue ich, ehrlich gesagt, auch nicht.« So arglos sie auch scheinen mochte, dachte Simon, so war sie doch kein einfältiges Kind. Die kalte Intelligenz, die er zunächst auf den Zinnen bemerkt hatte, hatte ihre Stimme gekräftigt, und ein Funken Temperament blitzte in ihren Augen auf, der ganz im Gegensatz zu ihrer zierlichen Erscheinung stand. »Hannah«, sagte sie und hielt eine Dienstmagd auf. »Deckt einen Platz für Meister Orlando, und sorgt dafür, dass er seinen Anteil bekommt. Mein Cousin wird sich mir im Sonnenraum anschließen.«

»Wartet, Mylord«, protestierte Orlando besorgt. »Ich muss bei Euch bleiben.«

»Ihr braucht keine Angst vor mir zu haben, Meister Zauberer«, sagte Isabel, die gegen ihren Willen amüsiert war. Der Zwerg schien ein richtiger Angsthase zu sein. »Ich werde ihm keine Honigkuchen vorsetzen, sobald Ihr ihm den Rücken gekehrt habt.«

»Das ist es nicht, Mylady«, sagte Simon. »Orlando hat geschworen, mir bei meiner Suche zu helfen, und er weiß viel über meine Visionen …«

»Mehr als Ihr selbst darüber wisst?«, unterbrach sie ihn und wandte sich ihm mit großen, unschuldigen Augen zu.

Ihre Provokation war unmissverständlich. »Nein, Cousine«, antwortete Simon und begegnete über ihre Schulter hinweg Orlandos Blick. Ihre größte Hoffnung auf Erfolg ihrer Täuschung bestand darin, das Vertrauen der Lady und damit Zugang zu den Katakomben zu erlangen, von denen der Priester gesprochen hatte. Der Zauberer nickte leicht. »Natürlich werde ich mit Euch allein sprechen.«

»Ist er also Euer Hüter?«, fragte Isabel, während sie die Treppe hinaufstiegen und Orlando an den Tisch trat.

»Nein, das ist er nicht«, antwortete Simon. »Aber ich denke, manchmal vergisst er das.«

Er folgte ihr in den Sonnenraum, verglichen mit der gemütlichen Halle ein überraschend spartanischer Raum. Ein Dienstbote war mit ihnen gekommen, um ein Feuer im Kamin anzufachen, aber die Kälte würde hartnäckig bleiben, da die Wände kahl waren. Zwei schwere Stühle und ein Webrahmen waren die einzigen Möbelstücke, und sie waren staubbedeckt.

»Wir nutzen diesen Raum nur selten, seit mein Vater gestorben ist«, erklärte Isabel und wischte über einen Stuhl. »Aber hier können wir ungestört reden. Die Halle ist voller neugieriger Ohren, und wir hatten einen ziemlich anstrengenden Tag.«

»Das gilt übrigens für die meisten Hallen, wie ich bemerkt habe«, stimmte Simon ihr zu. »Aber warum war Euer Tag so anstrengend?«

»Ihr habt den Schwarzen Ritter gesehen, nicht wahr?«, sagte sie mit seltsamem, kleinem Lächeln. »Würdet Ihr ihn nicht als besorgniserregend bezeichnen?«

»In der Tat.« Er betrachtete den erst halbwegs fertiggestellten Wandteppich auf dem Webrahmen. »Das ist hübsch.« Er zeigte ein Mädchen in einem Wald, das ein Tier zähmte – während der vergangenen hundert Jahre ein beliebtes Thema. Aber das Haar dieses Mädchens war nicht rot, sondern golden, und das Tier, dessen Kopf auf ihrem Schoß ruhte, war kein Einhorn, sondern ein Wolf. »Habt Ihr das gewebt?«

»Ich? Nein«, sagte Isabel lachend. »Meine Mutter war eine Weberin, nicht ich. Ich habe kein Talent dafür.«

»Ist Eure Mutter auch tot?«, fragte Simon und gesellte sich zu ihr.

»Sie starb an dem Tag, an dem ich geboren wurde.« Sie hatte Mitleid in seiner Stimme gehört, und das wollte sie nicht dulden, nicht von einem Fremden, auch wenn er ihr Verwandter war. Euer Stolz wird Euer Untergang sein, Mylady, sagte Pater Colin ihr nur allzu gerne. Er hatte wahrscheinlich Recht. Aber sie war die Tochter ihres Vaters, die Lady von Charmot. Sie wollte nicht bemitleidet werden. »Ich kannte sie nicht«, sagte sie kalt.

