10

Simon fand Orlando schnarchend auf dem Boden in der Nähe der Leichen vor, seine Laterne war schon lange erloschen. Er untersuchte die Leichen selbst, aber offensichtlich hatte die ganze Nacht über keiner von ihnen auch nur gezuckt. Diese Drei waren wahr und wahrhaftig tot, ihre Seelen in den Himmel oder die Hölle entsandt, wie es Gott gefiel, nicht dem Bösen. Simon beneidete sie eher. Er dachte wieder an Isabels Gesicht, als sie ihn gefragt hatte, ob sein Fluch jemals gebrochen würde, und die Antwort eines Feiglings alles war, was er ihr zu geben hatte. Er hatte ihr, trotz all seiner schönen, anders lautenden Versprechungen, das Herz gebrochen.

Der Himmel wurde heller. Eine Linie dämmernden Purpurs zeichnete die Schlossmauer nach und schimmerte auf der Oberfläche des Sees. Die Sonne würde ihn töten. Das war eine der großen, unwandelbaren Wahrheiten seines Vampirlebens. In der Dunkelheit zu töten, bedeutete zu leben. Im Licht zu stehen, bedeutete zu sterben. Aber wie geschah das? Orlando hatte beschrieben, wie untote Körper in Flammen aufgingen, im Handumdrehen zu Asche wurden, aber wie würde sich das anfühlen? Würde sein Bewusstsein schlagartig in die Hölle gelangen, würde er wirklich zu einem Dämon werden, oder würde sich seine Seele dem Gericht stellen, als wäre er ein Mensch? Orlando wusste keine Antwort auf diese Fragen. Er dachte über Hölle oder Paradies nicht so wie Simon, glaubte nicht an denselben Gott. Und Simons eigene Religion war der Aufgabe nicht gewachsen. Der Priester in seinem Heimatdorf hatte nie von einem Vampir gehört.

Die ersten fahlen Sonnenstrahlen durchdrangen die Bäume entlang des Seeufers, griffen nach den Schatten des Schlosses, wo er stand. Er spürte ein Kribbeln auf der Haut, ähnlich dem Gefühl, das er empfand, wenn er eine Kirche betrat, es war nur fremder, drang tiefer durch seine Haut bis auf die Knochen. Er wollte in einem Moment in Höllenfeuer ausbrechen, jeder verfluchte Teil, der seine Umwandlung bewirkt hatte, sollte sich im gleichen Moment entzünden. Er wartete, verzückt, so still wie die tot vor ihm liegenden Leichname, beobachtete, wie das Sonnenlicht über den Boden kroch, sich seinen Füßen immer weiter näherte.

»Simon!« Orlando stürzte auf ihn zu und warf sich mit seinem ganzen Gewicht gegen ihn, um ihn zur geöffneten Kellertür zu drängen. Sie stürzten gemeinsam durch die Öffnung und fielen rückwärts die Treppe hinunter, während Sonnenlicht über die Mauern strich. Rauch stieg von Simons Kleidung und Stiefeln auf, während der Zauberer die Stufen zur Tür wieder hinaufkletterte, auf Händen und Knien wie ein Käfer, und Simon ein Brennen in sich aufkommen spürte, einen Schmerz wie nichts, was er sich jemals hatte vorstellen können. Ein Schrei bildete sich tief in seinem Geist, für den seine Kehle bei weitem zu schwach gewesen wäre und der jeden Gedanken an Schuld oder Wahrheit oder Erlösung beiseitedrängte. Dann schlug Orlando die Tür zu, und das Brennen hörte auf.

»Seid Ihr verrückt?«, wollte der Zauberer wissen und humpelte, als er die Treppe wieder herunterkam. »Zehn Jahre Kampf und Suchen und nun, wo das Ziel fast greifbar ist, denkt Ihr daran aufzugeben?« Simon machte keinerlei Anstalten, ihm zu antworten. Er hatte keine Antwort, keine Erklärung, die der Zwerg jemals hätte verstehen können. Er setzte sich auf den kalten Erdboden und senkte den Kopf in die Hände.

