Prolog

Simon stand am Rande der Klippe, zitterte im Wind und betrachtete ehrfürchtig die Schönheit des Sonnenuntergangs. Die glühend heiße Wüste, die sie erst gestern durchquert hatten, lag nun scheinbar einhundert Meilen unterhalb der Stelle, an der er stand, ihre Hügel und Täler von der untergehenden Sonne rot angemalt. Hinter ihm erhob sich der Ural, eine Kette grausamer, kalter Berge, die scheinbar unendlich aufstiegen. Nebel wogte um seine Füße, stieg von dem bemoosten Rasen auf und heftete sich an die Felsen, die unmittelbar vor ihm steil abfielen. »Nun, Sascha, das ist es«, sagte er und lächelte über seinen Scherz. »Wir sind ans Ende der Welt gelangt.«

»Nein, Junge, das sind wir nicht«, murrte sein Weggefährte, während er, von der Aussicht offensichtlich unbeeindruckt, sein Gepäck durchforstete. »Die Welt geht ewig weiter.« Er zog eine Flasche hervor und entkorkte sie mit den Zähnen. »Wenn du das Ende findest, fängt das verdammte Ding wieder von vorne an«, schloss er und nahm einen großen Schluck.

»Meinst du?« Sascha war ein Russe, ein erfahrener Söldner, der von Simons Herrn Francis, dem Herzog von Lyan, in Damaskus angeheuert worden war, um seinem englischen Heer bei der neuesten und hoffentlich letzten Suche der Kreuzritter beizustehen. Saschas Akzent war so stark, dass Simon der Einzige im Gefolge des Herzogs war, der sich überhaupt die Mühe machte, ihn zu verstehen. Aber Simon war eben selbst ein Fremder.

»Du bist ganz sicher sehr klug«, sagte er nun zu dem Russen, während die Sonne hinter den weit entfernten Sanddünen verschwand. Er ließ sich auf dem Gras neben ihm nieder, nahm die Flasche und trank. »Dennoch, als ich in Irland Kühe hielt, hätte ich nie gedacht, einmal den Garten eines Kalifen oder eine Wüste zu sehen.«

Bei einem sächsischen Stammesfürsten als irischer Sklave geboren, war der sechsjährige Simon voller Freude Zeuge geworden, wie sein Herr von einem normannischen Ritter des großen Bastardkönigs William niedergemetzelt worden war. Dieser Ritter, Sir Francis, war aufgrund seines Erfolges zum Herzog gemacht und mit dem irischen Landgut belohnt worden und hatte seinerseits Simons Vater, Seamus, zu seinem Kastellan ernannt. Simon selbst war im Alter von zwölf Jahren zum Knappen des Herzogs gemacht worden, und mit sechzehn war er aufgrund seiner Dienste während der Kriege gegen die sächsischen Horden, die noch immer Angriffe auf die irische Küste durchführten, zum Ritter geschlagen worden. Nun, mit sechsundzwanzig Jahren, war er ein Kreuzfahrer im Heiligen Land, denn das war, als was der Herzog ihn sehen wollte. Er war seinem Habitus nach ein Normanne, aber im Herzen noch immer ein Ire. »Ein schwarzer Ire«, nannten die Mädchen ihn daheim aufgrund seiner dunkelbraunen Haare und Augen, doch seine Haut war so blass, dass sie sogar nach drei Jahren in der Wüste noch weiß leuchtete.

»Keiner von uns sollte hier sein«, sagte Sascha. Er zog seinen zerschlissenen Stiefel aus und schüttelte ihn, schüttete die Kiesel heraus. »Dein Herzog ist verrückt.«

»Warum sagst du so etwas?«, fragte Simon grinsend. »Eine gesamte Provinz ohne Blutvergießen für Christus einzunehmen – das nenne ich wahre Weisheit.« Er gab Sascha die Flasche zurück. »Und Francis ist fünfundfünfzig Jahre alt, weißt du. Es ist an der Zeit, dass er sich eine Frau nimmt.« Er schaute zur Bergfestung des Kalifen zurück und bemühte sich, sie als fröhliches Heim zu betrachten, aber das war nicht ganz einfach. Wie sie mit ihren in der Dunkelheit gelb leuchtenden Fenstern an der Bergflanke kauerte, wirkte sie eher wie ein Mausoleum. »Egal ob Heidin oder nicht.«

»Eine heidnische Braut ist keine große Last«, entgegnete Sascha. »Jede Frau ist im Herzen eine Heidin.« Er schaute auch zum Palast zurück, dessen gezackte Türme sich von dem purpurfarbenen Himmel schwarz abhoben. »Aber an diesem Ort ist Übles spürbar, diese Berge – es gibt Geschichten.« Er brach ab, als er Simons Gesicht sah, und lachte. »Du hältst mich für ein altes Weib, nicht wahr, Junge?«

»Ja, das stimmt«, antwortete Simon und erwiderte das Lächeln. »Das habe ich schon immer geglaubt.« Aber Saschas Worte hatten wieder einen Zweifel in ihm geweckt, der schon in ihm schwelte, seit sie Damaskus verlassen hatten. Warum sollte so ein mächtiger Kalif wie Lucan Kivar dem Herzog seine eigene Tochter zur Heirat anbieten, um diesen Fremden zum Erben seines großen Besitzes zu machen, wo er doch in seinen Augen ein Heide war? »Aber erzähl ruhig – was stimmt nicht mit diesen Bergen?«

»Simon!« Alan, einer der anderen Ritter des Herzogs, rief ihm von der Terrasse aus zu. »Komm! Es ist Zeit!«

Die Haupthalle des Kalifenpalasts war atemberaubend schön, ein höhlenartiger Raum, der vor Schätzen zu bersten schien. Eine doppelte Reihe von Säulen, so gewunden, dass sie einander zu umranken schienen, verlief in der Mitte des Raumes. Sie waren golden bemalt und vom Boden bis zur Decke mit kostbaren, in Blütenform arrangierten Edelsteinen verziert, rubinrot und saphirblau mit Blättern aus schimmernden Smaragden. Vor den Fenstern hingen üppige Samtbehänge, die beide Seiten der Halle säumten; die goldfarbenen Fensterläden waren geöffnet, um den kühlen Abendwind hereinzulassen. Zwischen den einzelnen Fenstern waren goldene Wandleuchter mit Fackeln angebracht, deren Licht auf dem Gold und den Edelsteinen tanzte, bis es die Augen blendete. Simon sah Francis auf dem Podium, der sich mit dem Lächeln eines im Traum befangenen Mannes in dieser Pracht umsah, und er wusste, was sein Herr dachte. Um Mitternacht würden all diese Schätze ihm gehören. Aber Simon konnte das Gefühl der Furcht noch immer nicht abschütteln, das Saschas Gemurmel draußen bei ihm ausgelöst hatte. Welches Hochzeitsritual wurde erst nach Einbruch der Dunkelheit durchgeführt?

