4

Simon träumte von Irland. Er stand am Strand unterhalb des Schlosses seines Herrn, die Morgensonne schien warm auf seinen Rücken. Ein Albtraum, dachte er, Tränen der Erleichterung auf dem Gesicht, wahre, salzige Tränen, nicht Blut. Es war alles nur ein Traum gewesen. Ein großes, schwarzes Pferd galoppierte durch die Brandung, froh, dem Laderaum des Schiffes endlich entkommen zu sein – sein Pferd. Er war nach Hause gekommen.

Er wandte sich lächelnd wieder dem Schloss zu, aber die Klippen waren verschwunden, und plötzlich war es Nacht. Eine weite, schwarze Ebene breitete sich vor ihm aus, deren hohe, abgestorbene Gräser in einem frostigen Wind raunten. Hinter ihm befand sich sein Dorf, in dem alle schliefen, seine Mutter, und ihre Verwandten. All jene, die erschauderten, wenn er bei Tageslicht an ihnen vorüberging, und die sich bei Nacht vor ihm verbargen. Weit über die Ebene hinweg sah er die Feuer, die Lichter der marodierenden Götter. Mein Vater, dachte er, während der Tötungswahn in ihm aufstieg. Dort ist mein Vater.

Isabel schlüpfte ins Zimmer ihres Cousins, verlegen, aber entschlossen. Sie hatte versuchsweise an die Tür geklopft, aber er hatte nicht geantwortet, und sie musste mit ihm sprechen.

»Simon?«, rief sie leise und blinzelte in der fast vollständigen Dunkelheit. Er hatte die Fackeln gelöscht und nur eine einzelne Kerze in der Nähe der Tür brennen lassen. Sie nahm sie in die Hand und schloss die Tür hinter sich, bevor sie sich dem Bett näherte. »Simon?« Sie hoffte, dass ihre Eltern im Himmel im Moment anderweitig abgelenkt wären und nicht beobachten könnten, wie sie ins Schlafzimmer eines Mannes eindrang, den sie gerade erst kennengelernt hatte. »Schlaft Ihr?«

Er schlief. Er hatte die Kissen und auch die Decken vom Bett geworfen und lag fast quer darüber auf dem Rücken, Arme und Beine in alle Richtungen ausgestreckt, und sein Kopf hing über die Kante. Sie lächelte belustigt, trotz ihrer Sorgen und der Seltsamkeit ihrer gegenwärtigen Situation. Sie hatte geglaubt, sie sei der unruhigste Schläfer Englands, aber anscheinend war sie es jetzt, wo Simon aus dem Heiligen Land zurückgekehrt war, nicht mehr.

»Simon«, sagte sie lauter, aber er regte sich noch immer nicht. Sein langes, dunkles Haar war aus seiner Stirn zurückgefallen, und sein Gesicht glühte im Kerzenschein, das Gesicht eines Engels. Sie trat fasziniert näher. Seine Wimpern waren genauso lang wie ihre und so dunkel wie sein Haar, wodurch sie einen scharfen Kontrast zur mondlichtfarbenen Haut seiner edel gestalteten Wangenknochen bildeten, seine Augenbrauen wölbten sich schwarz vor seiner erlesenen Stirn. Seine Nase war ebenfalls erlesen, selbst in diesem lächerlichen Winkel, und sein Mund war perfekt geschwungen und im Ruhezustand weich und lieblich. Er hatte sich anscheinend rasiert. Der dunkle Schatten seines Bartes war fort. In Wahrheit war er fast zu schön. Hätte sie nur sein Gesicht gesehen, hätte sie ihn vielleicht fälschlicherweise für ein Mädchen gehalten, aber sein Körper war definitiv männlich. Arme und Schultern und Brust waren über den zerwühlten Decken bloß und von tödlich wirkenden Muskeln geformt. Er hatte gesagt, er sei vor seinem Fluch ein fahrender Ritter gewesen und habe mehr Menschen getötet, als er zählen konnte, und als sie ihn jetzt so sah, glaubte sie ihm. Er war vielleicht ein Engel, aber nur das Schwert und die Lanze konnten ihn derart gestaltet haben. Dennoch war die Haut seines Körpers so milchweiß und geschmeidig wie sein Gesicht, ihre cremige Perfektion nicht einmal von einer Sommersprosse unterbrochen.

»Was für ein Mann bist du, Cousin?«, flüsterte sie und verspürte einen seltsamen kleinen Schauder in der Magengegend, als sie sich näher zu ihm heranbeugte. Er regte sich, in seinem Traum noch immer unruhig, und runzelte jäh die Stirn, und sie merkte, wie sie den Atem anhielt, von seiner Schönheit verzückt, nahe genug, um ihn zu berühren.

Aber das war lächerlich. Sie wollte ihn nicht berühren. Sie wollte seinen Rat. Er war ein Mann, ein adliger Ritter, ihr Verwandter, und ihr Schloss war in Gefahr. Er sollte ihr helfen wollen, und er sollte wissen, was zu tun wäre. »Simon«, wiederholte sie und schüttelte ihn an der Schulter.

Simon erwachte wutentbrannt aus seinem Traum, blind vor Zorn und trunken vom jähen Geruch von Blut, so nahe, dass er die Hand ausstrecken und es erreichen konnte. »Ja«, knurrte er, ergriff die Frau an den Oberarmen und schob sie gegen die Wand.

