15

Der Abgesandte des Königs hatte den größten Teil des langen Spätsommernachmittags im Sonnenraum von Schloss Charmot gewartet, so lange, dass er sich schon zu fragen begonnen hatte, ob der Schlossherr und die Lady überhaupt da seien. Aber gerade als die Sonne allmählich unterging, öffnete sich die Tür, und er konnte sich beruhigen.

»Guten Abend, Mylord«, sagte die Lady und vollführte einen Hofknicks vor ihm, während er sich von seinem Sitzplatz erhob. »Ich möchte mich dafür entschuldigen, dass ich Euch warten ließ. Ich bin Isabel von Charmot.«

»Mylady«, antwortete er eher benommen, während sie Platz nahm. Die legendäre Schönheit dieses verfluchten Rittergutes war noch erlesener, als ihr Mythos es behauptete – er hatte noch nie eine so modisch blasse Frau gesehen. »Eure Anwesenheit ist höchst … bezaubernd. Aber um ehrlich zu sein, muss ich Euren Ehemann sprechen.«

»Mein Ehemann ist noch anderweitig beschäftigt.« Sie bedeutete ihm lächelnd, erneut Platz zu nehmen. »Aber er wird sich uns in Kürze anschließen.« Sie nahm eine Näharbeit hoch, das perfekte Abbild häuslicher Beschaulichkeit. »War der König ungehalten über unseren Tribut?«

»Oh, nein, das Geld war willkommen«, antwortete der Abgesandte. Als früherer Schreiber hatte er seinen Titel nur aufgrund der Vorzüge seines Verstandes errungen. Die Umgangsformen und Nettigkeiten dieser geborenen Adligen machten ihn noch immer eher nervös. »Aber Seine Majestät ist ein wenig um Eure Sicherheit besorgt.«

»Wie überaus freundlich.« In Wahrheit klang sie nicht beeindruckt. »Ihr dürft ihm versichern, dass ich vollkommen beschützt bin.«

»Ja, aber … was ist mit dem Schwarzen Ritter?« Er erwartete, dass sie bei der Erwähnung des Dämons, der sie so lange gefangen gehalten hatte, schreien, in Ohnmacht fallen oder zumindest in Tränen ausbrechen würde, aber sie schien keinen Stich in ihrer Näharbeit zu verfehlen.

»Mein Ehemann hat ihn bezwungen«, antwortete sie mit einem weiteren gelassenen Lächeln. »Offensichtlich.«

»Ja, natürlich.« Er machte sich an seinen Papieren zu schaffen. »Wunderbar … wir sind alle recht erfreut.« Er zögerte, so einem erfreulichen Wesen gegenüber solch eine unerfreuliche Angelegenheit aufzubringen, aber das war schließlich der Hauptzweck seiner Mission, so dass es vermutlich keinen Ausweg gab. »Aber da ist immer noch die Angelegenheit der Identität Eures Ehemannes, Mylady. Oder sollte ich sagen, Euer Gnaden.«

»Das solltet Ihr tatsächlich.« Der Mann, der nun im Eingang stand, passte perfekt zu seiner Lady, zumindest was die Schönheit betraf, und der Abgesandte dachte, er könne es sicher mit jedem aus der Hölle befreiten Dämon aufnehmen. »Sie ist die Herzogin von Lyan.«

»Sei nicht verärgert, Liebling«, schalt seine Lady mit einem weiteren angedeuteten Lächeln sanft. »Du musst zugeben, dass das alles eher verwirrend ist.«

»Verwirrend, ja«, sagte der Abgesandte des Königs eifrig. Der sogenannte Herzog sah ihn mit einem Blick an, unter dem sich seine Eingeweide ganz plötzlich wie Pudding anfühlten. »Das ist genau das richtige Wort.« Simon setzte sich neben seine Frau. »Seine Majestät erinnert sich aus seiner Jugendzeit mit großer Zuneigung des Herzogs von Lyan.« Er breitete eine Schriftrolle mit der Auflistung der Adligen auf dem Tisch vor ihnen aus und deutete hin, mied dabei den Blick des anderen Mannes. »Aber anscheinend hat er England – oder eher Irland – vor ungefähr fünfzehn Jahren auf einem Kreuzzug verlassen. Es gibt keine Aufzeichnungen darüber, dass es noch Nachkommen von ihm gäbe, oder dass …« Er schaute in die Augen des neuen Herzogs und schluckte. »Oder dass er jemals zurückgekehrt wäre.«

»Er ist nicht zurückgekehrt.« Simon lächelte, und das Herz des Abgesandten tat vor heftiger Erleichterung einen Satz. »Und er hatte auch keine Kinder.« Simon zog das Pergament auf seine Seite des Tisches und deutete selbst hin. »Dieser Mann war mein Vater, Seamus von Lyan, ein gebürtiger Ire und der Kastellan des Herzogs. Als er starb, nahm mich der Herzog mit auf den Kreuzzug.«

»Als sein Knappe!« Plötzlich war alles ganz klar und wundervoll, dachte der Abgesandte, und der König war verrückt, dass er den Anspruch dieses höchst vorzüglichen jungen Mannes jemals bezweifelt hatte. »Und er hat Euch zu seinem Erben gemacht.«

