12

Simon wachte in der Dunkelheit auf. Der Schmerz war fort, so dass er wusste, dass er geheilt war, aber er konnte immer noch nicht aufstehen. Er saß an eine raue Steinmauer gelehnt, die Hände über dem Kopf, an den Handgelenken angekettet und seine Beine gerade vor sich ausgestreckt. Auch um seine Knöchel waren schwere Ketten gelegt.

In der Dunkelheit flammte ein Funke auf. »Endlich wach.« Ein Vampir, der wie der begriffsstutzige Brigant Michel aussah, stand neben einem Tisch am anderen Ende der feuchten Höhle mit der niedrigen Decke. Aber Simon wusste, dass es in Wahrheit Lucan Kivar war.

»Ich habe Euch getötet«, beharrte Simon und versuchte, seine Arme zu befreien. Er hatte in seinem Dämonenzustand schon früher Ketten durchbrochen. Er konnte es wieder tun.

»Ihr wisst recht gut, dass Ihr das nicht getan habt.« Er zündete eine zweite Kerze an. »Selbst wenn Ihr zu dumm wärt, es selbst zu erkennen, hätte dieses Insekt, das Ihr bei Euch habt, es Euch gesagt.« Simon riss erneut an den rasselnden Ketten, und Kivar lächelte. »Ihr verschwendet Eure Kraft.« Er trug die Kerze in eine andere Ecke der Höhle und beleuchtete eine zusammengekauerte Gestalt, die sich aufsetzte, als er sich neben sie kauerte. Es war ein gefesseltes und geknebeltes Mädchen. »Diese Ketten können sogar einen Vampir einige Zeit festhalten.« Er berührte die Wange des Mädchens, und sie zuckte zurück, ihr Knebel machte einen Schrei unmöglich.

»Wer ist sie?«, fragte Simon und bemühte sich, das Entsetzen, das er empfand, nicht hörbar werden zu lassen.

»Niemand«, antwortete Kivar. »Würdet Ihr die Köchin nach dem Namen des Schafes fragen, wenn sie Euch Schaffleisch serviert?« Er erhob sich und lächelte. »Natürlich, da Ihr ein Ire seid, würdet Ihr es vielleicht tun.«

»Was wisst Ihr schon von Iren?«, höhnte Simon ebenfalls mit todbringendem Lächeln. »Der Einzige, dem Ihr je begegnet seid, hat Euch den Kopf abgehackt und Euer Herz durchbohrt, bevor Ihr ihn kennenlernen konntet.«

»Ist das so gewesen?« Er runzelte die Stirn. »Ich dachte, Roxanna hätte mein Herz durchbohrt.« Er zuckte die Achseln. »Nicht dass es wichtig wäre.« Er kam zu Simon zurück, ließ die Kerze neben dem weinenden Mädchen stehen. »Habt Ihr sie übrigens getötet? Ich weiß, dass sie Euch darum gebeten hat.« Ein zorniger Schatten überzog seine aufgedunsenen Gesichtszüge, die im flackernden Licht kreidebleich wirkten. »Dummes Mädchen.«

»Würde es Euch kümmern?« Simon spannte seine Handfesseln fest an, zog mit aller Kraft daran, nun aber lautlos, und glaubte, sie ein klein wenig nachgeben zu spüren.

»Natürlich würde es mich kümmern«, antwortete Kivar, und sein sorgloses Lächeln kehrte zurück. »Ich sorge mich um alle meine Kinder.« Er berührte Simons Wange, und Simon schnappte nach seiner Hand wie ein Hund, konnte nicht umhin. Dieses Ungeheuer hatte Isabel geküsst, hatte vorgegeben, er zu sein, hatte seine Gestalt gestohlen. »Aber ich muss sagen, Simon, dass Ihr bisher mein Lieblingskind seid.«

»Was ist mit Susannah?«, fragte Simon und weigerte sich, den Köder anzunehmen. »Sie war Eure Neugeborene, oder?«

»Ein kurzer Zeitvertreib.« Er verzog den Mund zu einem bitteren Lächeln, das ihn wie den lebendigen Menschen wirken ließ, dessen Leichnam er gestohlen hatte. »Ihr habt vermutlich auch sie getötet?« Er trat zum Tisch zurück und öffnete eine Ledertasche, die denjenigen sehr ähnelte, die Orlando stets bei sich trug, nur dass sie größer war. »Habt Ihr sie wenigstens zuerst gevögelt? Sie hat Euch so sehr begehrt.«

»Ihr habt sie getötet«, antwortete Simon. »Nicht ich.«

Kivar schaute über die Schulter nachdenklich zu ihm zurück. »Ja«, entschied er. »Das könntet Ihr vermutlich behaupten. Aber wenn dem so ist, dann habe ich auch Euch getötet.« Er nahm Gegenstände aus der Tasche, die Simon nicht sehen konnte, und stellte sie auf den Tisch. »Seid Ihr tot?«

Die Eisenketten schnitten in Simons Handgelenke. »Sagt Ihr es mir.«

Kivar blickte mit verzerrtem halbem Lächeln zur Decke. »Noch nicht.« Er hob einen gebogenen, goldenen Dolch ins Licht, und das Mädchen auf dem Boden wand sich, wollte erneut schreien. Simon konnte im trüben Licht von der anderen Seite des Raumes nicht sicher sein, aber er fürchtete, sie zu kennen, das Kind eines Holzfällers, der in der ersten Nacht, in der Isabel ihn als Wolf gesehen hatte, mit ihrer Familie auf Schloss Charmot Zuflucht gesucht hatte. Wenn sie es war, war sie kaum älter als zwölf oder dreizehn Jahre.