»Wartet!«, schrie Isabel auf, entsetzt über seine Reaktion und bestürzt darüber, wie schnell er aus tiefem Schlaf erwachen konnte. »Simon, ich bin es!« Sie hatte die Kerze fallen lassen, als er sie packte, aber zuvor hatte sie noch gesehen, dass er nackt war, ein weiterer beängstigender Schock. »Ich bin es, Isabel.« Er hielt sie an die Wand gedrückt, stand so nahe bei ihr, dass sie spüren konnte, wie ihr Körper den seinen bei jedem Atemzug, den sie tat, streifte. »Erinnert Ihr Euch nicht?«

»Isabel …« Ihr Atem duftete süß. Ihr Mund war so nahe, dass er ihn schmecken konnte, und ihr Herz schlug vorzüglich. Er hatte noch nie ein solch starkes, kleines Herz gehört. Aber sie sprach zu ihm, sagte etwas, das eine Bedeutung haben sollte … Isabel. Sie sagte, ihr Name sei Isabel. Er rang darum, einen Teil seines wachen, noch menschlichen Verstandes zurückzuerlangen, sich daran zu erinnern, wer sie war und warum er sie nicht verletzen sollte, aber der Dämon in ihm war hungrig. Ihn kümmerte nur ihr Blut. Er hatte geschlafen, sicher in seinem Schlupfwinkel, und sie war freiwillig zu ihm gekommen, hatte ihn ungebeten berührt. Sie musste gewiss Beute sein.

»Ja, Isabel, Sir Gabriels Tochter – Eure Cousine, Ihr Dummkopf.« Sie war noch keinem Mann jemals zuvor so nahe gewesen, und erst recht keinem nackten Mann, und plötzlich kam es ihr in den Sinn, dass sie keine Ahnung hatte, wer er war. Sie befanden sich zwei vollständige Stockwerke unter dem Schloss – selbst wenn sie schrie, würde niemand sie hören. »Ich muss mit Euch reden.« Er beugte sich noch näher heran, seine Wange streifte ihre, und sie konnte ihn atmen hören, ihr Haar wie ein Hund beschnuppern spüren. »Ich …« Sie spürte das, was sein Mund sein musste, ihr Ohr streifen, und sonderbarerweise, ohne Vorwarnung, wurden ihre Knie schwach. »Ich brauche Eure Hilfe«, schloss sie, rang um die Festigkeit ihrer Stimme.

Der Duft ihrer Haut war unerträglich, wie in seiner Faust zerdrückte Geißblattblüten, und ihr Haar duftete nach Frühlingsregen. Er ließ eine Hand ihren Arm hinauf und über die Schulter zu ihrer Kehle gleiten, ihre Haut war wie Seide und warm vor Leben, sein Daumen war sanft auf ihren Puls gedrückt. Aber langsam kehrte sein Verstand zurück, so weit das bei vollem Tageslicht möglich war. Er erinnerte sich allmählich daran, wer sie war und warum er bei ihr war. Dieses Gewölbe war ihr Zuhause, ein Raum unter ihrem Schloss. Sie war Isabel, das Mädchen, das den Schlüssel zu seiner Erlösung besaß. Aber was tat sie hier unten? Er musste sie doch gewiss irgendwie gewarnt haben. Sie musste doch bestimmt wissen, dass sie ihm fernbleiben musste. »Nein«, antwortete er, seine Stimme wie das Knurren eines Wolfes. »Ich kann Euch nicht helfen.«

»Schlaft Ihr?«, fragte sie leise, kaum lauter als ein Flüstern, der Klang seiner Stimme zerstreute ihren letzten Wagemut. »Schlaft Ihr noch?« Er klang wie ein Mensch in Trance, der unter einem tödlichen Zauber stand, und weder der distanzierte, heilige Mann, dem sie gestern Abend begegnet war, noch der heitere, verträgliche Ritter, der heute Morgen mit ihr gesprochen hatte, hätten so geklungen oder sie so bedroht oder hätten bei ihr solch seltsame Empfindungen bewirkt, beängstigend und sehnsüchtig zugleich. Die vernünftige Frau, als die sie sich stets gekannt hatte, wollte, dass er wieder zur Vernunft käme und sie sofort losließe. Aber da war noch ein anderer, neuer Bestandteil ihrer selbst, von dessen Existenz sie bisher nichts gewusst hatte, eine Fremde, die den Mann, der sie festhielt, sowohl fürchtete als auch begehrte, die bei der Vorstellung zitterte, was er als Nächstes tun könnte, und sich dennoch danach sehnte, es zu spüren, was auch immer es sein mochte.

»Ja«, antwortete er und berührte ihren Mund, eine Hand noch immer an ihrer Schulter, um sie an der Wand festzuhalten, ein Knie zwischen ihre gedrückt. »Ich träume.« Seine Vampirsinne konnten ihr Gesicht auch im Dunkeln sehen, konnten erkennen, wie sie in rosigem Glühen errötete. »Ihr hättet nicht hierherkommen sollen.« Er zog die Wölbung ihrer Wange bis zum Kinn hinab nach, ihren Blutfluss die dünne Haut ihrer Kehle hinab. Ihr Körper streifte seinen, während sie keuchte, ihre weichen Brüste an seine Brust gepresst, durch ihr Gewand köstlich warm, und jeder Muskel seines Körpers sehnte sich danach, sie zu besitzen, sie in seinen Armen zu zerdrücken. »Ihr müsst fortgehen.«