Alle anderen englischen Ritter lächelten – nach Damaskus und der Wüste musste ihnen diese Halle wirklich wie das Paradies erscheinen. Der gesamte Haushalt des Kalifen war anwesend, Männer in üppigen Gewändern, einige mit Turbanen wie die Männer aus dem Osten, einige barhäuptig und blass wie die Engländer, sowie Frauen, die mit bunt gefärbten Seidenschleiern verhüllt waren, die anmutig und lautlos zwischen ihnen wogten. Die Tische waren mit einem noch unberührten Festessen gedeckt, und Weihrauch schwelte zwischen den Säulen und erfüllte den Raum mit seinem berauschenden Duft. Aber als Simon seinen Platz unter den Engländern einnahm, hätte er schwören können, unter dem Rauch etwas weitaus Übleres zu riechen, einen starken, feuchten Gestank des Verfalls. Er wandte sich Alan zu, um ihn zu fragen, ob er es auch rieche, aber da erklangen vom Podium klingelnde Silberglocken, und die gesamte Menschenmenge wandte sich wie ein Mann um.

Der Kalif kam hinter den Vorhängen hervor, ebenso prachtvoll gekleidet, wie seine Halle geschmückt war. Seine Leute brachen in Applaus aus, und einige der Engländer schlossen sich aus der Laune des Augenblicks an. Ihr Gastgeber war groß und schlank und trug Brokat, der im Fackellicht schimmerte, die Falten über und über mit roten, eigenartigen Symbolen bestickt, die Simon nicht kannte. »Willkommen, Freunde«, sagte er und lächelte der Menge zu. »Ich bin Lucan Kivar.« Er war barhäuptig, hatte hellrotes Haar, das ihm bis über die Schultern reichte, und er trug einen Schnurrbart und einen langen, schmalen Vollbart, der über sein Kinn hinausragte. Seine Augen waren strahlend blau.

»Er sieht nicht sehr arabisch aus, oder?«, murmelte einer der Schildknappen.

»Er ist kein Araber, Dummkopf«, zischte Alan als Antwort. »Die Heiden in diesen Bergen sind ebenso weiß wie du.«

»Seid gegrüßt, Mylord«, sagte der Herzog gerade, während er auf das Podium trat. »Ich bin Francis, Herzog von Lyan.«

»Euer Gnaden.« Der Kalif nickte und verbeugte sich tief. »Ihr ehrt uns durch Eure Anwesenheit und Eure Güte.«

Irgendwo hinter ihnen schlug eine Tür zu, was Simon dazu veranlasste, sich mit einer Hand am Schwert umzuwenden. »Lasst mich los!«, rief eine Frau, eine schwarzhaarige Schönheit in einem blutroten Gewand, die sich im Griff zweier Wächter wand, die sie den Mittelgang hinabzerrten. »Was hat das zu bedeuten?«, fragte sie, als sich die Menge vor ihnen teilte und ihr Blick Simons Blick kaum einen Moment begegnete, während sie vorüberging. »Was hast du getan?«, wollte sie wissen, als sie das Podium erreichten.

»Euer Gnaden, ich präsentiere Euch Eure Braut«, sagte der Kalif mit schmalem, amüsiertem Lächeln.

»Nein«, sagte das Mädchen kopfschüttelnd. »Dem habe ich niemals zugestimmt.« Sie sah sich zu den englischen Rittern um, und Entsetzen erschien in ihren dunkelbraunen Augen. »Ich will nicht. Ich kann nicht.«

»Du wirst«, unterbrach Kivar sie. Er blickte zu einer Nische auf einer Seite, und Simon bemerkte zum ersten Mal, dass dort ein kleiner, in weißen Satin gekleideter Junge stand und das Podium beobachtete. »Du musst, Roxanna.« Ein weiterer Wächter, der hinter dem Jungen stand, legte bei diesen Worten eine Hand schwer auf dessen Schulter.

»Roxanna«, wiederholte der Herzog in übertrieben herzlichem Tonfall, ohne das Kind zu beachten. Er sah das Mädchen auf die gleiche Art an, wie er die Edelsteine angesehen hatte, als könnte er sein großes Glück kaum fassen. »Was für ein wunderschöner Name.« Er streckte eine Hand aus, und sie nahm sie mit einem einzigen Blick zu Kivar, und ihre Wächter ließen sie los. »Ihr braucht keine Angst zu haben«, sagte der Herzog freundlich. »Was auch immer Ihr über Christen oder Engländer denkt, ich verspreche Euch, dass Ihr niemals misshandelt werdet.«

»Ihr seid zu gut, Christ«, sagte sie und schaute zu ihrem Vater, der noch immer sein schmales, kleines Lächeln zeigte. »Ich habe keine Angst.«

Aber ich, dachte Simon mit bitterem Humor, und sein Herz schlug schneller. Das Mädchen fürchtete ihren Vater, nicht den Herzog. Und der kleine Junge war eine Geisel. Aber warum bedrohte Kivar seine eigene Tochter? Er trat näher ans Podium heran, drängte sich an seinen Gefährten vorbei und versuchte, seinen Herrn zu erreichen.

»Euer Brief war ein vollständiges Kapitulationsangebot«, sagte Francis, der Herzog von Lyan, gerade.

»Und so soll es auch sein«, bestätigte der Kalif. »Wie Ihr seht, sind meine Wächter unbewaffnet.« Er schaute zu Simon hinab, während er näher kam, und lächelte. »Anders als die Euren.«

Eine weitere Gestalt trat hinter den Vorhängen hervor – ein weiteres Kind, wie Simon zunächst dachte. Aber obwohl die Gestalt nicht größer war als der Junge in der Nische, war es dennoch ein Mann, mit einem bärtigen Gesicht und sehr muskulösen Armen. Er wirkte älter als Simon, viel älter. Er blieb im Schatten, so als wollte er nicht gesehen werden, aber als Simon seinen Blick auffing, blinzelte er, als teilten sie ein Geheimnis.

»Habt Ihr Euren christlichen Priester mitgebracht, wie ich es gefordert habe?«, fragte Kivar den Herzog.