»Ist schon gut, Kleine«, rief er und bemühte sich sehr, tapferer und sicherer zu klingen, als er sich fühlte. »Er ist nicht annähernd so furchterregend, wie er glaubt.«

Kivar legte den Dolch beiseite. »Nein, vielleicht nicht.« Er nahm einen weiteren, viel kleineren Gegenstand vom Tisch. »Aber Ihr seid es.« Er wandte sich wieder zu Simon um. »Ich sollte Euch übrigens für diesen Körper danken.« Er blickte auf seine narbige, aber kräftige Hand hinab. »Natürlich ist dieser Mann nicht so vornehm oder intelligent wie unser gemeinsamer Freund, der Herzog.« Er ballte seine Faust und lächelte. »Aber er sollte meinem gegenwärtigen Zweck ausreichend dienen.« Er hielt den Gegenstand in seiner Hand vor Simons Augen – den Siegelring, den Francis stets getragen hatte, der Beweis für seinen adligen Titel, der ihm vom König verliehen worden war. »Aber ich vermisse es, Francis zu sein.«

»Ihr wart niemals Francis«, sagte Simon vor Zorn zitternd. »Seine Seele entwich schon lange, bevor Euer Dämonengeist ihn berührte, in den Himmel.«

»Stimmt nicht«, sagte sein Peiniger lächelnd. »Sein Geist war noch fast intakt, als ich ihn in Besitz nahm. Ich konnte seine Gedanken recht gut hören. Und was seine Seele betrifft …« Er schüttelte den Kopf wie jemand, der ein Kind ein Märchen erzählen hörte. »Natürlich verfällt der Geist im Laufe der Zeit, selbst unter meiner Führung. Dennoch verdanke ich ihm viel. Ich hätte ohne seine Hilfe niemals so gut mit Euch mithalten können. Orlando ist ein kluges, kleines Insekt.« Plötzlich packte er Simons rechte Hand mit kräftigerem Griff als jede Fessel und steckte ihm den Ring an den Finger. »Das Einzige, was er in seinem törichten Leben bedauerte, war, dass er Euch nicht zu seinem Erben gemacht hat, als er es noch hätte tun können«, sagte er sanft, während Simon keine Miene verzog und sich weigerte zu reagieren. »Seht also, wie ich ihm seinen Dienst vergelte?«

»Und ich werde es Euch vergelten«, antwortete Simon, seine Lippen zu einem Lächeln verzogen, das eher an eine Grimasse erinnerte. »Das nächste Mal werde ich Euch vernichten.«

»Ich bitte Euch, tut Euer Schlechtestes, mein Sohn«, sagte Kivar sanft und unbeeindruckt. Er trat einen Schritt zurück, als Simon so weit nach vorn stürzte, wie die Ketten es zuließen, und dieses Mal spürte Simon entschieden ein Nachgeben. Die Bolzen, die ihn an der Mauer festhielten, bogen sich definitiv. »Aber erspart mir bitte Euer ignorantes Geplapper von Himmel und Seelen.« Er trat erneut beiseite. »Ich war bereits unsterblich, als Euer Gott noch im Zelt irgendeines Schafhirten erfunden wurde.«

»Warum seid Ihr dann so erpicht darauf, Seinen Kelch zu erlangen?«, erwiderte Simon. Wenn er sich erst von diesen Ketten befreien konnte, war er sich fast sicher, dass er den goldenen Dolch erreichen würde, bevor Kivar ihn aufhalten konnte. Er könnte den Teufel vielleicht nicht vollständig vernichten, aber er könnte den Körper zerstören, den er besaß, seinen Kopf abschlagen und das Herz herausschneiden, wie Kivar es offensichtlich bei Francis getan hatte. Dann könnte zumindest das Mädchen entkommen.

»Seinen Kelch?«, sagte Kivar mit spöttischem Lachen. »Simon, seid kein Narr. Der Kelch gehört mir, er ist mein Geburtsrecht. Er hat nichts mit Eurem Gott zu tun.« Er wandte sich ihm mit dem Messer in der Hand wieder zu. »Hat dieser kleine Wurm, Orlando, Euch noch nicht gesagt, was der Kelch enthält?«

»Die Erlösung«, antwortete Simon.

»Nichts dergleichen!«, schrie Kivar. »Die Erlösung ist nur eine weitere hübsche Geschichte, ein weiterer Mythos, den Eure Priester erfinden, damit ihr Wilden Euch nicht gegenseitig fresst.« Er lächelte verzerrt. »Aber Ihr solltet Euch deswegen nicht grämen. Es war zu meiner Zeit dasselbe.«

»Wozu ist der Kelch dann gut?« Die Worte des Teufels bedeuteten ihm in Wahrheit nichts. Wenn Kivar gesagt hätte, er stünde in Flammen, hätte er ihm nicht geglaubt, selbst wenn er den Rauch gerochen hätte. Simon war von zu vielen Kreuzen verbrannt und von zu vielen unschuldigen Seelen abgewiesen worden, um daran zu zweifeln, dass sein Gott real war oder dass Ihn die Verdammten auf eine wenig zimperliche Weise interessierten. Isabel, dachte er, bevor er sich daran hindern konnte. Isabel hatte ihn mit einem Kreuz von sich vertrieben und hatte den Namen des Herrn beschworen. Was musste sie jetzt denken? Wie musste sie sich fühlen? Er wagte es nicht, bei dem Gedanken zu verweilen, sonst würde er dieser Falle niemals entkommen. »Warum danach suchen?«

»Der Kelch bedeutet Heilung«, antwortete Kivar, während seltsamer, triumphierender Wahnsinn in seinen Augen leuchtete. »Der Kelch vervollständigt.« Er nahm Simons Gesicht in seine Hände und betrachtete es. »Ihr seid vom Tod gezeichnet, mein Sohn, eine Blutkrankheit, kein Fluch. Der Kelch könnte Euch heilen.« Er ließ ihn langsam los, wich zurück. »Aber vielleicht brauche ich Euch nicht mehr.« Er wandte sich rasch um, riss das Mädchen vom Boden hoch, bleckte seine Zähne, und sie stieß ein verzweifeltes, klagendes Wimmern aus. »Seht Euch das an, und Ihr seht eine Seele«, sagte das uralte Böse leise, während er ihren Knebel entfernte, und klang dabei ehrlich verblüfft. »Ihr fürchtet mehr um sie als um Euch selbst, sogar jetzt noch, dieses bedeutungslose kleine Wesen, dessen Namen Ihr nicht einmal kennt.« Er ließ sie wieder fallen, wobei ihr Kopf mit einem leisen, dumpfen Laut auf dem Boden aufschlug. Sie erschauderte und erschlaffte.