»Schon gut, Krieger«, sagte Orlando und tätschelte dem Vampir die Schulter, als tröstete er ein Kind im Vorübergehen. »Kommt, Ihr müsst Euch ausruhen. Ihr werdet heute Nacht viel zu tun haben.«

Isabel trat auf den Hof hinaus und gähnte im frühen Morgenlicht. Kevin und Tom kamen von der Schlossmauer herab, als sie sie sahen, und auch Raymonds Cousin und Wat eilten heran. Eine weitere Gruppe Männer kam mit Schaufeln und Hacken aus den Ställen, und Kevin und Tom schlossen sich ihnen an.

»Was tut ihr?«, fragte sie und ging ihnen entgegen.

Kevin blickte überrascht zu ihr hoch. »Wir werden die Leichen bestatten, Mylady. Ich dachte, wir bringen sie in den Obstgarten, an der Rückseite, wo die Bäume abgestorben sind …«

»Nein.« Plötzlich konnte sie nur noch daran denken, was Mutter Bess gesagt hatte. Vieles, was tot ist, kann sich dennoch erheben. Sie hatte am Vorabend erneut mit der alten Frau zu sprechen versucht, aber sie wollte nichts mehr sagen, und Isabel glaubte insgeheim, Brautus habe gewiss Recht damit, dass die Geschichten, die sie erzählte, Unsinn waren. Aber sie war sich nicht sicher. »Wir müssen sie zur Kirche bringen«, sagte sie zu Kevin. »Sie müssen in geweihtem Boden bestattet werden.«

»Die Kirche ist mit dem Pferd eine Stunde von hier entfernt, Mylady«, sagte Kevin. »Niemand hier wird sich so weit vom Schloss fortwagen, nicht solange ein Mörder in den Wäldern umherstreift.« Mehrere der übrigen Männer murmelten zustimmend. »Und schon gar nicht bei Tageslicht.«

»Nicht bei Tageslicht?«, echote sie. »Kevin, das ist lächerlich. Bei Tageslicht ist es sicherer …«

»Nicht ohne Sir Simon, hätte ich sagen sollen«, korrigierte er sich. »Wenn er meint, wir sollten diese Männer heute Nacht zur Kirche bringen, dann würden wahrscheinlich einige mitgehen. Aber nicht jetzt.«

»Nicht auf meinen Befehl, meinst du«, erwiderte sie. Sie akzeptierten anscheinend alle vollkommen fraglos Simons Recht zu bestimmen, obwohl er ein Fremder war und auch sein Verhalten so fremd schien; und ungeachtet der Tatsache, dass sie schon ihr ganzes Leben lang ihre Herrin war und sich die letzten zehn Jahre hinter diesen Mauern verschanzt hatte, um ihnen Sicherheit zu gewähren.

»Das ist es nicht, Mylady«, protestierte einer der anderen Männer. »Wir möchten Euren Wünschen nachkommen, wirklich. Aber …« Er sah sich hilfesuchend zu den anderen um.

»Sir Simon ist ein Ritter«, half Kevin ihm aus. »Er kann uns beschützen. Ihr könnt das nicht.«

»Nein«, sagte sie kalt. »Das kann ich vermutlich nicht.« Sie wirkten zumindest alle unglücklich. »Dann werden wir auf Simon warten.«

Simon erwachte bei Sonnenuntergang und fand den gesamten Haushalt draußen im Schlosshof vor. »Was ist los?«, fragte er Orlando, während er die Treppe herabkam.