»Ja, natürlich«, antwortete Francis, der noch immer Roxanna betrachtete. Der runzelige Mönch, den sie in Damaskus gefunden hatten, eilte vorwärts, und seine schwarze Robe flatterte um seine spindeldürren Knöchel. Die Braut wirkte entsetzt. Ihre dunklen Augen wurden noch dunkler und nahmen dann einen rötlichen Ton an, so dass Simon vor elendiger Angst eine Gänsehaut bekam. Sie weinte, wie er sah, aber die Tränen, die ihre Wangen hinabliefen, waren nicht klar, sie waren rot. Ihre Tränen waren aus Blut.

»Sollen wir beginnen?«, fragte der Priester und öffnete sein Gebetbuch.

»Nein!« Simon trat den letzten Schritt vor und packte den Herzog am Arm. »Euer Gnaden, seht sie Euch an – seht Euch ihr Gesicht an!«

Der Herzog wandte sich, offensichtlich verärgert, zu ihm um, aber bevor er sprechen konnte, wurde seine Miene ausdruckslos, seine Augen waren geweitet, aber leer. Blut rann aus seinem Mundwinkel, als er vornüber in Simons Arme stürzte. »Vergebt mir«, sagte Roxanna leise, die den blutigen Dolch noch mit der Faust umklammerte.

»Euer Gnaden!«, rief Simon und sank neben dem leblosen Körper des Herzogs auf die Knie, während in der Halle Chaos ausbrach. »Francis!« Aber der Herzog hörte nichts mehr.

»Dummes Mädchen«, sagte Kivar und schlug Roxanna, während seine Untergebenen hinter ihnen die englischen Ritter angriffen. Simon ließ den Herzog sinken und sprang wieder auf, gerade als ein heidnischer Wächter auf ihn zustürzte. Der Mann schürzte die Lippen, und Simon sah seine grausigen Zähne, lang und gebogen wie die Reißzähne eines Wolfes. Er streckte sich gierig nach Simons Kehle aus und kam immer näher, obwohl der irische Ritter das Schwert in seiner Seite versenkte.

»Der Kopf!«, rief Roxanna. »Ihr müsst ihm den Kopf abschlagen!« Das Wesen legte eine Hand unter Simons Kinn, um seinen Kopf nach hinten zu drücken und seine Kehle offenzulegen, während Simon mit dem Schwert auf ihn einhackte, schwerfällig, aber entschlossen. Schließlich traf die Klinge die Kehle des Ungeheuers, gerade als es sich zurücklehnte, um zuzubeißen, und hieb ihm den Kopf von den Schultern.

»Tötet ihn!«, brüllte der Kalif, während sich Simon wieder aufrichtete, und der Ritter wandte sich rasch um, bereit für einen neuen Angriff. Aber Kivar hatte eine andere Beute im Sinn. Der Wächter, der den kleinen Jungen festhielt, riss das Kind in der grotesken Nachahmung einer Umarmung hoch und bleckte seine Zähne, um sich über die kleine Kehle herzumachen.

»Nein!«, schrie Roxanna, und Simon sah, dass sie Reißzähne wie die anderen hatte und ihre Augen ebenso rot glühten, als sie sich Kivar zuwandte. »Ungeheuer! Du hast es versprochen!«

»Du hast mich betrogen«, antwortete der Kalif, ging auf sie zu und stieg dabei über den gestürzten Herzog hinweg, wobei sich seine gold- und scharlachfarbene Robe kaum kräuselte. »Du hast mir keine andere Wahl gelassen.«

Simon war einen Moment wie gelähmt, ein in einem Albtraum gefangener, machtloser Mensch. Sein Herr, der Mann, der ihn und seinen Vater aus der Sklaverei und in die Ritterschaft erhoben hatte, lag tot und blutend zu seinen Füßen, und seine verschworenen Gefährten wurden um ihn herum abgeschlachtet, ihre Kehlen von rotäugigen Dämonen aus der Hölle herausgerissen. Selbst der Priester lag im Sterben, keuchend, auf den Knien, das Blut strömte ihm durch die Finger, während er die Wunde an seiner Kehle zudrückte. Ein Vampir in Gestalt einer Frau kroch auf ihn zu, die Zähne gebleckt, ihr zerrissener Schleier blutgetränkt. Sie ergriff die Robe des Geistlichen und stieg auf ihn wie eine Katze, leckte das Blut von seiner Haut, während sie ihn festhielt, seine Augen glasig und verzweifelt vor Entsetzen.

»Nein!« Simon hörte das Brüllen aus seiner eigenen Kehle kaum, wusste selbst nicht, was er vorhatte, als er mit erhobenem Schwert auf sie zuging. Er enthauptete das Wesen mit einem einzigen Streich. Die Klinge glitt durch sie hindurch und spaltete auch den Priester. Der Mann Gottes zitterte kaum, sein gebrochener Körper sank zu Boden, er war tot wie der Herzog.

Lucan Kivar lachte, ein schrilles, irres Kichern, das über die Schreie der Sterbenden hinweg bis in alle Winkel der Halle drang. »Habe ich es euch nicht versprochen, meine Kinder?«, rief er aus, die Arme weit ausgebreitet. »Seht, ich beschaffe euch frisches Blut!«

Simon spürte, wie etwas in seinem Kopf zerbrach, ein letzter Rest Vernunft, der von ihm wich. Er erhob sein Schwert wie in Trance, schritt durch das schreckliche Chaos, und obwohl er das Gefühl hatte, sich kaum zu bewegen, schlug er blitzartig zu. Der Wächter, der sich an dem Jungen nährte, schaute auf, sein Mund war blutverschmiert, und Simon durchschnitt ihn wie einen Grashalm. Sein Rumpf stürzte in zwei Teilen zu Boden, dann flog sein Kopf durch einen weiteren tödlichen Streich davon. Simon, der kaum etwas sah, wirbelte herum, versenkte seine Klinge im Bauch eines weiteren Ungeheuers, dieses Mal ein weibliches, als es auf ihn zusprang, die Hände wie Klauen ausgestreckt. Sie schrie, als Simon sie niedermetzelte, und das Blut, das sie gerade erst einem englischen Ritter gestohlen hatte, überströmte sie beide. Sie zog die Lippen zurück, entblößte ihre Fangzähne, und Simon riss sein Breitschwert frei und wehrte sie mit dem Knie ab. Der weibliche Vampir stolperte und umklammerte sich den Bauch, und er führte seine Klinge wie das Schwert eines Henkers abwärts und schlug auch ihr den Kopf ab.