»Ich bin ein Ritter, Kivar«, antwortete Simon und beobachtete das Gesicht des anderen Vampirs, dessen Ausdruck unmöglich zu lesen war. Die Gesetze und das Leben des Ritterstandes waren nichts, worüber nachzudenken er noch für nötig befunden hatte, seit er ein Vampir geworden war. Sie gehörten einfach zu ihm wie der Arm, der sein Schwert führte, bildeten den Kodex seines Lebens. Sein Vater und der Herzog waren beide Ehrenmänner und Beschützer der Unschuldigen gewesen, und er hatte sie geliebt, hatte nur gelebt und geatmet, um sie mit Stolz zu erfüllen. So war er genauso geworden. Er hatte diese Angewohnheit selbst als verdammte Seele, als ein auf die Welt losgelassener Vampir, nie aufgeben können.

»Ja«, sagte Kivar und wandte sich ihm zu. »Ein Ritter – genau.« Er nahm den Dolch hoch. »Ich hatte von dieser neuen Schöpfung auf der Welt gehört, von diesem Ritter, und mich amüsierte der Gedanke, einen davon zu meinem Sohn zu machen. Aber nachdem ich Euch all diese Jahre beobachtet habe, erkenne ich allmählich Eure Schwäche.« Er kam näher. »Und ich habe Eure Isabel gesehen.« Er zog die Dolchspitze Simons Kehle hinab, und Simon ließ es mit äußerster Beherrschung zu, ohne zusammenzuzucken. Kivar würde ihn nicht einfach mit einem Messer töten, denn wenn er das wirklich hätte tun wollen, wäre es bereits geschehen. Außerdem hätte Simon sich vielleicht in wenigen weiteren Momenten befreit. »Sie ist kein Ritter, aber sie ist stark, stärker als Ihr, wie ich allmählich fürchte. Vielleicht habe ich schlecht gewählt.«

»Lasst sie in Ruhe«, befahl Simon, und die Worte blieben, trotz seiner Entschlossenheit, in seiner Kehle stecken. Allein der Gedanke daran, wie dieses Ungeheuer seine Liebste berührte, war mehr, als er ertragen konnte. Tödlicher Zorn stieg in ihm auf, so dass seine Sicht durch einen roten Schleier getrübt wurde.

»Ich kann nicht«, antwortete Kivar. »Aber ich werde noch nicht all meine Hoffnungen aufgeben, die ich in Euch gesetzt habe.« Er hielt die Klinge, die wie eine Sense gebogen war, an Simons Kehle. »Dieses Messer könnte Euch mit einem einzigen Zucken des Handgelenks wie einen Grashalm köpfen«, sagte der uralte Vampir, die ruhige und kalte Stimme, die Simon zuerst gehört hatte, kehrte in ihrer wahren Form zurück. »Bewegt Euch nicht.« Er versenkte seine Zähne tief in Simons Kehle, saugte gestohlenes Blut aus seinen Vampiradern, während Simons Körper vor Zorn erstarrte. Der schreckliche Hunger, der ihn beherrschte, stieg wie ein Fieber in ihm auf, nagte an ihm wie eine Schlange, trieb ihn in den Wahnsinn, und der Teufel nährte sich noch immer, sog weiter, zerrte unmittelbar an seinem Herzen. Erst als Simon leer und voller Schmerzen war und danach gierte, wieder gefüllt zu werden, hob Kivar den Kopf.

»Die Sonne wird bald kommen und Euch holen«, sagte er, trat zurück und wischte sich an Michels schmutzigem Ärmel den Mund ab. »In der Erde über uns befindet sich eine Öffnung, aber nun seid Ihr zu schwach, um Euch selbst befreien und entkommen zu können.« Seine Stimme schien zu schwanken und in Simons Kopf widerzuhallen. Er konnte nur ans Nähren denken, daran, Blut zu trinken und sich zu rächen. »Aber Ihr könnt wieder stark werden.« Kivar hob das Mädchen erneut vom Boden hoch, ihr Kopf war nun erschlafft, aber sie lebte noch. Simon konnte ihren Herzschlag in seinen Ohren dröhnen hören, ihn durch ihr schwaches und darbendes Fleisch pochen spüren, als wäre es sein eigener. »Nehmt das Wesen, und nährt Euch an ihr, tut, wozu Ihr erschaffen wurdet«, sagte Kivar und zog den Dolch über das Handgelenk des Mädchens, erfüllte die Höhle mit dem Geruch ihres Blutes. »Dann werdet Ihr mein Sohn sein.«

Er legte das Mädchen über Simons Schoß und strich mit ihrem Handgelenk über sein Gesicht, um seinen Mund mit ihrem Blut zu beschmieren. Simon zerrte an den Ketten wie ein Besessener, und ein qualvolles Heulen drang aus seiner Kehle, aber er nahm den Köder nicht an. Er biss sie nicht. »Wenn Ihr noch immer ein Ritter seid, dann lasst Euch vom Morgengrauen verschlingen. Tut das, damit diese Unschuldige überleben kann«, schloss Kivar und wich zurück. »Aber wenn Ihr die Kraft habt, den Platz einzunehmen, der Euch gebührt, werde ich wieder zu Euch kommen.«

»Kivar!«, rief Simon, als der Uralte ihn in der Dunkelheit zurückließ.

