19. KAPITEL

 

Sonntagnacht verließ Lara das Graham Dining Center auf dem Nordcampus der Syracuse University und schlenderte die Straße zu ihrem neuen Zuhause hinab. Die Spezialeinheit hatte ihr einen Platz in Day Hall verschafft, weil auch das letzte Opfer dort gelebt hatte. Apollo fand es höchstwahrscheinlich lustig, ein Mädchen zu entführen, das in einer Nebenstraße des Mount Olympus Drive wohnte.

Sie hätte den überdachten Gang von der Mensa zu ihrem Wohnheim nehmen können, aber sie wollte eine Pause von dem ständigen Geplapper und Lärm der Studenten. Wie konnte sie sich Sorgen machen, wenn sie sich nicht einmal vernünftig denken hören konnte? Und sie hatte viele Gründe, sich Sorgen zu machen.

Ihr Blick richtete sich nach Westen, wo die untergehende Sonne sich rosa und golden in der Überdachung des Carrier Dome Stadions spiegelte. Jack würde bald aufstehen. Sich aus seinem Grab erheben, dachte sie mit einem Schaudern. Würde er anrufen? Sie war so nervös bei dem Gedanken, ihn wiederzusehen, dass sie ihr Abendessen kaum angerührt hatte.

Am Abend zuvor hatte sie LaToya gebeten, Jack ihre neue Handynummer zu geben, damit er heute Nacht anrufen konnte. Lara war schon den ganzen Tag ein nervöses Wrack.

Dieser verdammte Mann! Sie hatte so sehr versucht, ihn aus ihren Gedanken zu verbannen. Und aus ihrem Herzen. Sie hatte sich ganz in die Vorbereitungen zu ihrem Auftrag gestürzt. Stundenlanges Kampfsporttraining, Kraftübungen und Lektionen über Stressbewältigung und die Gedankengänge eines kriminellen Genies. Und trotzdem hatte sich Jack immer wieder in ihre Gedanken geschlichen. Obwohl ihr jeder Muskel von den erschöpfenden Trainingseinheiten wehtat, spürte sie immer noch ihr schmerzendes Herz.

Es war wie Trauer, hatte sie festgestellt. Es war der Verlust des Mannes, der die große Liebe ihres Lebens hätte sein können. Zuerst hatte sie es mit Leugnen versucht. Es gab so etwas wie Vampire einfach nicht, und der arme Jack war einfach wahnsinnig. Er konnte kein Vampir sein. Er verhielt sich nicht wie ein Monster. Er küsste auf jeden Fall nicht so. Oder verführte einen nicht so. Aber sie weigerte sich, daran zu denken. Leugnen hatte ganz gut funktioniert. Etwa zwei Stunden lang.

Dann war die Wut gekommen und hatte sich zu regelrechtem Zorn ausgewachsen. Wie konnten solche Monster seit Jahrhunderten existieren, ohne dass jemand davon wusste? Und wie auf aller Welt hatte sie sich in eines verlieben können? Wie konnte sie alle Anzeichen übersehen? Und wie konnte Jack es wagen, sie zu umwerben, als wäre eine Beziehung zwischen ihnen tatsächlich möglich? Eine Sterbliche musste schon garantiert wahnsinnig sein, um einen Vampir zu heiraten.

Dann erinnerte sie sich an Shanna und ihre schönen Kinder. Shanna war offensichtlich eine glückliche Frau. Aber wie konnte irgendwer ein Monster heiraten, das sich von Menschen ernährte? Sie musste allerdings zugeben, dass Jack nie versucht hatte, von ihr zu trinken. Er hatte sich immer wie ein vollkommener Gentleman verhalten. Na ja, wie ein ungezogener Gentleman, aber er war schließlich auch ein Casanova. Die wenigen Male, die sie ihn trinken gesehen hatte, musste es synthetisches Blut gewesen sein. Bedeutete das, er mochte es nicht, Menschen zu beißen?

Dann war ihr die Eingebung gekommen. Jack war möglicherweise gegen seinen Willen verwandelt worden. Er könnte ein Opfer sein, genau wie die armen Mädchen, die Apollo entführt hatte. Er könnte jahrelang gezwungen gewesen sein, Menschen zu beißen, nur, um zu überleben. Bezog er sich deswegen so oft auf die neun Kreise der Hölle? Er war vielleicht in einer lebendigen Hölle gefangen.

Lara schüttelte den Kopf, als sie die Day Hall betrat. Nein, Mitleid für Jack zu empfinden war fehl am Platze. Er war über zweihundert Jahre alt, also musste er schon jede Menge Menschen gebissen haben. Sie sollte Mitleid für seine Opfer empfinden, nicht für ihn.