»Er«, sagte Kivar freudig lachend und deutete auf Simon. »Vergesst die anderen. Er ist derjenige, den ich will.«

»Dann kommt und holt mich!«, rief Simon zurück, und seine Stimme klang heiser in seinen Ohren. »Oder muss ich zu Euch kommen?« Er ging auf den Kalifen zu, schnitt sich seinen Weg durch die Übrigen frei, die ihn angriffen, und wurde dabei kaum langsamer. Ein weiblicher Vampir versenkte die Zähne in seinem Handgelenk, und Schmerz schoss seinen Arm hinauf wie ein eiskaltes Feuer.

»Packt ihn, Kinder!«, befahl der Herrscher dieser untoten Ungeheuer noch immer lachend. »Nehmt alles außer seinem Herzen!« Simon schlug der Frau den Kopf ab, die sich an seinem Handgelenk nährte, doch ein weiteres Wesen klammerte sich an sein Bein, zerriss mit den Zähnen seine Lederhose, um an sein Fleisch zu gelangen. Als er hinabblickte, erkannte er den Jungen, den der Wächter getötet hatte, sein Kleinkindermund höhnisch verzogen.

»Gütiger Gott«, sagte Simon atemlos vor Entsetzen und erstarrte bei dem Anblick.

»Nein!« Roxanna schlug das Kind zuerst mit der offenen Hand, und es ließ Simon mit einem beleidigten Aufschrei los. Dann schlug sie mit ihrem Dolch auf seine empfindliche Kehle ein und trennte ihm den Kopf ab. »Hört nicht auf«, befahl sie Simon, ihre eigenen Augen ebenso scharlachrot glühend wie die der Übrigen, aber noch immer strömten Tränen aus Blut ihre Wangen hinab. »Tötet uns alle – durchbohrt das Herz mit Holz oder schlagt den Kopf ab.« Eine der anderen Frauen stürzte schreiend auf sie los, und die beiden rollten, wie kämpfende Katzen, auf dem Boden umher. Simon löste sich aus seiner Starre, er hob erneut sein Schwert und mähte sich durch die Vampire, wie ein Schnitter durch Weizen, während sein eigenes Blut aus einem halben Dutzend klaffender Wunden in seiner Haut strömte.

Ihr Anführer lachte nicht mehr. Seine blassblauen Augen glühten zuerst rot, dann grün, während er seine Zähne entblößte. Sie waren länger als die der Übrigen und tödlicher, eher wie die Zähne einer Giftschlange als die eines warmblütigen Wesens. Simon stieg auf das Podium, warf sein Schwert in die Luft und fing es verkehrt herum wieder auf, seine Hände fest um das Heft geschlossen, die Spitze zeigte abwärts. »Ihr wolltet mich«, presste er durch zusammengebissene Zähne hervor und trieb das Schwert mit all seiner Kraft direkt in das Herz des Vampirs. »Hier bin ich.«

Kivar lächelte, die Zähne elfenbeinweiß schimmernd. »Hier seid Ihr.« Er packte den Ritter bei den Schultern, seine Finger wie Klauen, als sie sich in sein Fleisch bohrten, und als das Schwert tiefer drang, riss er Simon in einer tödlichen Umarmung näher an sich. Simon drehte die Klinge, und Kivar schrie vor Schmerz, aber seine Augen glühten noch immer triumphierend. Als sie gemeinsam stürzten, versenkte er seine Zähne lächelnd tief in Simons Kehle.

Plötzlicher Donner dröhnte in Simons Ohren, und er konnte sich einen Moment lang nicht vorstellen, was es war. Dann erkannte er, dass er seinen eigenen Herzschlag vernahm. Höllenpein überflutete ihn wie nichts, was er je zuvor empfunden hatte, breitete sich so rasch von seiner Kehle aus, dass er sich bald kaum noch spüren konnte. Sein Körper, die Gestalt seiner Glieder oder sein Bewusstsein – das alles bedeutete nichts mehr. Er empfand nur Schmerz, empfand sowohl Feuer als auch Eis. Er zwang sich, das Schwert fester zu umfassen, aber er konnte das Heft nicht mehr zwischen seinen Händen spüren oder es sehen, als er es aus der Brust des Vampirs zog – die ganze Welt war blendendes, blutrotes Licht und Herzklopfen und Schmerz. Erst als er die Klinge anhob, kehrte sein Bewusstsein zurück. Kivar entließ ihn aus dem Biss und hob den Kopf, Simons Blut tropfte aus seinem Mund. »Nein«, stieß er wütend hervor, das Zischen einer Schlange. »Noch nicht.« Er packte mit seiner klauenähnlichen Faust Simons Waffenrock, zog ihn erneut dicht an sich heran und küsste ihn voll auf den Mund.

Abscheu traf den Ritter wie eine Woge, aber eine weitere Empfindung folgte unmittelbar, eine freudige Wärme, die seine Adern durchströmte, wirksamer als der stärkste Wein. All seine Traurigkeit, all sein Zorn, all seine Angst schienen augenblicklich zu schwinden. Er hätte den Herzog nicht erkannt, wenn er ihn gesehen hätte, hätte einem Fremden nicht einmal seinen eigenen Namen nennen können. Starke Arme umschlossen ihn, hoben ihn wie ein Kind hoch, und in diesem Moment ließ er es zu, zu schwach, um sich zu widersetzen. Er spürte, wie das Brennen von seinen Lippen wich, und er stöhnte, sprachlos, während sich seine Sicht allmählich wieder klärte. Dann wurde etwas anderes, Reineres gegen seinen Mund gepresst, Verzückung rann seine Kehle hinab, und er nährte sich eifrig, saugte wie ein Säugling an der Brust seiner Mutter. Visionen stiegen vor seinen Augen auf, ein Dorf in Flammen, und plötzlich kehrte sein Zorn zurück. Zorn ohne Ziel durchströmte ihn pochend, ein überwältigendes Verlangen zu verletzen, zu töten, das Leid lebender Seelen zu fühlen, sie zu verzehren, wie er nun dieses Blut verzehrte.