Isabel wartete im Sessel ihres Vaters in den Katakomben, als Brautus Orlando hereinführte. »Mylady!«, sagte der Zauberer und eilte vorwärts, sobald er ihr Gesicht sah. Da sie nur Feindseligkeit erwartet hatte, nachdem sie ihn die ganze Nacht in Simons Zimmer eingesperrt hatte, war sie überrascht. Er wirkte und klang ernsthaft erleichtert. »Geht es Euch gut?«

»Ja«, antwortete sie und nickte, während Brautus dem kleinen Zauberer in einen Sessel half. Das war nicht die ganze Wahrheit, da sie verwirrt, verängstigt und eher voller Abscheu war, aber es schien ihr die klügste Antwort. »Aber es gibt Fragen, die Ihr mir beantworten könntet, wenn Ihr wollt.« Sie legte die Geldbörse, die Mary ihr gegeben hatte, und das silberne Kreuz, das sie bei der Kirche gefunden hatte, zwischen sie auf den Schreibtisch. Die Druidenkarte behielt sie in ihrer Tasche. »Fragen über Simon.«

»Ich habe auch eine«, erwiderte Orlando. »Wo ist er?«

»Ich weiß es nicht.« Er sah die Gegenstände zwischen ihnen kaum an, zeigte keinerlei Anzeichen dafür, dass er sie erkannte. »Nachdem er sich in einen Wolf verwandelt und den zweiten Vampir aus dem Fenster geworfen hatte, bat ich ihn, mir zu sagen, was er sei und warum er hier sei, aber er zog es vor, das Schloss zu verlassen, anstatt mir eine Antwort zu geben.«

»Der zweite Vampir?« Nun wirkte er beunruhigt. »Wie hieß er? Wie sah er aus?«

»Wir wurden einander nicht vorgestellt«, antwortete sie. »Und was sein Aussehen betrifft, so könnte ich Euch wahrscheinlich eher sagen, wie er nicht aussah. Zuerst sah er wie Simon aus. Dann, als Simon selbst erschien, verwandelte er sich in einen älteren, freundlich wirkenden Mann, den ich nicht kannte, der Simon aber vertraut zu sein schien. Dann verwandelte er sich in einen weiteren Mann, der, wie ich glaube, ein Briganten-Ritter namens Michel war.« Sie sah Brautus an. »Dann war er für einen Moment mein Vater, und schließlich verwandelte er sich in einen Hund. Also könnte ich Euch wirklich nicht sagen, wer er war.«

»Kivar«, murmelte Orlando und erbleichte.

»Diesen Namen hat Simon auch genannt«, erinnerte sie sich. »Ist das der Name dieser Kreatur?« Sie wartete, aber der Zauberer antwortete nicht. »Orlando?«

»Ihr solltet Simon fragen«, erwiderte er grimmig. »Ihr hättet ihn niemals fortschicken dürfen.«

»Ich habe ihn nicht fortgeschickt«, antwortete sie.

»Ich habe es getan«, sagte Brautus. »Warum hätte ich es nicht tun sollen? Ist er kein Vampir?«

»Ihr sprecht dieses Wort aus, als würdet Ihr dessen Bedeutung kennen«, antwortete Orlando Brautus. Er wandte sich an Isabel. »Kennt Ihr sie, Mylady?«

»Bis letzte Nacht kannte ich sie nicht.« Sie nahm das Kreuz hoch, erinnerte sich daran, wie glücklich sie sogar in ihrer Angst gewesen war, als Simon mit den anderen zur Kapelle aufbrach, erinnerte sich der Tränen aus Blut, die er in ihrem Zimmer geweint hatte. »Jetzt wünschte ich, sie nicht zu kennen.« Sie sah Mitleid in den Augen des Zauberers, aber er schwieg. »Orlando, ist Simon mein Verwandter?«

Er sah sie regungslos an, sein Gesicht war eine undurchdringliche Maske. »Er sagte, er sei es, Mylady«, antwortete er. »Ich habe nur die Wahl, ihm zu glauben.«

»Ja«, sagte Brautus, als es an der Tür klopfte. »Und wir haben die Wahl, es nicht zu tun.« Er öffnete die Tür, und Glynnis kam mit einem Tablett herein.

»Ihr solltet etwas essen, Mylady«, sagte sie und beobachtete den Zauberer, während sie das Tablett zwischen sie auf den Schreibtisch stellte. »Und wir dachten, Meister Orlando wäre vielleicht auch hungrig.«

»Danke, Glynnis.« Sie füllte einen Holzteller für den Zauberer und stellte ihn vor ihn hin, aber er rührte ihn nicht an, sondern wartete darauf, dass sie begann. »Orlando, gütiger Himmel«, sagte sie und nahm einen Bissen Brot, der in ihrem Mund wie Sägemehl schmeckte, so widerwillig aß sie es. »Was habe ich jemals getan, dass Ihr glaubt, ich könnte Euch vergiften?«

»Nichts, Mylady«, sagte er kurz darauf. »Verzeiht.« Er begann zu essen, als Glynnis ging.

