8

Simon sattelte Malachi mehr dem Gefühl nach, als dass er es gesehen hätte, sein Geist war so randvoll, dass er überhaupt kaum etwas sehen konnte. Der Hunger nach Blut machte ihn jetzt wirklich besessen wie einen Dämon, mächtiger als es seit seiner ersten Nacht als Vampir gewesen war. Kein ewiges Nähren an einem Hirsch oder Schaf würde ihn jetzt zufriedenstellen. Er brauchte menschliches Blut.

Malachi scheute, als er aufzusteigen versuchte, spürte zweifellos die Veränderung seines Wesens. »Ist schon gut, mein Freund«, versprach er, stieg in den Sattel und konnte sich nur mühsam oben halten, als das Tier tänzelte und scharrte. »Du weißt doch, dass ich dir nichts tun will.« Der Hengst war noch immer unruhig, aber er versuchte ihn nicht abzuwerfen, selbst als Simon die Zügel locker ließ. Er fiel fast ohne Befehl in den Galopp und donnerte über die Zugbrücke, als wäre der Dämon eher hinter ihm her, als dass er auf seinem Rücken saß. Als sie das Schloss hinter sich gelassen hatten, wandten sie sich dem Wald zu, die Bäume peitschten verschwommen an ihnen vorbei, und Simon entspannte sich etwas. Aber wo konnte er hingehen?

Er dachte an das Bauernfest, von dem Isabel gesprochen hatte, der Tanz in den Mai. Vor nicht allzu langer Zeit wäre eine solche Zusammenkunft für ihn ein Festessen gewesen. Der Vampir hatte sich in einhundert verschiedenen Städten, vom Karneval in Italien bis zu den Erntebräuchen in Frankreich, unter den Feiernden bewegt, der adlige Fremde mit dem Gesicht eines Engels, der sich hier und da mühelos an jedem halbwegs geeigneten Mädchen genährt und sie geschwächt, aber auch freudig erregt zurückgelassen hatte. Manchmal hatte er sogar einen regelrechten Mord begangen. Solcherlei Feste zogen fast immer eines oder zwei ausreichend böse Herzen an, um sein Verlangen sowohl nach Bösem als auch nach Blut zu stillen. Aber hier in Charmot war er kein Fremder. Er war Sir Simon, Beschützer des Schlosses, der gelegentliche Verehrer der Lady. Selbst wenn er Bauerngesinde fände, das nichts von ihm wusste, würde er fast sicher von jemand anderem erblickt, der ihn sehr wohl kannte. Das wollte er nicht riskieren, selbst jetzt nicht. Aber irgendwie musste er sich nähren.

Malachi gelangte aus dem Wald auf die königliche Straße, und Simon führte ihn auf leichteren Untergrund, wobei ihn die plötzliche Geschwindigkeitszunahme sogar bei all seiner Not freudig erregte. Aber als sein Dämonengehör eine halbe Meile voraus Stimmen wahrnahm, verlangsamte er das Pferd auf Schritttempo, lange bevor diejenigen, die da sprachen, ihn entdeckt haben konnten.

»Biegt von der Straße ab«, sagte ein Mann mit starkem, schottischem Akzent gerade, und der Vampir lächelte. Er konnte selbst aus dieser Entfernung die Arglist an demjenigen riechen. Er würde vollkommen genügen. »Wir haben ihn weit genug gebracht.«

Simon ließ sein Pferd im Wald zurück und schlich zu Fuß näher heran, bewegte sich lautlos durch die Wälder auf der anderen Seite der Straße. Drei Pferde standen auf einer Lichtung, aber nur zwei davon waren richtig beschlagen, eines davon gehörte dem Schurken, der gesprochen hatte, das andere einem weiteren Mann, der ein wenig kleiner, aber in seiner dunklen Lederrüstung ganz ähnlich gekleidet war. Ein dritter Mann lag wie ein Sack Getreide über dem Sattel seines Pferdes und war scheinbar tot. Als Simon näher herankam, konnte er jedoch einen dritten Herzschlag hören, der schwächer wurde, aber noch lebendig war.

»Wir sollten nachsehen, ob ein Haus in der Nähe ist«, sagte der zweite Schurke gerade. »Wir wollen schließlich nicht, dass er gefunden wird.«

»Warum nicht?«, erwiderte der erste lachend. »Wer kennt ihn schon in dieser Gegend?« Er durchschnitt einen Riemen, der den dritten Mann auf seinem Pferd hielt, und gab ihm einen üblen Tritt, so dass er zu Boden fiel. »Lebt wohl, Lord Tristan DuMaine«, sagte er und spie ihn obendrein an.

