23. KAPITEL

 

Als die Wächter zum Frühstück erschienen, informierte die Köchin sie, dass Lara freiwillig in der Küche helfen wollte. Der große Wächter mit den quietschenden Sandalen schien die Verantwortung zu tragen. Er trug ein Klemmbrett bei sich und gab die Aufgaben aus. Lara sollte am Nachmittag von eins bis vier den Wachdienst übernehmen. Danach konnte sie in die Küche zurückkehren und beim Vorbereiten des Abendessens helfen.

»Ja, Meister.« Lara stellte einen Teller mit Pfannkuchen, Eiern und Speck vor ihn und bemerkte die Bisswunden an seinem Hals.

Auch die anderen Wächter hatten Einstiche, bemerkte sie beim Verteilen des Essens. Anscheinend schränkte Athena sich ungern auf einen einzigen Auserwählten ein. Sie bevorzugte das fünfgängige Menü.

Lara blieb in der Küche, um beim Zubereiten und Servieren des Mittagessens zu helfen, und kurz vor ein Uhr am Nachmittag begleitete sie eine der Jungfern in den Tempel, zum Wachdienst. Es war das Mädchen, das am Abend zuvor lange aufgeblieben war und geweint hatte.

Während sie das Gelände überquerten, betrachtete Lara ihre Umgebung, die jetzt bei Tageslicht besser zu erkennen war. Da war der Tempel, dann der Schlafsaal und die Küche, alle von einer Steinmauer eingefasst. Ein dichter Wald lauerte auf der anderen Seite der Steinmauer.

»Was für ein schöner Wald«, sagte Lara. »Vielleicht gehe ich später dort spazieren.«

Die Jungfer blieb mit einem erschreckten Keuchen stehen. »Du kannst die Felder Elysions nicht verlassen! Das ist verboten.«

Irgendwie überraschte sie das nicht. »Vielleicht gibt es dort Beeren, die ich pflücken kann, um uns allen einen schönen Nachtisch zu kochen.«

Die Jungfer schüttelte den Kopf. »Du kannst nicht in den Wald gehen. Apollo sagt, darin gibt es wilde Monster mit großen, gefletschten Zähnen!«

Lara unterdrückte ein Schnaufen. Sie machte sich viel mehr Sorgen um Apollos eigene gefletschte Zähne.

»Apollo sagt, wenn eines dieser Biester eine von uns erwischt, schleift es einen direkt in den Hades.«

»Na gut, das wollen wir ja nicht.« Lara seufzte. Diesen Mädchen hatte man das Gehirn so gründlich gewaschen, dass sie nicht einmal mehr Sarkasmus verstanden. Sie folgte der Jungfer in den Tempel.

Die beiden Frauen gingen um die Thronsessel herum und dann in einen Korridor dahinter. Es gab drei Türen auf jeder Seite des Ganges. Zwei Türen waren rot gestrichen. Räume für die Auserwählten, erklärte ihr die Jungfer.

Lara bemerkte einen der männlichen Wächter vor einer violetten Tür. Das musste Athenas Zimmer sein. Kristy und Vanessa saßen auf roten Kissen vor einer goldenen Tür. Sie standen auf, als Lara und das andere Mädchen sich näherten.

»Ich hoffe, ihr habt uns was vom Mittagessen übrig gelassen. Wir sind am Verhungern.« Damit verschwanden Vanessa und Kristy sofort in Richtung Küche.

Lara setzte sich neben die andere Jungfer. Sie schob ihr Kissen gegen die Wand, sodass sie sich zurücklehnen und ihre Beine ausstrecken konnte. Ihre neue Haltung brachte ihr einen strafenden Blick ihrer Nachbarin ein.

Sie versuchte, nicht an Apollos Leiche auf der anderen Seite der Tür zu denken. Wenigstens tagsüber waren sie vor ihm in Sicherheit.

Wo war Jack? In seinem Todesschlaf im Stadthaus auf der Upper East Side? Sie erinnerte sich daran, wie er LaToya erzählt hatte, dass sie meistens ein paar Leichen im Keller versteckten. Und sie hatte gedacht, er machte nur Scherze. Dieser Schuft. Er war so anders als die Vampire hier.