»Diese Geldbörse wurde bei der toten Frau gefunden, von der wir glaubten, sie sei von dem Wolf getötet worden«, sagte sie und schob ihr Essen fort. »Ich habe gesehen, wie Simon sich letzte Nacht in einen Wolf verwandelte. Ich musste unwillkürlich daran denken, wie sehr sie Euren anderen Geldbörsen und Beuteln ähnelt.« Er aß weiter, sah nicht einmal auf. »Gehört sie Euch?«, beharrte sie. »Hat Simon …?« Die Frage blieb ihr in der Kehle stecken, aber irgendwie zwang sie sie dennoch hervor. »Hat Simon diese Frau getötet?«

»Ihr kennt ihn, Lady Isabel«, antwortete er, seine braunen Augen begegneten ihren grünen. »Was glaubt Ihr?«

»Ich möchte glauben, dass er es nicht getan hat, dass er so etwas nicht tun könnte«, antwortete sie. »Aber ich kann nicht vergessen, was ich gesehen habe.« Er wandte den Blick ab. »Orlando, ich verstehe, dass Ihr Simon schützen wollt«, begann sie erneut. »Aber Ihr müsst auch verstehen, dass ich Charmot schützen muss. Dem habe ich mich verschworen.«

Er lächelte sein höfliches, kleines Lächeln. »Und ich bin meinem Herrn verschworen.« Brautus schnaubte offensichtlich angewidert, aber sie erinnerte sich der Worte, die Orlando an seinem ersten Morgen auf Charmot in diesem Raum zu ihr gesagt hatte. Simon ist meine einzige Hoffnung, mein Krieger und meine Rettung, hatte er ihr erklärt. Meine Seele liegt in seinen Händen. Wie konnte sie erwarten, dass er ihn verraten würde? »Was wollt Ihr von mir hören?«

»Ah, das ist eine leichte Frage«, antwortete Brautus für sie. »Sagt ihr, wie sie ihn töten kann.«

»Ich glaube nicht, dass er mir das sagen muss«, erwiderte Isabel. »Ich denke, ich weiß es bereits.« Orlando sah sie überrascht an. »Sonnenlicht«, sagte sie. »Stimmt das, Orlando?« Simon hatte ihres Wissens drei Schwüre geleistet – menschlichen Kontakt zu meiden, niemals etwas zu essen und niemals die Sonne zu sehen. Den ersten Schwur hatte er seit dem ersten Tag seiner Ankunft recht regelmäßig gebrochen. Der zweite war bereits erklärt worden – als Vampir nährte er sich vom Blut Lebender. Aber warum sollte er die Sonne meiden? Mutter Bess hatte gesagt, die Druidengötter hätten den Wolf verflucht, hätten ihn in die Dunkelheit verbannt. »Ist das der Grund, warum Simon niemals bei Tageslicht hinausgehen kann?« Aber Orlando lächelte ihr nur zu, als hätte er sie nicht gehört. Sie fand, er wirkte vielleicht ein wenig bleicher, und er hatte aufgehört zu essen. Aber sie war sich nicht sicher, und sie konnte es sich nicht leisten, es nicht zu sein. »Ich will Simon nicht weh tun«, sagte sie und erhob sich. »Aber ich kann nicht zulassen, dass dieser andere Dämon Charmot schadet. Orlando, ich will Simon retten, aber …« Tränen stiegen ihr in die Augen, und sie wandte sich ab, konzentrierte sich auf die Bücher ihres Vaters, um nicht zusammenzubrechen. Da sah sie sie.

»Ihr müsst mir helfen, Orlando.« Sie nahm die Flasche vom Regal, die rubinrote Flasche, die sich bei Berührung so kalt anfühlte. Er hatte ihr gesagt, sie enthalte ein tödliches Gift, und hatte sie außerhalb ihrer Reichweite gestellt. »Wenn nicht, werde ich diese Flasche öffnen und ausleeren, was auch immer sich darin befindet.« Sie wandte sich ihm zu und sah ihn noch immer lächeln, wenn nicht noch breiter als zuvor. »Draußen im Hof«, fuhr sie fort. Dieses Mal war sie sich sicher, dass er erbleichte, und sein Lächeln schwand. »In der Mittagssonne.«

»Nein!« Er sprang auf. »Gebt sie mir!« Er wollte vorwärtseilen, aber Brautus hielt ihn zurück. »Bitte, Mylady, das dürft Ihr nicht tun.«

»Dann müsst Ihr mir helfen.« Er schien so verzweifelt, dass sie sich entsetzlich fühlte. Es sah ihr nicht ähnlich, jemandem zu drohen oder ihn zu quälen, selbst in einer solchen Notlage nicht. Aber er hatte ihr keine andere Wahl gelassen. »Wird Sonnenlicht Simon töten?«

»Ja«, räumte er ein, den Tränen nahe. »Möge mein oder Euer Gott mich richten, wenn ich lüge, aber Ihr braucht ihn nicht zu fürchten, Mylady.«

»Und warum sollte sie nicht?«, fragte Brautus. »Weil er ihr Verwandter ist?«

»Nein«, antwortete der Zauberer. »Weil er in Wahrheit kein Dämon ist, auch wenn er ein Vampir ist.« Er sah mit flehendem Blick zu Isabel hoch, so eindringlich, dass sie fast selbst weinen musste. »Er würde mich einen Narren nennen, aber ich schwöre bei dem Kleinod, das Ihr in Händen haltet und das mir mehr wert ist als mein Leben, dass er genau das ist, was er Euch stets gesagt hat, ein guter Mann, der einem Fluch unterliegt.«

»Orlando, ich habe ihn gesehen«, antwortete sie, wollte ihm verzweifelt glauben. »Ich sah seine Zähne. Ich sah, wie er sich in einen Wolf verwandelte.«

»Nur um Euch zu beschützen«, beharrte er. »Kivar ist es, den Ihr fürchten solltet, nicht Simon. Kivar wird dieses Schloss Stein für Stein abtragen, um die Belohnung zu finden, die er sucht. Nur Simon kann Euch schützen. Nur er kann Kivar für immer vernichten.«

»Warum sollte ich Euch glauben?« Simon hatte versucht, sie vor diesem Kivar zu retten. Er hatte alles getan, worum sie ihn jemals gebeten hatte, um Charmot zu schützen. Aber was war mit der Prophezeiung ihrer Mutter?