»Dann bedaure ich es noch mehr«, antwortete Simon und setzte sich hin.

»Warum?«, fragte sie ihn mit unsicherem Lächeln. »Was hat das mit Euch zu tun?« Sie starrte in die Flammen im Kamin, sah bewusst fort. Er schien in diesem helleren Licht noch besser auszusehen als im Hof, seine Haut war noch perfekter und fahl. Sie hatte von Heiligen gelesen, deren gottesfürchtiger Lebenswandel ihnen das Erscheinungsbild eines Engels verlieh. Aber was sollte sie mit einem Heiligen anfangen? »Erzählt mir von Eurer Vision, Cousin«, sagte sie laut, noch immer das Feuer betrachtend. »Was wolltet Ihr von meinem Vater?«

»Ihr solltet besser mir etwas erzählen, Cousine«, antwortete er. »Wer ist dieser Schwarze Ritter?«

»Warum?«, fragte sie erneut und wandte sich ihm zu. »Was wollt Ihr tun, um mich von ihm zu befreien? Ihn fortbeten?« Er sah einen Moment Angst hinter dem Temperament in ihren Augen, und dann wurde ihre Miene weicher. »Er hat Euch passieren lassen, das genügt.«

»Tatsächlich?«, fragte Simon, während sie sich wieder abwandte. Zum ersten Mal seit einem Jahrzehnt empfand er etwas, das er verloren geglaubt hatte, ein tieferes Mitgefühl als nur das nutzlose Mitleid eines Ungeheuers. Diese Isabel war tapfer und hübsch. Sie konnte vorgeben, herzlos und kalt zu sein. Aber im Inneren war sie verängstigt, das konnte er spüren – fast bis zur Verzweiflung verängstigt. Wäre er noch der Mann gewesen, der er einst war, hätte er nicht umhin gekonnt, seine Arme um sie zu legen und ihr den Mond und die Sterne zu versprechen, um sie zum Lächeln zu bringen. Aber dieser Mann war er nicht mehr. Er war ein Vampir. Er konnte ihr keinen Schutz bieten, nur eine schrecklichere Bedrohung, als sie ahnen konnte, viel schlimmer als das, was auch immer sie im Moment bedrohen mochte.

»Vielleicht hat er Eure Heiligkeit gefürchtet«, sagte sie mit kaum wahrnehmbarem Sarkasmus und unterbrach damit seine Gedanken. »Wie ich Euch schon von den Zinnen herab sagte, heißt es, er sei ein der Hölle entsprungener Dämon.«

»Und das könnte ich sehr wohl glauben, nachdem ich ihn gesehen habe.« Sie blickte zu ihm und sah, dass er sie betrachtete, wobei seine tiefbraunen Augen ihre Seele zu durchdringen schienen.

»Aber er hat niemals versucht, mir oder sonst jemandem auf Charmot zu schaden«, fuhr sie fort. »Er kommt nur, wenn ein Fremder auftaucht – Ihr und Euer Orlando seid die Ersten, die unsere Tore passiert haben, seit mein Vater vor über zehn Jahren starb.«

»Zehn Jahre?«, wiederholte Simon überrascht. Pater Colin hatte von Sir Gabriel gesprochen, als lebte er noch. Es war Simon niemals in den Sinn gekommen, er könnte schon so lange tot sein.

»Ja«, bestätigte Isabel, nickte und erhob sich, die Mauern plötzlich zu eng um ihre Schultern, so als schrumpfte der kleine Raum. »Und er hat nie von Euch gesprochen, Mylord, hat niemals erwähnt, dass wir Verwandte hätten, weder in Irland, noch sonstwo.« Sie wandte sich ihm wieder zu. »Ich nahm an, ich wäre allein.«

»Vielleicht wusste er es nicht«, antwortete Simon und erhob sich ebenfalls. Die Art, wie sie vom Alleinsein gesprochen hatte, berührte ihn weitaus mehr, als er zuzugeben bereit war, aber was auch immer die Probleme dieses Mädchens sein mochten, er konnte ihr nicht helfen. »Ich wusste nichts von Eurem Vater, Lady Isabel, oder von Charmot, als ich von zu Hause aufbrach. Ich zog im Dienste meines Herrn, Herzog Francis von Lyan, ins Heilige Land.« Sagt so weit die Wahrheit wie möglich, hatte Orlando ihm stets geraten, und er war ein weitaus geschickterer Lügner als Simon es jemals zu werden hoffen konnte, auch als Vampir. »In seinem Dienst wurde ich verflucht, sein Tod hat mich veranlasst, meine verlorene Ehre für die dunklen Mächte aufzugeben.«

»Verflucht?«, echote sie, nicht sicher, ob sie richtig verstanden hatte.