»Halt, Krieger!« Das Mädchen, Roxanna, umklammerte seine Schultern, zerrte an seinen Kleidern. »Halt! Ihr müsst kämpfen!«

Simon hob das Gesicht von Kivars Kehle, der Zorn durchströmte ihn noch immer und wurde durch die Scham noch verstärkt. Die Kreatur war eine versehrte Hülle, in seinem Gewand dünn wie ein Skelett, seine Brust und Kehle aufgerissen und blutig, sein Gesicht trocken und runzelig wie etwas im Sand Begrabenes, Totes. Aber seine Augen leuchteten wissend, und seine verwüsteten Lippen waren um die Fangzähne zu einem Lächeln verzogen. »Mir«, flüsterte er, wie das Wispern des Windes in den Bäumen. »Du gehörst mir.«

Simon hob sein Schwert erneut und schlug zu. Der totenschädelähnliche Kopf flog rückwärts und drehte sich, während der Körper auf dem Boden zusammenbrach. Roxanna eilte mit einem hölzernen Pfahl voran, der abgebrochene Stiel der Pike irgendeines Engländers, und versenkte ihn in der Brust des dahingeschiedenen Vampirs. Ein heftiger Wind fegte durch die Halle, und die noch verbliebenen Ungeheuer wehklagten und schrien vor Angst und Kummer. »Tötet uns«, bat sie, während sie den Pfahl erneut hinabstieß. »Tötet uns alle.« Übelriechender Dunst stob rund um die versehrten Körper auf, eine widerliche Flüssigkeit ergoss sich von der goldenen Robe über das Podium, und Körper und Kopf lösten sich auf.

Ein weiterer Vampir schrie auf: »Herr!«, und Simon wandte sich um, das Schwert noch immer in seiner Hand. Die Halle war voller Leichen, alle seine Weggefährten waren tot, aber er konnte anscheinend nicht um sie weinen, konnte nichts empfinden. Eine betäubende Kälte breitete sich von seinem Herzen aus, eine Starre, die sich durch seine Glieder stahl, als schliefe er ein. Er hob sein Schwert an, das noch von dem Blut der Kreatur bedeckt war, und seine Lakaien wichen entsetzt zurück, stoben auseinander wie Insekten und brachen durch die Fenster, um zu entfliehen.

»Ihr seid jetzt ihr Herr«, sagte Roxanna, die ausgestreckt hinter ihm auf dem Boden lag. »Ihr seid einer von uns.« Sie sah mit mitleidigem Blick zu ihm hoch, wieder mit den dunkelbraunen Augen einer Frau. Ihr Gesicht war, obwohl blutverschmiert, schön, von langem schwarzem Haar umrahmt – der Herzog hatte sie wunderschön gefunden. Aber Simon empfand nur Abscheu, als er sich an das erinnerte, was sie in Wahrheit war. »Ihr seid ein Vampir«, sagte sie mit traurigem, brüchigem Lächeln.

»Ein Vampir«, wiederholte er. »Und was ist das?«

Ihr Lächeln wurde bitter, als sie sich zu den Kreaturen umsah, die aus der Halle strömten. »Was Ihr getötet habt«, antwortete sie und wandte sich ihm wieder zu. »Was Ihr jetzt vor Euch seht.«

»Nein!« Dieses Mal richtete er sein Schwert auf sie, und der Zwerg, den er vor Kivars Angriff gesehen hatte, trat eilig vor und stellte sich zwischen sie, einen weiteren hölzernen Pfahl vor sich ausgestreckt. »Ihr lügt«, murmelte Simon und ließ das Schwert fallen, plötzlich zu schwach, um es festzuhalten. Der Zwerg beugte sich über das Mädchen auf dem Boden, tröstete es mit Worten, die der Ritter nicht verstand, und streichelte ihm übers Haar. Simon wandte sich um und entfernte sich von ihnen, an den zerstörten Leichnamen vorbei, die zu ihm hochstarrten, ihre Gesichter noch immer in Entsetzen erstarrt.

In den Gärten sah es ebenso furchtbar aus wie in der Halle. Jedes lebende Wesen war niedergemetzelt worden, Soldaten, Pferde, sogar die Ziegen, die der Koch der Milch wegen gehalten hatte. Alle lagen blutleer auf dem Gras, und die Augen starrten auf den Mond, ohne ihn zu sehen. Simon sank auf die Knie, und trockenes Schluchzen erschütterte ihn. Er wollte sich übergeben, seine Eingeweide wanden sich wie ein Nest voller Vipern, aber sein Körper wollte nicht gehorchen. Er blickte auf die Wunde an seinem Arm hinab, auf die Stelle, an der der weibliche Vampir ihn gebissen hatte, auf die Stelle an seinem Arm, wo eine Wunde hätte sein sollen. Sein Ärmel war zerrissen, die Ränder waren blutig, aber die Haut darunter war makellos – keine zerrissene Haut, keine Quetschung waren von dem Schlag geblieben. Die Haut war nicht einmal mehr wund. Er erkannte benommen und entsetzt, dass das auch für seine übrigen Wunden galt, sogar für die an seiner Kehle – er presste eine Hand auf die Stelle, an der Kivar ihn gebissen hatte, und fand sie unversehrt vor.

»Junge! Simon!« Sascha kam taumelnd auf ihn zu, humpelte wegen einer tiefen, blutenden Wunde an seinem Oberschenkel. »Gott sei Dank, dass du lebst.« Simon rappelte sich wieder hoch, und der Russe umarmte ihn wie einen lange verlorenen Bruder. »Komm.« Er stützte sich schwer auf Simon und führte ihn auf das hohe Steintor des Gartens zu. »Wir müssen jetzt hier verschwinden.«

»Ja.« Simon hörte erneut Donnergrollen, wie schon zu dem Zeitpunkt, als Kivar ihn gebissen hatte, das ohrenbetäubende Trommeln eines Herzschlags. »Wir müssen nach Hause.« Er bemühte sich, an Irland zu denken, an die grünen Felder und den salzigen Wind vom Meer. Aber der donnernde Herzschlag füllte sein Bewusstsein aus, dieses Mal nicht sein eigener, sondern Saschas Herzschlag, und ein entsetzlicher Durst brannte in ihm, ein Hunger, der jeden seiner Gedanken vereinnahmte. »Ich möchte nach Hause gehen.«

»Ich weiß, Junge«, sagte Sascha, tätschelte seine Wange und lächelte, obwohl sein Gesicht schweißnass war, als hätte er Schmerzen. »Das wirst du.« Er hielt inne und stützte sich vor Anstrengung keuchend auf das Tor, und Simon konnte ihn riechen, seinen Schweiß und seine Angst, so köstlich und einladend wie der Duft eines Hirschbratens nach einem langen Tag des Fastens. »Gib mir nur noch einen Moment Zeit.«

»Schon gut«, antwortete Simon, und seine Stimme klang in seinen eigenen Ohren hohl. »Es geht mir gut.« Der Hunger war wie ein Schwert, das seinen Leib durchbohrte – er hatte noch nie in seinem Leben einen solchen Hunger verspürt. »Ich kann dich tragen.«

»Nein«, sagte Sascha und winkte ab – oder zumindest glaubte er, dass Sascha das gesagt hätte. Es wurde schwierig, über den pochenden Rhythmus hinweg etwas zu hören. Er fühlte sich benommen und trunken, aber auch von einer seltsamen, anregenden Kraft durchströmt. Tatsächlich hätte er Bäume ausreißen können, so stark fühlte er sich.