»Lasst mich zu ihm gehen«, bat der Zauberer. »Lasst mich ihn zu Euch zurückbringen.« Er wand sich frei, und Brautus ließ es zu. »Er liebt Euch, Isabel«, sagte Orlando. »Selbst wenn er es nicht gesagt hat, verspreche ich Euch, dass es so ist. Lasst ihn Charmot retten.«

»Er hat es gesagt«, antwortete sie, und die Erinnerung trieb ihr fast wieder die Tränen in die Augen. »Ich will ihm helfen, Orlando.«

»Dann glaubt ihm«, beharrte der Zauberer. »Erlaubt ihm zurückzukehren.«

Brautus nickte hinter ihm. Sie konnte seine Gedanken lesen. Er wollte Simon irgendwo hier im Schloss eine Falle stellen, irgendwo, wo Sonne hereinschien. Aber das würde sie nicht zulassen. »In Ordnung«, sagte sie und atmete tief durch. »Ich werde ihn zurückkehren lassen.« Sie blickte auf die Flasche hinab, die sie noch immer festhielt, so kalt, dass sie sich in ihre Handfläche zu brennen schien. »Aber wenn Ihr lügt, wenn Ihr mich betrügt, ist Euer Kleinod verwirkt.«

»Ich lüge nicht«, versprach er. »Lasst mich gehen, und ich schwöre, dass ich Euch Euren Beschützer zurückbringen werde.« Er lächelte leicht, ein ganz anderes Lächeln als das, welches er hinter einer Maske verborgen hatte. »Ich werde Euch Euren Schwarzen Ritter zurückbringen.«

»Nein«, sagte sie und hielt seinen Blick fest. »Ich komme mit Euch.«

»Nein!«, protestierte wiederum Brautus. »Lass ihn den Vampir hierher zurückbringen, wo wir ihn gemeinsam bezwingen können.«

»Wir können ihn überhaupt nicht bezwingen«, antwortete sie. »Simon kommt erst durch die Tore dieses Schlosses zurück, wenn ich mir sicher bin, dass er ist, was Orlando behauptet, ein guter Mann, der einem Fluch unterliegt, der uns beschützen, nicht uns schaden wird.« Sie wollte nicht zulassen, dass Brautus ihn wieder fortschickte, wollte Mutter Bess nicht die Chance geben, den Haushalt gegen ihn aufzuhetzen. Wenn Simon wirklich ein Ungeheuer war, das nicht gerettet werden konnte, würde sie sich selbst darum kümmern. Und wenn er doch gerettet werden konnte, würde sie eine Möglichkeit dazu finden.

»Und wie willst du das herausfinden?«, fragte Brautus. »Wenn jemand mit dem Kleinen gehen muss, gut, dann werde ich gehen. Ich werde Kevin und die anderen Männer mit mir nehmen …«

»Brautus.« Sie legte eine Hand auf seinen Arm. »Wenn meine Mutter Recht hatte, wenn Simon das Wesen ist, von dem wir glauben, dass er es ist, dann ist diese Suche allein meine Sache.«

»Das hat niemand jemals gesagt«, erwiderte er mit zusammengepressten Kiefern.

»Es musste niemand sagen.« Zehn Jahre der Verwirrung und des Grolls wegen dem, was ihr Vater vielleicht gewollt hatte und was sie mit dem Erbe tun sollte, das er ihr hinterlassen hatte, schmolzen dahin. Ob es zum Guten oder zum Schlechten war – dies war ihr Schicksal. »Es tut mir leid, dass ich als Frau geboren wurde, Brautus. Es tut mir leid, dass mein Vater tot ist. Aber er ist tot, und ich wurde als Frau geboren, und dies ist mein Schicksal.«

»Isabel, Ihr müsst mir vertrauen«, sagte Orlando. »Welchem Schicksal auch immer Ihr glaubt, dienen zu müssen, müsst Ihr auf Simons Liebe vertrauen.«

»Ich möchte ihm vertrauen«, antwortete sie und begegnete Brautus’ Blick. Glaub mir, versuchte sie ihm wortlos zu vermitteln, und er nickte, als verstünde er. »Aber ich muss auch mir selbst vertrauen.«

»Also willst du allein gehen?«, fragte Brautus. »Du meinst, ich werde das zulassen?«

»Orlando wird bei mir sein«, antwortete sie.

»Ein Zauberer, der kaum so groß ist wie eine Eichel«, höhnte der alte Ritter. »Wirklich ein guter, starker Beschützer.«

»Ich brauche keinen Beschützer.« Sie dachte erneut an den Wandteppich ihrer Mutter, an die junge Frau, die den Wolf bezauberte. Sie hatte ihres Wissens niemals jemanden bezaubert. Wie sollte sie dann diese junge Frau sein? Aber wenn nicht sie, wer dann? »Was nützt ein Schwert gegen einen Dämon, wenn er mir wirklich etwas antun will?«, fragte sie. »Wenn ich scheitere, bleibt Charmot dir überlassen.«

»Sag das nicht.« Er umfasste ihre Wange mit seiner Handfläche. »Euer Vater würde niemals so viel von Euch verlangen, Mylady. Ihr seid eine bessere Kriegerin, als er jemals hätte vermuten können.«

»Nichts dergleichen«, spottete sie. »Kommt, Orlando. Wir werden meinen Schwarzen Ritter gemeinsam finden.«