»Von Gott verflucht«, antwortete er. »Ihr spracht gerade von meiner Heiligkeit – ein grausamer Scherz, Mylady.« Er hätte einen Moment beinahe nach ihrer Hand gegriffen, hätte es fast riskiert, sie erneut zu berühren, ohne es zu erkennen. Aber das durfte nicht wieder geschehen, niemals. »Glaubt mir, wenn ich Euch sage, dass nichts an mir heilig ist. Gott selbst hat mich vom Licht verbannt.«

»Hat er das wirklich?«, erwiderte sie leichthin. Warum beharrten die Angehörigen des Ritterstandes darauf, in Rätseln und Gedichten zu sprechen?, dachte sie. Einige der Herausforderer des Schwarzen Ritters hatten eine Stunde oder länger gezögert, bevor sie auch nur ihre Lanze zogen. »Dann müsst Ihr etwas ganz Besonderes sein, Mylord. Ich denke, die meisten von uns quält Er einfach wahllos.«

»Ich scherze nicht, Mylady«, antwortete er.

»Nein, das sehe ich.« In Wahrheit konnte niemand, der seine Augen sah, als er von diesem Fluch sprach, daran zweifeln, dass er ihn für wahr hielt. Aber es schien so albern, so extrem – was konnte ein Mensch schon getan haben, um den Allmächtigen Herrn zu erzürnen, wenn er nicht gerade eine Kirche niedergebrannt hatte? Und Simon schien ihr kaum ein Kirchenanzünder zu sein. »Verzeiht mir, Cousin. Ich will Euch nicht verspotten«, erwiderte sie. »Also sagt mir – worum genau geht es bei diesem heiligen Fluch?«

»Ich kann es nicht sagen«, antwortete er. »Aber ich habe allem abgeschworen, um ihm zu entkommen – Gesellschaft, Nahrung, sogar dem Tageslicht.«

»Und das bedeutet?«, fragte sie.

»Das bedeutet, dass ich die Sonne nicht sehe«, antwortete er.

»Niemals?«, fragte sie und zog die Augenbrauen hoch. Das konnte er doch gewiss nicht ernst meinen.

»Niemals. Während der Tagesstunden verberge ich mich. Darum kam ich in der Dämmerung zu Euren Toren.« Simon konnte erkennen, dass sie ihn für verrückt hielt, aber sie glaubte anscheinend nicht, dass er log. »Aber Gottes Gnade bleibt mir dennoch versagt«, fuhr er fort. »Ich wanderte viele Monate in der Wildnis umher, alle meine Weggefährten bis auf Orlando, ein Ungläubiger, dessen Leben ich verschont habe, habe ich verloren.«

»Das sollte Euch zugutegehalten werden, Simon«, erklärte Isabel. Er meinte es absolut ernst. Er glaubte ernsthaft, dass Gott ihn für das, was auch immer er getan hatte, so sehr hasste, dass er es nicht mehr wagte, sich der Welt zu zeigen. »Ihr könnt nicht wirklich glauben, Gott wollte, dass Ihr einen Menschen ermordet, der Euch nur bis zum Gürtel reicht.«

»Nein«, stimmte er ihr zu. »Orlando ist ein Segen, der einzige, den ich habe.«

»Nicht ganz«, berichtigte sie ihn. »Ihr lebt. Ihr habt noch Euer Leben – wenn Ihr wirklich verflucht wärt, hätte Gott es Euch dann nicht genommen?«

»Nein«, antwortete er und begegnete ihrem Blick. »Dass ich lebe, ist das Schlimmste an meinem Fluch.«

»Lächerlich«, höhnte sie. »Gütiger Himmel, Mann, was habt Ihr getan?«

Er musste fast lächeln. Kein Mensch konnte grausamer den Kern einer Sache treffen als eine Frau. »Mehr Sünden, als ich Euch zu erzählen wage, Mylady«, antwortete er, dieselbe Ausflucht, die Adam benutzt haben musste, nachdem er den Garten für zwei Tage verlassen hatte, aber mit weitaus weniger Grund. »Glaubt mir, ich wage es nicht, meinen Schwur zu brechen.«