»Lady Isabel besteht darauf, den Toten eine angemessene christliche Bestattung bei der Kapelle des Heiligen Joseph zu gewähren«, erklärte der Zauberer. »Sie erwarten, dass Ihr sie dorthin bringt.«

»Das ist ein Scherz«, antwortete Simon. Aber es war wohl die Wahrheit. Der Wagen war eingespannt, und die drei Leichen waren hineingelegt und zugedeckt worden. Eine Anzahl von Männern, die einer Prozession würdig gewesen wäre, wartete bewaffnet und sichtlich unruhig daneben. »Ich werde mit ihr reden.«

»Ich würde einen Moment warten, wenn ich Ihr wäre«, riet Orlando. »Sie ist gerade damit beschäftigt, mit ihrem Hauptmann zu streiten.«

»Brautus, siehst du nicht, dass ich Angst habe?«, sagte Isabel inzwischen. Brautus war herabgekommen, bereit, mit den anderen zu gehen, aber allein der Gedanke daran war mehr, als sie ertragen konnte. »Wenn ich allein bestimmen könnte, würden wir die Leichen in den See werfen, und niemand würde das Schloss verlassen. Aber das wäre falsch. Jemand muss sie zur Kirche bringen. Aber nicht alle, und nicht du. Ich will dich nicht beschützen, indem ich dich hierbehalte. Ich möchte, dass du den Haushalt beschützt.« Er stieß ein angewidertes, kleines Schnauben aus, das in ihr den Wunsch erweckte, ihn zu schlagen, aber stattdessen nahm sie seine Hand. »Ich bin die Herrin von Charmot, und ich brauche dich. Willst du mich im Stich lassen?«

Er hätte nicht schockierter sein können, wenn sie ihn tatsächlich geschlagen hätte. »Niemals«, sagte er, mit angespanntem Kiefer. Er warf einen letzten, düsteren Blick in Simons Richtung, als dieser auf sie zukam, wandte sich dann um und ging zurück ins Schloss.

»Brautus!«, rief sie ihm nach, aber er war fort.

Simon trat neben sie. »Soll ich versuchen, mit ihm zu sprechen?«

»Um Gottes willen, nein«, sagte sie mit einem bitteren Lächeln. »Er würde wahrscheinlich versuchen, dich zu töten.«

»Ich könnte es ihm nicht verübeln.« Ihre Augen weiteten sich, und er lächelte. »Ich würde es an seiner Stelle auch tun. Wie ich hörte, war er lange Zeit der Schwarze Ritter.«

»Ja«, sagte sie und erwiderte sein Lächeln. »Das war er.«

»Also was hat es damit auf sich, dass wir zur Kirche ziehen sollen?«, fragte er.

»Simon, wir müssen es tun«, sagte sie. »Wir haben keine Ahnung, wie diese Männer getötet wurden, wissen von zweien nicht einmal, wer sie waren. Wir schulden ihnen ein christliches Begräbnis.« Er konnte erkennen, dass da noch mehr war. Etwas hatte sie davon überzeugt, dass das Begräbnis in geweihtem Boden ihnen irgendwie Schutz böte, ihr Schloss vor dem Bösen schützen würde, das die Männer getötet hatte. Wie konnte er ihr da widersprechen?

»Gut«, erwiderte er und nickte. »Aber du bleibst hier.«

»Simon …«

»Lady Isabel.« Er berührte ihr Kinn und wandte ihr Gesicht zu sich um. »Ich werde deinen Wünschen entsprechen und dafür sorgen, dass dein Wille ausgeführt wird. Aber ich werde, um dies zu tun, nicht deine Sicherheit aufs Spiel setzen.«

Wenn er sich über sie lustig machen wollte, verbarg er es sehr geschickt.

»In Ordnung«, sagte sie und nickte. »Ich werde hier auf dich warten.«

»Gut.« Er grinste. »Sieh zu, ob du dich wieder mit Brautus versöhnen kannst. Das sollte dich beschäftigen.«

»Oh, Brautus wird sich wieder beruhigen«, versprach sie. »In Wahrheit bist du es, den er nicht mag, nicht ich. Er denkt, ich hätte viel zu viel Rücksicht auf dich genommen, hätte dich weitaus besser behandelt, als du es verdienst.«

»Das hast du auch.« Er klang fast heiter, war wieder ganz der irische Schelm.