Athena und Apollo hielten Menschen für nicht mehr als Essen auf Beinen, dumm und einfach zu kontrollieren. Jack hatte sie immer respektvoll und freundlich behandelt. Er machte sich wirklich Gedanken um ihre Gefühle und ihre Sicherheit. Hatte er die Nacht verzweifelt auf der Suche nach ihr verbracht?

Plötzlich kam ihr ins Gedächtnis, wie er mit Mario und Gianetta in Venedig umgegangen war. Sie waren Sterbliche, aber für ihn waren sie seine Familie. Er hatte auch für Vater Giuseppe nur Respekt und Zuneigung gezeigt. Und seine Versuche mit der Eiscreme, der Gondelfahrt und der Serenade, ihr zu gefallen, waren einfach umwerfend gewesen.

Er war ein so guter Mann. Und sie vermisste ihn so sehr. Er konnte sie zum Lachen bringen. Er konnte sie so heiß machen. Bei ihm fühlte sie sich schön und klug und geschätzt. Er war der perfekte Mann, bis auf das kleine Problem mit dem Untotsein.

War es verrückt, sich in einen Vampir zu verlieben? Oder war es noch verrückter, ihn abzulehnen, nur weil er ein Vampir war? Es war nicht Jacks Schuld, dass er verwandelt worden war. Er war angegriffen worden. Hatte er nicht genug gelitten? Es wäre doch zu grausam, ihn abzulehnen und noch mehr leiden zu lassen.

Apollos einziges Auswahlkriterium war die Haarfarbe der Mädchen. Aber würde nicht ein echter Gott den Menschen nach seinem Herzen und nicht nach seinem Aussehen beurteilen? Würde die Liebe je einen anderen abweisen, nur weil er anders war?

Ein Gefühl des Friedens legte sich um Lara wie eine warme Decke. Endlich wusste sie, was sie zu tun hatte. Es lag nicht in ihrer Macht, Jack zurückzuweisen. Sie konnte es nicht ertragen, ihm wehzutun. Selbst wenn es bedeutete, dass ihr eigenes Leben völlig aus der Bahn geworfen wurde, würde sie lieber diesen Schmerz auf sich nehmen, als ihn noch mehr leiden zu lassen.

So war es in der Liebe eben. Und sie liebte ihn von ganzem Herzen.

Mit geschlossenen Augen erinnerte Lara sich daran, wie er sie im Glockenturm geliebt hatte. Was für ein unwiderstehlicher Mann er doch war, ihr Vampir-Casanova. Sie konnte es nicht abwarten, ihn wiederzusehen und ihn wissen zu lassen, dass sie sich entschieden hatte. Sie gehörte für immer zu ihm. Bitte, Jack, finde mich bald. In ihrer Vorstellung sah sie bereits sein glückliches Gesicht, und wie er sie wild, leidenschaftlich liebte.

Die andere Jungfer stieß sie gegen die Schulter. »Nicht einschlafen. Das ist verboten.«

»In Ordnung«, knurrte Lara, enttäuscht darüber, wie schnell ihr romantischer Traum platzte. »Müssen wir wirklich drei Stunden lang hier sitzen? Das ist so langweilig.«

»Schh!« Die Jungfer sah zu dem Wächter am Ende des Korridors. »Sprich nicht so. Er wird dich hören.«

»Okay. Ich heiße Lara. Wie heißt du?«

»Hör auf damit!« Keuchend blickte sie noch einmal zu dem Wächter. »Wir dürfen keine Namen benutzen.«

»Lass mich raten. Das ist verboten?«

»Ja«, zischte die Jungfer. »Benimm dich.«

»Okeydokey.« Lara beschloss, dieses Mädchen Namenlos zu nennen. Nein. Miss Verboten war noch besser. Sie konnte sich nicht erinnern, ihr Foto bei den Akten gesehen zu haben. »Auf welches College bist du gegangen?«

Miss Verboten warf ihr einen wütenden Blick zu. »Dieses Leben ist vorbei. Wir sprechen nicht darüber. Mir ist klar, dass du neu bist, deshalb werde ich dich nicht melden, aber du solltest lieber lernen, deine Zunge im Zaum zu halten, sonst landest du im Hades.«

Nur widerwillig gab Lara klein bei. Sie wollte keine Aufmerksamkeit auf sich lenken. »Es tut mir furchtbar leid. Ich will den Göttern wirklich dienen.« Sie deutete auf die bronzene Tür am Ende des Ganges. »Wessen Zimmer ist das?«

