3

Isabel hatte vermutet, dass Brautus schockiert wäre, wenn er erfuhr, dass sie Simon hatte bleiben lassen, um die Katakomben zu erkunden. Aber sie hatte keinesfalls erwartet, dass er zornig werden würde.

»Bist du verrückt?«, fragte er und riskierte die Gesundheit seiner Schulter, um sich im Bett aufzusetzen, sobald sie ihm alles erzählt hatte, was am Abend zuvor, während er nicht im Schloss war, geschehen war.

»Nicht dass ich irgendein Anzeichen dafür bemerkt hätte.« Sie stellte das Frühstück vor ihm ab. »Aber wie sollte ich es auch, wenn ich tatsächlich verrückt wäre?«

»Du bist es, vertrau mir.« Er sah das Tablett finster an, als hegte er einen Groll dagegen. »Und was würde dein Vater dazu sagen, wo ich hier im Bett liege wie ein Säugling, während seine Tochter irgendeinen Fremden und seinen Kobold in sein Arbeitszimmer bringt? Dieser Mann könnte irgendwer sein!«

»Er ist mein Verwandter«, beharrte sie und breitete eine Serviette über seine Brust. »Du hast ihn das selbst sagen hören.«

»Ja, ich habe ihn gehört. Aber woher soll man wissen, dass er kein Lügner ist?«

»Ich weiß es.« Sie reichte ihm einen Löffel. »Ich habe es dir schon gesagt. Er ist mein irischer Cousin. Er war früher ein Ritter. Er wurde im Heiligen Land mit einem Fluch belegt.« Er nahm den Löffel, ohne hinzusehen, und starrte sie stattdessen ungläubig an. »Papa kam in einem Traum zu ihm und sagte ihm, er solle nach Charmot ziehen, weil die einzige Möglichkeit, seinen Fluch zu brechen, hier verborgen sei.«

»Und du glaubst diesen Haufen …«

»Das tue ich.« Sie setzte sich auf die Bettkante. »Ich habe für ihn gebetet, Brautus. Ich habe zu Gott und zu meinem Vater gebetet – und ich habe sogar zu den heidnischen Göttern der Druiden gebetet. Schickt mir einen wahren Schwarzen Ritter.«

»O gütiger Himmel …«

»Und das haben sie getan«, schloss sie. »Brautus, denk nur – ein Ritter, der einem Fluch unterliegt, von Gott selbst verflucht, oder zumindest glaubt Simon das. Klingt das für dich nicht nach einem Schwarzen Ritter? Und du hast ihn gesehen. Man kann sogar unter diesem albernen Gewand erkennen, wie stark er ist. Und er muss ein guter Kämpfer sein, oder warum würde er sich sonst für verflucht halten?«

»Weil er so ungeschickt ist, dass er aus Versehen seinen eigenen Herrn getötet hat?«, schlug Brautus vor. »Weil er unter diesem Gewand ein Aussätziger ist? Weil er Babys auf Spießen röstet und sie an Aschermittwoch isst? Vertrauen, Mädchen, wo ist dein Verstand?«

»Brautus, ich glaube ihm«, beharrte sie. »Nicht dass Gott ihn wirklich verflucht hat, nein, aber ich glaube, dass er es glaubt. Und wenn er denkt, Charmot sei das Heilmittel, dann umso besser. Er wird uns helfen, Brautus. Ich weiß es.« Sie hielt inne, war sich noch immer nicht sicher, ob sie ihm auch den Rest erzählen sollte. »Ich habe ihn gefragt.«

»Ihn was gefragt?«, wollte er stirnrunzelnd wissen.

»Ich habe ihn gefragt, warum er verflucht worden ist«, antwortete sie. »Ich habe ihn gefragt, ob er ein Mörder ist, und er sagte ja, das sei er. Ich fragte ihn, ob er wieder töten könne, wenn er es tun müsse, und er sagte, er könne es.«

»Gütiger Gott«, wiederholte er. »Das ist alles meine Schuld.« Er schob sein Frühstück unangetastet beiseite. »Ich hätte dich den ersten kleinen Schwächling heiraten lassen sollen, den der König schickte, um dich zu fordern, und gut – er wäre inzwischen zweifellos tot und begraben, und du wärst frei.«

»Mach dich nicht lächerlich«, höhnte sie.

»Du warst einfach noch so jung«, fuhr er fort, als hätte er sie nicht gehört. »Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, dass du die Ehefrau eines fremden Mannes würdest, noch nicht … und jetzt ist es so weit gekommen.« Seine hellblauen Augen wirkten müde und traurig, als sie schließlich den ihren begegneten. »Du sagst, dieser Mann habe zugegeben, ein Mörder zu sein – Gott schütze uns. Was ist, wenn er auch ein Lügner ist?«

»Dann ist er ein Lügner. Welchen Unterschied würde das schon machen?« Sie erhob sich von der Bettkante. »Er hat nicht einmal ein Schwert, Brautus. Ich habe keine Angst vor ihm. Und wenn er uns helfen wird, wenn er Charmot verteidigen wird, kümmert es mich nicht, ob er ein Aussätziger oder eines dieser anderen Dinge ist, die du genannt hast. Und wenn nicht …« Sie wollte nicht einmal daran denken. Sie wollte glauben, wie sie gestern Abend geglaubt hatte, dass ihre Probleme gelöst wären, dass sie endlich aufhören könnte, sich Sorgen über die Zukunft zu machen, wenigstens für eine kleine Weile. War das zu viel verlangt? »Wenn Simon ein Lügner ist und er uns nicht helfen wird, werde ich dann schlimmer dran sein als zuvor? Wenn irgendein Schurke kommt und mir Charmot fortnimmt, was macht es dann, wenn ein Lügner in unseren Katakomben sitzt?«

»Was ist, wenn dieser Simon der Schurke ist?«, fragte Brautus freundlicher. »Was ist, wenn all seine Geschichten nur eine List sind, um ins Schloss zu gelangen, ohne kämpfen zu müssen? Was ist, wenn er derjenige ist, der gekommen ist, um Charmot und dich für sich einzufordern?«

