11

Isabel zündete die Kerzen in ihrem Schlafzimmer an, bewegte sich rasch und zuckte kaum zusammen, als ein Tropfen schmelzender Talg ihren Finger verbrannte. Verglichen mit dem, was sie tun wollte, war dieser kleine Schmerz nichts. Sie nahm die zerrissenen und zerknüllten Pergamente ihres Vaters aus der Truhe am Fuß des Bettes, warf sie zusammen mit der Geldbörse voller Münzen, die Mary ihr gegeben hatte, und dem Silberkreuz, das sie auf dem Kirchhof gefunden hatte, auf den Tisch und durchsuchte dann eine kleinere Truhe auf dem Tisch neben ihrem Bett, bis sie den kleinen Dolch fand, der einst ihrer Mutter gehört hatte, ein einfaches Bauernmesser mit einem Knochengriff und einer so dünnen und scharfen Klinge, das es durch Leder schneiden und kaum eine Spur hinterlassen konnte.

Sie setzte sich an den Tisch, verteilte die zerrissenen Ecken des Kodes ihres Vaters vor sich, die sie bereits von den Pergamentrollen abgerissen hatte, benutzte dann das Messer, um vorsichtig die verbliebenen Ecken abzuschneiden und fügte sie dem Stapel hinzu, während sie sie in Stücke riss. Sie legte den Rest der Schriftrollen auf den Boden, breitete die Stücke in einer Schicht aus und stellte sicher, dass sie sich berührten. Dann nahm sie das Messer hoch.

»Verzeih mir, Papa«, flüsterte sie. Diese Magie war nicht für sie gedacht. Sie hatte kein Recht, sie auszuprobieren. Aber sie hatte keine andere Wahl. Sie biss die Zähne gegen den Schmerz zusammen, schnitt sich in die Handfläche und ließ Blut auf das Pergament tropfen. Die Papierschnipsel auf dem Tisch drehten sich und stürzten in chaotischem Taumel übereinander, wanden sich auf dem Tisch und verlagerten sich, einige zerfielen in noch kleinere Stücke, während sich andere zusammenfügten, bis Isabel schließlich eine einzelne Seite vor sich sah. Gänge wanden sich wie Ringelnattern über den größten Teil der Seite, aber sie konnte in der Mitte eine größere, runde Lücke ausmachen, wo drei der Gänge zusammenliefen – das Arbeitszimmer ihres Vaters. Ein einziger, mit ihrem Blut gezeichneter Buchstabe markierte diese Stelle, und eine scharlachrote Spur führte von dort ins Labyrinth hinein, markierte einen Weg, genau wie sie es vermutet hatte. Sie hatte irgendwie eine Druidenkarte hergestellt.

»Das ist es«, flüsterte sie, zog den Weg mit der Fingerspitze nach und dachte an Simons Fluch, an seinen Glauben, dass der Schlüssel irgendwo in den Katakomben liege. »Das muss es sein.«

Ein eisiger Windstoß fegte durch das geöffnete Fenster, viel zu kalt für den Mai, und die Kerzen auf dem Tisch flackerten und erloschen. Isabel hielt noch immer die Karte fest, erhob sich, wollte die Kerze von ihrem Nachttisch holen, um sie erneut anzuzünden und schrie dann fast laut auf, weil Simon plötzlich hinter ihr stand.

»Um Gottes willen«, sagte sie und presste eine Hand auf ihre Brust. »Du hast mich erschreckt.«

Er lächelte. »Das tut mir leid.«

»Tut es das nicht immer?«, erwiderte sie, aber sie konnte ihm nicht wirklich böse sein. »Wieso bist du schon zurück?«

Er berührte sie, hob eine Locke ihres Haars an und betrachtete sie mit amüsiertem Lächeln, als hätte er deren Farbe noch nie gesehen. »Wo sollte ich sonst sein?« Er sah genauso aus wie immer, das gleiche Engelsgesicht und seine Stimme mit der Spur eines irischen Akzents so tief und weich wie immer. Aber etwas war anders. Eine andere Art Leuchten schimmerte in seinen tiefbraunen Augen.

»Du bist zum Kirchhof gegangen.« Sie wich einen Schritt vor ihm zurück, ihre Haut kribbelte vor unangemessener Angst, die Karte hinter ihrem Rücken umklammerte sie noch immer mit der Faust.

»Oh, ja«, bestätigte er nickend. »Das.« Er berührte ihre Wange, und ein eisiger Schauer lief ihr Rückgrat hinab. Die Berührung seiner Hände fühlte sich immer kühl an, aber nie so. »Das hat nicht lange gedauert.« Er zog mit den Fingerspitzen den Umriss ihres Mundes nach. »Sagte ich nicht, ich käme zurück, sobald ich könnte?«

»Ja.« Sie wich seiner Berührung aus, und ihre Zungenspitze schmeckte seine Haut dabei kaum. Er schmeckt falsch, dachte sie, und ihr Herz schlug schneller. Doch das war Wahnsinn. »Aber ich habe weder dein Pferd noch den Wagen gehört.«

»Du hast wohl nicht hingehört.« Er kam näher und legte eine Hand auf ihren Oberarm, um ihr Einhalt zu gebieten, als sie sich erneut zurückziehen wollte. »Was versteckst du da, Liebes?«

»Nichts«, beharrte sie und wollte ausweichen, aber er küsste sie, ein rauer, grober Kuss, der nichts ähnelte, was er jemals zuvor getan hatte, stieß seine Zunge in ihren Mund, während sich seine Hand fast schmerzhaft um ihren Arm schloss. Sie stieß einen kleinen Protestlaut aus, und seine Arme schlossen sich um sie, drückten sie an ihn, selbst als sie ihre verletzte Hand gegen seine Brust stemmte, um ihn fernzuhalten.

»Hör auf«, befahl sie und entriss ihm ihren Mund. »Simon, lass mich los.« Er schmeckte falsch. Es war kein Wahnsinn oder Einbildung. »Was ist los mit dir?« Sie versuchte sich zu befreien, aber er wollte es nicht zulassen, drängte sie rückwärts gegen den Tisch. »Ich sagte aufhören!« Sie hob eine Hand, um ihn zu schlagen, und er fing ihr Handgelenk ab.