»Aber worin liegt der Sinn?«, wollte sie wissen, ihre Verwirrung wich wahrer Verärgerung. In Wahrheit wollte sie ihn schütteln, wie eine ungeduldige Mutter ihr ungebärdiges Kind schütteln mochte. Sie hatte wirkliche Probleme, wahre Ängste, denen sie sich stellen musste, und er war ihr Verwandter, ein edler, starker Ritter, wie es schien. »Warum seid Ihr hierher gekommen?«

»Ich hatte eine Vision«, antwortete er.

»Ja, das sagtet Ihr bereits«, erwiderte sie, ohne sich die Mühe zu machen, Höflichkeit auch nur vorzuschützen. Als ob es sie kümmerte, als ob sie es sich leisten könnte, dass es sie kümmerte …

»Vor vielen Monaten kam Sir Gabriel in einem Traum zu mir«, erklärte Simon. »Er schien alles über mich zu wissen, all das Böse, das ich getan hatte, und alles, was ich erlitten hatte. Er sagte mir, meine Seele sei noch nicht verloren, dass ich noch immer Rettung finden könne.«

Isabel sah ihn an und traute ihren Ohren kaum. »Mein Vater kam zu Euch?«, fragte sie und suchte in seinem Gesicht nach einem Hinweis auf eine Lüge. »Warum hätte er zu Euch kommen sollen?« Warum nicht zu mir?, wollte sie ihn anschreien, der Zorn, den sie empfand, war wie eine Krankheit, die sie jäh befiel. Ihr Vater war plötzlich tot umgefallen, im einen Moment wohlauf, im nächsten lag er tot am Boden. Sie hatte ihn nicht einmal sterben sehen. Sie war im Stall gewesen und hatte auf ihn gewartet, denn er hatte versprochen, mit ihr auszureiten. Dann hatte sie einen Schrei gehört: »Mylord!« und war auf den Hof hinausgelaufen. Aber da war ihr Vater bereits tot, und seine leeren Augen blickten zu ihr hinauf, ohne etwas zu sehen. Sie brauchte ihren Vater. Sie brauchte einen Ritter, der sie beschützte, der Charmot beschützte.

»Ihr seid ein Lügner«, sagte sie laut und begegnete Simons Blick. »Ich glaube Euch nicht. Ich werde nicht …«

»Er sagte mir, ich solle hierher nach Charmot kommen«, beharrte Simon. Er hatte erwartet, seine Geschichte dem Mann selbst zu erzählen, nicht seiner trauernden Tochter. Warum sollte sie ihm auch glauben? Warum sollte es sie kümmern? Er war so lange in seinem eigenen Elend gefangen gewesen, dass er vergessen hatte, wie es war, den Schmerz eines anderen Menschen zu spüren. Hätte ihn jemand danach gefragt, hätte er geleugnet, immer noch wahres Mitgefühl empfinden zu können. Er hätte gesagt, es sei seinem Dämonenherzen so fremd wie die Liebe. Aber jetzt spürte er es, und das ängstigte ihn. Er konnte es sich nicht leisten zu fühlen. Aber irgendwie musste er sie erreichen, musste sie davon überzeugen, ihm zu glauben und ihm zu gestatten zu bleiben, bis der Kelch gefunden wurde. »Er sagte, er sei mein Verwandter. Er nannte den Namen meines Vaters. Er sagte, sein Blut flösse in meinem verfluchten Herzen, und er würde mir helfen. Er sagte, hier wäre Weisheit, die mich wieder ins Licht zurückführen könnte.«

»Nein«, beharrte Isabel. »Hier ist nichts.« Die Katakomben, dachte sie, konnte nicht umhin. Vielleicht meinte er die Katakomben … aber nein. Ihr Vater hätte seine Geheimnisse nicht mit diesem Fremden geteilt, auch wenn er ein Verwandter war. Die Weisheit der Druiden war zu kostbar. Er hatte sie stets verborgen gehalten, sogar vor Isabel selbst. »Hier ist nichts«, wiederholte sie.