Simon beobachtete, wie die Sonne als ungleichmäßiger Strahl über den Höhlenboden kroch, und sein nutzloser Atem drang nun vor Angst in keuchenden Stößen hervor. Er beobachtete sie schon seit einer Stunde, wie sie, zuerst fahl, dann heller, immer näher kam. Er konnte sich im Geiste bereits brennen sehen, seine Haut in Flammen auflodernd, seine Kleidung wie Pergament vom Feuer vereinnahmt. Das Mädchen lag noch immer in seinem Schoß, ihr Kopf an seiner Schulter. Ihr Blut sickerte aus ihrem Handgelenk auf seinen Bauch, durchtränkte heiß und klebrig sein Hemd. Er spürte jeden ihrer Herzschläge. Sie starb, auch wenn er sie nicht berührt hatte. Aber er würde sie nicht anrühren. Ein langer Schluck ihres Blutes seine Kehle hinab, und er hätte die Kraft, die Ketten zu sprengen, die ihn fesselten, und in die Dunkelheit zu entkommen. Aber ein Schluck würde für den Hunger, der ihn verzehrte, niemals genügen. Er würde diese Unschuldige gänzlich verzehren. Ihr Tod wäre sein Verbrechen, nicht mehr Kivars. Aber das würde er nicht tun. Sein Schöpfer hatte ihm eine Prüfung auferlegt, anhand derer er beweisen sollte, dass er ein Ungeheuer war, kein Ritter. Aber Kivar irrte sich.

Er ballte die Hände zu Fäusten, und Francis’ Ring drückte sich in seine Haut, eine Warnung und ein Trost. Das Verlangen nach Rache erschütterte ihn wie ein weiterer physischer Schmerz, aber auch das war falsch. Francis war im Himmel bei Gott. Er brauchte keine Rache. Würde Simon in Gnade aufgenommen, würde er ihm folgen.

»Vergib mir, Herr«, murmelte er. Seine Stimme drang als Tierknurren hervor, und der Name des Allmächtigen verbrannte seine Zunge. »Vergib mir alle meine Sünden.« Das Paradies wäre Irland, ein grünes Land am Meer. »Vergib mir all die Tode, die ich verursacht habe, den Schmerz, der mich in der Abscheulichkeit meiner Sünde erfreut hat.« Er wäre bei Francis und seinem Vater, er würde das Gesicht seiner Mutter wiedersehen. Seine Augen brannten vor Tränen, die nicht fließen wollten. Er hatte nicht mehr genug Blut in sich, um weinen zu können. »Rette mich durch Deine Gnade, und bring mich nach Hause.« Die Sonne kroch näher heran. Er spürte ihre Wärme allmählich auf seiner Haut, ein Schatten des bevorstehenden Brennens. »Gib mich nicht der Dunkelheit preis.« Preisgeben … er gab Isabel preis. Sie ist stark, hatte Kivar gesagt. Vielleicht habe ich eine schlechte Wahl getroffen. Er würde zu ihr gehen, sie vernichten, und Simon würde ihn nicht aufhalten können. Simon wäre tot, schließlich vom Licht aufgezehrt. Auch Orlando könnte sie nicht beschützen. Und Brautus ebenfalls nicht. Der Teufel würde sie holen.

»Nein!« Er schrie so laut, dass der Boden um ihn herum erzitterte und Schmutz sein Gesicht hinabrieselte, aber er konnte sich dennoch nicht von den Ketten befreien. Er hatte noch immer keine Kraft.

»Mylord?« Das Mädchen regte sich, hob den Kopf. »Mylord, ich habe Angst.« Sie klammerte sich an ihn, und ihr Herz schlug schneller. Der Hunger wütete in ihm, schärfte die Zähne in seinem Mund.

»Alles ist gut.« Ihre Kehle wäre für ihn jetzt leicht zu erreichen gewesen, obwohl er an die Wand gekettet war. Er musste nur den Kopf beugen, um sich zu befreien. Und die Sonne kroch noch immer näher heran, das Feuer stieg heiß in ihm auf. »Du musst davonlaufen.«

»Nein«, sagte sie weinend, ihr Gesicht an seine Schulter gepresst, und verbrannte seine Haut mit ihren Tränen. »Er wird mich finden.«

»Nein«, versprach Simon, versuchte, sie zu trösten und seine Stimme natürlich und ruhig klingen zu lassen. Ein Kind, sagte er sich immerzu, die Worte im Geiste wiederholend, um das Tosen ihres Blutes und das Schlagen ihres Herzens zu übertönen. Ein wildes Tier hatte Kivar sie genannt, nicht besser als ein Schaf. Aber sie war kein wildes Tier, sie war ein unschuldiges Kind. »Er wird dich nicht finden, nicht im Sonnenschein. Er kann dir im Licht nichts antun.«

»Doch, das kann er«, beharrte sie und klammerte sich noch fester an ihn, so fest, dass er ihr Herz an seiner Brust pochen spürte. »Ich weiß, dass er es kann. Ich möchte bei Euch bleiben.«

»Ich sagte geh!« Sie schrie und wich zurück, als er vorwärtsstürzte, wobei seine Augen grün leuchteten und er die Zähne bleckte. Die Bolzen, die ihn hielten, knirschten, würden bald nachgeben. »Lauf«, befahl er, obwohl sein Körper unkontrolliert darum rang, sie zu erreichen. »Lauf, und schau nicht zurück.«

»Ja …« Seine bannende Dämonenkraft war noch intakt. Sie konnte sich ihm nicht widersetzen. Sie wich zurück, konnte ihm selbst in ihrem Entsetzen nicht trotzen. »Mylord …« Noch immer blutend, ihr Herzschlag noch immer wie Donner, wandte sie sich um, entfloh der Höhle und drängte ins Licht.

Simon sank gegen die Mauer, vom schweren Schluchzen des Schmerzes und der Qual geschüttelt, vom kummervollen Heulen, das durch die Höhle hallte, die seine Folter war und zu seinem Grab würde. Bald wäre es vorbei. Sobald er frei wäre, wäre Isabel verloren. Aber er wusste nicht, was er tun sollte.