»Das ist das Allerheiligste«, flüsterte Miss Verboten. »Wenn Zeus kommt, wohnt er dort.«

»Zeus kommt hierher?« Das konnte doch nur ein anderer Vampir sein. Und er kam vorbei, um bei Apollo umsonst zu speisen. »Das ist so aufregend.«

»Ich weiß!« Die Augen von Miss Verboten leuchteten auf. »Er kommt alle paar Wochen, um seine Kinder zu besuchen, Apollo und Athena. Aber er lebt natürlich normalerweise auf dem Olymp.«

»Natürlich. Wie sieht er aus?«

»Niemand weiß es«, flüsterte Miss Verboten, »er verlässt das Allerheiligste nie. Apollo bestimmt eine Auserwählte für ihn. Und am nächsten Morgen erinnert sich die Auserwählte an nichts. Er handelt auf verschlungenen Wegen.«

»Klar. Und wie viele Götter kommen hier so vorbei?«

»Einige.« Miss Verboten lächelte. »Einmal ist Hermes gekommen und hat mich ausgewählt.«

»Wie... wunderbar für dich.« Lara konnte den Hals von Miss Verboten nicht sehen, weil ihr langes rotblondes Haar im Weg war.

Den Rest ihres Wachdienstes verbrachte Lara damit, mehr Informationen aus Miss Verboten herauszubekommen. Dann kehrte sie in die Küche zurück, um gemeinsam mit der Köchin das Abendessen für fünf Wächter, acht Jungfern und die neue Auserwählte Aquila zuzubereiten. Es konnte kein Zufall sein, dass Aquila genau zu dem Zeitpunkt ausgewählt worden war, als Brittney Beckford verschwand. Apollo musste gewusst haben, dass sie bald sterben würde. Dieser Bastard. Er brachte diese Mädchen tatsächlich dazu, mit Freude sein nächstes Opfer zu werden.

Sie und die Köchin machten gerade nach dem Abendessen sauber, als die Sonne unterging.

Kristy rannte in die Küche. »Beeilt euch! Zeus ist gekommen. Es gibt eine weitere Auswahlzeremonie.«

»Du meine Götter.« Die Köchin trocknete ihre Hände an einem Geschirrtuch ab. »Wir müssen uns sofort zurechtmachen.« Sie rannte in den Schlafsaal.

Lara folgte ihr, und Kristy reichte ihnen neue weiße Roben zum Anziehen. Sie eilten gerade in den Tempel, als der erste Gongschlag erklang.

Lara nahm ihre Position in der letzten Reihe der roten Kissen in der Mitte des Tempels ein. Vanessa und Kristy waren neben ihr. Drei Jungfern standen vor ihr. In der ersten Reihe standen nur zwei - die Köchin und Miss Verboten. Das dritte Kissen blieb unbesetzt. Es war Aquilas gewesen.

Der Gong erklang erneut, und der Wächter kündigte die Auserwählte an. Aquila schritt, in ihre rote Robe gekleidet, herein. Lara war erleichtert, dass sie immer noch bei Kräften zu sein schien, auch wenn der rote Schal um ihren Hals ihr einen Schauder über den Rücken jagte.

Athena wurde angekündigt und dann Apollo. Lara kniete sich hin und verbeugte sich mit den anderen Mädchen.

»Wir wurden von meinem Vater, dem allmächtigen Zeus, mit einem Besuch beehrt«. Apollo umkreiste die Mädchen. »Erste Reihe, aufstehen.«

»Du bist für heute seine Auserwählte«, teilte Apollo mit einer Geste auf Miss Verboten mit. »Sieh zu, dass du ihm gefällst.«

»Ja, mein Lord Apollo«, hauchte Miss Verboten. »Oh, vielen Dank, mein Lord.«

Mit traurigem Gesicht half die Köchin Miss Verboten dabei, die rote Robe anzuziehen.

Laras Magen drehte sich um. Sie wollte nicht daran denken, was jetzt mit Miss Verboten passierte.

Apollo führte Miss Verboten in den Gang hinter den Thronsesseln. Sie würde das Allerheiligste betreten, dachte Lara. Sie hoffte nur, dass das arme Mädchen lebendig wieder herauskam.