»Nein.« Sie schüttelte den Kopf und wandte ihrem Beschützer den Rücken zu. »Wenn er Charmot hätte einnehmen wollen, dann hätte er es gestern Abend tun können. Wenn er mich dazu hätte bringen wollen, ihn zu heiraten oder …« Sie brach mit bitterem Lächeln ab. »Vertrau mir, Brautus. Das hat er nicht getan.«

»Dann ist er ein umso größerer Narr.«

»Und ich bin froh darüber.« Sie wandte sich lächelnd wieder zu ihm um. »Du brauchst nicht so zu tun, als wäre es nur mein Fehler, dass er durch das Tor gelangt ist, weißt du.« Sie nahm die Schale und den Löffel und setzte sich wieder aufs Bett. »Du hast ihn und Orlando passieren lassen.«

»Nein, das tust du nicht«, schalt Brautus und nahm sein Frühstück wieder an sich. »Ich bin noch nicht so schwach, dass ich mich von dir füttern lassen muss.« Er nahm einen Löffel voll. »Ich wollte ihn nicht vorbeilassen, wenn du es wissen willst. Das war Malachi.«

»Malachi?«, fragte sie lachend. »Brautus, Malachi ist ein Pferd.«

»Als dein Freund Simon die Zugbrücke betrat, glaubte ich, dass ich nicht einmal eine Hand erheben müsste, um ihn abzuweisen. Ich dachte, das Pferd würde genügen«, antwortete er. »Malachi riss sich los und bäumte sich auf, als wollte er Simon ein Loch in den Schädel schlagen, so wild wie ein ungezähmtes Fohlen.«

»Ich habe gesehen, wie er sich aufbäumte«, räumte Isabel ein. »Aber ich dachte, du hättest ihn dazu gebracht.«

»Nicht ich – ich konnte mich gerade so im Sattel halten.« Sein Blick begegnete erneut dem ihren. »Dann hat er ganz plötzlich seine Meinung geändert. Er hat diesem Simon gegenübergestanden als … Es war, als hätte er sich vor ihm verbeugt.« Seine Miene umwölkte sich, und sie hörte seine Stimme zittern. »Du bist zu jung, um dich daran zu erinnern, Kind, aber sein Vater pflegte sich so vor deinem Vater zu verbeugen, damals, in den Kriegszeiten. Darum habe ich geglaubt, dass dieser Mann vielleicht die Wahrheit sagt, dass er wirklich Sir Gabriels Verwandter ist.« Sein Gesicht wurde wieder hart. »Aber jetzt höre ich dich die Geschichte eines Fluches und einer Vision erzählen, und ich denke, ich werde wohl allmählich auch verrückt.«

»Er ist mein Verwandter, Brautus. Wenn es so weit ist, wird er Charmot verteidigen.« Sie drückte seine Hand. Diese Geschichte von Malachi machte sie noch sicherer, dass sie die richtige Wahl getroffen hatte, noch sicherer, dass Simon genau das war, als was sie ihn kennengelernt hatte, ob es ihm nun bewusst war oder nicht. Aber sie wusste es besser, als dass sie versucht hätte, diesen Punkt unbedingt mit Brautus zu erörtern. »Und wenn er es nicht tut, kannst du ihn persönlich umbringen.«

Simon gähnte erneut, und die fremdartigen Buchstaben des uralten Kodes auf der Schriftrolle verschwammen vor seinen Augen. Nach zehn Jahren Studium konnte er einen Großteil der Schriften der Heiligen und Zauberer, die den Kelch vor der Welt verborgen hatten, entziffern, fast ebenso gut, wie Orlando es konnte. Aber nicht, wenn er schon halb schlief. »Es dämmert schon bald«, sagte er und legte die Schriftrolle beiseite.

»Die Dämmerung ist wahrscheinlich schon vorbei«, stimmte Orlando ihm zu. Sie hatten beschlossen, den Schriftrollen hier in diesem Raum alles ihnen Mögliche zu entnehmen, bevor sie sich in die Katakomben selbst begaben. Sie würden hoffentlich einen Hinweis finden, der sie durch das Labyrinth leiten könnte. Aber bisher schien sich alles auf die Geschichte dieses Sees und dieser Insel sowie der Riten der Menschen zu konzentrieren, die einst hier gelebt hatten – faszinierend zu lesen, aber für ihre Suche nicht sehr nützlich. Bisher hatte keiner von ihnen auch nur eine direkte Erwähnung des Kelchs gefunden. Aber ihre starke gemeinsame Vorahnung, dass er hier sein musste, blieb dennoch bestehen. »Zweifellos wird dieses törichte Mädchen jeden Moment hier herunterkommen, um uns den Tag über auszusperren.«

»Sie ist kein törichtes Mädchen«, erwiderte Simon mit leichtem Tadel in der Stimme. »Dieses Schloss und diese Katakomben gehören ihr, und wir sind Fremde. Ich kann es ihr nicht verdenken, dass sie eine gewisse Kontrolle über unser Vorhaben behalten will.« Er nahm eine weitere Schriftrolle zur Hand. »Außerdem mag ich sie.«

»Das weiß ich«, erwiderte Orlando scharf genug, dass der Vampir aufschaute. »Ich auch«, fügte der Zwerg hinzu. »Und ich fürchte, das wird hier unsere größte Schwierigkeit sein.«

»Warum sollte es?«, fragte Simon. »Ich habe nicht die Absicht, sie zu beißen, wenn dir das Sorgen bereitet.«

»Nur weil Ihr das nicht beabsichtigt, heißt das noch lange nicht, dass Ihr es auch nicht tun werdet«, erklärte Orlando mit verzerrtem Lächeln. »Aber nein, das bereitet mir keine Sorgen, oder nicht nur das.« Er legte die Schriftrolle, die er gerade gelesen hatte, wieder in ihre steinerne Truhe. »Der Kelch befindet sich hier in Charmot, das glauben wir beide. Irgendwo in diesen Katakomben endet unsere Reise, wartet die Belohnung für unsere Suche. Aber Lady Isabel weiß nichts davon, oder nur das Wenige, was Ihr ihr erzählt habt. Und doch erlaubt sie Euch zu bleiben.«

»Und ich für meinen Teil bin froh darüber«, sagte Simon eher gereizt. »Du nicht?«