»Ja, Mylord, lebt wohl«, sagte der zweite, der in den Steigbügeln stand und sich spöttisch verbeugte. »Wir werden viel Spaß mit Eurem Schloss haben.«

Simon sprang aus den Schatten und verwandelte sich währenddessen in den großen, schwarzen Wolf. »Verdammt!«, fluchte der erste Schurke, als der Vampir ihn packte, ein derber Fluch, der zu einem Schrei wurde, als sich die Zähne des Wolfs in sein Fleisch versenkten. Simon spürte seinen Körper erwachen, als das Blut seine Kehle hinabströmte, ihn endlich so wärmte, wie Liebe es nicht vermochte. Er fiel mit seiner Beute zu Boden, krümmte sich ekstatisch darüber und brüllte seinen Zorn hinaus, während er sich wieder in die Gestalt eines Menschen zurückverwandelte. Der Schurke erschauderte, war jetzt zu schwach, um schreien zu können, nur noch eine leere Hülle. Sein Pferd bäumte sich auf, und Simon knurrte und bleckte die Zähne. Das Tier schrie auf und floh, zog seinen sterbenden Herrn hinter sich her, dessen einer Fuß sich im Steigbügel verfangen hatte.

Der zweite Schurke hatte seine Armbrust gezogen, und es war ihm gelungen, auf Simon zu zielen, aber als der Vampir aufschaute, erstarrte er, offensichtlich zu entsetzt, um schießen zu können. Simon lächelte und wischte sich mit seinem bloßen Arm das Blut vom Mund. »Was, zum Teufel, seid Ihr?«, stotterte der Schurke, während die Armbrust in seinem Griff zuckte.

»Ihr vermutet es bereits.« Er packte den Schurken beim Gewand, der Mann schoss, und der Pfeil drang mit einem Übelkeit verursachenden, dumpfen Geräusch durch Simons Schulter. »Ich bin der Teufel.« Der Vampir riss den spitzen Metallstab, fast ohne darüber nachzudenken, aus seinem untoten Fleisch, während er seine Beute von ihrem Pferd herabzog, und benutzte ihn, um in dessen muskulöser Kehle eine Fontäne aufzustechen. Er hielt den Mann noch immer an seinem Gewand fest, beugte den Kopf und trank, in einer schlechten Parodie der Umarmung eines Liebenden. Mir, murmelte eine Stimme tief in Simons Geist, die Stimme des Dämons Kivar. Du gehörst mir.

»Nein!«, brüllte der Vampir und warf den sterbenden Mann von sich. Der Kopf des Schurken schlug mit unheilvollem Krachen gegen einen Baum und rollte auf seinen Schultern umher, während er leblos zu Boden sank. »Nein«, wiederholte Simon und sank auf die Knie. »Das bin ich nicht … ich bin fertig damit.« Aber es war immer dasselbe, wenn der Hunger ihn packte. Er hörte stets Kivars Stimme, die ihn an das erinnerte, was er war. Und selbst jetzt war der Dämon noch nicht zufrieden.

Vor ihm lag der sterbende Ritter, den die Schurken hatten zurücklassen wollen. Seine Rüstung war herabgezerrt worden, seine Kleidung darunter war von Blut aus den Wunden in seiner Brust, seinem Bauch und an den Armen durchtränkt und befleckt. Sein Gesicht war ein zerquetschter und blutiger Brei, aber seine Augen waren geöffnet.

Simon beugte sich näher heran, lauschte der verblassenden Melodie des Herzens des gefallenen Kriegers. Was hatte er getan, dass die anderen ihn so verachteten? Der Vampir konnte in ihm nichts Böses spüren, nur Zorn, ein verzweifeltes Verlangen nach Rache, das mächtiger war als sein bevorstehender Tod. Falls er das Ungeheuer erkennen konnte, das sich über ihn beugte, dann zeigte er es nicht. Simon roch keine Angst. Aber er lag im Sterben, nichts konnte ihn jetzt noch retten. Ebenso aus Gnade wie aufgrund seines schwindenden Hungers, schlug Simon unverzüglich zu, versenkte seine Zähne in der Kehle des jungen Mannes.

Der Ritter, Tristan, hatten sie ihn genannt, richtete sich mit überraschender Kraft taumelnd auf, bekämpfte den Tod mit einer Willenskraft, die Simon in seinem Blut schmecken würde, die Kraft der Gerechten und der ungerecht Behandelten. Eine seiner Schultern war offensichtlich zerschmettert, aber er schlug mit dem anderen Arm auf das Ungeheuer ein, das ihm mit dem Zorn eines wahren Kriegers den Garaus machen wollte. Simon versenkte seine Zähne tiefer in ihn, konnte nicht aufhören, zog Blut direkt aus dem Herzen des Mannes, seine Güte schmeckte nach zehn Jahren des Nährens an dem bitteren Zorn des Bösen wie der süßeste Wein.

Dann heulte Simon plötzlich vor Schmerz auf, als der Ritter ihn zurückbiss. Ungeübte menschliche Zähne rissen am bloßen Fleisch seiner Schulter, und eine Macht wie nichts anderes, was er jemals zuvor empfunden hatte, durchströmte ihn, ließ ihn sich schwach fühlen. Zornig verschlang er mit einem einzigen Schluck den letzten Tropfen Leben aus seiner Beute, ließ das lebendige Herz augenblicklich stillstehen. Aber dieser Ritter, dieser Tristan, hing noch immer an ihm, nährte sich noch immer, und seine Zähne wurden länger und scharf. »Nein!«, brüllte Simon und schleuderte ihn von sich, woraufhin der Ritter wie eine Flickenpuppe auf den Boden fiel, seine grünen Augen wie im Tode erstarrt, sein Mund blutverschmiert. Aber seine Quetschungen verblassten bereits.