»Du bist nicht verletzt?« Der Russe sah ihn verwundert an. »Wie kann das sein?« Der liebe Sascha, sein Freund … er musste ihn retten. Er legte eine Hand um Saschas Arm, um ihn zu stützen. Er war sein einziger Freund, der einzige andere Überlebende ihrer Gruppe. Er musste ihn retten.

»Ich habe sie getötet«, belehrte er Sascha. Er konnte die lebendige Haut seines Freundes durch die dicke Lederjacke spüren, die Hitze seines lebendigen Blutes, und er wollte es, wollte sich an ihm nähren, wie er die anderen in der Halle sich von seinen Freunden hatte nähren sehen. Er wollte das Blut verzweifelt schmecken, das pochende Herz in Besitz nehmen. Aber er würde es nicht tun, er würde nicht dieses Ungeheuer, dieser Vampir werden. Er legte sich den Arm des Russen über die Schultern und eilte auf den Wald zu. »Ich habe Lucan Kivar getötet.« Und Lucan Kivar hat mich getötet, dachte er, als der Schmerz in seinem Bauch stärker wühlte, wie geschmolzenes Blei brannte. In der Ferne heulte ein Wolf, ein böser, spottender Laut, der durch das Dröhnen von Saschas Blut hindurchdrang, durch das Hämmern des noch immer schlagenden Herzens. »Diese Berge«, flüsterte Simon und blickte auf, spürte die Zähne sich an seiner Zunge schärfen. Er wollte dem widerstehen, wollte sein, was er immer gewesen war, aber das Blut wollte nicht schweigen, der Hunger wollte ihn nicht loslassen. Vampir … er war ein Vampir. »Sascha … du hattest Recht …«

Er schleuderte seinen Freund mit tödlicher Macht gegen das Tor – er hörte Knochen an seinem Rücken und den Schultern brechen, den harten Schlag des Schädels gegen die Steine. Einen klaren Moment lang sah er Saschas Gesicht, sah Traurigkeit in dessen Augen, und sein Herz schrie vor Entsetzen auf. Aber der Dämonenhunger ließ sich nicht leugnen. Wie die Bestie knurrend, zu der er geworden war, versenkte er seine Zähne in der Kehle des Russen, seine Vampirzähne zerrissen die Adern, um das heiße, süße Blut zu erreichen. Seine Gedanken wirbelten umher, elend vor Scham, aber plötzlich befand sich sein Körper wieder in Verzückung, dieselbe wahnsinnige Freude, die er zuvor empfunden hatte, aber irgendwie stärker, wohliger und realer. Er hörte erst auf, als der Herzschlag verebbte, als Sascha in seinen Armen erschlaffte wie ein Lumpen. Er zog sich entsetzt zurück, sah Saschas Kopf auf den Schultern wanken, die Augen tot und ebenso starr wie die der anderen.

»Das erste Mal ist es immer am schlimmsten.« Der Zwerg stand beobachtend in den Schatten. »Der Drang nach Blut wird niemals wieder so stark sein. Zumindest hat man mir das gesagt.«

Simon sah ihn einen Moment lang an, und das Gefühl, dass dies alles ein Traum sein müsse, ergriff ihn erneut. Dann blickte er auf Sascha hinab, und die Wahrheit ließ ihn so heftig erzittern, dass er glaubte, er würde zusammenbrechen. »Was bin ich?«, fragte er, während er den Körper sinken ließ. »Und wer seid Ihr?«

»Mylady hat es Euch gesagt, Ihr seid ein Vampir«, erklärte der Zwerg und trat näher. Er bedeckte Saschas Gesicht mit seinem Umhang, eine freundliche, anmutige Geste. »Und ich bin Orlando.«

»Orlando«, wiederholte Simon. »Und wer ist das?«

»Myladys Diener.« Er reichte Simon ein Tuch, während er auf sein eigenes Gesicht deutete, Simon nahm es entgegen und wischte sich das Blut vom Mund, als wäre es das Natürlichste von der Welt. »Ihr Vater war hier Kalif, aber Lucan Kivar hat ihn vor langer Zeit getötet.«

»Und das Kind?«

»Ihr jüngerer Bruder.« Er griff in seine Tasche und holte eine Flasche hervor, deren Glas im Mondlicht rubinrot leuchtete. »Kivar versprach, ihn zum Mann heranwachsen zu lassen, wenn sie sich seinem Willen fügte«, erklärte er und betrachtete die Flasche. »Aber sie hat ihn betrogen.«

Simon erinnerte sich an den Ausdruck auf ihrem Gesicht, als Francis tot zu ihren Füßen fiel, den Dolch, der ihn getötet hatte, umklammerte sie mit ihrer Faust. »Sie hat meinen Herren getötet …«

»Aus Gnade«, sagte Orlando, ihn unterbrechend. »Wäre es Euch lieber, wenn Euer Herr wie Ihr wäre?« Simon wandte den Blick ab, konnte nicht antworten. »Kommt, Krieger.« Der Zwerg streckte die Hand aus und berührte ihn am Arm, wobei sein Kopf kaum bis zu Simons Ellbogen reichte. »Bis morgen früh gibt es viel zu besprechen.« Aus der Richtung des Palastes erklang Lärm, und Orlando lächelte und steckte die Flasche wieder in seine Tasche. »Mylady erwartet uns.«

Das Mädchen hieb die Läden in der Halle mit einer Axt herunter, die eigentlich viel zu schwer war, als dass sie sie hätte anheben können, geschweige denn, sie mit solcher Kraft zu handhaben. »Orlando, verschließ die Katakomben«, sagte sie, als sie hereinkamen. »Die meisten der Übrigen werden in den Höhlen Schutz suchen, aber einige werden töricht genug sein zurückzukommen.«

»Die Übrigen?«, fragte Simon. Sie schwang die Axt erneut, zerschmetterte einen weiteren Fensterrahmen.

»Die übrigen Vampire.« Sie ließ die Axt sinken und riss die Wandbehänge herunter. »Das Sonnenlicht wird sie vernichten – wird uns alle töten.« Sie schaute zu Simon zurück. »Es sei denn, Ihr tötet mich zuerst.«

»Nein!« Orlando eilte erneut herbei und stellte sich zwischen sie. »Ihr könnt gerettet werden, Mylady, das wisst Ihr – Ihr beide könnt von Euren Verbrechen freigesprochen werden. Der Kelch …«

»Der Kelch ist ein törichter Aberglaube«, unterbrach Roxanna ihn.