»Natürlich bin ich das«, antwortete der Zauberer. »Aber ich fürchte die Gründe der Lady. Sie will etwas von Euch, Krieger, und ich fürchte, ich kann nur allzu leicht vermuten, was es ist.«

»Sie will, dass ich Charmot beschütze«, antwortete Simon. Er erlaubte es sich zum ersten Mal, seit es geschehen war, an den Moment zurückzudenken, in dem Isabel anscheinend beschlossen hatte, ihn bleiben zu lassen, an die seltsame Trance, die sie geteilt hatten. »Sie denkt, ich bin irgendein Schwarzer Ritter, ein Ersatz für den Riesen, den wir gestern an den Toren sahen. Sie denkt, ihr Vater hätte mich hierhergeschickt, um sie vor … irgendetwas zu retten.« Er wandte sich ab, und die Schläfrigkeit, die er während der Tagesstunden stets empfand, machte ihn träge und benommen. »Ich weiß nicht, was genau sie fürchtet, aber ich konnte erkennen, dass sie Angst hat.«

»Und Ihr wollt sie beschützen, wovor auch immer – es liegt in Eurer Natur, die Unschuldigen zu beschützen, auch als Vampir.« Er lächelte. »Und wie Ihr bereits sagtet, mögt Ihr sie.«

»Mögen die Engel deswegen Mitleid mit ihr haben«, erwiderte Simon. »Welchen Schutz kann ich ihr schon bieten, Orlando, auch wenn ich sie mag?«

»Wer weiß?«, konterte der Zwerg. »Ihr sagt selbst, dass Ihr nicht wisst, was dieses Mädchen bedroht, was sie fürchtet. Euer Fluch macht Euch vielleicht zu ihrem perfekten Beschützer – der Schwarze Ritter, nannte sie Euch? Das finde ich wirklich passend.«

»Vielleicht«, räumte Simon ein und erhob sich, um seine Schriftrolle fortzuräumen, aber Orlando ergriff seinen Arm.

»Ihr könnt Euch nicht an diese Frau binden, Krieger«, beharrte Orlando drängend, fast furchtsam. »Ihr könnt nichts Böses tun, um sie zu retten, ganz egal, was sie von Euch braucht.«

»Sei nicht lächerlich«, erwiderte Simon und wollte sich von Orlando losmachen, aber der Zauberer ließ das nicht zu. »Was könnte sie schon Böses wollen? Sie ist kaum mehr als ein Kind, eine Arglose …«

»Eine Arglose, die Euch gefragt hat, ob Ihr für sie töten würdet, oder habt Ihr das bereits vergessen?«, unterbrach ihn sein Mentor. »Und Ihr habt gesagt, Ihr könnt es. Zwischen euch ist bereits etwas geschehen, wie unschuldig es auch immer sein mag.« Sein Griff festigte sich um Simons Arm. »Vielleicht ist es nicht mehr als das, ihre reine Unschuld, oder ihr hübsches Gesicht, aber sie beansprucht bereits zum Teil Eure Pflichttreue. Habt Ihr nicht gemerkt, wie schnell Ihr sie verteidigt habt, als ich sie ein törichtes Mädchen nannte?«

»Das hatte nichts zu bedeuten«, protestierte Simon.

»Nein?«, erwiderte Orlando. »Selbst wenn sie nicht mehr will, als einen noblen Cousin in ihrem Schloss zu beherbergen, könnte sie Euch noch immer von Eurer Suche abbringen und Euch vergessen lassen, warum Ihr hierhergekommen seid und was Ihr zu finden hofft.«

»Das ist wenig wahrscheinlich.« Endlich konnte sich Simon befreien. »Glaubst du, ich könnte auch nur einen Moment lang vergessen, was ich bin, Orlando? Glaubst du, es verfolgt mich nicht jeden Moment, den ich mit dieser Frau zusammen bin?«

»Doch, das glaube ich«, erwiderte Orlando und nickte. »Aber was ist, wenn das, was Ihr seid, das ist, was sie braucht? Und was ist, wenn dieses Bedürfnis Eurem Bedürfnis nach dem Kelch entgegensteht?«

»Wie könnte das sein?«

»Wer weiß?« Der Zwerg wirkte plötzlich müde und älter, als er ihm jemals zuvor erschienen war. »Ich habe zu viel gesehen, Krieger. Ich weiß, welche Listen das Schicksal anwenden kann. Wir sind aus einem Grund hierhergekommen, aber ich fürchte die anderen Kräfte, die hier auch walten könnten, die anderen Ziele, denen wir entgegengeführt werden könnten.«

»Du machst dir zu viele Sorgen, alter Mann«, sagte Simon und legte Orlando eine Hand auf die Schulter. »Nur weil Lady Isabel meinen Schutz will, bedeutet das noch nicht, dass ich ihn ihr zu gewähren beabsichtige – ich kann es nicht. Ich sagte ihr, ich könne töten, aber ich habe niemals versprochen, dass ich für sie töten würde, und ich werde es auch nicht tun. Ich kann mich nicht an sie binden. Ich bin bereits verschworen. Meine Wahl ist bereits getroffen.«

»Seid Ihr Euch sicher?«, fragte Orlando. »Könnt Ihr das feierlich versprechen? Ich frage nicht nur um Euretwillen, sondern auch für Roxanna …«

»Verzeihung, Mylord.« Ein Dienstmädchen spähte zur Tür herein. »Mylady kommt gleich hierher, und ich fragte mich, ob Ihr vielleicht gern Frühstück gebracht haben möchtet.« Sie sah Simon von oben bis unten an, ein kokettes Lächeln umspielte ihre hübschen Mundwinkel. »Euer Zimmer wurde bereits hergerichtet.«

»Nein«, antwortete Simon. »Kein Frühstück.« Das Mädchen war so unerwartet aufgetaucht, dass er sich leicht benommen fühlte, ihr Herzschlag tönte einen Moment wie Donner in seinen Ohren, bevor er sich an ihre Anwesenheit gewöhnte. Er hatte sich seit den Schurken in der Kirche nicht mehr genährt. Er sollte es nicht riskieren, in die Nähe eines lebenden Wesens zu kommen, bevor das geschehen war.