»Nein«, wiederholte Simon und presste eine Hand auf die Wunde an seiner Schulter, aber sie war bereits verheilt. Er sah im Geiste das Gesicht Kivars, als er Simon zu dem gemacht hatte, was er war, die dünnen, aufgesprungenen Lippen waren von seinen elfenbeinfarbenen Zähnen zurückgezogen. Nun hatte Simon dasselbe getan.

»Nein«, sagte er noch einmal und erhob sich. Er hatte keinen anderen Vampir erschaffen. Das konnte er ganz sicher nicht. Er hatte es in zehn Jahren und bei eintausend Tötungen noch niemals zuvor getan. Als Isabel ihm von dem toten Mädchen erzählte und ihm dieses Kreuz zeigte, hatte er kurz gedacht, dass er es vielleicht getan hätte, aber Orlando war davon überzeugt gewesen, dass es ein Wolf war, und Simon hatte bald erkannt, dass er Recht hatte. Er hatte den Wolf selbst getötet, genauso wie er diesen Mann vor sich getötet hatte. Der Mann war tot. Die Heilung, die Simon zu sehen glaubte, war nur eine Täuschung durch das Mondlicht. Er wollte fortgehen, sich zwischen die Bäume zurückziehen.

Da richtete sich der Ritter auf.

Er sprang mit katzenhafter Anmut hoch und ging dann, als er sah, dass Simon noch immer da war, in eine kauernde Haltung. »Bleibt zurück«, befahl er und griff nach dem Schwert des gefallenen Schurken.

»Halt«, antwortete Simon und verfluchte sich für seine Dummheit. Er hatte kein Schwert. Er hatte sich nicht die Mühe gemacht, eines mitzunehmen. Tatsächlich war er kaum bekleidet. »Ihr versteht nicht, was geschehen ist …«

»Ich lebe«, unterbrach ihn der neu geschaffene Dämon. »Das genügt.« Er war im Stehen fast so groß wie Simon, aber seine Haut war selbst als Vampir ein wenig dunkler, und sein Haar war blond.

»Aber das tut Ihr nicht«, sagte Simon und trat einen Schritt näher.

»Ihr habt sie getötet«, sagte Tristan und betrachtete den toten, am Baum zusammengesunkenen Schurken. »Ihr habt sie beide ohne Waffen getötet. Ich habe es gesehen.« Er hob das Schwert an und betrachtete seinen Arm, als wäre er erstaunt, ihn heil vorzufinden. »Werde ich jetzt auch auf diese Art töten?« Er sprach Englisch mit bedachtsamem Akzent, als wäre es nicht seine Muttersprache – vielleicht war er Franzose, obwohl sein Name, Tristan, irisch oder schottisch klang.

»Das könnt Ihr«, räumte Simon ein. Er musste diesem neuen Bruder irgendwie das Schwert entwenden und ihn töten, sofort, in seinem eigenen Interesse. Dieser Mann war kein dämonischer Mörder.

Tristan lächelte. »Mehr muss ich nicht wissen.« Das Pferd, auf dem er hierhergebracht worden war, wartete noch immer hinter ihm, durch die Verwandlung seines Herrn offensichtlich kaum beunruhigt. Bevor Simon ihn aufhalten konnte, war Tristan schon auf den bloßen Rücken des Pferdes gesprungen und davongaloppiert. Simon jagte ihm ungefähr eine Meile weit nach, verwandelte sich sogar wieder in den Wolf, um schneller laufen zu können, aber es hatte keinen Zweck. Sein neu geschaffener Bruder war fort.

»Na wunderbar«, murmelte er und machte wieder kehrt. »Orlando wird mich umbringen.«

Isabel saß im Fenster ihres Turmzimmers, trug nur Simons Hemd und wartete auf seine Rückkehr. In der Ferne konnte sie den dunstigen, orangefarbenen Schein eines Feuers aus den Bäumen aufsteigen sehen. Sie versuchte sich vorzustellen, wie es sein musste, Susannah, die Maikönigin, zu sein, die inmitten der Menschenmenge tanzte, statt die Lichter von oben zu betrachten; oder wie es gewesen wäre, vor so vielen Jahren ihre Mutter zu sein, die Bauernschönheit, die das Herz eines fremden Adligen errungen hatte. Aber es gelang ihr nicht. Sie hatte keinen Bezugsrahmen. Ihre gesamte Welt bestand aus diesem Schloss – es war ihr Erbe und ihr Gefängnis. Aber heute Abend hatte sie sich, wenn auch nur für einen Moment, daraus befreit. »Ich werde zurückkommen«, hatte Simon versprochen und sie erneut verlassen. »Geh nach oben, und warte auf mich.« Und das hatte sie getan. Aber hatte er sein Versprechen ernst gemeint? Und selbst wenn er zurückkäme, käme er dann ihretwegen?