»Aber …« Niemand hatte sie jemals zuvor so berührt, als wäre sie etwas Kostbares, das man sowohl besitzen als auch verehren könnte. Vielleicht träumte sie auch. »Aber ich kann nicht«, antwortete sie, während sie die Stimme ihrer Vernunft wiederfand. »Ihr müsst mich loslassen.«

Sein Mund war ihrem nun so nahe, dass er die Wärme ihrer Lippen auf seinen spüren konnte, aber sie konnte ihn im Dunkeln nicht sehen. Sie konnte nicht wissen, was sie festhielt. Wenn sie ihn gesehen hätte, das dämonische Leuchten in seinen Augen gesehen hätte, die Zähne gesehen hätte, die er an seiner Zunge spürte, hätte sie geschrien, wäre von Entsetzen verzehrt worden. Das Verlangen, das sie empfand, war, wie ihm seine Dämonensinne beharrlich vermittelten, nur eine Illusion. »Ja.« Er verbarg ihr wunderschönes Gesicht mit seinen Händen und schloss einen Moment die Augen, während er seine Stirn an die ihre lehnte. Dann ließ er sie los.

Sofort war der Zauber, den er ihr irgendwie auferlegt und der ihr den Verstand geraubt hatte, gebrochen. Nun fühlte sie sich nur noch verlegen. »Schlaft gut, Cousin«, murmelte sie, drängte an ihm vorbei und wankte zur Tür, wobei sie über die verdammte, herabgefallene Kerze stolperte.

Sie betrat den kleinen Gang, schlug die Tür hinter sich zu und lehnte sich dagegen, als wollte sie irgendein schreckliches Ungeheuer dahinter gefangen halten. Orlando kam gerade die Treppe herab, und als er sie sah, wirkte er ebenso erschrocken, wie sie sich noch einen Augenblick zuvor gefühlt hatte.

»Euer Herr schläft«, sagte sie und richtete sich mit all der ihr möglichen Würde auf. »Wenn er aufwachen sollte, bevor ich zurückkehre, dann sagt ihm, ich sei zur Kirche gegangen.« Sie nickte dem Zauberer noch einmal zu und ging dann an ihm vorbei die Treppe hinauf.

Simon setzte sich aufs Bett und konzentrierte sich, ohne nachzudenken, auf ihren allmählich verklingenden Herzschlag, während seine wunderschöne Beute wieder in die Sicherheit hinaufstieg. Er konnte Orlando unmittelbar vor der Tür spüren und hoffte, er besäße die Geistesgegenwart, dort zu bleiben – in seinem gegenwärtigen Zustand könnte er sogar den Zauberer angreifen, wenn er die Gelegenheit dazu bekäme. Aber schließlich war Isabel fort. Die tödliche Trance, die bei Tageslicht sein natürlicher Zustand war, wenn er nicht gestört wurde, stahl sich wieder über ihn, raubte seinem Körper die Kraft, und er sank wie eine Marionette aufs Bett und fiel in tiefen Schlaf.

Isabel hatte die Kapelle des Heiligen Joseph seit dem Tod ihres Vaters vor zehn Jahren nur selten besucht. Sie sollte immerhin die Gefangene eines Dämons spielen. Aber sie hatte das Tor zum Kirchhof mitten am Tag noch nie geschlossen und verriegelt vorgefunden. Es war ein neues Tor, so wie es aussah – das Holz war noch frisch. Sie reichte Tom, der auf einer kleinen braunen Stute neben ihr ritt, Malachis Zügel, stieg ab und läutete die eiserne Glocke. »Meinst du, Pater Colin ist irgendwo hingegangen?«, fragte sie.

»Ich weiß es nicht, Mylady«, antwortete Tom unsicher. »Jemand hat heute Morgen die Frühandacht eingeläutet, als ich auf dem Weg nach Hause war.«

Die Tür im Tor wurde einen Spalt geöffnet. »Wer ist da?«, fragte Pater Colins Stimme, die recht fremd klang, ungeduldig und furchtsam zugleich.

»Pater Colin, ich bin es.« Sie trat zurück, damit sie durch den Spalt zu sehen war. »Isabel von Charmot.«

»Mylady!« Er öffnete die Tür weit und eilte hervor, um sie wie einen heimgekehrten, verlorenen Sohn zu umarmen. »Christus sei gepriesen, Ihr seid in Sicherheit!«

»Ja, einigermaßen«, bestätigte sie verwirrt. »Pater, was ist geschehen? Das Tor …«

»Irgendein Schurke hat sein Pferd das alte Tor niedertreten lassen«, erklärte er lebhaft, während er sie losließ. »Zumindest sagte der Schreiner, das müsse geschehen sein. Ich habe nichts gehört.« Er berührte ihre Wange, ein seltsames, geisterhaftes Licht in den Augen. »Keinen Laut …« Seine Miene hellte sich auf, und seine lebhafte Art kehrte zurück. »Aber rasch, Ihr beiden. Kommt herein.«

Sie folgten ihm durch die Gärten und den Eingangsraum in die Kapelle selbst. Die Fensterläden waren trotz der Wärme des Tages geschlossen, und alle Kerzen waren angezündet, wie für eine Weihnachtsmesse. »Verzeiht den üblen Geruch, Mylady«, sagte der Priester, während er die Tür hinter ihnen schloss und verriegelte. »Wir tun, was wir können, um ihn loszuwerden.«