»Was ist das?« Er führte ihre Handfläche an seinen Mund, schmeckte ihr Blut, und sie glaubte einen Moment, sie würde das Bewusstsein verlieren. Der Umriss seines Körpers schien zu schmelzen und vor ihren Augen zu flackern. Dann strich seine Zunge den Schnitt entlang, kalt wie eine Schlange, und sein Umriss flackerte nicht mehr, während Zorn sie blitzartig durchströmte. »Warum hast du dich verletzt?«, fragte er mit einer übertriebenen Zärtlichkeit, die sie keinen Moment glaubte. Dieser Mann war nicht Simon. Er ließ ihre verletzte Hand los, die jetzt geheilt war, wie sie entsetzt und überrascht feststellte, und ergriff diejenige, die noch die Druidenkarte hielt. »O je«, sagte er, als er sie erblickte. Ein böses Lächeln, das dem ihres Liebsten in nichts ähnelte, breitete sich auf seinem Gesicht aus und ließ ihr Blut gefrieren. Sie hörte in der Ferne Hufschläge, Malachi, der die Zugbrücke überquerte, die Rufe der wachhabenden Männer.

»Wer seid Ihr?«, wollte sie wissen und versuchte, sich seinem Griff zu entziehen.

»Bist du nicht ein kluges Mädchen?«, sagte er und lächelte noch immer, ohne auf ihre Abwehr zu achten, während er ihr Handgelenk anhob, um die Karte genauer zu betrachten. »Hast du das ganz allein herausgefunden, oder hat dir der kleine Zauberer geholfen?«

»Ihr seid nicht Simon.« Sie griff mit ihrer freien Hand hinter sich, hoffte, den Dolch zu erreichen, um ihn zu erstechen, oder auch die Geldbörse, damit sie sie ihm ins Gesicht schlagen konnte. Aber stattdessen fanden ihre Finger das Kreuz.

»Nein«, gab er zu, und seine Stimme veränderte sich, klang belegter. »Aber ich werde es sein.«

Er wollte sie erneut küssen, und sie schlug ihn ohne nachzudenken, die Kette des Kreuzes in ihrer Faust verschränkt. Er heulte mit für den Schlag, den sie hatte ausführen können, völlig unangemessener Heftigkeit auf und zuckte zurück. Sie sah den Umriss des Kreuzes in seine Wange eingebrannt und noch immer schwelen. »Miststück«, knurrte er und schlug sie hart auf die Wange, so dass sie gerade in dem Moment zu Boden fiel, als der wahre Simon durch die Tür stürzte.

»Fort von ihr!«, brüllte er, und der Anblick seines Ebenbildes, das seine Liebste schlug, machte ihn gleichzeitig wütend und benommen. Der andere Vampir wandte sich ihm zu und bleckte seine Zähne, und er sah die kreuzförmige Wunde. »Ihr werdet sie nie wieder berühren.« Auch er bleckte seine Zähne, während er voranging und sein Schwert vor sich hielt.

»Meint Ihr nicht?«, fragte der andere Vampir mit rauer Stimme, während seine Gestalt schmolz, die Gestalt Michels formte, der Brandfleck auf seinem dicklippigen Gesicht war noch immer deutlich erkennbar. »Ich werde sie auf eine Weise berühren, die Ihr Euch noch nicht einmal vorgestellt habt.«

Isabel kauerte neben ihrem Bett und umklammerte das Kreuz noch immer mit einer Hand, die Karte zerknüllte sie in der anderen. Der Dämon, der sie geschlagen hatte, hatte sich nun in einen kleineren, gedrungenen Mann mit einem erkennbar französischen Akzent verwandelt – Michel, wie sie entsetzt folgerte. Simon ging auf ihn zu, beschützte sie, aber auch er war ein Dämon, wie sie sah, ein Ungeheuer mit denselben grausamen Zähnen.

»Ich habe Euch bereits ein Mal getötet«, knurrte Simon und ging auf dieses Wesen zu, was auch immer es war. Isabel war in Sicherheit, nur das zählte. »Ich sehe keinen Grund, warum ich es nicht wieder tun kann.«

»Ihr habt mich nicht getötet, geschätzter Sohn«, sagte Michel mit dünnem, bitterem Lächeln, das auf seinem grobschlächtigen Gesicht eines Trinkers völlig fehl am Platz wirkte. »Ihr habt mich befreit.« Seine Züge veränderten sich erneut, sein Körper verkrampfte sich, während er größer und zum Herzog von Lyan wurde. »Warst du froh, mein Gesicht wiederzusehen?«, fragte er im freundlichen Tonfall des Herzogs, aber sein Lächeln war unverkennbar das anzügliche Grinsen, das Simon in seinen Träumen sah. »Ich weiß, wie schmerzlich du mich vermisst hast.«

»Kivar«, sagte Simon abgehackt, das Wort verfing sich in seiner Kehle.

»Du hast es so gut gemacht, mein Simon«, sagte er, für alle Welt Francis, der Herzog von Lyan, der aus dem Grab zurückgekehrt war. »Ich habe jahrhundertelang auf dich gewartet, wohl wissend, dass du kommen würdest.« Er lächelte, wich langsam im Kreis zurück, während Simon voranging. »Aber ich hätte mir niemals träumen lassen, dass du dabei so erfolgreich wärst.« Er wandte seinen Blick Isabel zu, sein Lächeln erneut der anzügliche Blick des Teufels, was auf dem Gesicht des guten Mannes, den Simon geliebt hatte, obszön wirkte. »Sieh dir nur den Schatz an, den du gefunden hast.«

Isabel rappelte sich hoch, trat auf ihren Rock, war aber dennoch entschlossen aufzustehen. »Wer seid Ihr?«, wollte sie wissen. »Was seid Ihr?«

»Erkennst du mich nicht, Liebling?« Das Gesicht des Dämons veränderte sich erneut, sein Körper verformte sich wieder. Plötzlich stand ihr Vater vor ihr, sah genauso aus wie an dem Morgen, bevor er gestorben war. »Du erkennst mich in deinem Blut.«

»Nein«, sagte sie, schüttelte den Kopf und zitterte am ganzen Leib. Sie wollte zu Simon laufen, sich hinter ihm vor diesem Schreckensbild verstecken, aber wie konnte sie das? Er war selbst ein Schreckensbild. Jedes Detail, das sie in seinen Armen jemals wahrgenommen und wieder vergessen hatte, stürmte erneut auf sie ein. Seine Haut war kühl, nicht warm. Er hatte keinen Herzschlag. Aber er war ihr Liebster – selbst jetzt wollte er sie beschützen. Du wirst um ihn trauern, hatte Mutter Bess gesagt. Er trägt selbst ein Zeichen.