Sie trat an den Tisch und öffnete die Schriftrollen ihres Vaters. Sie hatte sie Simon schon vor Wochen zeigen wollen, hatte ihm die seltsamen Beschriftungen in den Ecken zeigen wollen, weil sie glaubte, das könnte ihm vielleicht dabei helfen zu finden, was auch immer er in den Katakomben suchte. Aber er hatte ihr das Versprechen abgenommen, ihn in Ruhe zu lassen, und Orlando hatte sie vor irgendeiner großen Gefahr gewarnt, wenn sie es nicht täte, irgendein mysteriöses Übel, das sie und Simon vernichten würde. Also war sie ihm ferngeblieben.

Aber jetzt … waren die Dinge wirklich so anders? Simon hatte mit ihr geschlafen, aber er hatte ihr dennoch nicht gesagt, warum er verflucht zu sein glaubte oder was er auf Charmot zu finden hoffte. Was auch immer es war, es hatte offensichtlich nichts mit ihr zu tun. Warum also sollte sie wollen, dass er es fände? Wenn er es fände, würde er mit fast an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit fortgehen. Wer würde das Schloss dann beschützen? Tränen des Zorns traten in ihre Augen, die Tränen, die sie sich zuvor nicht gestattet hatte, als sie wütend auf ihn war. Als wäre ihr nur Charmot wichtig … Was würde sie tun, wenn er sie verließe?

Sie riss die Ecke einer Schriftrolle ab, eine Blasphemie, denn die Schriftrollen hatten ihrem Vater gehört. Aber ihr Vater war tot. Sie blickte auf die Schrift hinab, versuchte ein letztes Mal, die Worte zu lesen, aber die Bedeutung wollte sich ihr weiterhin nicht erschließen. Diese Weisheit, worin auch immer sie bestand, würde sich ihr niemals offenbaren.

Sie riss die Ecke auf dem Tisch in kleine Stücke und fühlte sich dabei wie ein Unhold. Dann griff sie nach der nächsten Schriftrolle und riss auch deren Ecke ab, und die nächste, und die nächste, riss jede einzelne dabei in Stücke. Wenn dies Simons Geheimnis war, würde er es niemals finden. Er würde niemals fortgehen.

Die Kante einer Seite schnitt ihr in die Hand und ließ sie vor Schmerz zusammenzucken. Sie ließ die Schriftrolle fallen und untersuchte den Schnitt, führte ihre Kerze näher heran. Es war ein kleiner, aber tiefer Schnitt in der Haut zwischen ihrem Daumen und der Handfläche, und Blut tropfte auf die Papierschnipsel vor ihr. »Verdammt«, murrte sie und saugte an dem Schnitt.

Dann erstarrte sie. Die zerrissenen Pergamentstücke bewegten sich, mischten sich wie Spielkarten, und ihre Blutstropfen wanden sich darüber wie winzige, lebende Wesen. Während sie zwischen Faszination und Furcht gefangen hinsah, richteten sich drei der Stücke zu einem groben Dreieck aus, die Ränder verbanden sich, so dass sich eine Einheit bildete.

Fast sicher, dass sie träumte, zerriss sie noch eine Ecke und ließ die Schnipsel auf den Stapel rieseln. Die neuen Teile vermischten sich mit den anderen und verknüpften sich erneut zu einem Ganzen. Aber die Blutstropfen waren fast fort, schrumpften, als würden sie von dem Pergament aufgesogen. Eher neugierig als übergenau, drückte sie einen weiteren Tropfen Blut aus ihrem Schnitt, und das Mischen begann erneut, die Stücke tanzten regelrecht auf dem Tisch, während sie sich wanden und neu formierten, und zwei der größeren Stücke sich zu einem groben Viereck verbanden, das fast die Größe einer der ursprünglichen Ecken hatte.

Sie nahm es hoch und betrachtete es, wobei ihre Kopfhaut zu kribbeln begann. Die Worte waren anscheinend gar keine Worte mehr. Die Buchstaben hatten sich gestreckt und gedreht, während sich das Pergament neu geformt hatte, um zu etwas zu werden, was wie der Teil eines Labyrinths aussah, Tunnel, die sich in alle Richtungen wanden und parallel zurück verliefen. »Die Katakomben«, flüsterte sie in die leere Luft hinein. Ihr Blut war gar nicht aufgesogen worden, wie sie nun sah. Es war noch immer da, ein roter Pfad, der sich durch das gewundene Labyrinth zog. »Papa … das ist eine Karte.«

Plötzlich hörte sie von draußen ein Geräusch, Hufschläge auf der Zugbrücke. Sie lief zum Fenster, umklammerte das Stück Pergament noch immer mit der Faust. Simon und Malachi kehrten zurück. Ihr Herz tat einen Sprung, und sie nahm eilig das Pergament hoch, wollte ihrer Liebe zeigen, was sie gefunden hatte. Was auch immer das für eine Zauberei war, sie musste gewiss mit seiner Suche zu tun haben. Dann hielt sie inne. Was wäre, wenn sie Recht hätte? Was wäre, wenn es eine Karte der Katakomben wäre, die ihn zu seinem Ziel führen würde? Welchen Grund hätte er dann noch, in Charmot zu bleiben?