»Wie könnt Ihr das sagen?«, erwiderte er. »Wie könnt Ihr von Aberglauben sprechen, während Ihr hier steht, in dieser Halle, selbst ein Vampir …«

»Ein Ungeheuer«, stimmte sie ihm zu.

»Körperlich, ja, aber nicht aus eigenem Willen oder selbst erschaffen«, beharrte der Zwerg. »Ich schwöre Euch, Ihr könnt gerettet werden. Ich habe es gesehen. Dieser Krieger …«

»Simon«, unterbrach Simon ihn, hörte aber kaum zu. Der Herzog lag noch immer dort, wo er gestürzt war. Zwei bläulich-purpurfarbene Wunden waren in seine Kehle gerissen worden, die im Vergleich zu den Wunden der übrigen Leichen zierlich waren. »Mein Name ist Simon.« Er kniete sich neben den Leichnam. »Wer hat ihn gebissen?«

»Ich war es«, antwortete Roxanna. »Wir können uns an den Toten nähren, wenn wir wollen.«

»Und Ihr?«, fragte Simon Orlando und wandte sich von dem Mädchen ab, konnte sie nicht einmal ansehen. »Seid Ihr auch ein Vampir?«

»Nein, Simon, ich nicht«, antwortete Orlando. »Kivar hielt mich aufgrund meiner Statur für ein Ungeheuer eigener Art, das seines Blutes nicht würdig war.«

»Wären wir doch alle gleich gewesen«, sagte Roxanna und wandte sich ab.

»Ihr wurdet nicht zufällig ausgewählt, Simon«, fuhr Orlando fort und kam auf ihn zu. »Kivar wollte englische Ritter – er brauchte englische Soldaten.«

»Wir haben keine Zeit dafür«, sagte Roxanna und nahm ihre Axt wieder hoch.

»Er wusste, dass der Kelch in England ist«, fuhr Orlando fort. »Er wusste, dass er ihn vernichten konnte …«

»Er ist vernichtet!«, beharrte das Mädchen.

»Glaubt Ihr?«, wollte Orlando wissen und wandte sich ihr wieder zu. Er nahm Kivars leeres Gewand, von dem noch immer der widerliche schwarz-grüne Schleim troff. »Ihr glaubt, Lucan Kivar, ein Wesen, das älter ist als die Berge, in denen wir uns befinden, sei hierauf reduziert worden?« Roxanna antwortete nicht, aber Simon konnte an ihrem Gesicht erkennen, dass sie es nicht glaubte, so sehr sie sich auch danach sehnte, es glauben zu können. »Nein, meine geliebte Lady«, sagte der Zwerg und ließ das Gewand wieder fallen. »Er ist gegangen, aber er ist nicht vernichtet. Ich habe in meinen Visionen von seiner Rückkehr geträumt.«

»Orlando hält sich für einen Zauberer«, erklärte Roxanna mit brüchigem, verbittertem Lächeln. »Er kam als Zauberkünstler hierher, als ich noch ein Kind war.«

»Wo auch immer er ist, zu was auch immer er geworden sein mag, Kivar wird nicht ruhen, bis der Kelch ihm gehört, bis er ihn zerstört hat«, sagte der Zwerg zu Simon. »Er kennt die Macht des Kelchs. Er hat sich tausend Jahre lang nach ihr gesehnt.« Er sah sich zu den niedergemetzelten Rittern um. »Als er von Eurem Herzog hörte, einem englischen Adligen, der einen bereits unter seiner Kontrolle befindlichen Palast belagerte, wusste er, dass sein Moment gekommen war.«

Roxanna hatte die Leichen ebenfalls betrachtet. Plötzlich sprang sie mit ihrer Axt vor, und Simon, der sich umwandte, sah Sir Alan sich benommen und unglücklich vom Boden erheben. Bevor er jedoch sprechen konnte, hatte Roxanna ihm bereits den Kopf abgeschlagen. »Nein!«, rief Simon entsetzt. »Er hat gelebt …«

»Das hat er nicht, Dummkopf«, erwiderte sie hitzig und pfählte den kopflosen Rumpf. »Nicht mehr als Ihr oder ich oder mein Bruder, Alexi – erinnert Ihr Euch, was mit ihm geschehen ist?« Sie wandte sich wieder Simon zu, ließ den Pfahl fallen und strich sich das Haar aus der Stirn, ihr Gesicht blutbespritzt. »Er war ein Vampir.« Alans Körper schwand hinter ihr, wie Kivars es getan hatte, und Simon sah weitere Streifen dieses Schleims überall auf dem glänzenden Boden verschmiert.

»Sie alle?«, fragte er schwach, fühlte sich wieder elend.

»Nein«, antwortete sie mit sanfterer Stimme. »Die meisten sind bereits tot und ihre Seelen befreit. Das Opfer muss das Blut des Ungeheuers verzehren, um selbst untot zu werden.« Sie nahm die Axt wieder hoch und ließ sie dann fallen, als wäre sie plötzlich zu müde, um sie noch länger zu halten. »Es tut mir leid, Krieger.«

»Simon, Ihr müsst den Kelch finden«, sagte Orlando. »Kivar hat Euch falsch eingeschätzt – er hat nicht erwartet, dass Ihr in der Lage wärt, so viel von ihm zu vernichten, wie Ihr es getan habt. Aber Ihr könnt ihn endgültig vernichten und dabei Euch selbst und Roxanna retten. Der Kelch ist Eure Rettung. Trinkt daraus, und Ihr werdet wiederhergestellt.«

»Orlando, das genügt«, sagte Roxanna, diese Fremde, die nun seine Schwester verfluchten Blutes war. »Lass ihn in Ruhe.«

»Der Kelch?«, wiederholte Simon, der sie kaum hörte. »Ihr meint wirklich den Heiligen Gral?« Er hätte beinahe laut aufgelacht. Er war als Sohn eines Barden mit den Geschichten von Arthur und seinen Rittern aufgewachsen, Geschichten über ihre Suche nach Christus’ letztem Becher, dem Gefäß der ersten Kommunion. Aber Simon war ein echter Ritter, kein mythisches Wesen des Rittertums. Er wusste, was ein wahrer Ritter war, und er hatte zu seiner Zeit genügend sogenannte heilige Reliquien gesehen, um auch zu wissen, worum es sich bei ihnen handelte. »Ich bin nicht Galahad, Orlando«, sagte er mit bitterem Lächeln.