»Welcher üble Geruch, Pater?« Zwei Bauersfrauen lagen auf Händen und Knien vor dem Altar, wie sie erkannte, und schrubbten den Boden. »Ich rieche nichts.«

»Ihr seid zu freundlich, Kind.« Er zündete eine weitere Reihe Kerzen an und schob sie näher an die arbeitenden Frauen heran. »Zuerst dachte ich, eine Ratte hätte ihren Weg in die Wand gefunden und wäre dort gestorben. Aber dann sah ich den Fleck.«

Isabel schaute zu Boden. »Den Fleck?«, echote sie höflich, verwirrter denn je. Die Steinplatten waren verschiedenfarbig, aber so waren sie immer schon gewesen, zumindest solange sie sich erinnern konnte. Es hieß, die Knochen von Römern seien darunter begraben, so alt seien sie. Vielleicht erschienen sie an der Stelle, wohin er deutete, ein wenig dunkler, aber sie konnte selbst bei all den Kerzen keinen großen Unterschied ausmachen.

»Es war noch viel schlimmer, als wir anfingen, Mylady«, sagte eine der Frauen. »Wir konnten den Fleck sehr gut sehen. Aber jetzt …« Sie brach ab, und ihr Blick schweifte zu dem Priester.

»Was ist geschehen?«, fragte Isabel. »Was war – ist – das für ein Fleck?«

Die zweite Frau schaute auf, die Augen ängstlich geweitet. »Blut.«

»Still«, fauchte Pater Colin, so dass Isabel überrascht zusammenzuckte. Sie hatte den Priester noch nie so scharf zu jemandem sprechen hören. »Lady Isabel will eure Torheiten nicht hören.« Die Frauen machten sich schweigend wieder an die Arbeit, und er lächelte Isabel zu. »Macht Euch nichts daraus, Mylady«, sagte er. »Was auch immer es ist, es wird bald beseitigt sein.«

»Daran zweifle ich nicht«, antwortete sie, obwohl sie sich in Wahrheit allmählich ängstigte. »Pater, verzeiht mir mein Eindringen, wo Ihr so beschäftigt seid, aber ich bin gekommen, um nach Michel zu fragen.« Blut vor dem Altar der Kapelle? Pater Colins seltsames Verhalten? Das zerschmetterte Eingangstor? Was konnte hier geschehen sein?

»Um nach wem zu fragen?«, erwiderte der Priester höflich.

»Michel«, wiederholte sie. »Der Franzose, der kommen wollte, um den Schwarzen Ritter auf Charmot zu bekämpfen.«

»Der Schwarze Ritter?«, wiederholte er und klang verängstigt. »Sprecht seinen Namen nicht aus, Mylady, nicht hier.«

»Schon gut«, sagte sie und nahm stirnrunzelnd seinen Arm. Die Frauen auf dem Boden stammten aus diesem Dorf. Sie kannten sie gut, und sie kannte sie auch. Sie waren in das Geheimnis des Schwarzen Ritters von Charmot eingeweiht. »Ihr kamt vor zwei Tagen nach Charmot, um mir zu erzählen, Michel sei auf dem Weg hierher. Erinnert Ihr Euch nicht?«

»Ich kam nach Charmot?« Derselbe seltsame, geisterhafte Ausdruck, den sie schon am Tor bemerkt hatte, war in seine Augen zurückgekehrt. »Ja, natürlich … natürlich habe ich das getan. Um Euren Vater zu besuchen.«

»Nein, Pater Colin.« Toms Augen weiteten sich ebenfalls. »Mein Vater ist tot, erinnert Ihr Euch? Er ist schon vor zehn Jahren gestorben.«

»Ja«, sagte der Geistliche und nickte. »Ihr seid jetzt eine Frau.« Er tätschelte ihre Hand auf seinem Arm und lächelte. »Gelobt sei Gott, dass Ihr in Sicherheit seid.«

»Aber ich bin nicht in Sicherheit«, erwiderte sie drängend. »Michel ist nie in Charmot erschienen. Ich habe ihn nicht gesehen. Tom wurde gesagt, er habe mit seinem Gefolge beim Gasthaus am Fluss Halt gemacht und sei hierhergekommen, um eine Unterkunft zu erbitten.« Sie legte ihre Hand sanft an seine Wange, zwang ihn, ihrem Blick zu begegnen. »Könnt Ihr Euch wirklich nicht erinnern?«

»Ihr dürft ihn nicht drängen, Mylady«, warnte die Frau, die gesagt hatte, der Fleck sei Blut, und setzte sich auf. »Die Alten und die Unschuldigen vergessen Dinge nicht ohne Grund, Dinge, die zu böse sind, um erinnert zu werden.«

»Ich sagte Euch, Ihr sollt still sein und diesen Boden reinigen«, befahl Pater Colin. »Ich will nicht, dass die Kapelle Unseres Herrn besudelt wird.«

»Seht Ihr, Mylady?«, sagte die Frau und tat, wie ihr geheißen.

»Ist Michel nicht hierhergekommen?«, beharrte Isabel. Plötzlich kam ihr ein Gedanke. »War er es, der vor dem Altar Blut vergoss?«

Der Priester sah sie hilflos an, und Tränen traten ihm in die Augen. »Der Schwarze Ritter«, sagte er leise, als fürchtete er, dass die Wände selbst ihn hören und Rache nehmen könnten. »Es war der Schwarze Ritter.«

»Was? Nein …« Bevor sie mehr sagen konnte, erklang von draußen ein schreckliches Getöse, Menschen, die die Glocke läuteten und ans Tor hämmerten.