Sie öffnete mit dem bloßen Fuß die Kiste am Fußende ihres Bettes, legte das magische Pergament hinein und schlug den Deckel zu. Sie würde es ihm zeigen, das versprach sie ihrem Gewissen, aber erst wenn sie wüsste, dass er sie liebte, dass er sie nicht verlassen würde, wenn er seine Belohnung fand. Sie würde ihm alles erzählen. Nur jetzt noch nicht.

Simon ließ Malachi im Stall zurück und ging über den Hof. Es waren nur noch wenige Stunden bis zur Dämmerung, und Isabel würde inzwischen sicher schon schlafen, aber er musste sie dennoch sehen. Er musste sicher sein, dass es ihr gut ging.

Er blieb an der Regentonne stehen und wusch sich das Blut ab, das noch auf seiner Haut verblieben war – seine Kleidung war noch immer schwarz und weitgehend unbefleckt, wie er erleichtert erkannte. Er tauchte seinen Kopf unter Wasser und wusch sich auch den Mund aus. Aber als er sich aufrichtete, spürte er ein Kribbeln im Nacken, als würde er beobachtet.

Ein großer, schwarzer Hund saß unmittelbar innerhalb der Schlosstore und sah den Vampir mit so blauen Augen an, dass sie im Mondlicht zu leuchten schienen. Eine karmesinrote Zunge hing zwischen gebogenen, elfenbeinfarbenen Zähnen aus dem Maul des Wesens, und Heimtücke ging in Wogen von ihm aus, der Gestank des reinen, geradlinigen Bösen.

Simon wünschte sich zum zweiten Mal in dieser Nacht, er hätte ein Schwert, und empfand zum ersten Mal seit zehn Jahren wirkliche Angst. »Fort mit dir!«, befahl er und machte einen Schritt auf den Hund zu. »Verlass dieses Schloss in Frieden.« Er war mit Erzählungen über den Grimm, den schwarzen Hund des Teufels, aufgewachsen, der jenen erschien, die bald sterben mussten, aber er hatte sie nie geglaubt. Natürlich hatte er auch nie an Vampire geglaubt. »Ich sagte, fort mit dir!«

Der Hund erhob sich mit unbewegter Miene. Mit einem letzten Blick über die Schulter trottete er durch die Schlosstore und verschwand in der Nacht.

Isabel glaubte allmählich, Simon wolle überhaupt nicht mehr heraufkommen, so lange war es her, dass sie ihn hatte hereinreiten sehen. Gerade als sie entscheiden wollte, ob sie ihn suchen oder ihn aufgeben und zu Bett gehen sollte, hörte sie ein Klopfen an der Tür. Sie öffnete sie lächelnd kaum einen Spalt.

Er drängte hinein und nahm sie in die Arme. »Ergib dich oder du bist verloren.« Er küsste sie und hob sie vom Boden hoch, und sie lachte, als er das tat, und schlang ihre Arme um seinen Hals. Seine bloße Haut fühlte sich durch das dünne Leinen des Hemdes an ihrer Haut warm an.

»Ich bin verloren«, gab sie zu und liebkoste die nassen Locken in seinem Nacken. »Aber ich werde mich dennoch ergeben.« Sie küsste ihn, zuerst leidenschaftlich, dann leichter, ein Dutzend törichte, kleine Küsse, während er sie umherwirbelte. »Also, wo warst du?«

»Tanzen natürlich.« Wenn er sie so hielt, konnte er fast das Böse vergessen, das er in dieser Nacht gesehen und getan hatte. Er hatte erwartet, sie unruhig vorzufinden, vielleicht sogar bekümmert. Dies hier hätte er niemals erwartet. »Ich habe dir doch gesagt, ich mag Tänze.«

»Das hast du nicht gesagt«, korrigierte sie ihn. »Du sagtest, es gebe in Irland Tänze, und du hast angedeutet, dass du hingegangen seist. Aber du hast niemals gesagt, dass du sie magst.«

»Ich mochte sie sehr.« Der Blumenkranz, den Susannah für Isabel dagelassen hatte, lag noch immer auf dem Tisch, und er wirbelte sie durch den Raum, um ihn ihr auf den Kopf zu setzen. »Wir hatten im Herbst immer einen Erntetanz, und jedes Frühjahr einen Maitanz.«

»Und du hast dort zweifellos mit jedem Mädchen getanzt«, neckte sie, bemüht, den Kranz wieder abzunehmen.

»Nur mit den Hübschesten.« Er hielt inne, um die Rosenknospen mit beiden Händen zu befestigen. »Obwohl ich ehrlich sagen muss, dass es dort keine gab, die so hübsch war wie du.«

»Ja, da bin ich mir sicher«, erwiderte sie sarkastisch, aber dennoch erfreut. »Meine Kleidung macht mich so hübsch.«

»Das gehört sicher dazu.« Er küsste sie erneut und zog sie an sich, bis ihr Körper an seinem dahinschmolz. »Obwohl ich dieses Hemd zu kennen glaube.«

»Wirklich?«, fragte sie kichernd, was nach jemand anderem klang, nach einem weitaus frivoleren Mädchen, als sie es sich jemals zu sein erlaubt hatte. »Ich glaube, es hat zuerst mir gehört.«