»Euer Heiliger Gral ist eine Geschichte, eine von Euren Priestern erzählte Geschichte«, höhnte Orlando. »Aber der Kelch ist real.« Er zog eine Schriftrolle aus seinem Zauberer-Umhang und entrollte sie. »Die gehörte Kivar selbst, ein uralter Text, aus dem Grabmal eines Heiligen gestohlen. Als Kivar sie fand, wusste er, dass der Kelch tatsächlich nach England gelangt war, genau wie die Legende es besagt.«

Simon blickte auf die grobe Karte dessen herab, was seiner Vermutung nach Britannien hätte sein können, der Umriss war auf allen Seiten von Schrift umgeben, dieselben eigenartigen Symbole wie auf Kivars zerrissenem Gewand. In einer Ecke befand sich die Zeichnung eines schlichten, schnörkellosen Weinkelchs, aus dem Linien hervorstrebten, die vielleicht Gottes Licht repräsentieren sollten. Darunter war ein aus einem Schwert und einem großen Holzpfahl gestaltetes Kreuz zu sehen. »Wenn dieser Kelch real ist, ist er etwas Heiliges«, sagte er und reichte Orlando die Schriftrolle zurück. »Nur die reinsten Ritter könnten ihn jemals finden, die Gesegnetsten …«

»Noch eine Legende«, höhnte Orlando. »Seid Ihr kein Krieger? Befindet Ihr Euch nicht auf einer Suche?«

»Ich habe für ihn gekämpft!« Er deutete auf den leblosen Körper des Herzogs, die Kehle jäh von Kummer zugeschnürt. »Ich kam nur hierher, weil er es wünschte – ich wäre ihm freudig in die Hölle gefolgt.« Sein Blick trübte sich erneut, dieses Mal mit blutigen Tränen. »Und das habe ich auch getan.«

»Ihr seid gesegnet, Simon«, sagte Orlando lächelnd. »Denkt daran, was gerade in dieser Halle geschehen ist. Seht Euch Eure Weggefährten an, die alle tot sind – niemand von ihnen hat sich auch nur bemüht zu kämpfen.« Er hob Simons herabgefallenes Schwert auf und reichte es ihm. »Ihr seid gesegnet, Ritter.«

»Er hat Recht«, bekannte Roxanna. »Eintausend Männer meines Vaters konnten nicht vollbringen, was Ihr vollbracht habt.« Eine blutige Träne rann ihre Wange hinab. »Vielleicht existiert der Kelch. Vielleicht könnte er Euch immer noch retten. Aber mich nicht mehr.« Sie nahm Orlando das Schwert aus der Hand und bot es ihm selbst dar. »Wenn Ihr ein Ritter seid, bitte ich Euch bei dem Fluch, dem ich unterworfen bin, um Eure Hilfe. Vernichtet mich, bevor Ihr geht.«

Simon nahm das Schwert, unsicher, was er tun sollte, und Orlando warf sich vor das Mädchen. »Das werdet Ihr nicht tun«, beharrte er, in einer plötzlichen zornigen Aufwallung. »Ihr werdet meine Hilfe brauchen, um den Kelch zu finden, aber wenn sie stirbt, werde ich Euch niemals helfen.«

»Ich habe nie gesagt, dass ich Euren Kelch finden will«, protestierte Simon, aber sie hörten ihn nicht.

»Zauberer, lass mich los«, bat Roxanna und sank vor Orlando auf die Knie. »Ich habe nur so lange gelebt, um Alexi zu retten, das weißt du.« Sie berührte seine bärtige Wange. »Aber nun ist er tot.«

»Aber Ihr könnt leben«, beharrte der Zwerg. »Ihr könnt wieder sein, wie Ihr zuvor wart, bevor das Ungeheuer kam …«

»Ich kann nicht!« Sie legte beide Hände um sein Gesicht, zwang ihn, ihr in die Augen zu sehen. »Selbst wenn mir meine Seele wiedergegeben würde, selbst wenn ich erneut im Licht wandeln könnte, wäre ich doch niemals wieder die Frau, die ich damals war. Ich habe gemordet … so viele, nicht nur, weil Kivar mich dazu gezwungen hat, sondern auch aus eigener Gier. Du willst alle Schuld von mir nehmen, aber mein Herz weiß, dass ich nicht unschuldig bin. Ich habe Blut geschmeckt.« Ihre Tränen flossen wie aus einer offenen Wunde. »Bitte, zwing mich nicht, es wieder zu tun.«

»Nein«, versprach Orlando und nahm ihre Hände in seine. »Ich verspreche, dass ich das nicht tun werde.« Er nahm etwas aus seiner Tasche, die rubinrote Flasche, die Simon ihn schon im Garten hatte hervornehmen sehen. »Vertraut mir, Mylady«, sagte er und entfernte den Stöpsel. »Ich werde Euch in Sicherheit bringen.«

Sie betrachtete zuerst die Flasche und dann Simon. »Und wenn er versagt?«

»Dann werde ich Eurem Wunsch Folge leisten«, sagte der Zwerg und hielt ihr die Flasche hin.

Simon erwartete, dass sie sie nehmen, von dem Trank kosten würde, den die Flasche enthielt. Aber Roxanna begann stattdessen allmählich zu verblassen. Ihre Gestalt wurde im flackernden Lichtschein durchsichtig. Während Simon verwundert zusah, löste sich der weibliche Vampir in Dunst auf. Ein süßer Duft erfüllte für einen Moment die Luft, während der Dunst in die Flasche floss. Dann waren plötzlich sowohl der Dunst als auch der Duft fort, und Orlando setzte den Stöpsel wieder auf die Flasche.

»Sie …?«

»Sie ist jetzt in Sicherheit«, sagte Orlando und steckte die Flasche wieder in seine Jacke. »Es ist ein Vampir-Trick. Ihr könnt das auch, und außerdem noch mehr.« Er wandte sich wieder Simon zu. »Ihr habt drei Wahlmöglichkeiten, Ritter.« Draußen hob der Gesang einer Lerche an, ein Vorbote des Morgengrauens. »Ihr könnt leben wie die Untoten und Euch von den Lebenden nähren, ohne einen größeren Zweck zu erfüllen. Ihr könnt darauf warten, dass die Sonne Euch vernichtet.« Er streckte erneut die Schriftrolle aus. »Oder Ihr könnt Euch auf die Suche begeben.«

Simon nahm die Karte mit der Zeichnung des Kelches, dieser magischen Belohnung, von der der Zauberer so inbrünstig sprach. Er könnte in tausend Jahren nicht darauf hoffen, ihn gewinnen zu können. Aber er musste es versuchen. Er wollte nach Hause.