»Isabel, bitte.« Simon konnte erkennen, dass sie log. Er konnte es genauso spüren, wie er Böses in der Luft spürte, wenn es nahe war, genauso wie er die Güte in ihrem Herzen spürte. Er könnte sie zwingen, ihm die Wahrheit zu sagen, sie bannen oder ihre Geheimnisse sogar aus ihrem Blut stehlen, sie aus ihrem Herzen ablassen. Aber er wollte sie nicht verletzen. Er wollte, dass sie ihm vertraute, mehr als er seit zehn langen Jahren etwas gewollt hatte.

»Ich sagte, hier ist nichts«, wiederholte sie. »Ihr solltet von hier fortgehen, Simon, jetzt, sofort …«

»Ich kann nicht«, unterbrach er sie. »Ich werde nicht gehen.«

»Der Schwarze Ritter wird Euch zwingen«, beharrte sie, Zornestränen stiegen in ihren Augen auf, die sie noch wütender machten – sie weinte niemals, niemals. Warum sollte sie jetzt weinen? »Er wird Euch töten …«

»Das wird er nicht tun«, unterbrach er sie erneut. Er hob gegen seinen Willen die Hände und legte sie um ihr Gesicht, zwang sie, ihm in die Augen zu sehen, und der mächtige Hunger durchströmte ihn erneut, vermischt mit einem Brennen, als berührte er etwas Heiliges. »Hört mir zu, Isabel«, sagte er, wobei sich der Tonfall in seine Stimme schlich, den er benutzte, um seine Opfer zu bannen. »Ihr wisst, dass er das nicht tun wird. Der Schwarze Ritter kann mich nicht töten.«

»Kann Euch nicht töten …« Sie fühlte sich benommen, konnte kaum atmen. Schickt mir meinen wahren Schwarzen Ritter, hatte sie zu den Druiden gebetet. Schickt mir einen Dämon, der unsere Zuflucht beschützt. Ich bin verflucht, hatte dieser Mann gesagt, von Gott verflucht. Ich muss das Licht aufgeben. »Ihr seid der Schwarze Ritter«, sagte sie leise, kaum so laut wie ein Flüstern. »Mein Vater hat Euch zu mir geschickt.«

»Ja«, antwortete Simon, der sie kaum hörte, so verloren fühlte er sich in ihrem Blick. Sie vertraute ihm. Diese Arglose glaubte ihm. Erlöse diesen Büßer, hatte sie gebetet, als er durch ihr Tor trat. Rette ihn vor diesem Dämon. Aber er brach die Trance nicht, der Zauber verweilte noch in seiner Stimme, bannte diese Frau, beugte sie seinem Willen. »Euer Vater hat mich zu Euch geschickt.«

»Mylord!« Die Tür des Sonnenraums öffnete sich, und Orlando kam herein und unterbrach die Trance. »Habt Ihr Lady Isabel von Eurer Vision erzählt?«, fragte er und gab den Respekt eines Dienstboten vor, während seine Augen tadelnd funkelten.

»Das hat er«, antwortete Isabel. Sie entfernte sich von Simon, und ihr Herz schlug schneller, aber sie fühlte sich auch ruhiger, nun da sie die Wahrheit kannte. »Er sagt, es sei Weisheit in diesem Schloss, die ihn von seinem Fluch befreien könnte.« Hatte Simon überhaupt erkannt, warum ihr Vater ihn hierhergeschickt hatte? Er sprach von seinem Fluch, davon, etwas Weisheit zu brauchen, irgendeine Möglichkeit, den Fluch zu brechen –, aber was wäre, wenn er wüsste, dass sein Fluch nur bestand, um sie zu beschützen? Würde er dann dennoch bleiben?

»Zumindest wurde ihm das in einer Vision mitgeteilt«, stimmte Orlando ihr zu. Der Zwerg sah noch immer Simon an, wartete offensichtlich darauf, dass er etwas sagen würde, aber der Vampir konnte es nicht. Er hatte in seinen Nächten voll Dunkelheit Hunderte von Sterblichen gebannt, aber er hatte die Trance stets unter Kontrolle gehabt. Er hatte sich niemals selbst gebannt gefühlt. Welche Magie spürte er im Blut dieser Arglosen? Welche neue Versuchung winkte aus ihrem Blick?