»Ja, da könntest du Recht haben.« Er drehte sie erneut im Kreis, ein langsamer, süßer Tanz von Liebenden. »Also willst du dir nur zurückholen, was dir gehört.«

»Genau.« Er nahm ihre Hände und drehte sie bei einer Tanzfigur mit solcher Anmut, dass sie fast die Musik hören konnte. »Erzähl mir mehr über die irischen Tänze.«

»Wie Ihr wünscht, Mylady.« Sie konnte nicht wissen, wie wunderschön sie ihm erschien, dachte er, eine mit Blumen gekrönte Nymphe, die in seinen Armen tanzte. Sein erstarrtes Herz schmerzte schon allein bei ihrem Anblick. »Mein Vater war sowohl der Kastellan als auch der Barde des Herzogs, so dass er stets sang und die Harfe spielte.«

»Dein Vater war ein Musikant?«, fragte sie lachend.

»Ja, das war er.« Er hob sie wieder hoch und brachte sie erneut zum Lachen, als er sie küsste. »Und auch ein Poet.«

»Ein Poet?«, echote sie und berührte seine Wange. »Ehrlich, ich bin beeindruckt, Herr Ritter.« Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, um sein leicht stoppeliges Kinn zu küssen. »Und ist der Sohn deines Vaters auch ein Poet?«

»Ich war es.« Er brach den Tanz ab, um ihr Gesicht zu liebkosen, dachte an die Balladen, die er auf die Schönheit ihrer Augen singen könnte, wenn es ihm nur freistünde. »Ich war vieles, Liebste, früher.« Er küsste sie jetzt ernsthaft, und sie schien zu verstehen und nahm ihn in ihre Arme, während sie ihren Mund dem seinen öffnete. Er drückte sie fester an sich und drehte sie dann erneut in einer Tanzfigur. »Du bist eine gute Tänzerin«, neckte er lächelnd.

»Bin ich das wirklich?« Sie ließ ihre Hände über seine Schultern und seine bloßen, muskulösen Arme hinabgleiten. Wenn man bedachte, dass sie ihn bei ihrer ersten Begegnung für einen Mönch gehalten hatte … »Das ist ein Wunder, denn ich habe noch nie zuvor getanzt.«

»Das kann ich, ehrlich gesagt, kaum glauben.« Seine Hände umfassten ihre Taille, bewunderten ihre sanften Rundungen, und sie kicherte und zuckte kitzelig zurück.

»Ich habe viele Dinge noch nie getan.« Sie legte ihre Hände an seine Brust, seine schiere Kraft war beängstigend und wunderschön zugleich. »Wie du zweifellos schon bemerkt hast.«

»Ich hatte den leisen Verdacht.« Er berührte ihr Kinn, als sie abwärts blickte, wandte ihr Gesicht wieder seinem zu. »Ich sollte dir sagen, dass es mir leidtut.« Ihre Augen weiteten sich, und er lächelte. »Aber es tut mir nicht leid.«

Ihr Stirnrunzeln wich einem Lächeln. »Gott sei Dank.« Er lachte, und sie küsste ihn, ihre Hände glitten dabei erneut über seine Schultern. Er beugte sich herab und schlang die Arme um sie, hob sie hoch. »Mir tut es auch nicht leid.« Sie strich die dunkle Seide seines noch feuchten Haars zurück und drückte ihm einen herzlichen Kuss auf die Wange.

»Liebling …« Er trug sie zu dem hohen Bett, küsste dabei ihren Mund, aber anstatt sie auf die Bettdecke zu legen, wandte er sich um und setzte sich hin, hielt sie auf sich fest. Sie umschloss mit beiden Händen sein wunderschönes Gesicht, konnte ihn endlich erreichen, ihn berühren, wie sie es sich schon so lange ersehnt hatte. Sie küsste seine Stirn, die blasse, weiße Wölbung seiner hohen Wangenknochen, die dunklen Schatten seiner Wimpern, während seine Hände unter ihr Hemd wanderten, ihren Rücken hinab bis dahin, wo er sich rundet. Sie zog sich das Hemd über den Kopf und entfernte dabei die Blumen aus ihrem Haar, dann küsste sie ihn, hielt sein Gesicht an ihres, als er sie auf sich hob, stöhnte in seinen Mund, als er in sie hineinglitt.

Dieses Mal war ihre Liebe sanfter, weniger verzweifelt, eine feine Anspannung, die sich sehr langsam in ihr aufbaute. Sie beugte ihre Stirn auf seine Schulter und benutzte die Kraft ihrer Oberschenkel, um sich über ihm zu wiegen, und er keuchte und hechelte fast, während seine Hände ihren Rücken liebkosten.