»Was hast du geglaubt, das ich all die Jahre in den Katakomben gemacht habe, liebe Tochter?«, fragte der Dämon. »Meine Memoiren schreiben?«

»Er lügt, Isabel«, sagte Simon. »Du weißt, dass er lügt. Du hast gesehen, was er ist.«

»Du hast den Beweis dort in deiner Hand«, beharrte der Dämon. Seine Stimme klang so vertraut und plötzlich so freundlich. Sie wollte ihn anhören, dort stehen und ihm ewig zuhören, ihm geben, worum auch immer er sie bat, wenn es ihn davon abhalten würde, sie wieder zu verlassen.

»Warum hast du mich verlassen?«, fragte sie ihn und machte einen Schritt auf ihn zu. »Warum hast du mir niemals die Wahrheit gesagt?«

»Liebling, er bannt dich. Es ist ein Trick«, beharrte Simon und trat einen Schritt auf sie zu. »Jeder Vampir kann das tun.«

»Vampir«, wiederholte sie, aber das Wort bedeutete nichts. »Papa …«

»Komm zu mir, Bella«, flehte der Dämon in der Gestalt ihres Vaters. »Bring mir die Karte.«

»Ja.« Plötzlich ergab alles einen Sinn, jeder Zweifel, den sie jemals empfunden hatte, war gewichen, und ihre Verwirrung klärte sich wie sanfte Wolken im Wind. »Du hast sie angefertigt.« Sie ging einen weiteren Schritt auf ihn zu. »Sie gehört dir.«

»Nein!«, brüllte Simon, und seine menschliche Stimme wurde zu einem wölfischen Heulen, als er sich verwandelte. Isabel schrie auf, als er auf Kivar zusprang und der uralte Vampir wieder die Gestalt Michels annahm, während die Zähne des Wolfes an seiner Kehle rissen.

Isabel beobachtete, wie die beiden Wesen wie ein einziges durch den Turmraum rollten und Michel sich erneut in den großen, schwarzen Hund verwandelte, den sie gesehen hatte, und sie griff nach Simons herabgefallenem Schwert. Aber wo konnte sie angreifen? Simon erhob sich, die Zähne gebleckt und das Nackenfell gesträubt, und plötzlich war er wieder ein Mensch, ihr Liebster, der in ein Ungeheuer verwandelt gewesen war. Der Hund sprang auf seine Kehle zu, und er packte ihn am Nackenfell und schüttelte das große Tier wie eine Ratte, noch während es mit seinen gebogenen, elfenbeinfarbenen Zähnen an seinen Armen und seiner Brust riss. Der Hund verwandelte sich wieder in einen Menschen, in einen weiteren Fremden, groß und dünn mit Haar von derselben Rotschattierung wie ihres.

»Ihr könnt mich nicht töten, Simon«, sagte Kivar lachend, und Simon schlug ihm ins Gesicht. Er lachte lauter, als er rückwärts gegen den Tisch fiel, und leckte sich das Rinnsal geborgten Blutes von den Lippen.

»Seht her«, antwortete Simon, griff ihn mit aller Kraft an, hob ihn vom Boden hoch und schleuderte ihn rückwärts auf das geöffnete Fenster zu. Kivars Augen weiteten sich, als er spürte, wie er fiel, aber er lachte noch immer, verwandelte sich im Fallen wieder in den Hund und drehte sich mitten in der Luft. Simon eilte vorwärts, stürzte ebenfalls zum Fenster, aber etwas hielt ihn auf – Isabel, die ihn von hinten festhielt.

»Nein«, sagte sie und wich wieder vor ihm zurück. »Tu das nicht.«

Er wandte sich gerade in dem Moment wieder dem Fenster zu, als der Hund zerstört und gebrochen am Fuß des Turms auf den Boden auftraf, aber im Handumdrehen wieder aufstand. Noch immer ein Hund, wandte er sich um und blickte zum Schloss zurück, bevor er in den See tauchte und in der Dunkelheit verschwand.

»Isabel!«, rief Brautus und eilte mit gezogenem Schwert herein. »Was ist los?«

Simon wandte sich wieder um. Seine Liebste beobachtete ihn entsetzt, Tränen strömten ihr Gesicht herab. »Isabel«, sagte er und wollte auf sie zugehen.

»Bleib weg!«, befahl sie und hielt das Kreuz hoch, und er schrak vor Schmerz geblendet zurück. »Berühre mich nicht!«

»Liebling, bitte«, sagte er und weinte eigene blutige Tränen. »Lass es mich dir erklären.«

»Willst du mich auch bannen?«, fragte sie.

»Nein, das schwöre ich.« Er streckte die Hände nach ihr aus, aber das Kreuz hielt ihn in Schach. Sie hatte keine Arglist im Herzen, keine Niedertracht, und er hatte sie betrogen, hatte die Hölle selbst an ihren Zufluchtsort gebracht. »Dieses Wesen war nicht dein Vater …«

»Und was bist du, Liebster?« Sie konnte selbst jetzt nicht umhin, ihn zu lieben. Selbst blutbefleckt, war sein Gesicht wunderschön, das Gesicht ihres Engels. Aber wie konnte sie ihm glauben? »Was willst du?«

»Nur dich«, versprach er und näherte sich ihr, trotz des Schmerzes, wollte sie verzweifelt erreichen. »Ich liebe dich, Isabel.«

»Nein«, sagte sie leise, kaum lauter als ein Flüstern.

»Doch«, versprach er und kam noch näher. »Ich liebe dich.« Er streckte eine Hand aus, um sie zu berühren.

»Nein!«, schrie sie und wich zurück, und Brautus griff an, versenkte sein Schwert in Simons Bauch. Isabels Schreie verhallten zu einem Keuchen, als der Vampir auf die Klinge hinab und dann wieder in Brautus’ Augen blickte. »Nein«, sagte sie leiser, fast ein Flüstern. »Brautus, nein …« Sie machte einen Schritt auf ihn zu, ein Schluchzen stieg in ihrer Kehle auf.

Aber ihr Liebster stürzte nicht. Er begann plötzlich zu lachen, so sehr wie der Dämon, der Vampir, der aus dem Fenster gestürzt war, dass sie zu träumen glaubte. »Simon?«

Simon sank noch immer lachend auf die Knie, und Brautus ließ das Schwert los. »Der Schwarze Ritter«, sagte der Vampir rau, zog die Klinge aus seinem Bauch, und sein erstarrtes Fleisch heilte zischend.