»War seine Vision wahr, Mylady?«, fragte Orlando schließlich. »Gibt es auf Charmot Weisheit?«

»Vielleicht«, antwortete Isabel, und ihre Gedanken rasten. Wenn Simon glaubte, es gäbe eine Möglichkeit, seinen Fluch in Charmot zu brechen, würde er es nicht wagen zu gehen, bevor er sie nicht gefunden hatte. Aber warum sollte sie wollen, dass er bliebe? »Was habt Ihr getan, um verflucht zu werden, Simon?«, fragte sie noch einmal und wandte sich ihm zu. »Habt Ihr getötet?«

Hätte eine andere Frau ihm diese Frage gestellt, hätte sie ihn geprüft, bevor sie ihm gestattet hätte, in ihrem Heim zu bleiben, hätte Simon sofort gewusst, dass er es verneinen musste, hätte den arglosen Büßer gespielt, um sie zu beruhigen. Aber etwas in Isabels Augen sagte ihm, dass sie das nicht wollte. »Ja«, antwortete er und begegnete ihrem Blick. »Häufiger, als ich mich erinnern kann, häufiger, als ich zählen könnte.«

»Und würdet Ihr es wieder tun?«, drängte sie ihn, während ein Schauder sie durchlief. Er war vielleicht wie ein Priester gekleidet, er war vielleicht wunderschön, er trug vielleicht nicht einmal ein Schwert, aber als sie nun in seine Augen sah, als er ihr antwortete, zweifelte sie keinen Moment daran. Dieser Mann war ein Mörder. »Wenn Ihr wieder töten müsstet, könntet Ihr es dann tun?«

»Ja«, antwortete er, ein Lächeln kräuselte kaum seine Mundwinkel. »Wenn ich töten müsste, könnte ich es.«

»Dann kommt«, sagte sie und erwiderte sein Lächeln. Wenn er glaubte, es gäbe eine Möglichkeit, seinen Fluch auf Charmot zu brechen, dann würde er das Schloss beschützen wollen, bis er sie fände. Und wenn Michel inzwischen auftauchen sollte, würde sie Simon klarmachen, dass die Katakomben, in denen seine Heilung verborgen lag, beschützt werden müssten. »Ich werde es Euch zeigen.«

Sie führte sie durch die Halle wieder hinaus und eine Wendeltreppe hinab in einen unterirdischen Keller. »Dort drüben ist eine Tür«, sagte sie und deutete an einigen Fässern vorbei in eine dunkle Ecke. »Sie führt zum See hinter dem Schloss hinaus.« Aber sie ging in die entgegengesetzte Richtung zu einer anderen, kleineren Tür – Simon musste sich ducken, um ihr zu folgen. Dahinter befand sich eine weitere, weitaus ältere, in den natürlichen Fels gehauene Treppe. Er schaute zu Orlando, und der kleine Zauberer lächelte.

»Ich werde Euch vermutlich den Schlüssel borgen müssen«, sagte Isabel und reichte Simon die Fackel. Er wirkte so aufgewühlt, wie sie sich fühlte, das erkannte sie plötzlich. Hatte er dieselbe starke Macht empfunden wie sie, als er sie berührte? Sie versuchte, sich genau daran zu erinnern, was sie gerade zueinander gesagt hatten, als Orlando in den Sonnenraum kam, aber das war schwierig, als wäre es ein Traum gewesen. Sicher schien nur, dass er ihr Schwarzer Ritter sein sollte. »Wenn der Geist meines Vaters Euch hierhergerufen hat, dann waren diese Katakomben der Grund dafür.«

Simon beobachtete, wie sie einen eisernen Schlüssel in ein Steinrelief einpasste, das an ein Bildnis an einem Grabmal erinnerte, ein Mann in einer Robe, der ein Schwert oder einen Streitkolben hielt. Die Spinnweben machten es unmöglich, das genau zu entscheiden. »Guten Abend, Joseph«, sagte sie und drehte den Schlüssel schwungvoll um. »Ich habe Euch einen weiteren Gelehrten gebracht.« Die Steintür schwang auf und gab den Blick auf einen kreisrunden Raum frei.