Als die Zeremonie vorüber war, wurde Lara schmerzlich bewusst, dass sie jetzt nur noch sieben Jungfern waren. Angst stieg in ihr auf, die drohte, zu reiner Panik zu explodieren.

Obwohl die Luft auf dem Weg zum Schlafsaal kühl und frisch war, konnte Lara kaum atmen. Ihr Herz raste. Sie sah hinauf in den klaren Nachthimmel. Jack würde jetzt wach sein. Suchte er nach ihr? Jack, bitte beeil dich. Ich drehe langsam durch.

Sie konnte nicht auf seine Rettung warten. Sie musste hier verschwinden. Aquila und Miss Verboten könnten sterben. Die anderen Mädchen waren in Gefahr. Verflucht, sie selbst war in Gefahr.

»Ich glaube, ich gehe noch einmal in die Küche und sehe nach den Vorräten«, sagte sie so ungezwungen wie möglich zu den anderen Mädchen. »Ich komme später nach.«

Dann raste sie in die Küche und sammelte alles zusammen, was sie für ihre Flucht gebrauchen konnte. Ein Messer, eine kleine Schachtel Streichhölzer, eine leere Flasche, die sie mit Wasser füllte, ein paar Cracker. Sie leerte Kartoffeln aus einem Jutesack und steckte ihre Ausstattung hinein.

Mit dem Sack in der Hand schlich sie sich aus der Küche. Diese verdammten weißen Sandalen waren nichts für eine lange Wanderung durch den Wald, aber welche Wahl blieb ihr schon? Und die weiße Toga machte sie viel zu leicht erkennbar.

Sie entdeckte zwei Wachen, die die Steinmauer entlanggingen. Doch sie entfernten sich von ihr. Lara ging um die Küche herum und entdeckte einen überwachsenen Schotterweg dahinter, der zu einem Eisentor führte. Super! Das war wahrscheinlich die Straße, die der Lastwagen benutzte, um ihnen die Vorräte zu bringen. Sie führte vielleicht in eine nahe gelegene Stadt.

Ein umschweifender Blick sagte ihr, dass die Luft rein war. Sie zog ihre lange weiße Toga bis zu den Knien hoch und rannte zum Tor. Dort schlüpfte sie darunter hindurch. Sie war frei!

Ein langes Heulen hallte plötzlich gruselig um sie herum. Sie sah sich im Wald um und keuchte erschreckt auf, als ein Paar goldener Augen auf sie gerichtet war. Was hatte Miss Verboten gesagt? Es gab wilde Monster in den Wäldern, mit gefletschten Zähnen? Sie würden sie in den Hades schleppen?

Kopfschüttelnd vertrieb sie den Gedanken. Nein, das war Gehirnwäsche. Sie konnte nicht daran glauben.

Die goldenen Augen kamen näher. Lara drückte sich gegen das Tor. Ihr Herz hämmerte in ihrer Brust. Aus dem Wald drang ein weiteres Heulen. Das Unterholz raschelte und knackte.

Ohne ihr Gegenüber aus den Augen zu lassen, tastete Lara in ihrem Jutesack nach dem Messer. Gerade rechtzeitig, denn jetzt erschien ein großer grauer Wolf aus dem Wald, der ihre Aufmerksamkeit erregte. Einen so großen Wolf hatte sie noch nie gesehen. Im Grunde hatte sie noch nie irgendeinen Wolf gesehen. Sie umfasste das Messer fester.

Die goldenen Augen dieses Wolfes glühten in der Dunkelheit. Er fletschte seine Zähne, und dann kamen auf einmal noch zwei Wölfe aus dem Wald heraus.

Oh Gott, es könnte ein ganzes Rudel von ihnen geben. Lara kroch vorsichtig wieder unter dem Tor hindurch. Sie zog sich langsam zurück, die Augen immer auf die drei Wölfe gerichtet. Die standen still da und beobachteten sie.

Lara ging um die Küche herum, rannte dann hinein und schlug die Tür hinter sich zu. Verdammt! Vampire und Wölfe. Egal was sie tat, sie war am Ende.

Oh Jack, bitte finde mich.