»O Gott«, sagte Isabel leise und umklammerte das Kreuz. »Rette uns, bitte, lieber Gott …«

»Das wird er«, antwortete Simon und ließ das Schwert fallen. »Du bist unschuldig.«

»Und warum bist du es nicht?« Sie trat näher heran, eine Hand ausgestreckt. Sie wollte ihn berühren, ihn trösten, aber sie hatte Angst, nicht nur um sich selbst, sondern auch um Charmot. Er sah zu ihr hoch, die Qual in seinen Augen war wie ein Messer in ihrem Herzen. Aber konnte ein Dämon Kummer empfinden? »Sag es mir, Simon.« Sie streckte das Kreuz vor sich aus, und er zuckte zurück, als schmerzte es ihn, wie es das andere Wesen geschmerzt hatte. »Was bist du?« Sie weinte um ihn, aber sie fürchtete ihn auch.

»Ein Vampir.« Er kauerte auf dem Boden, das Gesicht abgewandt, und sie dachte an den Wolf, zu dem er geworden war. Der Wolf … Mutter Bess hatte gesagt, dass der Wolf nicht sterben könne. Brautus verursachte hinter ihr ein Geräusch, und Simon schaute zu ihm hoch, ein seltsames, beängstigendes Lächeln auf dem Gesicht. »Ich bin ein Vampir.«

»Hinfort!«, sagte Brautus, nahm Isabel das Kreuz ab und hielt es vor sich, ließ Simon zurückzucken. »Beim heiligen Namen des Herrn, hinfort!«

»Nein«, sagte Isabel, aber Brautus hielt sie mit eisernem Griff zurück. »Simon, bitte, sag mir einfach, wie ich dir helfen kann.« Nun würde er ihr gewiss die Wahrheit sagen. Jetzt konnte er gewiss keinen Grund mehr haben zu lügen. Sie war die Herrin von Charmot, sie hatte die Pflicht, ihre Leute zu beschützen. Ihr Engel war ein Ungeheuer, ein Vampir. Aber sie liebte ihn dennoch. Sie wollte selbst jetzt nichts auf der Welt mehr, als ihn zu trösten. Sie konnte sicherlich irgendwie beides erreichen. »Ich möchte dir glauben, Simon. Ich möchte …«

»Nein.« Wenn Simon seinen Tod bewusst hätte herbeiführen können, dann hätte er es in diesem Moment getan. Aber er konnte ebenso wenig sterben, wie er leben konnte. »Es gibt nichts zu glauben.« Lucan Kivar war zurückgekehrt. Das Ungeheuer war direkt zum Turm seiner Liebsten gekommen. Er hatte sie berührt. Simon hatte ihn zu ihr geführt. Er erhob sich mühsam, und Brautus streckte erneut das Kreuz aus, hielt Isabel zurück. Aber er brauchte den Talisman nicht. Simon würde sie nicht anrühren. »Es tut mir leid, meine Liebste.« Er würde sie beschützen, auch wenn sie ihn hasste. Er würde sie vor Lucan Kivar retten. Er liebte sie, und er konnte nicht damit aufhören. Aber er konnte sie verlassen. Er konnte ihr Sicherheit verschaffen.

»Nein!« Isabel drängte wieder zu ihm, aber Brautus hielt sie mit eisernem Griff fest. »Simon, halt!« Aber er war fort.

Er floh aus der Tür und beschleunigte seinen Schritt, als er die Treppe erreichte. »Mylord, was ist geschehen?«, fragte Hannah, als er in der Halle an ihr vorüberlief, und er verfiel in einen Laufschritt. Er war nicht ihr Herr und konnte es niemals sein. Malachi wartete noch im Hof, wo er ihn zurückgelassen hatte, und er schwang sich in den Sattel, gerade als Kevin und die anderen durch die Tore drängten.

»Mylord!«, rief Kevin. »Mylord, wartet!« Simon trieb Malachi zum Galopp an, ließ Hunde und Kies in alle Richtungen springen. Sie gelangten mit einem einzigen, mächtigen Sprung über den Wagen hinweg und ritten wie Donnerhall durch die Tore, sprangen erneut, als die Zugbrücke hochgezogen wurde, und landeten nur knapp auf dem gegenüberliegenden Ufer. Das Pferd bäumte sich einmal auf, als er es wendete, und dann floh der Vampir in die Nacht.

Isabel hörte das Pferd auf der Zugbrücke und hörte auf, sich gegen Brautus zu wehren. Es war zu spät. Sie würde ihn jetzt nicht mehr einholen. »Verdammt seist du«, murmelte sie, als Brautus sie losließ, und sank zu Boden, während tiefe, keuchende Schluchzer sie zu ersticken drohten. Simon hatte gesagt, er liebe sie. Simon war ein Vampir. Sie berührte das Schwert, das er aus seinem Bauch gezogen hatte, die Klinge, die von seinem Blut bedeckt sein sollte. Sie war so sauber, als wäre sie gerade vom Schleifstein angehoben worden, und sie war heiß genug, dass sie sich daran die Fingerspitzen hätte verbrennen können. Ihr Liebster war ein Dämon. »Nein«, sagte sie leise durch ihre Tränen hindurch und sank noch tiefer, bis sie mit dem Gesicht auf dem Teppich lag. »Das kann nicht wahr sein.«

»Oh, nein, tu das nicht«, sagte Brautus. Er beugte sich herab und ergriff ihre Arme, zog sie wieder hoch, ohne besonders sanft vorzugehen. »Dafür haben wir keine Zeit.« Sie sah ihn bestürzt an, während er ihr mit einem Zipfel ihrer Schürze die Augen abwischte, wie er es schon getan hatte, wenn sie als Kind gefallen war und sich das Knie aufgeschrammt hatte. »Du bist die Herrin von Charmot, erinnerst du dich?«, sagte er sanfter, als Kevin hinter ihm eilig das Zimmer betrat.

»Lady Isabel, geht es Euch gut?«, fragte der Stallbursche, blass und aufgeregt.

»Es geht ihr gut«, antwortete Brautus. »Erzählt uns, was auf dem Kirchhof geschehen ist.«

»Sir Simon … etwas hat Tom versucht anzugreifen«, sagte Kevin.

»Sir Simon hat ihn angegriffen?«, fragte Brautus.

»Nein«, erwiderte Kevin stirnrunzelnd. »Sir Simon hat ihn gerettet. Er ist jetzt unten. Aber Sir Simon hat uns verlassen. Er sagte, er habe kommen müssen, um Lady Isabel zu retten.« Isabel keuchte und wankte, und Brautus ergriff ihren Arm.