»Ja, aber Brautus weiß das nicht«, erwiderte sie und errötete, während sie lächelte. »Wenn er erst erkennt, dass du kein Schurke bist, der nur hinter meinem Schloss her ist, wird er dich bald mögen. Bei allen anderen scheint es so zu sein.«

Er nahm sie in die Arme. »Ich will dein Schloss nicht«, sagte er leise, während er sich herabbeugte, um sie zu küssen. Sie dachte einen kurzen Augenblick daran, dass die anderen zusahen, und was sie wohl denken mochten. Sie war immerhin die Herrin von Charmot. Sie musste ihre Würde bewahren. Aber sobald sie spürte, wie seine Lippen die ihren berührten, waren solche Gedanken vergessen.

»Was ist es dann?«, fragte sie, sprach ebenso leise, als er den Kuss unterbrach. »Was willst du?«

Die Antwort bestand darin, dass er sie fester an sich zog und sie noch leidenschaftlicher küsste, die einzige Antwort, die ihm einfiel. »Lass das Tor verriegeln und die Zugbrücke hochziehen«, befahl er und ließ sie schließlich los. »Wir sollten nicht allzu lange fort sein.«

»Keine Sorge, Liebster«, versprach sie mit verschmitztem Lächeln. »Brautus ist vielleicht zornig auf mich, aber er und ich halten diese Festung nun schon einige Zeit gemeinsam. Ich denke, wir können eine weitere Nacht überstehen.«

Etwas an ihren Worten ließ den Dämon, der er war, erschaudern. »Bleib nur in Sicherheit.« Er küsste sie ein letztes Mal sanft und wandte sich dann seinen wartenden Männern zu, die vorgaben, nicht bemerkt zu haben, was er und seine Lady getan hatten, obwohl es ihnen kläglich misslang. »Komm, Kevin«, sagte er. »Erledigen wir das und kehren nach Hause zurück.«

Isabel sah zu, wie er Malachi bestieg, als wäre er in dessen Sattel geboren worden, und beobachtete, wie die Männer des Schlosses ihres Vaters ihm ohne zu zögern folgten. Ihr könnt ihm helfen, hatte Orlando versprochen. Ihr könnt ihn von diesem Fluch erlösen. Der kleine Zauberer, der sein neues Pony ritt, hielt am Tor an, wandte sich um und winkte ihr zu, und sie lächelte und winkte zurück. Sie würde Simon helfen. Sie wusste auch schon wie.

Dieses Mal schwangen die Tore der Kapelle auf, sobald Simon anklopfte. »Mylord«, sagte Pater Colin und trat hervor, um ihn zu begrüßen. »Kevin hat mich davon benachrichtigt, was geschehen ist.« Er sah Simon einen Moment lang ins Gesicht, und seine Augen umwölkten sich vor Verwirrung, aber kurz darauf klärten sie sich wieder, ohne einen weiteren Hinweis darauf, dass er ihn erkannte. »Bitte, tretet alle ein.«

Drei frische Gräber waren bereits im geweihten Boden des Kirchhofs ausgehoben worden. »Wir können nicht wissen, welche Art Christen diese Fremden gewesen sind«, erklärte der Priester, als die Leichname zur Ruhe gebettet wurden. »Aber alle im Dorf wissen, dass der Sohn des Müllers, Jack, ein gottesfürchtiger Mann war.« Ein älterer Mann und eine Frau, die Jacks Eltern sein mussten, standen neben seinem Grab, die Frau schluchzte in den Armen ihres Mannes. »Ihr einziger Sohn«, erklärte Pater Colin seufzend.

Simon fühlte sich schon vom Zusehen elend, durch die Schuld, die er in sich gären spürte. Diese guten Leute hatten nichts getan, um ihren Schmerz zu verdienen, und doch hatte er ihn ihnen aufgebürdet. Konnte selbst der Kelch so einen hohen Preis wert sein? Auch wenn er existierte und er ihn finden konnte, warum sollte er der Erlösung wert sein, die er bot? Er wandte sich ab, als der Priester mit der Trauermesse begann, und nahm eine herabgefallene Schaufel auf. Der geweihte Boden unter seinen Füßen brannte wie Wüstensand, als er davonschritt, Orlando ging dicht hinter ihm und trug eine vom Wagen mitgebrachte Laterne.