»Pater Colin!«, rief eine raue Stimme aus. »Um Gottes willen, lasst uns herein!«

»Nein«, murmelte der Priester und umklammerte Isabels Arm. »Nicht schon wieder.« Er sah sie an, und sein Gesicht erbleichte. »Nicht jetzt, während Ihr hier seid.«

»Das ist Raymonds Stimme, Pater«, sagte Tom. »Raymond, der auf unseren Feldern arbeitet. Er und seine Frau Mary kamen heute ins Dorf, um seine Verwandten zu besuchen.«

»Raymond«, wiederholte der Priester. »Ja … ja, natürlich.« Er drückte noch einmal Isabels Arm, bevor er sie losließ. »Ihr bleibt hier, Mylady. Komm mit mir, Junge.«

»Wartet«, rief Isabel und lief ihnen nach. Pater Colin öffnete das Tor gerade in dem Moment, in dem sie sie erreichte, und da stand Raymond mit einem anderen kräftigen Mann, der ihm sehr ähnlich sah – sein Cousin aus dem Dorf, wie sie wusste, da sie ihn von der letzten Ernte her wiedererkannte. Sie trugen etwas zwischen sich, etwas in Stoff Gewickeltes. Etwas, das wie ein Mensch aussah.

»Was habt ihr getan?«, wollte Pater Colin wissen. »Welche Verdorbenheit habt ihr zum Hause des Herrn gebracht?«

»Sie ist nicht verdorben«, sagte Raymond, unter seiner Bauernbräune bleich. »Oder zumindest schien sie es nicht gewesen zu sein, als sie noch lebte.«

Sie trugen den Leichnam in die Privaträume des Priesters und legten ihn auf den Tisch. Isabel presste eine Faust an ihren Mund, als Raymonds Cousin den Stoff zurückzog, um sich selbst am Schreien zu hindern. Diese Frau war nicht einfach nur tot.

Sie sah aus, als wäre sie ungefähr in Isabels Alter, sicher nicht älter. Ihr war die Kehle herausgerissen worden – der blanke Knochen lag frei. Ihre Kleidung war die gesamte Vorderseite entlang ebenso in Fetzen gerissen wie die darunter liegende Haut. Isabel konnte von der anderen Seite des Raumes aus den Schatten einer groben, klaffenden Wunde in ihrer Brust ausmachen. Aber es war anscheinend nur sehr wenig Blut zu sehen.

»Wir glauben, dass es ein Wolf gewesen ist«, sagte Raymond, der erschüttert und den Tränen nahe klang. »Aber niemand von uns hat jemals von einem Wolf gehört, der einer Frau das Herz unmittelbar aus der Brust reißt.«

»Und das übrige Fleisch ist nicht gefressen worden«, fügte sein Cousin hinzu. »Nur das Blut ist fort– sie hat keinen Tropfen geblutet, seit sie gefunden wurde.«

»Wo?«, fragte Pater Colin, seine Stimme hohl und flach. »Wo habt ihr sie gefunden?«

»An der königlichen Straße, Pater«, antwortete Raymond. »Direkt zwischen den Furchen unmittelbar außerhalb des Dorfes, von jedermann gut zu sehen, der vorüberging.«

»Lieber Gott«, sagte Tom und bekreuzigte sich. »Wäre ich noch eine Meile weiter geritten, hätte ich sie heute Morgen vielleicht selbst gefunden.«

»Mary und ich haben sie gefunden«, sagte Raymond. »Die arme Mary kommt vielleicht niemals darüber hinweg – sie ist jetzt bei meiner Mutter, und es wird mehr nötig sein, als ich vollbringen kann, um sie dazu zu bewegen, mit mir nach Hause in die Wälder zurückzukehren.« In Wahrheit sah es so aus, als würde er vielleicht selbst nicht gehen wollen. »Niemand im Dorf scheint sie zu kennen, Pater, obwohl sie ihrer Kleidung nach ein einfaches Mädchen ist. Darum haben wir sie zu Euch gebracht, in der Hoffnung, dass Ihr sie vielleicht kennt.«

»Sie war hier«, antwortete der alte Mann. Er trat näher an den Leichnam heran, streckte die Hände aus, als wollte er ihn berühren, tat es aber nicht. »Ich fand sie gestern Morgen innerhalb des zerbrochenen Tores schlafend im Garten vor. Sie wusste nicht einmal, wie sie dorthin gelangt war, das arme Kind.« Er berührte das Gesicht der Frau, schloss ihre starren Augen. »Ich versuchte sie davon zu überzeugen, hier bei mir zu bleiben, aber das wollte sie nicht. Sie sagte, sie müsse zu ihren Eltern nach Hause zurückkehren. Sie erklärte mir, ihr Zuhause befände sich in einem Dorf namens Kitley, in der Nähe des Meeres. Sie hatte Geld, eine Geldbörse voller Gold.« Er schaute von dem toten Mädchen zu den lebenden Menschen auf. »Vielleicht wurde sie ausgeraubt.«

»Das hat kein Dieb getan, Pater«, sagte Raymonds Cousin. »Seht Euch diese Male an ihrer Kehle an. Es war eine Art Tier, das sie angegriffen hat.«

»Ein Hund?«, fragte Isabel, die ihre Stimme schließlich wiederfand. Sie dachte an den Hund, den sie in der Nacht zuvor gesehen hatte, an den wissenden Blick in seinen Augen, während er auf Schloss Charmot starrte. »Ich habe letzte Nacht am See einen Hund bemerkt, einen großen, schwarzen Hund, den ich noch nie zuvor gesehen hatte.«

»Der Tod«, murrte Raymond. Er stammte von den alten Kelten ab, Menschen, die noch über solche Dinge sprachen, über Geister und Dämonen, die den alten Wald der Druiden heimsuchten.