Sie betrat einen Fahrstuhl und drückte den Knopf zum siebten Stock. Toll. Ein Pärchen knutschte in der hinteren Ecke. Sie drehte ihnen den Rücken zu und ignorierte ihr leidenschaftliches Stöhnen. Die Erinnerung an ihre Fahrstuhlfahrt im Campanile in Venedig kam ihr wieder in den Sinn. Jack war so romantisch gewesen, so lieb. Warum konnte er kein normaler Mann sein? Wärest du so fasziniert von ihm gewesen, wenn er ein normaler Mann wäre? Hättest du dich in ihn verliebt?

»Ich bin nicht verliebt«, murmelte sie, und der Fahrstuhl blieb mit einem Ruck im vierten Stock stehen.

»Dann such dir einen anderen«, sagte die junge Frau mit einem Lachen, als sie mit ihrem Freund den Fahrstuhl verließ. Lara stöhnte auf und drückte den Knopf, der die Fahrstuhltür schloss. Einen anderen? An Jack kam kein anderer auch nur annähernd heran. Kein anderer Mann hatte diese Mischung aus Klugheit, altmodischem Charme und gutem Aussehen, das einem das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ. Sie war von seinen ungewöhnlichen Fähigkeiten und dem Geheimnis, das ihn umgab, vollkommen gefangen gewesen. Bis sie die Wahrheit erfahren hatte.

Ihr Blick verschwamm unter ungeweinten Tränen, als sie sich an den Ausdruck auf seinem Gesicht bei ihrer letzten Begegnung erinnerte. Sie hatte ihn angeschrien, zu gehen, und in seinen Augen war so viel Schmerz und Trauer gewesen. Armer Jack.

»Aargh!« Sie tat es schon wieder. Jack war kein armes, verlassenes Hündchen. Er war ein Vampir. Sie verließ den Aufzug und schleppte sich den Gang hinab zu Raum 843.

Das Problem war, jetzt, wo sie ihren Undercoverauftrag angefangen hatte, blieb ihr zu viel Zeit zum Nachdenken. Es war einfacher gewesen, als die Spezialeinheit ihr noch verschiedene Aufgaben übertrug.

Sie hatten ihr eine neue Identität verschafft - Lara Booker. Alles war vorbereitet. Ihre einzige Aufgabe war es jetzt, jeden Tag die schwarzen Bretter der zwanzig Wohnheime abzuklappern, die über den ganzen riesigen Campus verteilt waren. Sie wartete darauf, dass der Aushang von Apollo auftauchte.

Laut FBI war die Syracuse University wahrscheinlich der Ort, an dem Apollo als Nächstes zuschlug. Trotzdem hatten sie alle Möglichkeiten abgedeckt. An mehreren Colleges prüften Special Agents die Aushänge. Wenn der Flyer auftauchte, trat Lara in Aktion. Sie würde das Seminar besuchen und sich entführen lassen.

Aber was, wenn Jack recht behielt und ihre Immunität gegen Gedankenkontrolle sich gegen sie auswirkte? Das war kein Problem, das sie mit der Spezialeinheit besprechen konnte. Wie sollte sie ihnen von Gedanken kontrollierenden Vampiren erzählen? Der Einzige, der sie verstehen würde, war ihr freundlicher Gedanken kontrollierender Vampir aus der Nachbarschaft, Jack.

Ihr Herz raste, als sie ihr kleines Zimmer betrat und die Tür hinter sich schloss. Würde er bald anrufen? Würde er zu ihr kommen? Liebte er sie noch? Nein! An Liebe würde sie gar nicht erst denken. Sie würde seine Hilfe annehmen und sich dann verabschieden. Aber was, wenn er sie voller Schmerz und Traurigkeit in seinen schönen Augen anflehte? Sie konnte es nicht ertragen, ihm wehzutun.

Wir sind nicht alle schlecht, hatte er zu ihr gesagt.

Sie beugte sich über den Schreibtisch, um durch ihre Vorhänge zu spähen. Die Sonne war fast ganz untergegangen. Sie nahm ihr Handy aus ihrer Handtasche und legte es auf den Tisch. Sie starrte es an, in der Hoffnung, es zum Klingeln zu bewegen.

Wenn Jack die Wahrheit sagte, dann konnte es gute und böse Vampire geben. Versuchten die Guten, die Bösen in Schach zu halten? LaToya hatte ihr berichtet, dass Jack sich bemühte, Apollo aufzuspüren, die Suche bisher aber erfolglos geblieben war.