»Sagt Lady Isabel, ich kümmere mich um meinen Herrn«, bemerkte Orlando. »Sie braucht sich nicht zu bemühen.« Seine Miene wurde streng. »Oder Euch jemals wieder herzuschicken.«

Das Lächeln des Mädchens verschwand. »Wie Ihr wünscht«, antwortete sie nickend und offensichtlich pikiert. »Mylady wird bald hier sein.« Sie versank vor Simon in einen Hofknicks und verließ beleidigt den Raum.

»Ich denke nicht, dass ich Isabel sehen sollte«, sagte Simon, als sie fort war. Der Duft des Mädchens hing noch in der Luft, aufreizend und köstlich, und er bemühte sich, ihn zu ignorieren.

»Ich auch nicht«, stimmte Orlando ihm zu. »Geht und seht Euch Euer Zimmer an. Ich werde ihr sagen, dass Ihr bereits schlaft.«

»Ja.« Er nickte. Aber in Wahrheit war er enttäuscht. Er wollte seine angebliche Cousine sehen. Wenn er ehrlich gewesen wäre, hätte er zugegeben, dass er sich schon die ganze Nacht darauf gefreut hatte. Aber das war schon für sich gefährlich. Er sollte sie nicht sehen wollen, sollte überhaupt nicht an sie denken. Konnte Orlando Recht haben? Könnte Isabel ihn tatsächlich von seiner Suche ablenken? »Orlando, ich verspreche dir«, sagte er, und hielt an der Tür inne, »was auch immer geschehen mag, ich werde den Kelch nicht aufgeben.«

Isabel lief auf der Treppe an Susannah vorbei. »Was ist los?«, fragte sie und lachte über den verdrießlichen Ausdruck auf dem ansonsten freundlichen Gesicht des Mädchens.

»Euer Verwandter ist eine Schönheit, Mylady«, antwortete das Dienstmädchen. »Aber dieses kleine Ungeheuer bei ihm kann mir gestohlen bleiben.«

»Du tätest besser daran, die beiden in Ruhe zu lassen«, riet Isabel. Susannah war die notorischste Poussiererin des Schlosses. Nur der Himmel wusste, welchen Schaden sie bei Simon und seiner Bußfertigkeit anrichten konnte, wenn man ihr die Zügel schießen ließ. »Wie bist du hierhergekommen? Ich habe dich in der Halle nicht gesehen.«

»Ich kam von draußen, durch die Kellertür«, antwortete sie. »Ich war im Garten, und plötzlich dachte ich, Eure Gäste hätten vielleicht gerne ein Frühstück.«

»Vermutlich war dem nicht so«, sagte Isabel, darum bemüht, eine ernste Miene beizubehalten. »Ist Sir Simons Zimmer hergerichtet?«

»Ja, Mylady.« Das Mädchen verfiel, angemessen beschämt, in einen Hofknicks und eilte dann die Treppe hinauf davon.

Der kleine Lagerraum war noch immer eher eine Erdhöhle als ein einem richtigen Adligen angemessener Raum, aber er sah schon wesentlich gemütlicher aus als am Abend zuvor. Zwei Betten waren in Einzelteilen heruntergetragen und wieder zusammengebaut worden, eines groß und eines klein, und zwei mit dicken Teppichen bedeckte Truhen würden ausreichend Sitz- und Staumöglichkeiten bieten. Die feuchten Erdwände zu beiden Seiten waren mit einfacher blauer Wolle verdeckt, und ein weiterer, kunstvollerer Wandteppich mit der goldenen Eiche von Charmot auf rotem Grund über das größere Bett gehängt worden. Die Ecken waren mit frischen Fackeln bestückt, und eine Kerze stand auf einem kleinen Tisch neben dem größeren Bett bereit. Jemand hatte sogar frische Kleidung für Simon bereitgelegt, einen einfachen, schwarzen Waffenrock und eine Hose, die einst ihrem Vater gehört hatte, mit einem frischen, weißen Hemd zum Darunterziehen.

Isabel nahm den Waffenrock hoch und erinnerte sich ebenso deutlich an das letzte Mal, als ihr Vater ihn getragen hatte, wie sie sich erinnern konnte, heute Morgen die Treppe herabgekommen zu sein. Sie presste ihr Gesicht in die weichen Falten und atmete tief ein, als könnte sie noch immer einen Hauch seines Duftes erhaschen. Wie viele Male hatte sie ihre Wange an sein Gewand gepresst und seine Arme um sich gespürt, die ihr ein Gefühl der Sicherheit vermittelten? Wie hatte sie es so lange in dem Bewusstsein aushalten können, dass sie dies niemals wieder empfinden würde?

Simon stand im Eingang und sah sich um. Es war ein schöner Raum, der beste, den er seit geraumer Zeit als Unterschlupf gehabt hatte. Aber es war nicht der Raum, der ihn schweigen ließ und ihn bannte. Er hatte Isabel vollkommen meiden wollen, bis er geruht und sich genährt hatte, aber nun, wo er sie sah, konnte er sich nicht vorstellen, den Blick jemals wieder von ihr abzuwenden.

Isabel spürte den Blick und wandte sich um. »Guten Morgen, Cousin«, sagte sie mit leisem, verlegenem Lachen. Was musste er denken, wenn er sie so sah? »Habt Ihr gefunden, wonach Ihr gesucht habt?«

»Noch nicht.« Er betrat den Raum. »Ich fürchte, wir müssen Eure Geduld noch ein wenig länger strapazieren.«

»Das macht uns nichts aus.« Sie legte den Waffenrock auf das Bett. »Jemand muss geglaubt haben, Ihr brauchtet etwas Besseres zum Anziehen«, erklärte sie. »Es war wahrscheinlich Hannah – sie sagte gestern Abend, es sei eine Schande, wenn Ihr in diesem zerrissenen Gewand gesehen würdet, wo Ihr doch der Verwandte meines Vaters seid.« Er betrachtete sie immer noch, ein Mundwinkel zu einem kaum wahrnehmbaren Lächeln verzogen. Hör auf zu plappern, schalt sie sich. Du klingst wie eine Törin. »Aber andererseits ist Euch Euer Gewand sicher lieber, wegen Eurer Buße.«