»Diese Höhlen gehörten den Druiden«, erklärte Isabel und zündete die Kerze ihres Vaters an. »Mein Vater gestaltete mit ihren Aufzeichnungen sein Arbeitszimmer.« Sie wandte sich wieder Simon und Orlando zu, die sie beide verwundert betrachteten. »Wenn er glaubte, dass es für Euch auf Charmot Hilfe gäbe, dann ist dies der Ort, wo Ihr sie finden werdet.«

»Ich danke Euch, Mylady«, erwiderte Simon, der schließlich wieder sprechen konnte. Was auch immer sonst zwischen ihm und dieser Frau vorgegangen sein mochte, diese Höhlen mussten gewiss der Grund dafür sein, dass er den Weg nach Charmot gefunden hatte. Von allen heiligen und unheiligen Orten, die Orlando und er auf ihrer Suche nach dem Kelch gesehen hatten, glaubte er hier zum ersten Mal, tatsächlich etwas finden zu können. Der Raum war von steinernen Truhen gesäumt, die mit uralten Runen wie die auf Kivars Karte versehen waren. Drei weitere Tunnel gingen von ihm ab, so dass mit der Tür, durch die sie gekommen waren, ein Kompasskreuz entstand.

»Nennt mich Isabel«, sagte sie. »Ich bin Eure Cousine, erinnert Ihr Euch? Und dankt mir noch nicht. Jede dieser Truhen ist randvoll mit Schriftrollen, in einer Sprache geschrieben, die keiner ähnelt, die ich je gesehen habe, und in den Seitentunneln befinden sich noch mehr. Ihr werdet vielleicht nicht lange genug leben, um die Weisheit zu finden, die Ihr sucht.«

Simon lächelte. Du hast ja keine Ahnung, Liebste, dachte er. Ich bin dazu verdammt, ewig zu leben. »Ich danke Euch«, antwortete er, »Isabel.«

Wenn er so lächelte, konnte sie fast vergessen, sich zu fürchten, dachte sie. Er würde sie beschützen, ob er nun verflucht war oder nicht. Und vielleicht könnte sie ihm auch helfen. Vielleicht besaßen die Druiden tatsächlich den Schlüssel zu seinem dummen Fluch. »Ich werde für Euch und Orlando Räume herrichten lassen«, sagte sie. »Es sei denn, Ihr wollt lieber zusammen bleiben.«

»Wir werden hierbleiben«, antwortete Orlando und trat zu einer der Truhen. »Simon, öffnet den Deckel.«

»Wir müssen sofort beginnen«, erklärte Simon und folgte Orlandos Aufforderung.

»Gut«, sagte sie belustigt. Ob dieser Zwerg nun ein Zauberer war oder nicht, auf jeden Fall benahm er sich wie einer. »Dann sehe ich Euch vermutlich beim Frühstück.«

»Nein«, unterbrach Simon sie. »Ich kann nicht …«

»Oh, ja, natürlich«, sagte sie und musste über die Absurdität der Situation fast lachen. »Ihr esst nicht.«

»Und ich darf kein Tageslicht erblicken, erinnert Ihr Euch? Ich werde hierbleiben, in diesen Höhlen, bis ich gefunden habe, was ich suche.« Sie musste entsetzt gewirkt haben, denn er lächelte. »Orlando wird mir das Wenige bringen, was ich brauche.«

»Ein Bett?«, schlug sie vor. »Einige Decken, damit Ihr nicht erfriert – es kann hier unten ziemlich kalt werden.« Sie schlang die Arme um ihren Körper, bemerkte es jetzt erst. »Es ist bereits ziemlich kalt.«

»Wir haben Decken in meinem Gepäck«, versicherte er.

»Simon, seid Ihr verrückt?«, fragte sie, während sie fast wieder die Geduld verlor. »Wie, um alles auf der Welt, sollte es Gott gefallen, wenn Ihr verhungert und in einem Loch im Boden lebt?«

Er blickte hilfesuchend zu Orlando, aber der Zwerg zuckte nur die Achseln, bevor er sich wieder der Schriftrolle zuwandte, die er gerade studierte. »Ich weiß es nicht, Cousine«, räumte Simon ein. »Ihr werdet mir einfach darin vertrauen müssen, dass es so ist.«

»Euch vertrauen«, wiederholte Isabel. Sie betrachtete den kleinen Mann, von dem sie behaupteten, er sei ein Zauberer, und der jetzt über eine der Schriftrollen der Druiden gebeugt stand, als ob er sie verstünde. »Nein«, entschied sie. Sie brauchte Simons Hilfe. Sie wollte, dass er blieb, aber dies war zu viel. Charmot gehörte noch immer ihr. Diese Katakomben gehörten ihr, ob sie ihre Geheimnisse erahnen konnte oder nicht. »Kommt mit mir.«

»Wirklich, Cousine, Ihr braucht Euch nicht zu sorgen«, protestierte Simon.