Es schien ein Jahrhundert her zu sein, seit er hier in diesem Garten gestanden hatte, aber tatsächlich waren es erst Wochen. Dies war der Ort, an dem er seine erste Tötung in Charmot vollzogen hatte. Dies war der Ort, an dem der Fluch, den er hierhergebracht hatte, begonnen hatte. Die Ecke, in der er Michel und seine Leute begraben hatte, sah noch genauso aus, wie Isabel sie ihm an dem Abend beschrieben hatte, als sie ihm das Versprechen abgenommen hatte, ihr Schloss zu beschützen. An einer grabförmigen Stelle war der Boden offensichtlich aufgewühlt worden. Als Simon nähertrat, konnte er erkennen, dass das Grab tiefer eingesunken war, so dass es nur noch halb mit Erde gefüllt zu sein schien.

»Da ist es also, Zauberer«, sagte er. »Denkst du immer noch, Isabel hätte es sich eingebildet?«

»Nein«, räumte Orlando ein. »Aber ich weiß noch immer nicht, wie es geschehen ist oder welche Art Wesen sich darin befindet.«

Simon schaute zu den anderen zurück, die noch in die Trauerfeier vertieft waren. »Es gibt nur eine Möglichkeit, das herauszufinden.«

Er erwartete die ganze Zeit, während er grub, dass Michel sich erheben würde, aber der Boden unter seinen Füßen regte sich nicht. Nach ein paar Minuten traf seine Schaufel auf etwas, das ohne Zweifel ein Leichnam war, und verursachte ein hässliches, platschendes, dumpfes Geräusch. »Geh zurück«, befahl Simon, während ein schrecklicher Gestank aus dem Grab drang. Orlando nickte, aber er blieb, wo er war, und hielt das Licht.

Simon legte die Schaufel beiseite, beugte sich in das Grab und machte sich auf einen erbärmlichen Anblick gefasst, während er mit der Hand den letzten Rest Erde fortstrich. Was er dann sah, ließ ihn dennoch entsetzt aufschreien. Im trüben Licht der Laterne starrte sein lange vermisster Förderer, Francis, der Herzog von Lyan, zu ihm hoch.

»Gütiger Himmel«, sagte der Vampir in seiner gälischen Muttersprache rau, einer Sprache, die er seit Jahren nicht mehr gesprochen hatte, die Worte verbrannten seine Zunge, als er rückwärtstaumelte und fast auf den Leichnam fiel. »Liebliche Jungfrau Maria … das kann nicht sein.« Der Herzog war in den verfluchten Bergen begraben worden, dort, wo er gestorben war. Simon hatte das Grab selbst ausgehoben. Und selbst wenn er es nicht getan hätte, war sein Körper seit zehn Jahren ohne Leben. Er hätte schon längst verrottet und zu Staub zerfallen sein müssen. Und doch war hier das Gesicht, das Simon so sehr geliebt hatte, dass er ihm durch die Welt gefolgt war – leblos und fahl, aber unversehrt. Er strich weitere Erde fort und sah, dass der Kopf von den Schultern abgetrennt worden war und über dem Herzen in der Brust eine Wunde klaffte. Er trat zurück und blickte zu Orlando hoch, der noch immer am Rande des Grabes stand. »Wie kann das sein?«

»Kivar«, sagte Orlando. »Es muss Kivar gewesen sein.«

»Warum seid Ihr so schockiert, mein Lieber?«, fragte eine Frauenstimme aus den Schatten. »Ihr habt ihn selbst dorthin gebracht.« Susannah trat unter den Bäumen hervor, im verfluchten Tod noch schöner, als sie im Leben gewesen war, ihr Maigewand war im Mondlicht durchscheinend. »Ihr habt es mir erzählt«, schloss sie mit einem glückseligen, verzückten Lächeln.

»Ich habe es dir erzählt?«, fragte Simon und stieg aus dem Grab.