Sie ging unruhig im Zimmer auf und ab. Das verdammte Telefon würde nie klingeln, solange sie es noch anstarrte. Was machte Jack gerade? Trank er synthetisches Blut? Duschte er? Zog er sich an? Liebte er sie noch?

Das Telefon klingelte. Sie wirbelte herum. Jack. Sie ging langsam darauf zu und ließ es noch einmal klingeln. »Hallo?«

»Lara.«

Der Klang seiner Stimme umhüllte sie wie ein wohlig warmes Bad. Sie wollte einfach nur stundenlang darin untertauchen. In Gedanken spritzte sie sich mit kaltem Wasser ab. Es ging hier nur ums Geschäft. »Hallo, Jack. LaToya hat erwähnt, dass du mir dabei helfen würdest, gedankliche Stimmen zu verstehen. Ich würde es gerne lernen, wenn du noch frei bist.«

Eine Pause folgte. Sie fragte sich, was er denken mochte.

»Ich habe meine Termine für die nächsten paar Stunden gestrichen«, sagte er schließlich, »wir können sofort anfangen.«

Lara atmete erleichtert aus. Er verhielt sich auch ganz professionell. Gott sei Dank. »Nur einen Augenblick, bitte. Ich muss meinen Terminplan auch noch kurz checken.« Sie sah hinab auf ihren leeren Tisch und trommelte mit den Fingern auf der hölzernen Oberfläche. Einundzwanzig. Zweiundzwanzig. »Ja, wir haben Glück. Ich kann dich diesen Abend dazwischenschieben. Müssen wir uns dazu treffen?«

»Ja, das müssen wir.«

Sie runzelte die Stirn. In ihrem Telefon war ein komischer Widerhall.

»Du kannst jetzt auflegen«, sagte er zu ihr.

»Wie bitte?« Sie hörte hinter sich ein Klicken und drehte sich um. »Ack!« Ihr Telefon fiel auf den Teppich.

Mit dem Anflug eines Lächelns schob er das Telefon in die Tasche seiner schwarzen Lederjacke. Sein Blick fiel auf ihren leeren Schreibtisch. »Wie nett von dir, mich dazwischenzuschieben.«

Nervös hob sie ihr Telefon vom Boden auf und legte es zurück auf den Tisch. »Du solltest dich nicht so an einen heranschleichen.«

»Ich dachte, du erwartest mich.« Er ging auf sie zu.

Und Lara sprang ihm aus dem Weg.

Er blieb kurz stehen, legte die Stirn in Falten, und marschierte dann an ihr vorbei zum Schreibtisch. Mit einem stummen Aufstöhnen wurde ihr klar, dass er die ganze Zeit zum Fenster gewollt hatte.

Er spähte durch die Vorhänge. »Das hier ist Syracuse University?«

»Ja. Day Hall. Das Mädchen, das Apollo letzten August von hier entführt hat, hat im selben Wohnheim gewohnt.«

»Erinnert sich irgendwer hier an sie?«, fragte Jack. »Ist ihre Mitbewohnerin noch hier?«

»Die Mitbewohnerin hat letzten Dezember ihren Abschluss gemacht. Ich habe mich umgesehen, aber alle denken, das vermisste Mädchen hat einfach das College geschmissen und ist nach Hause gefahren.« Lara setzte sich auf den Rand ihres schmalen Bettes, das an die Wand gerückt war. »Zu Hause ist sie nie mehr aufgetaucht.«

Jack ging in dem winzigen Zimmer auf und ab. Verstohlen warf sie einige Blicke auf ihn, wollte nicht dabei ertappt werden, wie sie seine schlanken, eleganten Schritte oder seine breiten Schultern bewunderte.

»Kann ich dich irgendwie davon überzeugen, die ganze Aktion abzublasen?«, fragte er.

Sie hob ihr Kinn. »Ich gebe nicht auf.«

»Bist du dir da sicher?«, murmelte er mit gesenkter Stimme während er weiter auf und ab ging.

Redete er von ihrer Beziehung? Laras Wangen erhitzten sich vor Empörung. Er war ein zweihundert Jahre alter Vampir, verflixt noch mal. Sollte sie sich darüber freuen?

»Ich gebe auch nicht auf.« Er zog seine Lederjacke aus und legte sie über die Lehne ihres Schreibtischstuhls. »Ich finde Apollo, ehe du irgendwelche Dummheiten machen kannst.«

»Oh, vielen Dank für das Vertrauen.« Wütend starrte sie ihn an.