»Mylady, was tut Ihr hier?«, fragte der Priester erschreckt. »Ich sagte Euch doch, Ihr sollt in der Kapelle warten – Junge, bring deine Lady augenblicklich von hier fort.«

»Nein«, protestierte Isabel. »Ich möchte helfen …«

»Man kann jetzt nichts mehr für sie tun, Mylady«, sagte Tom und nahm ihren Arm. »Bitte, kommt fort von hier. Dieses Böse ist nichts für Eure Augen.«

»Aber …« Aber was konnte sie sagen? Er hatte Recht, dieser Frau war nicht mehr zu helfen.

»Wir werden für sie beten«, schlug er vor und brachte sie zur Tür.

Er führte sie aus der Kirche in den Garten hinaus, und Isabel ließ es zu, bemerkte es kaum, als er sie schließlich losließ. So vieles geschah so rasch, und nichts davon ergab irgendeinen Sinn. »Diese arme Frau«, murmelte sie vor sich hin und schritt unter den Bäumen aus, die die Gartenmauer säumten. Sie hatte natürlich schon viele Male zuvor Tote gesehen, aber niemals so etwas Entsetzliches. Allein die Erinnerung daran verursachte ihr Übelkeit, und ihre Hand wanderte erneut zu ihrem Mund. Und Pater Colin – was konnte mit ihm geschehen sein? Der Priester hatte halbwegs zu Tode erschrocken gewirkt, noch bevor Raymond und sein Cousin mit dem Mädchen auftauchten. Er schien sich überhaupt nicht daran zu erinnern, nach Charmot gekommen zu sein – er hatte geglaubt, er müsse gekommen sein, um ihren Vater zu besuchen. Die Alten und die Unschuldigen vergessen Böses, hatte die Bäuerin gesagt. Aber welches Böse hatte der gute Pater vergessen? Er sprach von dem Schwarzen Ritter, aber auch das war Tollheit. Pater Colin wusste ebenso gut wie sie, dass der Schwarze Ritter niemand anderer als Brautus in einer Teufelsrüstung war.

Aber du hast für einen anderen Schwarzen Ritter gebetet, flüsterte eine Stimme in ihrem Kopf. Erinnerst du dich nicht?

»Nein«, beharrte sie laut, wandte sich um und stolperte über die knorrige Wurzel eines Olivenbaums. Sie wollte sich noch abfangen, bevor sie stürzte, aber der Versuch misslang. Sie zerkratzte sich am Baum im Fallen beide Hände und landete auf Händen und Knien.

»Verdammt!« Sie wollte sich hinhocken und stieß sich den Kopf an einem tief hängenden Ast. »Autsch! Tom!« Aber der Stallbursche war bereits wieder hineingegangen.

»Entzückend.« Der Boden unter ihr war weich und nass, und das Gras aufgewühlt, als hätte hier jemand gegraben. Ihr Rock war von lehmigem, schwarzem Schlamm durchtränkt. Sie blickte auf ihre Hände hinab und sah, dass sie mit durch den Schlamm dringendem Blut von ihren Kratzern beschmutzt waren. »Gut gemacht, Isabel«, murmelte sie und setzte sich auf die Wurzel zurück, an der sie zuerst hängengeblieben war. »Warum machst du nicht alles noch schlimmer?«

Ihr Herz hämmerte zu schnell, wie sie erkannte, und das schon, seit sie dieses ermordete Mädchen gesehen hatte. Kein Wunder, dass sie nicht denken konnte. Sie lehnte sich an den Baumstamm und bemühte sich, sich zu sammeln und zu beruhigen. Sie konnte es sich nicht leisten, sich damit aufzuhalten, was mit irgendeinem Bauern, der Meilen entfernt lebte, geschehen sein mochte – abgesehen von den Gebeten, wie Tom richtig vorgeschlagen hatte. Sie musste vernünftig sein. Sie musste an Charmot denken.

Pater Colin konnte ihr offensichtlich nicht helfen, oder nicht mehr, als er es bereits getan hatte. Er erinnerte sich nicht an Michel, oder zumindest behauptete er das, und warum sollte er lügen? Vielleicht waren der Franzose und sein Gefolge nicht bis zur Kapelle gelangt. Sie dachte erneut an das tote Mädchen, konnte nicht umhin, an den erbarmungswürdigen Anblick ihres auf dem Tisch in der Kirche liegenden, toten Körpers zu denken. Was könnte sie so schrecklich versehrt haben? Könnte dasjenige auch Michel und seine Gruppe angegriffen haben? Oder vielleicht …

»Natürlich«, sagte sie laut, und ihre Haut kribbelte vor Entsetzen. Warum hatte sie nicht schon vorher daran gedacht? Michel hatte jedem, der zuhören wollte, erzählt, dass er vor dem Schwarzen Ritter von Charmot keine Angst habe, dass er weitaus schlimmer sei als jeglicher aus der Hölle befreite Dämon. Warum sollte sie ihm nicht glauben? Warum sollte sie nicht glauben, dass er hierhergekommen war, dass er der Schwarze Ritter war, von dem Pater Colin gesprochen hatte, was auch immer der Priester gedacht haben mochte? Nur der Himmel allein wusste, was solch ein Ungeheuer in der Kapelle angerichtet haben mochte. Nur die Hölle allein könnte die Wirkung ermessen, die das auf die Erinnerung des Priesters gehabt haben mochte. Wer wusste, ob Michel nicht dieses arme Mädchen ermordet hatte, oder ihr zum Spaß seine Hunde hinterhergehetzt hatte? Vielleicht hatte auch der Hund, den sie gesehen hatte, zu ihm gehört. Aber warum war er noch nicht nach Charmot gekommen?