»Ja.« Simon wandte sich an Isabel, und sie schüttelte über ihrer Näharbeit den Kopf und unterdrückte ein Lächeln. »Ich besitze als Beweis diesen Siegelring.«

»Natürlich, natürlich«, sagte der Abgesandte des Königs und rollte seine Pergamente wieder zusammen. »Das Siegel war auf Eurem Lehnseid für England recht deutlich erkennbar.« Die Annahme, der Ring könne vielleicht gestohlen sein, schien nun äußerst absurd, und er schämte sich bei dem Gedanken ein wenig, diese Annahme vorgebracht zu haben. »Aber ich fürchte, Eure Ländereien in Irland sind in keinem allzu guten Zustand, Euer Gnaden – die Streitigkeiten mit Wales und mit Frankreich, wisst Ihr.«

»Das hatte ich erwartet«, sagte Simon und nickte. Er würde eines Tages nach Irland zurückkehren, aber vorher hatte er noch immer viel zu tun. »Meine erste Sorge gilt Charmot. Es war mir ernst mit meiner Forderung, innerhalb dieser Mauern königliche Truppen zu stationieren. Ich habe Geschäfte zu erledigen, die mich zwingen, über kurze Zeitspannen von zu Hause fort zu sein, und ich wünsche, dass meine Frau und meine Bediensteten während meiner Abwesenheit in Sicherheit sind.«

»Und Eure Kinder«, stimmte der Abgesandte ihm zwinkernd zu. »Ihr werdet zweifellos an einen Erben denken müssen, bevor das Jahr vorüber ist.«

»Bitte verzeiht, Mylords«, sagte Isabel und erhob sich. »Ich werde Euch Euren Geschäften überlassen.«

»Natürlich.« Simon nahm ihre Hand und küsste sie. »Ich werde bald bei dir sein.«

»O du liebe Güte«, sagte der Abgesandte des Königs, als sie gegangen war. »Ich hoffe, ich habe sie nicht beleidigt.«

Simon lächelte. »Überhaupt nicht.«

Er fand sie später in dem kleinen Schlafzimmer im Keller, das sie nun teilten. Sie hatte das elegante Gewand, das sie für den Speichellecker Englands getragen hatte, gegen eines seiner Leinenhemden ausgetauscht. Das Haar fiel ihr lose über die Schultern, und ein Durcheinander von Orlandos Büchern und Pergamentrollen war vor ihr auf dem Bett ausgebreitet. »Der Abgesandte des Königs war sehr hilfsbereit«, sagte er und streckte sich neben ihr aus. »Er glaubt anscheinend, noch diesen Monat könnte hier eine vollständige Garnison stationiert werden.«

»Brautus wird erfreut sein.« Sie lächelte ihm zu, bevor sie eine weitere Schriftrolle hochnahm. »Er braucht Leute, die er nach eigenem Gutdünken herumscheuchen kann. Ansonsten wird er unleidlich.«

»Er ist ein guter Hauptmann.« Er nahm ihre Hand und presste sie an seine Wange, genoss den guten, starken Rhythmus ihres Pulsschlags. Sie war nach sieben Wochen noch immer nicht vollständig genesen, aber es ging ihr besser. »Also, was liest du gerade?«

»Dieselbe alte Sache wie immer.« Sie zeigte ihm das Original-Pergament, das Orlando in Kivars Bergpalast gefunden hatte, die Zeichnung des Kelches, der ihn ursprünglich zu seiner Suche veranlasst hatte. »Das ist ganz offensichtlich Josephs Pfahl«, sagte sie und deutete auf das Durcheinander von Gegenständen unter dem Kelch. »Also ist das wahrscheinlich irgendein besonderes Schwert.«

»Wahrscheinlich.« Er setzte sich auf und lehnte sich mit ihr in die Kissen. »Orlando denkt, es müsse außer Charmot auch noch andere Portale zu dem Hain mit dem Kelch geben.«

»Hoffen wir es.« Sie betrachtete die Zeichnung noch einen Moment lang, bevor sie sie beiseitelegte. »Und du wirst sie finden.«

Er legte einen Arm um ihre Schultern, lächelte und küsste sie auf den Kopf. Manchmal dachte er, dass er noch niemals in seinem Leben einer Sache auch nur annähernd so sicher war, wie Isabel es bei allem in jedem Augenblick war. »Das werde ich.« Er berührte ihr Kinn und wandte ihr Gesicht zu sich. »Dann können wir wirklich heiraten.«

»Oh, wir sind bereits verheiratet.« Sie legte eine Hand an seine Wange. »Vergesst das nicht, Euer Gnaden.«

»Oh, das werde ich nicht.« Er drückte sie an sich und küsste sie, und sie legte einen Arm um seinen Hals und widerstand dem Drang, sich mit all ihrer Kraft an ihn zu klammern und zu weinen. Er musste den Kelch und den anderen Vampir finden, den er erschaffen hatte. Sie wusste um diese Dinge und verstand sie. Aber es gefiel ihr nicht.

»Ich möchte nicht, dass du mich verlässt«, gestand sie ein, als er sich von dem Kuss zurückzog.

»Ich will dich auch niemals verlassen, und ich werde auch noch nicht gehen.« Er küsste sie leidenschaftlicher, nahm sie fester in die Arme. »Und inzwischen möchte ich mein Hemd zurückhaben.«