»Nein«, antwortete Simon. »Tatsächlich ist das nicht so. Danke.« Er lächelte. »Oder vielmehr: dankt Hannah.« Er hatte befürchtet, der seltsame Hunger, den er Isabel gegenüber am Abend vorher empfunden hatte, wäre schlimmer geworden, aber das war seltsamerweise nicht der Fall. Jetzt, wo er mit ihr zusammen war, konnte er fast vergessen, dass er überhaupt nach Blut hungerte. »War sie es, die Ihr herabgeschickt habt, um zu fragen, ob ich frühstücken wolle?«

»Ich habe niemanden herabgeschickt. Ich hatte angenommen, dass Ihr nicht frühstücken wollt.« Sie zündete an einer der Fackeln eine Kerze an. »Susannah hat von sich aus gefragt«, erklärte sie. »Ich fürchte, sie und Euer Orlando werden niemals Freunde werden. Was hat er zu ihr gesagt?«

»Nichts, wirklich.« Wie lange war es her, dass er sich gestattet hatte, diese Art einfacher Unterhaltung mit jemandem zu führen, noch viel weniger mit einer Frau? Er empfand es als tröstlich, als aufregend. Aber was hatte sie gedacht, als sie ihr Gesicht an dieses Gewand gepresst hatte? Wagte er es, danach zu fragen? »Ich denke, Orlando macht sich Sorgen, dass ich zur Sünde verleitet werden könnte.«

»Ich mache mir auch selbst ein wenig Sorgen«, sagte sie mit leisem Lachen. »Wenn jemand Euch verleiten könnte, dann wäre es Susannah.«

»Dessen bin ich mir nicht so sicher.« Isabel sah ihn überrascht an. Das klang fast, als wollte er mit ihr schäkern. Aber das war unmöglich, oder? »Wer ist dann Hannah?«, fragte er.

»Hannah ist älter«, antwortete sie. »Susannah ist ihre Nichte. Ihr Ehemann, Kevin, arbeitet mit Tom, deren Sohn, in den Ställen – Hannahs Ehemann und Sohn, nicht Susannahs. Susannah ist nicht verheiratet.« Sie setzte sich auf eine der Truhen. »Dann sind da Mary und Margaret und Glynnis – sie arbeiten in der Küche. Glynnis ist Kevins Mutter, und ihr Ehemann, Wat, war zu Zeiten meines Vaters der Hufschmied. Aber jetzt ist er zu alt, um noch viel mehr zu tun, als Pflüge und Ähnliches zu schärfen.« Simon gähnte, auf der Bettkante sitzend, und sie lachte. »Aber ich langweile Euch offenbar bis zum Schlaf.«

»Nein, wirklich, das tut Ihr nicht«, beteuerte er. »Ich möchte es hören.« Wenn er ihr nur sagen könnte, wie froh er darüber war, zuhören zu können, wie lange es her war, seit er jemanden über das bloße, einfache Leben hatte reden hören. So schläfrig er auch war, saugte er ihre Worte doch auf, wie eine Wüste Wasser aufsaugt. »Also sind Kevin und sein Sohn die einzigen Männer in den besten Jahren im Schloss?«

»Beinahe«, räumte sie ein. Sie dachte einen Moment an Brautus’ Warnung – konnte es sein, dass Simon sie danach fragte, weil er etwas über die Stärke Charmots erfahren wollte und einen Angriff plante? Aber sie ließ den Gedanken ebenso rasch wieder fallen, wie er ihr in den Sinn geschossen war. »Ihr habt sie übrigens gestern Abend im Hof gesehen, erinnert Ihr Euch? Raymond und der zweite Tom helfen auf den Feldern, wie auch andere, aber sie leben nicht im Schloss selbst. Raymonds Frau, Mary, lebte hier, bevor sie heirateten, aber seit das Baby da ist, bleibt sie meist in ihrem Häuschen in den Wäldern.« Er lächelte erneut, offensichtlich belustigt, und auch sie konnte ein Lachen nicht unterdrücken. »Ihr könnt das doch nicht wirklich alles hören wollen.«

»Ihr wärt überrascht.« In Wahrheit kümmerte es ihn nicht, was sie sagte, solange sie nur weitersprach. Am Abend zuvor war sie ihm in ihrem kunstvollen, weißen Gewand wie eine gefangene Prinzessin in einem Märchen erschienen, die bei ihrem Verhalten zwischen kalter Zurückhaltung und aufkommenden Tränen schwankte. Heute, in einem einfachen, grünen Kleid, wirkte sie entspannt und froh, wie eines der Mädchen, denen er damals, als er es noch konnte, zum Zeitvertreib den Hof gemacht hätte. »Ihr müsst bedenken, dass ich außer Orlando seit einiger Zeit niemanden zum Reden hatte.«

»Orlando scheint mir aber recht unterhaltsam zu sein«, sagte sie mit einem weiteren Lachen. »Wo ist er übrigens?«

»Er liest noch immer im Arbeitszimmer Eures Vaters.« Er wollte nicht über Orlando sprechen oder auch nur an ihn denken. Orlando war die Realität, die Welt der Dunkelheit, in der er ein Ungeheuer war. Aber diesen Traum genoss er. »Was ist mit den Rittern Eures Vaters? Er muss doch gewiss Wachen gehabt haben, als sein Schloss schließlich erbaut war.«

»Gewiss«, antwortete sie und wurde ein wenig ernster. Sie musste vorsichtig sein, sonst würde sie ihm alles erzählen – einschließlich Brautus’ List. Es fiel ihr so leicht, mit Simon zu reden, obwohl sie sich erst knapp einen Tag kannten, viel leichter als mit jedem anderen jungen Mann, den sie jemals kennengelernt hatte. Nicht dass sie viele gekannt hätte – den Boten des Königs und gelegentliche Hausierer. Die einzigen fremden Adligen, die sie seit dem Tod ihres Vaters gesehen hatte, waren sicher auf der anderen Seite der Mauer geblieben. Aber sie hatte sich oft vorgestellt, wie es wäre, mit einem von ihnen zu reden, und es war ihr undenkbar erschienen, dass es so einfach sein könnte. Anders als die Ritter, die des Kampfes wegen nach Charmot kamen, war Simon, da er glaubte, dass er verflucht sei, nicht stattlich oder wichtigtuerisch oder auch nur besonders ernst. Aber es machte ihr Spaß, mit ihm zusammen zu sein. »Gewöhnlich hielt sich hier ein ganzes Regiment auf«, räumte sie ein. »Aber als Papa starb, suchten sie sich alle einen neuen Herrn.« Sie erhob sich, war plötzlich befangen. »Charmot ist sehr ruhig, wisst Ihr, und nicht sehr einträglich. Wir haben nicht einmal ein richtiges Dorf.« Sie nahm den Schlüssel ihres Vaters aus ihrer Tasche. »Aber nun sollte ich Euch ruhen lassen.«

»Wartet«, sagte er, ohne nachzudenken, erhob sich und trat mit zwei langen Schritten zu ihr. Bleib hier bei mir, wollte er sagen. Rede mit mir, und lache, und lass mich dich ansehen. Lass mich einfach nicht allein.