»O lieber Herr Jesus«, flüsterte sie, als ein schrecklicher Gedanke in ihr reifte. Was wäre, wenn er jetzt dort wäre? Was wäre, wenn er beobachtet und abgewartet hätte. Was wäre, wenn er wüsste, dass sie fort war? Brautus lag im Bett, zu krank, um aufzustehen. Simon wusste nichts von Michel und würde auch nicht ans Tageslicht kommen, wenn er es wüsste. Sie erhob sich, ihre aufgeschrammten Knie und das verdorbene Gewand hatte sie vergessen. Sie musste nach Hause gelangen. Sie musste mit Simon reden, ihm die Wahrheit sagen und ihn davon überzeugen, ihr zu helfen, auch wenn er ein verrückter Heiliger war. Er war ihre einzige Hoffnung.

Sie wandte sich um, wollte wieder in Richtung Kirche gehen und hielt inne, ihr Blick wurde von etwas Glänzendem im Schlamm angezogen. Sie beugte sich hinab und hob es auf … ein Kreuz. Ein dickes, silbernes Kreuz an einer angelaufenen Silberkette, die Art Zierde, wie ein Ritter sie vielleicht um den Hals tragen würde. Jemand musste es hier verloren haben, aber wie? In diese Ecke des Kirchhofs kam nie jemand. Der Friedhof befand sich auf der anderen Seite … sie erstarrte. Sie blickte erneut auf die Stelle am Boden, wo sie gestürzt war, auf das aufgewühlte Gras und den weichen Schlamm, als hätte dort jemand gegraben. Es war ein Grab.

»Tom!«, rief sie und lief zur Kirche. »Tom, komm schnell! Wir müssen nach Hause!«

Zunächst wollte Tom, dass Isabel in der Kirche bliebe, wo er sich sicher war, dass ihr nichts geschehen könnte, und Raymond und sein Cousin hatten zugestimmt. »Was auch immer dort draußen sein mag, es wird nicht wagen, in die Kirche zu kommen«, hatte Raymond beharrt. Aber sie wusste, dass es nicht so war, und Pater Colin ebenfalls.

»Bleibt hinter den Mauern Eures Vaters, Mylady, was auch immer geschehen mag«, hatte er ihr geraten und die Proteste der übrigen Männer damit im Keim erstickt. »Sein Segen wird Euch dort so sehr beschützen wie nirgendwo sonst. Er war ein gottesfürchtiger Mann.«

»Das war er«, hatte sie zugestimmt und seinen Kuss auf ihrer Wange erlaubt, obwohl sie ihn eigentlich kaum gehört hatte, weil sie unbedingt gehen wollte. »Ich werde in Charmot bleiben.«

Nun hatten sie den Wald erreicht, und die Sonne war bereits untergegangen. Raymond und sein Cousin hatten darauf bestanden, mit ihnen zu kommen, zu Isabels Schutz mit Pike und Heugabel bewaffnet, aber da sie zu Fuß gingen, war die Gruppe nur langsam vorangekommen. Doch nun befanden sie sich in dem alten Druidenhain, kaum noch zwei Meilen vom Schloss entfernt. »Jetzt dauert es nicht mehr lange«, sagte Raymond lächelnd und klang erleichtert.

»Nicht mehr lange«, stimmte sie ihm zu.

Plötzlich wieherte Toms Stute erschreckt auf, blieb stehen und weigerte sich weiterzugehen. »Was ist los?«, fragte Isabel und wendete ihr Pferd. Malachi schien vollkommen ruhig.

»Ich weiß es nicht, Mylady.« Die kleine Stute drehte sich erneut und wehrte sich gegen die Zügel. »Etwas hat sie erschreckt.«

»Gott schütze uns«, murmelte Raymond und umfasste seine Heugabel fester.

»Ist schon gut«, sagte Isabel. »Sie hat wahrscheinlich eine Schlange gesehen …«

»Nein, Mylady.« Die Stimme von Raymonds Cousin klang kalt vor Angst. »Keine Schlange.«

Sie wandte sich in die Richtung, in die er deutete, und sah den Wolf, der größte seiner Art, den sie jemals gesehen hatte. »Ist er das, Mylady?«, fragte Tom, der noch immer mit der Stute rang. »Ist das der Hund, den Ihr gesehen habt?«

»Nein«, antwortete sie leise, überrascht, dass ihre Stimme ihr gehorchte. Der Hund, den sie gesehen hatte, war kleiner gewesen, mit breiterer Brust und einem breiten, dreieckigen Kopf. Dies war ein Wolf, lang und hager, mit einem längeren, raueren Fell. Sie konnte im schwindenden Dämmerlicht erkennen, dass er einen Hirsch gerissen hatte und ihn mitten im Druidenhain verschlang, und zwar nicht vom Bauch her, wie ein Tier es tun würde, sondern an der Kehle, als tränke er sein Blut.