»Kommt«, wiederholte sie. »Alle beide.«

Sie führte sie wieder an dem von Spinnweben bedeckten Relief vorbei und den schmalen Gang hinab zu einer weiteren schlichteren Tür. »Ich werde diesen Raum für Euch herrichten lassen«, sagte sie und öffnete die Tür. »Er ist dunkel, grässlich feucht, ohne Licht von außen, und der Boden wird sogar nass, wenn der Regen stark auf den See prasselt. Er sollte perfekt für Euch sein.« Sie wandte sich mit verzerrtem Lächeln wieder zu Simon um. »Ich kann es Euch wahrscheinlich nicht weniger gemütlich machen, es sei denn, ich lasse Euch lebendig begraben.«

Simon erwiderte ihr Lächeln, und sogar Orlando musste ein Kichern unterdrücken. »Ausgezeichnet, Mylady. Wir danken Euch.«

»Ich nehme an, dass Ihr die Nacht durcharbeiten möchtet, da Ihr das Tageslicht meidet«, sagte Isabel forsch.

»Ja«, antwortete Simon.

»Dann werde ich am Morgen zurückkommen, um die Katakomben abzuschließen.« Sie nahm Simon den Schlüssel aus den Händen. »Achtet nicht auf irgendwelchen Lärm, den Ihr hört – Ihr wünscht vielleicht, auf dem bloßen, schmutzigen Boden zu schlafen, aber das werde ich nicht zulassen. Meine Dienstboten werden Euch und Orlando einen so angemessenen Schlafraum herrichten, wie es in diesem Loch möglich ist …«

»Isabel …«

»Und Ihr werdet es zulassen.« Ihr Tonfall klang bestimmt, und ihr hübscher Mund war zu einer festen Linie zusammengepresst, die keinen weiteren Widerspruch duldete.

»Gut.« Simon verbeugte sich anmutig, und Orlando folgte seinem Beispiel. »Wir danken Euch untertänigst, Cousine.«

»Das solltet Ihr auch«, erwiderte sie. »Nun wünsche ich Euch eine gute Nacht.«

Simon sah ihr lächelnd nach, die Arme über der Brust verschränkt. »Eine sehr hübsche Lady«, bemerkte Orlando. »Herrisch, aber hübsch.«

»Ich mag sie«, gab Simon zu. »Ich wünschte, es wäre nicht so, aber ich mag sie.«

»Das ist unwichtig.« Der Zwerg tätschelte seinen Arm, als er auf dem Weg zur Tür an ihm vorüberging. »Wenn wir diese Katakomben die Nacht über für uns allein haben, sollten wir besser anfangen.«

Später stand Isabel am Turmfenster und blickte in die Nacht hinaus. Hinter ihr schlief Brautus, endlich sicher im Bett, seine Schulter wieder frisch verbunden und nur unwesentlich schlimmer. Er war zurückgekehrt, während sie mit Simon im Sonnenraum war, und sie hätten am Morgen, wenn er aufwachte, zweifellos viel zu besprechen. Irgendwo weit unter ihr sahen Simon und sein geheimnisvoller Diener uralte Texte durch, suchten nach Weisheit, die jemals zu verstehen sie als Frau anscheinend zu einfältig oder zu arglos war. Und irgendwo draußen in der Dunkelheit kam ein Schurke näher, entschlossen, sie zu seiner Braut zu machen. Aber das war nicht mehr wichtig. Simon war ihr Schwarzer Ritter.

Plötzlich sah sie eine Bewegung, ein schwarzer Schatten, der sich am entgegengesetzten Ufer des Burggrabens bewegte. Sie beobachtete, wie er näher kam, in das vom Wasser reflektierte Mondlicht, und sie sah, dass es ein großer, schwarzer Hund war, der am Ufer entlanglief. Plötzlich blieb er stehen und setzte sich dem Schloss und ihr zugewandt hin. Er starrte eine Zeitlang zum Turm hinauf, die ebenso ein Moment wie mehrere Minuten sein konnte. Sie verlor das Zeitgefühl. Warum sollte ein streunender Hund ein Schloss so anstarren?

»Ich bin müde«, sagte sie leise und war sich kaum der Tatsache bewusst, dass sie laut gesprochen hatte. Sie blies ihre Kerze aus, verließ das Fenster, ging in ihr Zimmer und legte sich zum Schlafen nieder.