»Was ist los?«, fragte sie und blickte in seine Augen. Alles hatte sich in einem einzigen Augenblick verändert. Sein Lächeln war verschwunden und von einem Ausdruck ersetzt worden, der so traurig und verloren wirkte, dass sie am liebsten geweint hätte. Wer bist du?, wollte sie ihn fragen. Was ist das für ein Fluch, der dich bindet? Was hat dich so verletzt? Aber das konnte sie natürlich nicht.

Er wollte sie berühren, wie er bemerkte. Der Hunger, von dem er geglaubt hatte, dass er verschwunden wäre, war noch da. Er hatte sich nur in etwas Subtileres und Gefährlicheres verwandelt. Er konnte ihre weiche, warme Wange schon an seiner Handfläche spüren, als er sich vorstellte, sie zu halten. Aber er wagte es nicht. »Ich muss Euch danken, Cousine«, sagte er laut und zwang sich, das Zittern aus seiner Stimme zu verbannen. Sie war ein argloser Mensch. Das musste der Grund dafür sein, warum sie ihn so tief berührte. Er hatte keine Erfahrung darin, in seinem Zustand der Verlockung eines adligen Mädchens zu widerstehen. Jede andere adlige Schönheit hätte in ihm dasselbe Gefühl hervorgerufen – das musste er glauben. Orlando hatte Recht. Er durfte sich nicht ablenken lassen »Danke«, wiederholte er und umarmte sie als eine Verwandte, auf dieselbe Art, wie sie am Vorabend ihn umarmt hatte.

»Gerne, Cousin.« Seine Arme schlossen sich um sie, und einen Moment lang presste sie ihre Wange an seine Brust und atmete den warmen, männlichen Duft ein, der in den Armen ihres Vaters stets eine Zuflucht bedeutet hatte. Aber etwas stimmte nicht, etwas fehlte. Da war nicht … Aber bevor sie den Gedanken formulieren konnte, ließ er sie schon wieder los. »Gerne«, wiederholte sie und zwang sich zu einem Lächeln. »Schlaft gut.«

»Das werde ich«, versprach er und lächelte, während sie ging.

Sie fand Orlando, in eine Schriftrolle vertieft, noch immer am Schreibtisch ihres Vaters sitzend vor, die letzte der Kerzen, die sie für die beiden dagelassen hatte, bis auf einen Stumpf heruntergebrannt. »Guten Morgen, Meister Orlando«, sagte sie und nahm den Schlüssel aus ihrer Tasche, um ihm zu verdeutlichen, dass es Zeit sei zu gehen. »Ich fürchte, ich störe Euch durch mein Kommen.«

»Überhaupt nicht, Mylady. Es ist schon spät – oder vermutlich früh.« Er rieb sich die Augen. »Ich vergesse, dass nicht jeder den Tag zur Nacht macht.«

»Ich muss zugeben, ich verstehe nicht, wie ihr das schafft, ihr beide.« Er hatte seinen Umhang abgelegt, und viele der kleinen Taschen und Börsen, die sie zuvor an ihm bemerkt hatte, hingen nun an den Regalen. Eine lag geöffnet auf dem Schreibtisch, und daraus ergoss sich etwas, das wie die Wahrsagesteine eines Sehers aussah, über eine weitere Schriftrolle. »Oder warum ihr es überhaupt versuchen solltet.« Orlando musste die Details von Simons Fluch kennen. Warum sonst wäre er hier, um ihm zu helfen? »Welchem Zweck kann es dienen, auf ewig in der Dunkelheit zu leben?«

Er lächelte, und seine dunkelbraunen Augen vermittelten durch ihre Wärme scheinbar zum ersten Mal, seit sie sich begegnet waren, aufrichtige Freundlichkeit. »Ich kann es nicht sagen, Mylady.« Er rollte die Schriftrolle wieder auf und befestigte das Band ordentlich darum, seine kleinen Finger waren anmutig und flink. »Es gibt vieles an meinem Herrn, das Euch seltsam erscheinen muss, ich weiß.« Er erhob sich mit einem Ruck von seinem Stuhl, was hätte komisch wirken können, es aber nicht tat. Er verhielt sich so ernst und würdevoll, auch wenn er kunterbunte Farben trug und ihr kaum bis zur Schulter reichte, dass sie ihn sich nicht töricht vorstellen konnte. »Aber Ihr müsst mir vertrauen, wenn ich Euch Folgendes sage: Ihr werdet beide viel unbeschwerter sein, wenn Ihr nicht zu viel von ihm verlangt.«

»Wie zu viele Fragen zu stellen, meint Ihr?«, fragte sie lachend. »Ich werde es versuchen, Meister Orlando, wenn Ihr wollt, aber ich fürchte, es wird meiner Natur widerstreben.« Sie half ihm, die Schriftrollen fortzuräumen – er schien bereits genau zu wissen, in welche Reihenfolge sie gehörten, während sie keine Ahnung davon hatte. »Mein Vater sagte stets, ich würde mir mit meiner Neugier nur selbst schaden.«

»Gesunde Neugier ist niemals schlecht, nicht einmal bei einer Frau.« Er warf die Wahrsagesteine auf der Schreibtischplatte aus, betrachtete sie kurz und steckte sie dann wieder in ihren Beutel. »Ihr wart das einzige Kind Eures Vaters?«

»Soweit ich weiß«, antwortete sie. »Aber bis gestern wusste ich auch nicht, dass ich einen Cousin habe.« An der Wand hing eine grobe Landkarte von Britannien, Frankreich und einem größeren Teil des Mittelmeers. »Sind das all die Orte, an denen Ihr und Simon schon wart?«

»Nicht annähernd«, antwortete er. »Wurde Euer Vater auf Charmot geboren?«

»Nein, in Frankreich – um genau zu sein in der Bretagne.« Sie deutete auf die Karte. »Er kam nach den Kriegen hierher, um König Henry zu dienen. Aber meine Mutter wurde in einem Dorf ganz hier in der Nähe geboren, als Tochter eines freien Bauern.« Sie wandte sich ihm wieder zu und lächelte. »Also bin ich zur Hälfte Bäuerin und außerdem zum Teil Heidin.«

»Das erklärt Euer wunderschönes rotes Haar«, sagte er.