»Blasphemie«, sagte Raymond und trat neben Isabel. Der Hirsch war für die einfachen Leute des Waldes, ob sie Christen waren oder nicht, noch immer ein heiliges Tier, sein Fleisch und Blut ein heidnisches Sakrament.

Der Wolf schaute bei dem Wort auf. Isabel keuchte, und ihr Herz raste vor Angst. Seine Augen glühten schwach, mit einem grünen, dämonischen Schein. »Gütiger Gott im Himmel«, flüsterte Raymonds Cousin. »Was für ein Teufel ist das?«

»Ich weiß es nicht.« Sie umfasste Malachis Zügel fester, erwartete, dass er scheuen würde, aber in Wahrheit schien ihr Pferd viel zuversichtlicher, als sie sich fühlte. Der Wolf sah sie direkt an, eine einzelne Pfote lag auf dem Hals seiner Beute. Der Hirsch erschauderte, lebte noch, und ein Schauder durchlief auch sie.

»Flieht, Mylady«, sagte Raymond drängend und hob seine Heugabel an, während sein Cousin es ihm mit der Pike gleichtat. »Reitet zum Schloss. Wir werden die Bestie in Schach halten.«

»Nein.« Sie schlang die Zügel fester um ihre linke Hand und tastete mit ihrer Rechten nach Raymond, ihr Blick noch immer mit dem des Wolfs verschränkt. »Steigt auf – und Ihr steigt bei Tom auf.« Malachi tänzelte zu einer Seite, aber Raymond gelang es, hinter ihr in den Sattel zu steigen, alle Schicklichkeit war vergessen, während er seine Arme um ihre Taille schlang. Der Wolf beobachtete alles unbewegt, und abgesehen von dem Glühen in seinen Augen war nichts Bedrohliches an seinem Verhalten. »Los, Tom«, befahl sie und zog das Schwert ihres Vaters.

»Nein, Mylady«, protestierte der Junge. »Ihr solltet zuerst reiten …«

»Tom, tu, was ich dir sage.« Sie atmete tief ein, zwang ihr Herz, sich zu beruhigen, bevor sie in Ohnmacht fiele, und die Stute galoppierte davon. Der Wolf wandte einen kaum wahrnehmbaren Moment den Blick von ihr ab, und dann schweiften seine Augen erneut zu Isabel. »Haltet Euch fest, Raymond.« Sie hob wie zur Warnung das Schwert an, und der Wolf schien zu lächeln, seine Zunge hing heraus, während er sie wie ein freundlicher Hund hechelnd ansah, ein fast menschliches Interesse in den Augen, während er sie beobachtete. Sie konnte in der Tat das Gefühl nicht abschütteln, dass er sie kannte, dass dies in Wahrheit gar kein Wolf war. Sie spürte, wie der Mann hinter ihr seinen Griff festigte, hörte ihn in der uralten Sprache seines Volkes etwas flüstern.

»Lauf, Malachi!« Sie wendete das Pferd jäh, trieb es mit den Fersen hart an und löste sich gewaltsam von dem Blick des seltsamen Wesens. »Los jetzt!« Das Pferd gehorchte und hielt im Galopp auf das Schloss zu.

Simon richtete sich auf und nahm wieder seine menschliche Gestalt an, sobald sie fort war. Er konnte die Gestalt fast jedes Tieres annehmen, das ungefähr seine Größe hatte, und er tat dies oft, um jagen zu können, besonders wenn Menschen in der Nähe waren. Orlando hatte ihm einmal gesagt, dass sein Vampirschöpfer, Kivar, zumindest für eine kurze Zeit die Gestalt anderer Menschen annehmen und beibehalten konnte, wenn er es wollte. Aber Simon besaß diese Gabe nicht. Er war bei Sonnenuntergang fast verhungert aufgewacht und war in den Wald gekommen, um sich zu nähren, wobei er niemals erwartet hätte, Isabel zu sehen. Was tat sie im Wald?

Der Hirsch, der ihn genährt hatte, erschauderte zu seinen Füßen erneut, seine Kraft war eher durch den Schreck gemindert als durch den Blutverlust. »Verzeih mir.« Simon kniete sich neben das Wesen und streichelte seine warme, samtige Kehle, berührte kaum die Wunden, die seine Zähne gerissen hatten. Seine Beute schrie, hob den Kopf und brach dann wieder auf dem Boden zusammen. Tränen stiegen dem Vampir in die Augen. Er war gesättigt. Dieses wunderschöne Wesen musste nicht sterben.

»Ganz ruhig«, tröstete er und ließ seine Tränen auf die Wunde tropfen. Er hatte diese List ganz zufällig entdeckt. Orlando wusste nichts davon. Die winzigen Einstiche schlossen sich zischend, heilten ebenso, wie seine eigene Haut heilen konnte. »Du wirst frei sein.« Er streichelte die samtige Nase noch einmal, erhob sich, trat zurück und wandte den Blick bewusst ab – solange er den Blick des Wesens, das er gejagt hatte, festhielt, konnte es nicht entfliehen. »Lauf!«, rief er und blickte in den Wald hinein. Er hörte, wie sich der Hirsch erhob, und spürte den Windhauch, als er in den Wald davonpreschte.