Er küsste ihre Kehle, das Pochen ihres Pulses war nach seiner Nähr-Orgie nur noch ein zarter Anreiz für seine Leidenschaft. Ihr Haar fiel wie ein Vorhang ganz um sie herum, und er nahm es mit der Hand auf, atmete seinen Duft ein, während er ihren Kopf zurückzog, wölbte ihre Kehle seinem Mund entgegen. Sie bewegte sich schneller über ihm, und er nahm sie in seine Arme, drückte sie fester auf seinen Schoß, drang mit jedem Stoß tiefer in sie ein, und sie schrie seinen Namen heraus, klagend und süß. »Es ist in Ordnung«, versprach er und küsste sie aufs Ohr. »Ich halte dich … ich werde dich nicht fallen lassen.«

»Nein …« Sie schlang ihre Arme um seinen Rücken und schmiegte sich an ihn, Wogen der Wonne, die sie benommen machten, während er sie erfüllte, sie beide nun eins waren. »Ich vertraue dir.« Sie klammerte sich mit aller Kraft ihrer geschmeidigen Glieder an ihn, als er sich auf sie rollte, sie in die weiche Matratze drückte, ihre Körper noch immer miteinander verbunden. Erst als er härter in sie stieß, ließ sie ihn los, umklammerte mit ihren Händen die Bettdecke, ihre Hüften wölbten sich seinen entgegen. Dieses Mal kam sie langsam zum Höhepunkt, der sie mit solcher Heftigkeit durchfuhr, dass sie erblindete, dass die ganze Welt schwarz wurde. Aber Simon war da, hielt sie noch immer, küsste ihre Wange, und sie fühlte sich selbst in der Leere beschützt und sicher. Ich liebe dich, dachte sie, als sie spürte, wie er in ihr zum Höhepunkt kam, wie ihn sein eigener Schauer überlief, während er in ihre Arme sank. Aber sie wusste selbst in ihrer Unschuld, dass sie die Worte besser nicht laut aussprach. Nichts hatte sich geändert. Er hielt sich noch immer für verflucht. Sie konnte ihn so leicht vertreiben.

Simon küsste ihre Schulter und liebkoste dann ihre Brust, selbst jetzt noch trunken von der Wärme ihres Fleisches. Er stützte sich auf, um sie auf den Mund zu küssen, und zog dann die schwere Tagesdecke über sie. »Komm her.« Er zog sie zu sich heran, ihr Kopf auf seiner Brust, sein Arm um ihre Schultern.

»Das war schön«, sagte sie, und er lächelte, als sie so ungekünstelt gähnte wie ein Kind.

»Ich bin froh, dass du es so empfindest.« Er küsste ihren Handrücken. »Ich fühle mich, als der Schuft, der dich verdorben hat, verpflichtet, dich wenigstens glücklich zu machen.«

»Hör auf«, sagte sie mit einem für sie untypischen Kichern, während sie sich an seine Schulter schmiegte. »Ich bin nicht verdorben, und du bist kein Schuft.«

»Bin ich das nicht, Mylady?« Er streichelte ihr Haar. »Wie würdest du es denn nennen?«

»Egal.« Sie drehte den Kopf, um seine Kehle zu küssen, und fühlte sich sehr schläfrig und behaglich. »Ich sollte dir danken.« Sie verschränkte ihre Finger mit den seinen. »Wie auch immer man es nennt, glaubte ich nicht, dass ich jemals die Chance bekäme, es zu tun.«

»Tanzen«, sagte er und brachte sie damit erneut zum Lachen. »Man nennt es Tanzen.«

»Oh, so geht also Tanzen.« Der leuchtend orangefarbene Ball des Mondes vor ihrem Fenster ging allmählich unter. Der Morgen würde bald da sein. »Das war mir nicht klar.« Sie ließ eine Hand gierig über seinen Arm gleiten, versuchte, nicht an den Moment zu denken, an dem er sie verlassen würde. »Kein Wunder, dass alle so begeistert davon sind.«

»Genau.« Er küsste ihre Stirn. »Was hat Euch zu dem Glauben verleitet, Ihr würdet niemals tanzen, Mylady? Habt Ihr nicht erwartet einmal zu heiraten?«

»Nicht wirklich«, gab sie zu. »Ich konnte es mir nie wirklich vorstellen. Mein Vater hat natürlich stets erwartet, dass ich es tun würde. Er sprach eigentlich unentwegt darüber, über den Mann, der Charmot beschützen würde, wenn er nicht mehr wäre.« Ihre Hand schloss sich halb bewusst um sein Handgelenk. »Aber ich habe es nie geglaubt … Es schien nie wirklich viel mit mir zu tun zu haben. Verstehst du, was ich meine?«

»Ich denke schon«, antwortete er, und betrachtete ihr Gesicht. In Wahrheit hatte er niemals darüber nachgedacht, wie es wäre, eine Frau zu sein, als Habe behandelt zu werden. Aus einer Möglichkeit für sein eigenes Leben wurden hundert, als Francis, der Herzog von Lyan, ihn zum Ritter geschlagen hatte, aber Isabel, die adlig geboren war, hatte immer nur eine Bestimmung vor sich gehabt, an der sie scheitern oder die ihr gelingen konnte. Sein Schicksal war zumindest teilweise ihm selbst überlassen, ob er nun verflucht war oder nicht, aber was hätte sie tun können, um ihren Weg zu ändern?