»Er hat mich gerettet«, sagte Isabel. »Wenn er böse ist, Brautus, warum hat er mich dann gerettet?«

»Still jetzt«, sagte Brautus und festigte seinen Griff. »Kevin, wo ist Mutter Bess?«

»Ich denke, sie schläft in unseren Zimmern«, antwortete Kevin und wirkte mit jedem Moment verwirrter. »Lady Isabel, was ist geschehen? Warum ist Sir Simon aus dem Schloss geflohen? Braucht er Hilfe?«

»Sag Mutter Bess, sie soll in den Sonnenraum kommen«, antwortete Brautus an ihrer Stelle. »Sag ihr, Caitlins Tochter braucht ihre Hilfe.«

»Wovon sprichst du?«, wollte Isabel wissen. Caitlin war der Name ihrer Mutter gewesen, aber sie konnte sich nicht erinnern, dass Brautus ihn jemals zuvor erwähnt hätte. »Sie wollte es mir schon früher erzählen«, erinnerte sie sich. »Aber du wolltest es nicht zulassen.« Der Wolf kann nicht sterben, hatte die alte Frau gesagt. Aber du wirst ihn letztendlich besiegen. Simon hatte sich in einen Wolf verwandelt. Simon war etwas, das man einen Vampir nannte, etwas, wovon Brautus anscheinend gewusst hatte, aber sie nicht. »Du wusstest es!«, sagte sie und sah ihn entsetzt an.

»Verzeiht mir, Mylady, aber schweigt jetzt«, befahl Brautus und schüttelte sie.

Kevin schaute stirnrunzelnd zwischen ihnen hin und her. »Ja, Brautus«, sagte er. »Ich werde sie herbringen.« Er nickte Isabel zu, als er ging.

»Du hast es gewusst«, sagte sie erneut und entzog ihm ihren Arm.

»Nein, Kind, das habe ich nicht«, antwortete er. »Wenn ich es gewusst hätte, hätte er die Zugbrücke niemals überquert. Das kann ich dir versprechen.« Er wirkte plötzlich blass und erschüttert. »Aber komm. Es ist an der Zeit, die alte Hexe erzählen zu lassen.«

Malachi preschte den Waldweg entlang, während Simon tief auf seinem Hals kauerte. Plötzlich stolperte der Hengst, und der Vampir segelte ohne Vorwarnung über seinen Kopf hinweg, wie ein Stein, der von einer Schleuder abgeschossen wird. Er prallte mit voller Wucht gegen einen Baum, bevor er auf den Felsboden krachte, sein Rückgrat gab mit einem entsetzlichen Knacken nach. Malachi stieg über ihm, rang um Halt, das Seil, das ihn zum Stolpern gebracht hatte, war noch um seine Beine geschlungen.

»Ruhig«, sagte Simon und versuchte aufzustehen, aber er hatte keine Kontrolle über seine Glieder. »Ruhig, Junge.« Es gelang ihm, sich aus dem Weg zu rollen, aber dennoch traf einer der Pferdehufe hart sein Bein, zermalmte es unter dem Gewicht des Tieres zu Brei. »Alles ist gut«, sagte er beruhigend, während der Schmerz ihn schwächte. »Alles wird gut.« Er war ein Vampir. Er wäre in ungefähr einer Stunde wieder geheilt, aber wenn Malachi bei dem Versuch, ihm auszuweichen, stürzen sollte, gelänge das nicht.

»So ist es gut«, sagte er leise, als das Pferd innehielt und ihn mit seiner Nase anstieß. »Alles in Ordnung.« Aber seine Arme wollten anscheinend nicht gehorchen, als er sie anheben wollte, und Malachi war noch immer unruhig, offensichtlich noch immer aufgebracht. Plötzlich bäumte er sich erneut auf, trat Simon in die Seite, schlug gegen seine Rippen. Der Vampir schrie unwillkürlich auf, und der Hengst galoppierte davon.

»Mist«, murmelte Simon und borgte sich Isabels schlimmsten Fluch aus, während er sich wieder auf den Rücken rollte.

»Hör auf zu heulen.« Kivar hatte erneut die Gestalt des Briganten angenommen. Michel, mit dessen Verhalten und Stimme. »Es ist nicht so, dass du nicht sterben könntest.« Er zog Simon an einem Arm hoch, so dass er aufschrie, als seine gebrochenen Knochen gegeneinander rieben und sich in seiner Haut drehten, und warf ihn sich dann wie einen frisch geschossenen Hirsch bei der Jagd über die Schulter. »Komm, mein Sohn«, knurrte er und brachte ihn in eine sicherere Position, wobei Simon wieder vor Schmerz aufschrie. »Wir beide müssen reden.«

Isabel wartete im Sonnenraum, der Becher warmen Weins, der sie nach ihrer Tortur wiederbeleben sollte, war unberührt. Brautus saß schweigend am Kamin, und sie forderte ihn auch nicht auf zu sprechen. Sie wollte zuerst Mutter Bess anhören. Sie trat zum Webrahmen, zu dem Wandteppich, den ihre Mutter bis zu dem Tag gewoben hatte, an dem sie gestorben und Isabel geboren worden war. Sie hatte ihn ihr ganzes Leben lang betrachtet und versucht, ein Gespür für die Frau zu bekommen, die ihn angefertigt hatte, die Mutter, die sie nie kennengelernt hatte. Was würde ihre Mutter ihr jetzt raten? Ich liebe ihn, würde Isabel zu ihr sagen. Ich möchte ihn retten. Würde das hübsche Bauernmädchen sie eine Närrin nennen?

Die Tür öffnete sich, und Mutter Bess kam auf Kevins Arm gestützt herein. »Willkommen, Großmutter«, sagte Brautus und erhob sich, um sie zu begrüßen. »Komm und setz dich ans Feuer.«

»Kümmere dich nicht darum, wo ich sitze«, fauchte die alte Frau. »Du und dein Herr habt ein ziemliches Chaos angerichtet, meinst du nicht?« Sie lächelte Isabel zu und tätschelte ihre Wange. »Aber wir werden es bald wieder in Ordnung bringen.«

»Ich weiß nicht, was Ihr meint, Mutter Bess«, erwiderte Isabel. »Ich verstehe nichts davon.«

»Das wirst du schon, mein Kind«, versprach Brautus, während die alte Frau ihn ansah und erneut angewidert schnaubte, bevor sie sich hinsetzte. »Es ist gut, Kevin. Du kannst gehen.« Der Stallbursche schaute unsicher zu Isabel, und sie nickte.