****

Jack hastete in das Büro der Sicherheitsleute bei Romatech. »Gib mir einen weiteren Ort zum Nachsehen. Beeil dich.«

Phil sah von seinem Platz hinter dem Tisch auf. »Kein Glück mit der Spur in West-Texas?«

»Nein.« Es war kurz nach Mitternacht, und Jack hatte schon vier einsam gelegene Grundstücke im ganzen Land untersucht. »War da nicht noch eines in Colorado?«

»Da ist Robby gerade.« Phil blickte auf den gelben Schreibblock vor ihm auf dem Schreibtisch. »Und Phineas ist in Virginia.«

Jack ging unruhig im Büro auf und ab. Die drei Vampire hatten sich getrennt, damit sie mehr Hinweisen auf einmal nachgehen konnten. Phil war am Telefon, um die Anrufe anzunehmen, die von Wolfsrudeln aus ganz Nordamerika eingingen. Leider bekamen sie viele Hinweise aus den westlichen Staaten, und Jack glaubte immer noch, Apollo war irgendwo im Osten, nahe an seinem Jagdgebiet.

Phil klopfte mit seinem Stift auf das gelbe Papier. »Wir haben noch einen in Minnesota.«

»Ruf den Rudelführer an, und ich teleportiere mich hin.« Jack musste beschäftigt bleiben, sonst wurde er wahnsinnig. Wenn er auch nur einmal innehielt, um darüber nachzudenken, wie sehr Lara vielleicht litt, dann würde er einen Baum bei den Wurzeln ausreißen.

Als Phil gerade nach dem Telefon greifen wollte, klingelte es. »MacKay Security and Investigations, Phil spricht.« Er schwieg einen Augenblick. »Ja, der Phil.«

Jacks überlegenes Gehör nahm eine tiefe, raue Stimme am anderen Ende der Leitung wahr. Ein Rudelführer aus dem Norden von Maine. Das klang vielversprechend.

Jack beugte sich über den Schreibtisch, damit er besser hören konnte. Eine weibliche Leiche war in den Wäldern gefunden worden.

Sein Herz zog sich zusammen. Nein, nicht Lara.

Phil warf ihm einen besorgten Blick zu. »Kannst du sie beschreiben? Hast du ein Foto? Ich gebe dir unsere Faxnummer.« Er sagte die Nummer auf.

Es war die reinste Qual für Jack. Die Stimme am Telefon beschrieb das Mädchen als groß, schlank, mit rotblondem Haar und blauen Augen. Das Faxgerät war so verdammt langsam. Jacks Magen rebellierte, und zum ersten Mal in seinem langen Vampirleben hatte er das Gefühl, er müsste sein Abendessen erbrechen.

Endlich kam das Foto an. Jack riss es aus der Maschine. Es war nicht Lara.

Bebend atmete er aus. »Sie ist es nicht. Aber das Mädchen kommt mir bekannt vor.« Er griff nach den Akten und suchte in den Fotos, die er gesammelt hatte. Er zog ein Foto heraus, das das Mädchen auf dem Fax zeigte. Brittney Beckford. Apollo hatte die Leiche einfach in den Wald geworfen.

»Griechische Architektur?« Phil setzte sich auf. »Bist du sicher?«

»Stell den Lautsprecher an«, bat Jack. »Wir gehen sofort.«

Phil drückte auf den Knopf und warnte den Rudelführer, dass sie auf dem Weg waren. Jack griff nach Phils Arm und teleportierte sich dem Klang der Werwolfstimme entgegen.

»Willkommen auf Wolf Ridge.« Ein großer Mann mit dichten grauen Haaren und bernsteinfarbenen Augen stand hinter einem Schreibtisch. Er trug eine Polizeiuniform, und ein ernster Ausdruck spiegelte sich in seinem Gesicht wider. »Hier nennen mich alle Chief.«

Jack blickte in die leere Gefängniszelle hinter ihm. »Dann bist du hier der Polizeichef?«

»Ja, und der Rudelführer.« Der Werwolf reichte Phil seine Hand. »Schön, dich kennenzulernen. Ich kenne deinen Vater.«

»Darauf wette ich«, murmelte Phil und schüttelte Chief die Hand. »Das hier ist Jack aus Venedig.«

Misstrauisch betrachtete Chief den Vampir, während er ihm die Hand schüttelte. »Meine Söhne und ich haben ein totes Mädchen in den Wäldern gefunden. Ich glaube, einer von eurer Art hat sie umgebracht. Sie hatte Zahnabdrücke am Hals und war vollkommen blutleer.«