»Das erklärt eine Menge Dinge in Bezug auf mich.« Auf einem Regal stand zwischen zwei Stapeln der Bücher ihres Vaters eine rubinrote Flasche. Isabel war sich sicher, dass sie sie dort noch niemals zuvor gesehen hatte. »Gehört die Euch, Orlando?«

»In der Tat.«

»Sie ist hübsch.« Sie betastete das Glas und merkte, dass es bei ihrer Berührung kalt war, kälter, als sie in diesem kühlen Raum vielleicht erwartet hätte. »Was befindet sich darin?«

»Ein schreckliches Gift.« Er griff an ihr vorbei, um ihr die Flasche abzunehmen, und ließ sie so rasch in eine seiner Taschen gleiten, dass Isabel nicht einmal sehen konnte, in welche. »Ihr müsst vorsichtig sein, Mylady.«

»Das sagt mir jeder.« Sie sah zu, wie er seine restlichen Sachen einsammelte. »Wollt Ihr mir wirklich nichts über Simon erzählen? Wie kam es, dass er verflucht wurde?«

»Mein Herr hat Euch bereits viel zu viel erzählt«, antwortete er stirnrunzelnd.

»Aber er sagt, Ihr seiet ein Zauberer, und er sei nur ein einfacher Ritter gewesen, unmittelbar bevor er verflucht wurde«, erklärte sie. »Kann er wahrhaft Euer Herr sein?«

Er hielt einen Moment inne und lächelte dann. »Was ist ein Herr, Mylady?« Er nahm die Landkarte von der Wand und betrachtete sie. »Simon ist meine einzige Hoffnung, mein Krieger und meine Rettung. Meine Seele liegt in seinen Händen.«

Als Isabel sein Gesicht betrachtete, glaubte sie ihm. »Solch einen wunderschönen Schwur sollte ein König für seine Bediensteten vorsehen«, sagte sie. »Obwohl nur wenige ihn so von ganzem Herzen schwören könnten, wie Ihr es gerade getan habt.«

Seine Augen, wie auch sein Lächeln, weiteten sich. »Euer neugieriger Geist hat Euch weise gemacht, Lady Isabel.«

»Weise, Meister Zauberer?«, fragte sie lachend. »Nein, nicht ich, das versichere ich Euch.« Die Kerze flackerte und würde bald verlöschen. »Aber nun kommt, bevor wir im Dunkeln stehen. Simon wollte wohl gerade zu Bett gehen. Möchtet Ihr nach oben kommen und mit mir frühstücken?«

»Ja, Mylady«, erwiderte er und nickte. »Ich glaube, das werde ich tun.«

Simon konnte Isabel unmittelbar jenseits der dicken Erdmauer seines Zimmers im Arbeitszimmer mit Orlando reden hören. Hätte er seine Dämonensinne strapaziert, hätte er ihre Worte wahrscheinlich verstehen können. Aber die Sonne stieg mit jedem Moment höher, und bevor er einschlief, wollte er noch etwas anderes tun.

Er füllte ein tiefes Zinnbecken mit Wasser aus dem Wasserkrug, den Isabels Dienstboten für ihn dagelassen hatten. Das Wasser war noch warm. Er zog das zerrissene Gewand aus, das Orlando von Pater Colin für ihn gestohlen hatte, wusch sich rasch, tauchte seinen gesamten Kopf in das Becken und schüttelte sich das Wasser aus den Haaren wie ein Hund. Die guten Seelen, die diesen Raum gerichtet hatten, waren so freundlich gewesen, ihm auch ein Rasiermesser und einen Spiegel dazulassen. Er betrachtete sein Spiegelbild und verzog das Gesicht, entblößte die kleinen Eckzähne, die sein wahres Wesen verrieten, selbst wenn er schlief. Einige der Texte, die er auf seiner Suche gelesen hatte, behaupteten beharrlich, ein Vampir wäre im Spiegel nicht sichtbar, aber das war Unsinn. Er konnte sich nur zu deutlich sehen.

Er berührte die kleine blau-weiße Narbe an seiner Kehle. Er hegte diese Narbe, die er sich bei einem Handgemenge in einer Taverne in Damaskus zugezogen hatte, eine Wunde, die in der Nacht, in der er der Dunkelheit anheim gefallen war, kaum verheilt war. Ein Dieb hatte versucht, ihn wegen seiner Geldbörse zu töten, und hätte wahrscheinlich Erfolg gehabt, wenn Sascha nicht dort gewesen wäre, um ihn zu retten. Sascha … sein erstes Opfer als Vampir.

Er zog sich die Rasierklinge übers Handgelenk und zuckte bei dem Schmerz etwas zusammen. Geborgtes Blut drang einen Moment in die Wunde, das Blut der toten Franzosen von der Kapelle, das noch in seinen Adern floss. Aber die Haut begann, von allein zu heilen, bevor der erste Tropfen noch vollständig aus dem Schnitt rinnen konnte, und die Ränder fügten sich mit einem leisen Zischen wie Wasser auf heißen Kohlen wieder zusammen, ein so leises Geräusch, dass kein Sterblicher es hören könnte. Das Geräusch des Teufels, der die Seinen heilt.