»Ist schon gut.« Er erwiderte ihr Nicken, ging und schloss die Tür hinter sich.

Brautus nahm eine pergamentene Schriftrolle hervor, die denjenigen sehr ähnelte, die Isabel aus dem Arbeitszimmer ihres Vaters mitgenommen hatte. »Gut«, sagte er barsch, sah zunächst Mutter Bess an und dann erst Isabel. »Soll ich anfangen?«

»Du weißt nichts vom Anfang«, erwiderte Mutter Bess verächtlich. »Aber meinetwegen, du kannst es ebenso gut tun.«

»Danke«, murrte er und wandte sich an Isabel. »Ich war bei deinem Vater, als er hierher nach Charmot kam. Wir hatten bereits viele Jahre gemeinsam gekämpft, und ich wusste, dass er diesen Ort zu seinem Heim machen wollte. Aber er erwähnte nie, dass er sich eine Ehefrau nehmen wollte. Er hatte einst in seiner Jugend in Frankreich eine Frau geliebt, aber sie betrog ihn, und er schwor, niemals eine andere zu lieben.«

»Törichter Normanne«, murrte Mutter Bess und heimste mit dieser Bemerkung einen ungeduldigen Blick des Ritters ein.

»Aber eines Tages, unmittelbar nachdem wir das Land für seine Festung gerodet hatten und der Architekt die Mauern skizzierte, schauten wir auf und sahen eine Frau über unsere brandneue Brücke kommen«, fuhr er fort. »Das wunderschönste Wesen, das dein Vater oder irgendeiner von uns jemals gesehen hatte.« Er lächelte ihr liebevoll zu, und sie zwang sich, sein Lächeln zu erwidern. Sie zweifelte nicht daran, dass er sie liebte, dass alles, was er getan hatte, aus Liebe geschehen war, aber sie konnte nur an Simons Gesicht denken, als er sie verließ. Ich hätte ihn aufhalten können, dachte sie. Ich hätte ihn dazu bringen können, es zu erklären. Ich hätte ihn retten können.

»Du warst noch nicht geboren, wie du dich entsinnen wirst«, fuhr Brautus fort. »Dieses Mädchen trat also unmittelbar zu Sir Gabriel, als kennte sie ihn, und sagte: ›Ich werde Euch heiraten.‹ Und er erwiderte ihren Blick kaum einen Moment, bevor er antwortete: ›Ja, das werdet Ihr.‹ Und das war Lady Caitlin.«

»Sie war ein hübsches Ding«, bestätigte Mutter Bess.

Isabel hätte diese Geschichte zu jeder anderen Zeit faszinierend gefunden. Sie hatte sie noch niemals zuvor gehört. Aber sie erkannte nicht, welche Bedeutung sie für ihre gegenwärtige Situation haben konnte. Charmot wurde offensichtlich von allen Seiten von Dämonen belagert, von denen einer ihr gesagt hatte, dass er sie liebte. Und sie, arme Närrin, liebte ihn ebenfalls noch immer. Was kümmerte es sie, wie es kam, dass ihre Eltern geheiratet hatten? »Ich verstehe nicht«, sagte sie. »Was hat meine Mutter mit Simon zu tun?«

»Caitlins Vater war ein Beschützer des Druidenhains«, erklärte Mutter Bess, als sollte ihr das etwas erklären. »Euer Großvater, meine sehr liebe Lady Charmot.« Isabel sah sie verständnislos an. »Gütiger Himmel, hat dieser Normanne ihr nichts erzählt?«, wollte sie von Brautus wissen.

»Sprecht nicht so über meinen Vater«, sagte Isabel, die allmählich Wut aufsteigen spürte. »Er war Euer Herr, wenn Ihr Euch erinnern wollt, von adligem Blut …«

»Das Blut Eurer Mutter war weitaus adliger als seines«, unterbrach die alte Frau sie mit einem leicht abschätzigen kleinen Lachen. »Ihre Blutlinie reichte bis zu den uralten Zeiten zurück, bevor die Druiden in die südlichen Länder Britanniens gelangt waren, als die Normannen noch primitive Schachfiguren Roms waren.« Sie beugte sich vor, um mit ihrer rauen, runzligen Hand Isabels Kinn zu umfassen. »Ihr stammt von Druiden ab, mein Mädchen. Ihr seid ein Kind des Hains.«

»Ja, aber was bedeutet das?«, fragte sie. »Was nützt das mir, oder sonst jemandem?«

Mutter Bess ließ sie mit einem Seufzer los. »Umsonst … dann fahr fort, Brautus.«

»Niemand hatte erwartet, dass deine Mutter ein Kind bekäme, ob von Druidenblut oder nicht«, sagte Brautus. »Aber als es geschah, hatte sie einen Traum, eine Vision, wie sie es nannte. Sie sagte, ihr Kind würde der Verteidiger ihrer uralten Erblinie, das Kind in ihrem Leib würde ihre Rasse rächen und den Wolf bezwingen.«

»Das klingt erschreckend«, sagte Isabel trocken, obwohl ihr vorgebliches Desinteresse mit jedem Moment an Stärke verlor. Simon hatte sich in einen Wolf verwandelt. »Was bedeutet das?«

»Die Geschichten besagen, dass in uralten Zeiten in den ersten Ländern der Druiden eine ihrer Frauen von ihren Göttern entführt wurde und einen Dämon gebar«, erklärte Brautus und reichte ihr die Schriftrolle. Sie entrollte sie, aber die zerbröckelnde Seite war mit demselben fremdartigen Text bedeckt wie alles andere in den Katakomben. Sie konnte kein Wort davon lesen.

»Es ist keine Geschichte, alter Mann«, sagte Mutter Bess mit bitterem Lachen. »Dieser Dämon wuchs zu einem Mann heran, der die Druiden und das Volk seiner Mutter hasste. Er verfluchte sie und benutzte seine unvergängliche Macht, um all diejenigen zu ermorden, die sich ihm entgegenstellten, und die Übrigen zu versklaven. Und seine Lieblingsgestalt war die des Wolfes.«

»Also verwandelte er sich«, sagte Isabel und blickte von der Schriftrolle auf. »Er konnte sich verwandeln.«

»Oh, ja«, bestätigte die alte Frau. »Aber er war nicht allmächtig, wie er glaubte. Es gelang einigen der Priester, ihm zu entkommen und den Süden zu erreichen, und sie brachten ihre Weisheit mit sich, wie auch ihr geweihtes Blut. Sie schrieben auf, woran sie sich bezüglich des Wolfs erinnerten, als Warnung für ihre Nachkommen, denn sie wussten, dass er sie eines Tages finden und all seine Gerissenheit nutzen würde, um sie zu vernichten.«

»Und Ihr glaubt, Simon ist diese Person – dieser Dämonenwolf?«, fragte Isabel und traute ihren Ohren kaum.