Das konnte Jack so nicht stehenlassen. »Der Vampir, der sie umgebracht hat, gehört nicht zu meiner Art. Ich trinke nur synthetisches Blut, und ich beschütze die Sterblichen vor denjenigen, die sie für nur eine Mahlzeit umbringen.«

Beruhigt nickte Chief. »Gut. Ich erlaube meinem Rudel auch nicht, Menschen anzugreifen.«

»Wir müssen das Gelände inspizieren, das ihr entdeckt habt.« Jack rief Robby und Phineas an, und die zwei teleportierten sich zu ihm.

Chief sah sie sich genau an. »Also haben wir hier einen Vampir aus Venedig, einen aus Schottland in einem Kilt, und einen aus...?«

»... der Bronx«, beendete Phineas den Satz des Werwolfs. »Hast du ein Problem damit?«

»Nein.« Der Werwolf lächelte. »Ich bringe euch zu dem Gelände. Wenn dort ein Vampir ist, der Frauen umbringt, will ich auch, dass er aufgehalten wird.«

Chief führte sie nach draußen, und die Männer stiegen alle in seinen SUV. Dreißig Minuten später kamen sie bei Chiefs Jagdhütte an, die sich tief im Wald befand.

»Ich bringe euch den Rest des Weges zu Fuß.« Chief trat hinter die große Motorhaube des SUV und zog seine Uniform aus. »Für uns Wölfe geht es schneller, wenn wir uns verwandeln.« Er sah Phil an. »Bereit?«

Phil biss die Zähne zusammen. »Ich bleibe, wie ich bin.«

Einen Moment lang schien Chief sich über sich selbst zu ärgern. »Es tut mir leid. Ich hatte den Eindruck, dass -«

»Halb so wild«, knurrte Phil. »Ich bin direkt hinter euch. Und ich bringe deine Sachen mit.«

»Danke.« Während er in die Wälder ging, begann sein Körper zu verschwimmen. Innerhalb weniger Sekunden hatte er sich in einen großen grauen Wolf verwandelt.

»Heiliger Vater«, sagte Phineas, »das war schnell.«

»Er ist ein Alpha.« Phil griff sich die Kleider des Polizeichefs. »Sie können sich jederzeit einfach verwandeln. Er braucht dazu keinen Vollmond.«

»Oh.« Phineas sah zu der schmalen Mondsichel hinauf. »Also dann bist du wohl kein -«

»Genug«, unterbrach Robby die beiden. Er deutete auf Chief, der bereits in den Wald preschte. »Gehen wir.«

Die drei Vampire liefen dem rennenden Wolf nach. Phil sprintete hinterher.

Nach einigen Meilen kamen sie am Gelände an. Jack grinste erleichtert, als er den griechischen Tempel sah. Jetzt habe ich dich, Apollo.

»Bingo«, hauchte Phineas. »Das muss es sein.«

Chief saß auf seinen Hinterbeinen und hechelte mit ausgestreckter Zunge.

»Sobald Phil uns einholt, sind wir zu fünft«, sagte Robby. »Wir könnten sofort angreifen.«

Es war verlockend, so verlockend, einfach das Gebäude zu stürmen und Lara zu retten. Aber war es auch klug? »Wir können uns nicht sicher sein, wie viele Vampire sich dort drinnen befinden«, äußerte Jack seine Bedenken. »Wir wissen, dass Apollo wenigstens eine Verbündete hat. Da könnten noch mehr sein.«

Langsam schlich er um das Gelände herum, immer im Wald verborgen. Die anderen folgten ihm. Wie gerne hätte er Lara eine gedankliche Nachricht geschickt, dass er bei ihr war, aber es war zu gefährlich. Telepathie von Vampiren war wie eine Übertragung im Radio. Jeder Vampir in der Umgebung würde es hören.

Als Phil zu ihnen stieß, legte er die Kleider des Chiefs hinter einen Baum, und der Wolf nahm wieder seine menschliche Gestalt an.