»Vor zwei Nächten, im Druidenhain«, antwortete sie. »Erinnert Ihr Euch nicht?« Sie trat näher heran. Wahnsinn schimmerte in ihren Augen. Sie war nicht einfach von einem Vampir vereinnahmt, sondern ihr argloser Geist war auch gebrochen worden. »Erinnert Ihr Euch nicht an Euer Versprechen, Mylord?« Sie legte eine Hand an seine Brust, eine obszöne Parodie ihres alten, koketten Lächelns auf den Lippen. »Ihr sagtet mir, dass Ihr mich liebt.«

»Susannah, das habe ich nicht getan«, erwiderte Simon und nahm ihre Hand.

Sie runzelte die Stirn. »Ihr verspracht mir, ich würde die Herrin von Charmot.« Sie schmiegte ihre Wange in seine Hand wie ein Kätzchen, das um eine Liebkosung bittet. »Ich wollte Lady Isabel nicht töten, aber Ihr sagtet, Ihr müsset es tun.«

»Susannah, hör mir zu«, drängte er, eine Hand an seinem Schwert. »Ich habe dich in jener Nacht nicht gesehen. Ich habe dir nie etwas versprochen …«

»Ihr habt mich zu dem gemacht, was ich bin!« Sie lächelte und hob ihre fahlen Arme dem Mondlicht entgegen, als sollte ihre Schönheit bewundert werden. »Ihr sagtet, ich sei jetzt perfekt.« Sie sah ihn mit einem Hunger an, der fast wie Liebe erscheinen konnte. »Ihr sagtet, ich würde niemals sterben.«

»Susannah, das habe ich nicht getan«, erwiderte Simon, sein Herz war vor Mitleid voller Schmerz, während sein Magen vor Abscheu rebellierte.

»Kivar«, wiederholte Orlando. »Er muss seine Gestalt geändert haben, um wie Ihr auszusehen.«

»Ist sie tot?«, fragte Susannah. »Ich muss um sie weinen.«

»Susannah!« Tom lief auf sie zu, und sein jungenhaftes Gesicht strahlte vor Erleichterung. »Du lebst.« Bevor Simon ihn aufhalten konnte, war er schon zu dem weiblichen Vampir gelaufen und hatte sie in seine Arme genommen.

»Seht Ihr?«, sagte sie und lächelte über seine Schulter hinweg, ihre Zähne im Mondlicht reines Weiß. »Tom liebt mich wenigstens noch immer.« Sie neigte den Kopf des Jungen zu einer Seite und bleckte ihre Zähne zum Biss.

»Nein!«, brüllte Simon, seine Entsetzenslähmung war gebrochen. Er hob das Schwert und schlug Susannah den Kopf von den Schultern, ihr Mund schrie im Fall noch immer. Tom stolperte rückwärts, während Simon seine Schwertspitze in die Brust des Vampirs trieb, wobei ihr Körper zuckte und sich wand, während Simon ihn auf dem Boden festheftete, und dann in einem Schauer widerlichen, schwärzlichen Blutes explodierte.

Der Junge starrte ihn entsetzt an. »Ihr habt sie getötet.«

»Nein, Tom.« Er trat einen Schritt auf ihn zu und benutzte seine Vampirmacht, um ihn zu bannen. »Sie war bereits tot.« Ein blutiges Rinnsal vom Biss des weiblichen Vampirs rann den Hals des Jungen hinab, aber er schien nicht schwer verletzt zu sein. »Susannah war nicht hier.«

»Nicht hier«, antwortete Tom, den Blick fest mit Simons verbunden. »Susannah ist tot.«

»Tom!« Kevin lief auf sie zu und erstarrte, als er seinen Sohn sah. »Gütiger Himmel, mein Gott …« Simon, Tom und Orlando waren alle drei mit dem Blut des Vampirs bedeckt. »Was ist geschehen?«

»Eine Dämonin«, antwortete Simon. Ich wollte Lady Isabel nicht töten, hatte Susannah gesagt. Aber du sagtest, du müssest es tun. »Kümmert Euch um ihn und um Orlando.« Kivar, oder wer auch immer Susannah getötet hatte, wollte auch Isabel töten. »Ich muss nach Charmot zurück.«