»Simon?«, sagte die alte Frau und schaute zu Brautus. »Dieser junge Mann …« Sie blickte wieder zu Isabel. »O Gott, kann das sein?«

»Er ist ein Vampir«, sagte Brautus nickend. »Er hat es selbst gesagt.«

»Was ist los?«, fragte Isabel. »Ihr tut so, als wüsstet ihr …«

»Ich weiß, Kind«, unterbrach er sie. »Ein Vampir ist ein verfluchtes Wesen, das nur in Dunkelheit leben kann und sich vom Blut der Lebenden ernährt.« Er wirkte blasser denn je. »Dein Vater und ich haben im Krieg solche Geschichten gehört, und ich habe genug gesehen, um zu wissen, dass sie stimmen.«

»Der Dämon trank das Blut seiner Opfer, und seine Kinder taten es ihm gleich, Sterbliche, die er mit seinem unsterblichen Blut verdorben hatte«, sagte Mutter Bess. »Keine Waffe konnte ihm etwas anhaben. Er konnte nicht sterben.« Ihre Augen schimmerten im Feuerschein. »Aber er konnte auch nicht leben.«

»Ich habe ihn erstochen, Kind, erinnerst du dich?«, sagte Brautus und nahm Isabels Hand. »Er ist nicht gestorben. Er hat nicht einmal geblutet.«

»Die Druiden schrieben, dass ihre Götter den Wolf nicht vernichten konnten, weil er einer der ihren war«, erklärte Mutter Bess. »Aber sie vertrieben ihn aus ihren Wäldern, trieben ihn übers Meer, und sie verfluchten ihn für alle Zeiten, verdammten ihn dazu, in Dunkelheit zu leben und niemals die Sonne zu sehen.«

Isabel sah sie bestürzt an. »Es gibt nur einen Gott im Himmel«, sagte sie und erhob sich, als hätte sie genug gehört.

»Er konnte nicht wie sterbliche Menschen leben«, fuhr Mutter Bess unerbittlich fort. »Er konnte kein Fleisch schmecken, oder etwas anderes als lebendiges Blut trinken. Er war der Vampir.«

»Dein Vater glaubte dasselbe wie wir, Kind«, sagte Brautus und legte eine Hand auf ihren Arm, drängte sie wieder auf ihren Stuhl zurück. »Er hat deine Mutter sehr geliebt, aber er wollte diese heidnischen Geschichten über Dämonen und Druiden und Götter nicht glauben.«

»Ich auch nicht«, antwortete sie. »Ich will sie auch nicht glauben.« Gott selbst hat mich aus dem Licht verbannt, hatte Simon ihr bei ihrer ersten Begegnung gesagt. Er hatte niemals auch nur einen Krumen Brot gegessen oder in ihrer Gegenwart einen Schluck Wasser getrunken. Er verbrachte die Stunden des Tages unter der Erde vergraben. Er hatte selbst gesagt, er sei ein Vampir. Sie hatte gesehen, wie er sich in einen Wolf verwandelte. Aber er liebte sie, auch das hatte er gesagt. Er war kaum älter als sie selbst. Er konnte nicht ein uraltes, heidnisches Böses sein. Er war schon wochenlang auf Charmot, er konnte ihnen nicht etwas antun wollen. »Ich glaube an Christus, an die Gnade Gottes des Allmächtigen.« Aber was in Jesu Lehren erklärte, wie Simon sich vor ihren eigenen Augen in einen Wolf verwandelt hatte?

»Wir auch, Mylady, und Eure Mutter ebenfalls. Ich schwöre es bei meinem Leben«, sagte Mutter Bess und nahm ihre Hand. »Aber sie glaubte auch an die alten Sitten und dass es Gutes und Böses auf der Welt gab, das Gott gut kannte, aber seine Priester vielleicht nicht.«

»Sie hat nicht mit deinem Vater gestritten, sondern vertraute auf ihre Vision«, sagte Brautus. »Sie war sich sicher, dass dieser Wolf oder Vampir, oder was auch immer er war, nach Charmot kommen würde und das Kind, das sie in ihrem Leib trug, ihn bezwingen sollte. Sie nahm deinem Vater das Versprechen ab, die Weisheit der Druiden in den Katakomben zu beschützen, und sie begann diesen Wandteppich zu weben. Es wurde zu einer Art Scherz zwischen ihnen.« Er entrollte das Gewebe und hielt es ihr entgegen. »Wir hatten stets angenommen, die junge Frau sollte Lady Caitlin selbst sein, und dass der Wolf sich zu dem Sohn in ihrem Leib hinabbeugte. Als du dann als Mädchen geboren wurdest und Lady Caitlin starb …« Er schaute zu Mutter Bess. »Einige Leute glaubten, es besser zu wissen.«

»Glaubten die Wahrheit zu kennen, meinst du, und wir auch«, antwortete die alte Frau. »Caitlin kannte sie. Sie befürchtete nur, ihren starrköpfigen Ehemann mit dem Wissen zu ängstigen, dass seine Tochter einer solchen Aufgabe gegenüberstehen würde. Sie hatte niemals erwartet zu sterben. Sie dachte, sie hätte genug Zeit, ihre Tochter zu lehren, wer sie war, und sie auf das vorzubereiten, zu dem sie würde.«

»Nach ihrem Tod wollte dein Vater nichts mehr von einer Prophezeiung hören, die sein Kind in Gefahr brächte«, sagte Brautus. »Und ich stimmte ihm zu. Ich glaubte, es sei alles ein Haufen Bauernunsinn, wahrscheinlich noch mehr, als er es glaubte.« Er sah Mutter Bess finster an. »Trotz allem, was manch eine dir erzählen würde, hatte er der Weisheit der Druiden gegenüber, als der Christ, der er war, großen Respekt. Er wollte ihnen nur nicht seine Tochter überlassen. Er weigerte sich zu glauben, dass du, sein kostbares Kind, einen Dämon bekämpfen solltest – du warst ein Mädchen, um Gottes willen. Er suchte die Katakomben dein ganzes Leben lang nach irgendeinem Beweis dafür ab, dass eine weibliche Kriegerin Ähnliches bereits in der Vergangenheit versucht hatte, fand aber nichts dergleichen.« Er hielt inne und atmete tief ein. »Was er sonst gefunden haben könnte, weiß ich nicht.«

Isabels Blut war so kalt geworden, dass sie sich taub fühlte. »Willst du mir damit sagen, ich soll Simon umbringen?«, fragte sie, und ihre Stimme klang in ihren eigenen Ohren hohl.