Er starrte zurück, während er sich setzte. »Du bist ziemlich stark für eine Sterbliche, aber du kannst es trotzdem nicht mit einem Vampir aufnehmen.«

»Genau. Ich sollte es nicht mit einem Vampir aufnehmen.« Mit diesen Worten wendete sie sich beleidigt von ihm ab.

»Fangen wir an.« Seine Stimme klang angespannt.

»Von mir aus gern.« Sie drehte sich ihm wieder zu und faltete die Hände im Schoß. »Was muss ich tun?«

»Nichts. Ich mache die ganze Arbeit, und du versuchst einfach nur, mir gegenüber... empfänglich zu sein.«

Sie schloss ihre Hände fester. »Okay.«

Während er sich vorbeugte und seine Ellenbogen auf seinen Schenkeln ruhten, betrachtete Jack sie eindringlich. Die goldenen Flecken in seinen Augen schienen zu glühen, bis seine ganze Iris golden und leuchtend war.

Lara musste sich abwenden, weil ihr die stechende Energie, die von seinem Blick ausging, unangenehm war. Das Zimmer kam ihr schrecklich heiß vor. Ihre Haut begann am ganzen Körper zu kribbeln. Besonders an ihren Brüsten. Plötzlich verlagerte sich das Kribbeln nach unten. Sie presste ihre Schenkel zusammen. Sie sehnte sich plötzlich verzweifelt danach, einen Mann in sich zu spüren. Und nicht bloß irgendeinen Mann. Jack.

»Spürst du das?«, flüsterte er.

Jetzt glühten seine Augen wirklich. »Was tust du da?«

»Ich drehe meine Macht auf. So lockt ein Vampir den Menschen an.«

Sie versteifte sich. »Damit du ihn beißen kannst?«

»Ich habe seit 1987 keine Frau mehr gebissen, als das synthetische Blut eingeführt wurde.«

»Wie umsichtig von dir.« Lara hob ihr Kinn und blickte scheinbar ungerührt durch das Zimmer. »Wahrscheinlich bist du etwas eingerostet, denn ich merke überhaupt nichts.«

»Vielleicht bist du einfach unsensibel.«

Mit einem eisigen Blick gab sie ihre Gefühle preis.

Seine Mundwinkel zuckten. »Du spürst es sehr wohl. Dein Herz rast. Deine Temperatur hat sich erhöht. Ich kann die Hitze, die von dir ausgeht, spüren wie -«

»Schon gut.« Sie biss die Zähne zusammen. »Hat das Ganze einen Sinn? Ich dachte, wir konzentrieren uns darauf, Stimmen zu hören.«

»Ich versuche, deine Fähigkeiten abzuschätzen. Dein Tastsinn scheint gut zu funktionieren. Nur dein Gehör ist aus dem Gleichgewicht.«

Ein kalter Luftzug warf Lara fast auf den Rücken. Mit einem Zittern richtete sie sich auf.

»Das hast du gespürt.« Er beobachtete sie genau.

»Ja.« Die kalte Luft umwirbelte sie und legte ihre eisigen Finger an ihre Stirn. »Versuchst du, in meine Gedanken einzudringen?«

Er nickte. »Normalerweise hätte ich das längst geschafft.«

»Du bringst die Leute aber nicht zum Quaken und Ententanz tanzen, oder?«

Jetzt sah er sie genervt an. »Hörst du auch nur irgendetwas?

Mit geschlossenen Augen versuchte sie, sich zu konzentrieren. Hinter ihren Ohren war ein Rauschen, das sich wie Statik im Radio anhörte. »Sagst du gerade etwas?« »Ja.«

Schade, dass sie es nicht hören konnte, dachte Lara ein wenig traurig. Sie drückte ihre Augen fester zusammen und legte die Stirn mit aller Konzentration, die sie aufbringen konnte, in Falten. Das Rauschen wurde lauter und männlicher, mehr wie Jack, aber sie konnte noch keine einzelnen Worte ausmachen.

Mit einem Seufzen öffnete sie die Augen. »Das funktioniert nicht. Alles was ich von dir bekomme ist Rauschen.«

Seine Mundwinkel zuckten. »Hat es dir gefallen?«

»Nein.« Sie warf ihm einen bösen Blick zu. »Es ist als hätte ich eine nervige Mücke im Kopf.«

»Verdammte Blutsauger. Ich hasse sie.«

»Ist das nicht wie im Glashaus sitzen und mit Steinen werfen?«

Sein Lächeln war umwerfend, dann beugte er sich näher zu ihr. »Ich muss dich berühren. Jetzt.«

Lara schluckte. »Ich... aber...«

»Am Kopf«, erklärte er, immer noch mit einem Lächeln. »So kann ich eine stärkere Verbindung eingehen.«

»Oh.« Sie erinnerte sich daran, wie er Megans Kopf berührt hatte, um ihre unterdrückten Erinnerungen zu befreien. »Ich nehme an, das ist in Ordnung.«

Ihr Herzschlag beschleunigte sich, als er sich auf dem Bett neben sie setzte. Eisige Strömungen umwehten sie, strichen über ihre Haut und brachten ihre Härchen dort dazu, sich aufzustellen. Ein Zittern ging durch ihren Körper.