Er spülte die Rasierklinge im Becken ab und rasierte sich gerade den Drei-Tage-Bart ab, als Orlandos Stimme sich näherte, zwei Paar Schritte auf die Treppe zukamen. Er erwartete, dass sich der Zwerg zu ihm gesellen würde, aber sie gingen zusammen weiter, ihre Stimmen verklangen, als sie die Kellertür hinter sich schlossen.

»Also bin ich verlassen«, murmelte er mit verzerrtem Lächeln. Er erblickte erneut sein Gesicht im Spiegel, die Maske eines Menschen, der sein wahres, verfluchtes Selbst verbarg. »Ich wünschte, ich könnte mich auch verlassen.« Er verbannte den Gedanken mühsam, beendete seine Rasur und legte seine restliche Kleidung ab. Er hielt den Waffenrock, der für ihn bereitgelegt worden war, an sein Gesicht, wie Isabel es getan hatte; die Süße ihres Duftes war noch immer in dem Stoff wahrnehmbar. Was hatte sie gedacht?, fragte er sich erneut.

»Welchen Unterschied macht das?« Er legte den Waffenrock für später beiseite, sank aufs Bett und ließ sich schließlich vom Schlaf übermannen.

Isabel beobachtete, wie Orlando ein Frühstück für einen drei Mal so großen Mann verschlang, ohne sich die Mühe zu machen, ihr Lächeln zu verbergen. »Ich bin froh zu sehen, dass das Essen in Charmot Eure Zustimmung findet, Meister Zauberer«, sagte sie und aß selbst auch etwas. »Auch wenn das für die Gesellschaft nicht gilt.«

»Die Gesellschaft ist bezaubernd«, protestierte er und hielt inne, um sie, offensichtlich bestürzt, anzusehen. »Warum meint Ihr, ich würde sie nicht zu schätzen wissen, Mylady?«

»Vielleicht irre ich mich.« Sie nickte Hannah zu, die hinausging, um eine weitere Servierplatte zu holen. »Sowohl mein Dienstmädchen als auch ich selbst hatten zuvor den Eindruck, dass Ihr die Anwesenheit junger Ladys als eher lästig empfindet.«

»Nein, dem ist nicht so«, wandte er lächelnd ein. »Als verwirrend, vielleicht, aber niemals als lästig.« Er füllte seinen Becher erneut. »Ich fürchte, Ihr könnt durch meine Person sehr gekränkt werden, solange wir hier sind, Lady Isabel, und auch durch meinen Herrn. Wir haben schon eine ganze Weile nicht mehr unter zivilisierten Menschen gelebt.«

»Das hatte ich bereits vermutet.« Sie reichte ihm eine weitere Scheibe Brot mit Butter. »Ich würde Euch fragen, wo Ihr wart, aber ich weiß, dass Ihr es mir nicht sagen würdet.«

»Das ist kein großes Geheimnis. Wir sind in gewisser Weise Gelehrte, auf der Suche nach alten Schriften und Weisheit. Wir waren bereits an vielen anderen Orten wie Euren Katakomben.« Hannah kam mit der neuen Servierplatte mit Fleisch zurück, und bei der Erwähnung der Katakomben setzte sie sie mit einem gedämpften Scheppern auf dem Tisch ab.

»Danke, Hannah«, sagte Isabel und lächelte ihr zu.

»Mylady«, murmelte sie und eilte davon.

»Habe ich etwas Falsches gesagt?«, fragte Orlando.

»Ihr erwähntet die Katakomben«, erklärte Isabel. »Die meisten der Leute, die auf Charmot leben, halten sie für einen üblen Ort.« Sie füllte seinen Holzteller erneut. »Die Höhlen wurden von den Druiden entdeckt oder angelegt, dem uralten Volk dieser Insel und der umliegenden Wälder. Die Unwissenden sagen, sie seien Hexen und Zauberer gewesen, die sich von menschlichem Fleisch ernährten, und dass die Schriftrollen in ihren Katakomben nur böse Magie enthielten.« Sie hatte geglaubt, der Zwerg würde darüber lachen, aber er lächelte nicht einmal. »Es heißt sogar, mein Vater hätte sich selbst verflucht, als er dieses Schloss hier baute«, schloss sie lächelnd.

»Und so hält der Schwarze Ritter sein Schloss gefangen«, sagte er mit einem betonten Blick über seinen Becher hinweg. »Ist es das, was Ihr glaubt, Mylady?«

»Nein, Meister Zauberer, das glaube ich nicht.« Tom kam im Laufschritt in die Halle und gab ihr damit einen Vorwand, das Thema zu wechseln. »Was gibt es, Tom?«

»Verzeiht, Mylady«, sagte der Junge und blickte zu Orlando. »Ich muss Euch sprechen.«

»In Ordnung.« Sie nickte ihrem Gast erneut zu und folgte Tom dann auf den Hof hinaus. »Was ist los?«

»Ich bin den ganzen Weg die königliche Straße entlang zum Fluss und durch den Wald nach Charmot zurückgeritten«, sagte Tom. »Aber ich habe kein Anzeichen von diesem Franzosen und seinen Männern gesehen. Ich bin sogar zu der Taverne gegangen, in der sie gesehen wurden. Der Mann dort sagte, sie seien bei Einbruch der Nacht zur Kapelle des Heiligen Joseph aufgebrochen, um dort zu übernachten.«

»Bist du zur Kapelle geritten?«

»Nein, Mylady. Ich hatte Angst, dass sie noch dort sein könnten, so dass ich umkehrte, bevor ich zu nahe ans Dorf gelangt bin.«

Und wenn sie noch immer dort sind?, wollte sie fragen. Meinst du nicht, ich sollte es wissen? Aber Tom war kaum sechzehn Jahre alt und außerdem nur ein Stallbursche. Sie konnte wohl kaum von ihm erwarten, den Mut eines fahrenden Ritters aufzubringen. Sie dachte erneut an Simon, der gerade jetzt in ihrem Keller schlief, und verfluchte im Stillen seinen törichten Fluch.

»Gut«, sagte sie laut. »Halte Meister Orlando oben ein paar Minuten auf – deine Mutter kann dir dabei helfen. Ich muss mit meinem Cousin allein sprechen.« Der Junge wirkte unsicher. »Und wenn er mir nicht helfen will, werde ich selbst zur Kapelle gehen.«