»Ein Ungeheuer niederzumetzeln, ist kein Mord«, sagte Mutter Bess grimmig.

»Dein Vater glaubte, dein Ehemann würde die Prophezeiung erfüllen, wenn sie tatsächlich wahr wäre«, sagte Brautus. »Das war der Grund für seine stete Sorge, dass du einen Mann heiraten solltest, der Charmot beschützen konnte. Das, so glaubte er, wäre dein wahres Schicksal.« Er lächelte mit traurigen Augen. »Ich glaubte es auch. Darum wurde ich der Schwarze Ritter.«

Isabel blickte auf den Wandteppich hinab, auf das kleine rothaarige Mädchen und den Wolf, dessen Kopf in ihrem Schoß lag und der liebevoll zu ihr aufsah. Ich liebe dich, hatte Simon vor ihr kniend gesagt und blutige Tränen geweint. »Nein …« Sie blickte wieder zu ihnen, zu dem Ritter und dem Bauernweib, die beide darauf warteten, dass sie einwilligte, ihren Liebsten ihrem Wunsch gemäß zu töten, um Charmot zu retten. Aber wie konnte sie das tun? Selbst wenn sie die Kraft dazu gehabt hätte, selbst wenn sie gewusst hätte, wie man einen Dämon tötet, der nicht getötet werden konnte, wie könnte sie Simon töten? Du kannst mich nicht töten, hatte der Dämon in der Gestalt ihres Vaters zu ihm gesagt. Der zweite Dämon …

»Es waren zwei«, rief sie plötzlich und erhob sich.

»Zwei was, Kind?«, fragte Brautus stirnrunzelnd.

»Zwei Vampire.« Sie legte den Wandteppich beiseite, um auf die kleine, freie Fläche vor dem Kamin zu treten, da sich der Raum plötzlich zu klein anfühlte. »Der erste Vampir kam und wollte mich verletzen, wollte mir …« Sie griff in ihre Tasche und nahm das zerknüllte Pergament hervor, das sie wohl mit Magie und ihrem Blut – dem Druidenblut ihrer Mutter – geschaffen hatte, »… die Karte wegnehmen«, schloss sie. »Er sah zuerst wie Simon aus, aber er war es nicht. Ich konnte erkennen, dass er es nicht war. Er wollte diese Karte.«

»Welche Karte?«, fragte Brautus.

»Die Karte der Katakomben«, sagte sie und reichte sie ihm. »Frag mich nicht, wie ich daran gekommen bin.«

»Wo ist dieser andere Vampir jetzt?«, fragte Mutter Bess, ungläubig und verwirrt.

»Er ist aus dem Fenster gefallen«, antwortete sie. »Simon kam herein, und sie kämpften. Sie verwandelten sich beide, nicht nur Simon. Das Gesicht des anderen Vampirs veränderte sich ständig.« Sie zitterte bei der Erinnerung, aber sie wollte sich nicht gestatten aufzuhören. »Er hat sich in jemanden verwandelt, den Simon kannte, dann in einen Mann, der wohl Michel war, und dann …« Sie schaute zu Brautus. »Er verwandelte sich in meinen Vater.«

»Gütiger Gott«, murmelte er.

»Er fragte mich erneut nach der Karte, und ich hätte sie ihm fast gegeben – ich hätte es getan, wenn Simon mich nicht aufgehalten hätte. Es war, als hätte ich nicht anders gekonnt.« Sie blickte erneut auf die Karte hinab, erinnerte sich an die Stimme des Ungeheuers, die sanfte Stimme ihres Vaters. Aber ihr Vater hätte sie nie so geküsst. Er hätte sie niemals verletzt. »Simon hat ihn angegriffen. Er beschützte mich. Er verwandelte sich in einen Wolf, und der andere verwandelte sich in einen Hund – einen großen, schwarzen Hund, den ich schon zuvor gesehen habe, Mutter Bess, und für den Tod hielt. Sie kämpften, und Simon stieß ihn aus dem Fenster.« Sie schaute erneut zu Brautus. »Dann kamst du herein.«

»Ja«, sagte Mutter Bess und starrte in die Flammen. »Der Wolf könnte einen Sohn gezeugt haben.«

»Also, wie helfe ich ihm?«, fragte Isabel. »Wenn dieser andere Vampir der Wolf ist, den ich töten soll, wie helfe ich dann Simon?«

»Ihm wobei helfen?«, fragte Brautus mit bitterem Humor.

»Bei seiner Erlösung von dem Fluch«, antwortete sie. »Ihr beide wisst doch so viel über Dämonen und Vampire. Sagt mir, wie ich meine Liebe retten kann.«

»Er kann nicht erlöst werden, kleines Mädchen«, sagte Mutter Bess und tätschelte ihre Hand. »Wenn er ein Kind des Wolfes ist, ist er verdammt.«

»Nein«, erwiderte Isabel und entzog sich ihr. »Das glaube ich nicht.« Sie wandte sich wieder dem Wandteppich zu. »Er kam aus einem Grund hierher.« Sie schaute auf. »Wo ist Orlando?«

»Im Keller eingeschlossen«, antwortete Brautus. »Ich wollte nicht, dass er davonläuft, um seinem Herrn zu helfen.«

»Gut«, antwortete sie, nahm die Karte von Brautus zurück und steckte sie wieder in ihre Tasche. »Ich möchte mit ihm reden.«

»Wartet, Mylady.« Mutter Bess hielt sie mit so eisernem Griff am Handgelenk fest, dass es ihr wehtat. »Ihr seid die Verteidigerin«, sagte sie. »Wenn Ihr den Wolf nicht vernichtet, werden Charmot und alle, die in diesem Wald leben, verloren sein.«

»Ich glaube Euch«, antwortete Isabel. »Aber ich muss wissen, welchen Dämon ich vernichten soll.«