Phil betrachtete das Gelände. »Sieht aus, als wären wir hier richtig. Das müssen wir sein, denn eines der verschwundenen Mädchen wurde in der Nähe gefunden.«

»Ja, aber ich will noch mehr Informationen, ehe wir angreifen.« Jack entdeckte zwei Wachen. »Sterbliche. Mit Schwertern bewaffnet.«

»Ich wette, die stehen stark unter Vampirkontrolle«, sagte Robby. »Vielleicht hat man sie programmiert, die Frauen und sich selbst umzubringen, falls das Gelände von Unbefugten betreten wird.«

»Shit«, murmelte Phineas, »das ist eiskalt.«

»Du könntest recht haben.« Chief kam um den Baum herum und knöpfte sich sein Hemd zu. »Ich bezweifle, dass dieser Typ irgendwelche Zeugen hinterlassen will. Kommt, ich will euch etwas zeigen.«

Chief führte sie durch den Wald, bis sie auf einen Schotterweg und ein Tor stießen. »Die Straße führt in eine Stadt, eine sterbliche, etwa dreißig Meilen von hier. Ich glaube, sie lassen sich aus der Stadt Vorräte liefern.«

»Wirklich?« Jack wendete sich an Phil. »Hättest du gern einen neuen Job?« Mit Vampirkontrolle wäre es ein Leichtes, den Ladenbesitzer zu überzeugen, dass Phil sein neuer Lieferant war.

Phil nickte. »Klingt gut. Aber ich wäre tagsüber hier, wenn die Vampire in ihrem Todesschlaf liegen. Ich finde vielleicht nicht viel heraus.«

»Und ich komme nachts her, um mehr zu erfahren«, sagte Jack.

»Du willst undercover arbeiten?« Robby sah ihn kritisch an. »Mir gefällt das nicht, Jack. Du hast genug Malcontents umgebracht, dass sie deinen Namen erkennen müssten. Und Apollo hat dich eine Sekunde lang gesehen, ehe er sich teleportierte.«

»Das ist schon in Ordnung. Ich kann meinen Namen und mein Aussehen verändern. Ich kenne einen wirklich guten Friseur in Massachusetts.«

****

Am nächsten Tag, als Lara der Köchin beim Saubermachen nach dem Mittagessen half, glaubte sie, das Geräusch eines laufenden Motors zu hören. Vor Erleichterung musste sie ein Grinsen unterdrücken.

Die Köchin runzelte verwirrt die Stirn. »Heute ist kein Liefertag. Aber wahrscheinlich schließe ich lieber die Hintertür auf.« Sie schlenderte mit einem Schlüssel in den hinteren Lagerraum.

Lara sah sich verzweifelt um. Sie riss ein Papierhandtuch von der Rolle und schnappte sich eine Flasche Ketchup. Sie drückte sich einen kleinen Tropfen auf die Fingerspitze und schrieb dann »Hilfe! Holt die Polizei« auf das Papiertuch.

Dann wedelte sie mit dem Tuch in der Luft, damit es schnell trocknete, faltete es zusammen und steckte es in das Oberteil ihrer weißen Tunika.

Die Köchin stand in der offenen Hintertür. In der Ferne entdeckte sie einen Lieferwagen, der auf der anderen Seite des Tores geparkt war. Der Fahrer, ein junger Mann in Jeans und einem Flanellhemd, öffnete gerade das Tor.

Sie rannte auf ihn zu.

»Halt!«, rief die Köchin. »Wir sollen uns nicht sehen lassen.«

Der Fahrer ging auf sie zu und betrachtete sie eindringlich aus hellblauen Augen. »Kann ich Ihnen helfen, Miss?«

»Ja!« Lara wurde langsamer und fasste in ihr Oberteil. »Wir brauchen -«

»Jungfer!«, ertönte die Stimme eines Wächters hinter ihr.

Nur zwei Schritte vom Lieferanten entfernt blieb sie stehen. Verdammt! Sie konnte ihm die Nachricht nicht geben, ohne gesehen zu werden.

»Jungfer, sofort zurück in die Küche!«, rief der Wächter erbost.

Es war der Anführer mit der quietschenden Sandale. Ihm folgten zwei weitere Wachen. Sie warf dem Lieferanten einen letzten flehenden Blick zu. »Wir sind Gefangene«, formte sie mit ihren Lippen und hoffte, er würde verstehen.

Er kniff die blauen Augen zusammen und nickte kaum merklich.

Lara rannte zurück in die Küche.