»Als Papa dann starb … es schien so plötzlich zu geschehen und fühlte sich so falsch an, als hätte sich jemand einfach geirrt. Ich dachte immer, dass ich träumte, dass ich bald aufwachen würde und er da wäre, um sich wieder um mich zu kümmern.« Er umarmte sie fester, und sie lächelte. »Aber ich wachte natürlich nicht auf, und der König schickte einen Fremden, der mein Ehemann werden sollte. Ich hätte es vermutlich zulassen sollen …« Sie brach einen Moment ab, hoffte, er würde widersprechen, aber er schwieg. »Es schien einfach so lächerlich, dass ich jemanden heiraten sollte, den mein Vater nie kennengelernt hatte, dass dieses Schloss irgendeinem Fremden gehören sollte«, fuhr sie stattdessen fort. »Also hat Brautus mir geholfen.«

Er regte sich auf dem Kissen, drückte sie an sich. »Hast du deine Mutter vermisst?«

»Nein«, gab sie mit hohlem Lachen zu. »Ich habe sie nicht gut genug gekannt, um sie zu vermissen. Nur Papa. Sie war wie ein Geist, den er sehen konnte, aber ich nicht, ein totes Bauernmädchen, das das Schloss heimsuchte. Jetzt vermisse ich sie manchmal.« Sie wandte sich ihm zu, legte ihren Kopf auf ihren Arm. »Was ist mit deiner Mutter und deinem Vater? Sind sie noch in Irland?«

»Nein, Liebes«, sagte er und drehte sich auf den Rücken. »Nicht mehr.« Sie strich ihm das Haar aus der Stirn, und er lächelte. »Mein Vater starb, unmittelbar bevor ich mein Zuhause zusammen mit dem Herzog verließ. Er brach sich das Bein, als er ein Pferd zuritt, und es entzündete sich. Das ganze Gut trauerte um ihn.«

Die Erinnerung bereitete ihm noch immer Qualen, das konnte sie erkennen, und sie küsste ihn leicht auf den Mund. »Ich hätte ihn gerne kennengelernt.«

»Oh, ja«, sagte er lächelnd. »Er hätte dich geliebt.« Er streichelte mit der Rückseite seiner Finger ihre Wange. »Die ausgesuchten Verse, die er über deine Schönheit gesungen hätte, hätten dich verlegen gemacht.«

»Glaubst du?«, fragte sie lachend. »Deine Mutter muss eine glückliche Frau gewesen sein.«

»Sie war auch eine Schönheit.« Seine Miene wurde ernst. »Sie starb jedoch, als ich drei Jahre alt war, von einem sächsischen Räuber ermordet, so dass ich sie nicht glücklich nennen würde.«

»Simon, lieber Gott«, sagte sie und streichelte sein Haar. »Wie schrecklich.«

Er versuchte zu lächeln, aber es misslang kläglich. »Es hieß immer, ich hätte es gesehen, aber ich erinnere mich nicht daran. Ich erinnere mich nur, dass ich mich danach fühlte, als sollte ich auch sterben, als ob die Welt alles verloren hätte, was gut in ihr war.« Er hatte hierüber noch nie mit jemandem gesprochen, nicht einmal mit seinem Vater. Aber es erschien ihm natürlich, es ihr jetzt zu erzählen. Sie blickte zu ihm hinab, ihre Augen sanft und warm vor Mitgefühl und sogar im Dunkeln wunderschön. Wie wäre es, im Sonnenlicht zu erwachen und diese wunderschönen Augen zu sehen?

Er zog sie zu sich herab und küsste sie, sanft, aber intensiv. »Du irrst dich, Lieber«, sagte sie weich, als er sie losließ. »Die Welt kann noch immer gut sein.«

Er lächelte ihr zu. »Das merke ich.« Sie legte sich wieder mit dem Kopf auf seine Brust, ihre Arme waren um ihn geschlungen, und gähnte erneut. »Du solltest schlafen«, sagte er ihr und befreite ihr Haar, bevor es sich hoffnungslos verknotete.

»Ich kann nicht«, protestierte sie, noch immer gähnend. »Die anderen werden bald nach Hause kommen, und ich kann nicht zulassen, dass sie uns so finden.« Sie zwang sich, ihn gehen zu lassen. »Außerdem«, fuhr sie fort, »wird Orlando dich vermissen.«

Orlando, dachte er, und erinnerte sich. Orlando war noch immer in den Katakomben eingeschlossen, prophezeite zweifellos Unheil und verfluchte den Namen des Vampirs. Und das Schlimmste war, dass er wahrscheinlich mit beidem Recht hatte. »Oh, das bezweifle ich«, log er lächelnd. »Schlaf ein. Ich werde wach bleiben.«

»Nein«, beharrte sie, nun so schläfrig, dass dieses eine Wort schon fast zu viel für sie war. »Du musst gehen.«

»Das werde ich«, versprach er und küsste ihre bloße Schulter. »Ich werde gehen, bevor jemand zurückkommt.« Sie lächelte, antwortete aber nicht, da sie bereits eingeschlafen war. Er küsste ihre Wange, und sie regte sich kaum, ein leises Schnarchen brachte ihn zum Lächeln. »Ich liebe dich«, flüsterte er und legte sich neben sie. »Ich liebe dich, Isabel.«