Malachi war allein zum Schloss zurückgekehrt, mit einem Kratzer am Bein, aber ansonsten unversehrt, und sie folgten der deutlichen Spur, die er im Wald hinterlassen hatte. Es sah so aus, als sei er den ganzen Weg direkt durchs Gestrüpp galoppiert. »Was hat dich so verängstigt, Lieber?«, murmelte Isabel und beugte sich tief über seinen Hals, um einem tief hängenden Zweig auszuweichen. »War es Simon?«

»Horcht«, sagte Orlando und hielt neben ihr an. »Habt Ihr das gehört?«

»Ich denke schon.« Sie glaubte, einen schrecklichen Laut wie das Heulen eines verwundeten Tieres gehört zu haben, aber er war so rasch verklungen, dass sie es sich auch hätte einbilden können, hätte Orlando es nicht auch gehört.

»Hier entlang«, sagte Orlando grimmig und übernahm die Führung.

Ungefähr eine Meile tiefer im Wald hörten sie ein weiteres seltsames Geräusch, leiser, aber dieses Mal anhaltend. »Lisette!«, rief Isabel, sprang von Malachis Rücken und lief zu einem am Weg kauernden Mädchen, das so gut im Gestrüpp verborgen war, dass Isabel es fast gänzlich übersehen hätte. »Armer Liebling, du bist verletzt«, sagte sie. »Orlando, sie blutet.«

Das Mädchen war hysterisch und kaum zu verstehen. »Sir Simon«, schluchzte sie. »Er ist krank.« Sie schien blutbedeckt, aber die einzige Wunde, die Isabel sehen konnte, war ein tiefer Schnitt an ihrem Handgelenk. »Etwas Schreckliches …«

»Hat er das getan?«, fragte Isabel sanft, während sie den Schnitt verband. Orlando trat näher und reichte ihr seinen Umhang, und sie schlang ihn um das Mädchen. »Hat Sir Simon dich verletzt?«

»Nein«, beharrte Lisette. »Er hat es nicht getan … ein anderer Mann. Er war wie ein Dämon … Er hat mich aus dem Haus meines Vaters in eine Höhle entführt und mich gefesselt dort zurückgelassen. Und dann brachte er auch Sir Simon dorthin. Nur dass er verletzt war. Sir Simon war verletzt, niedergeschlagen oder so, und der andere Mann kettete ihn an die Mauer.«

»Welcher andere Mann, Lisette?«, fragte Isabel und streichelte das Haar des verängstigten Kindes, versuchte es zu beruhigen. »Wie hat er ausgesehen?«

»Michel«, antwortete sie. »Dieser Franzose – ich habe ihn gesehen, als er sagte, er wolle nach Charmot. Ich hatte mich in der Scheune versteckt, als er meinen Vater befragte, als er den Weg zum Schloss finden wollte. Aber er klang nicht wie er selbst.«

»Lucan Kivar«, sagte Orlando und erbleichte.

»Sir Simon wachte auf, und er und Michel sprachen miteinander, aber nichts davon ergab einen Sinn.« Sie schaute zu Isabel hoch. »Ich hatte solche Angst, dass ich nicht denken konnte, aber Sir Simon sagte mir, alles würde gut. Aber etwas stimmte nicht mit ihm. Dieser Schurke warf mich auf den Boden, und ich schlug mit dem Kopf auf, und als ich erwachte, war er fort. Michel war fort, und mein Handgelenk blutete, und ich fühlte mich so schwach.«

»Wo war Simon?«, fragte Orlando und behielt offensichtlich nur mühsam einen ruhigen Tonfall bei.

»Noch immer in Ketten«, antwortete das Mädchen. »Ich lag auf seinem Schoß … Ich hatte solche Angst. Ich wollte ihn nicht allein lassen. Ich hatte Angst, Michel würde mich finden. Aber etwas stimmte nicht mit Sir Simon. Er … ich weiß nicht.« Ihr Gesicht war völlig bleich, und ihre Augen vor Angst wild.

»Hat er dich gebissen?«, fragte Isabel und legte eine Hand an ihre Wange.

»Nein«, antwortete sie. »Aber … er hatte Zähne wie ein Wolf, und seine Augen loderten wie grünes Feuer. Er zwang mich davonzulaufen.« Sie schmiegte sich an Isabel, die sie festhielt, sie in ihre Arme nahm.

»Seht Ihr?«, sagte Orlando. »Ihr habt gehört, dass er diesem Kind nichts angetan hat …«

»Wo ist diese Höhle?«, fragte Isabel und unterbrach ihn damit.

»Nicht weit weg«, antwortete Lisette und deutete in eine Richtung. »Ich konnte nicht weiter laufen.«

»Ist schon gut.« Sie lächelte dem Mädchen zu. »Meister Orlando wird dich zum Schloss zurückbringen. Du bist jetzt in Sicherheit.«

»Ich werde mit Euch gehen«, beharrte der Zauberer. »Ihr werdet nicht wissen, was zu tun ist.«

»Ich weiß genug.« Sie kannte diese Höhle, hatte als Kind oft dort gespielt. Ein Teil der Decke war offen. Dort zog der Rauch ab, wenn man ein Feuer entfachte. Dort würde die Sonne hineinscheinen. »Lisette ist schwer verletzt. Jemand muss sich um sie kümmern.« Er wollte protestieren, und sie ergriff seinen Arm. Sie hatte noch immer die Flasche in der Tasche. Sie könnte ihm erneut drohen. Aber sie tat es nicht. »Ihr werdet mir vertrauen müssen.«

Er betrachtete forschend ihr Gesicht. »Ja«, sagte er schließlich und legte seine Hand über ihre. »Ich werde Euch vertrauen.«