»Oh nein«, murmelte die Köchin. »Jetzt hast du Riesenärger.«

Quietschsandale marschierte auf den Fahrer zu. »Was ist hier los? Sie sind nicht der normale Fahrer. Und wir erwarten erst in zwei Tagen wieder eine Lieferung.«

Der Lieferant zuckte mit den Schultern, scheinbar nicht eingeschüchtert von den fleischigen Muskeln und der streitlustigen Haltung des Wachmanns. Lara lächelte in sich hinein. Der Wächter wäre viel bedrohlicher, wenn er nicht bei jedem zweiten Schritt quietschen würde.

»Hör zu, Freundchen.« Der Fahrer verschränkte die Arme vor seiner breiten Brust. »Der andere Typ hat gekündigt, und ich fahre morgen in Urlaub. Es gibt zwei Wochen lang keine Lieferungen mehr. Nimm es oder lass es.«

Quietscher starrte den Lieferanten feindselig an. »In Ordnung. Fahren sie den Wagen näher an die Küche.«

Behände sprang der Fahrer hinters Steuer und fuhr näher an die Küche heran. Leider stellte Lara fest, dass kein Schriftzug auf dem Laster zu sehen war. Sie hatte gehofft, den Namen der Stadt herauszufinden.

»Halt!«, brüllte Quietscher, und der Laster blieb stehen.

Die zwei anderen Wachen öffneten die Hintertüren des Wagens und begannen mit dem Ausladen. Im selben Moment schnappte der Fahrer sich einen Karton und ging auf die Küche zu.

»Halt!« Quietscher streckte eine Hand aus. »Sie können hier nicht rein.« Er riss den Karton an sich und brachte ihn in den Lagerraum.

Verdammt. Lara hatte gehofft, der Fahrer würde hereinkommen, damit sie ihm ihre Nachricht geben konnte. Sie spähte aus der Tür. Der Lieferant nickte ihr zu.

»Du solltest dich nicht sehen lassen.« Quietscher stieß sie zur Seite, als er hinausging. Er starrte den Fahrer wütend an. »Warten Sie im Wagen.«

»Klar«, murmelte der Fahrer. »Nette Toga. Ich wette, die wird im Winter etwas kühl.« Er schlenderte zum Wagen zurück.

Lara blieb hinter der Tür. Es sah aus, als würde sie nicht in der Lage sein, ihre Nachricht zu übergeben. Trotzdem, sie hatte das Gefühl, der Lieferant hatte sie verstanden. Oder war das nur Wunschdenken?

Die letzten Vorräte wurden hineingebracht, und die Wächter knallten die Wagentüren zu.

Noch einmal kam der Fahrer mit einer Schachtel in der Hand auf die Küche zu. Er entdeckte Lara, die hinter der Tür hervorspähte. Mit einem Grinsen schüttelte er seine Schachtel. »Wie wäre es mit einem Snack?«

»Geben Sie das her.« Quietscher schnappte sich die Schachtel. »Und Sie können jetzt verschwinden.«

Mit einem letzten Blick auf Lara stieg der Mann in den Wagen und fuhr durch das Tor davon.

Laras Herz wurde schwer. Was, wenn er nicht verstanden hatte? Es würde zwei Wochen lang keine Lieferung mehr geben.

In der Zwischenzeit untersuchten die Wächter die mysteriöse Schachtel.

»Drinnen ist vielleicht so ein spezieller Dekoder-Ring«, mutmaßte einer von ihnen.

»Ja, der Kerl kam mir irgendwie verdächtig vor«, meinte der zweite.

Quietscher riss die Schachtel entzwei, und Karamell-Popcorn ergoss sich über den ganzen Kiesweg. »Da ist nichts.« Er warf die Schachtel auf den Boden und starrte Lara unverwandt an. »Mach sauber, Jungfer.«

»Ja, Meister.« Lara schnappte sich eine Mülltüte und eilte nach draußen. Sie schaufelte Hände voll klebrigem Popcorn in die Tüte, während die Wächter davonzogen.

Als die Männer endlich das Interesse an ihr verloren hatten, hob sie die Teile der zerrissenen Schachtel auf.

Ihr Atem stockte. Die Marke war Cracker Jack. Ein Geräusch irgendwo zwischen einem Lachen und einem Schluchzen entkam ihrem Mund.

Jack hatte sie gefunden.