Er legte eine Hand auf ihre. »Konzentrier dich.«

Als sie die Augen schloss, kam das Rauschen zurück. Jetzt war es tief und männlich. Es hallte von einem Ohr zum anderen, ein Wust aus Worten, die sie nicht isolieren konnte. Je mehr sie es versuchte, desto mehr pochten ihre Schläfen.

»Kannst du mich hören?«, flüsterte er.

Sie schüttelte den Kopf.

Seine Finger schlössen sich fester und gruben sich in ihre Kopfhaut. Ein plötzlicher, scharfer Schmerz durchzuckte sie wie ein eisiger Dolch zwischen ihren Augen. Mit einem Keuchen fiel sie rückwärts und brach den Kontakt ab.

»Au.« Sie rieb sich die Stirn. »Was zum Henker war das?«

»Ich habe zu viel Kraft benutzt. Es tut mir leid.«

»Es ist nur Kopfweh.« Sie massierte ihre pochenden Schläfen. »Das ist es wert, wenn dadurch meine Überlebenschancen steigen.«

»Ich würde alles tun, um dein Leben zu schützen.«

»Da sind wir schon zwei.« Sie rutschte auf dem Bett zurück, damit sie sich mit dem Rücken gegen die Wand lehnen konnte. Sie schloss die Augen und atmete tief durch, damit der Schmerz in ihrem Kopf nachließ.

Ich liehe dich noch immer.

Sie riss die Augen auf. »Darüber sollten wir nicht reden.«

»Ich habe nichts gesagt.«

»Aber...« Sie hätte schwören können, dass sie ihn gehört hatte. War das nur Wunschdenken gewesen? Ihr stockte der Atem, als ihr klar wurde, was geschehen war.

Sie hatte seine Gedanken gehört. Er liebte sie noch immer! Ehe sie sich eine Antwort überlegen konnte, füllten ihre Gedanken sich mit statischem Rauschen. Das Pochen wurde stärker, und dann hörte sie einige Worte.

... mich hören?

»Das Ende habe ich gehört.« Sie sah ihn misstrauisch an. »Kannst du auch meine Gedanken hören?«

Er schüttelte leicht den Kopf. »Nicht sehr gut. Ich fühle fast nur deinen Schmerz.«

»Oh, das tut mir leid.« Auch wenn es sie wirklich erleichterte, dass er ihre Gedanken nicht lesen konnte. Sie wollte wirklich nicht, dass er wusste, wie sehr sie ihn immer noch liebte. Denk nicht einmal daran. Denk an rosa Elefanten. Als ein blöder Elefant dann tatsächlich durch ihr Gehirn galoppierte, zuckte sie zusammen.

Wenigstens war die kalte Luft verflogen. Das musste bedeuten, Jack versuchte nicht mehr, telepathisch mit ihr zu kommunizieren. Sie deutete auf den Schreibtisch. »Da ist Aspirin in meiner Handtasche.«

Anscheinend verstand er den Wink. Er sprang auf und reichte ihr die Tasche. »Brauchst du etwas zu trinken?«

»Ja. Am Ende des Flurs steht ein Automat.«

»Ich bin gleich wieder da.« Er verließ das Zimmer.

»Aargh.« Lara ließ sich auf ihr Bett fallen. Sein unglaublicher Gedanke hallte in ihrem schmerzenden Kopf wider. Ich liebe dich noch immer. Was sollte sie tun? Der wunderbarste Mann der Welt liebte sie, aber er war ein Vampir.

Im Liegen wurden ihre Kopfschmerzen noch schlimmer, also setzte sie sich wieder auf und versuchte, die Kindersicherung der Aspirinpackung zu knacken. Verdammt. Das wäre kein Problem, wenn ihre Hände nicht so zittern würden. Ich liebe dich noch immer.

Jack kam zurück in ihr Zimmer und brachte eine Cola Light und eine Flasche Wasser. »Ich wusste nicht, welches du lieber wolltest.«

Die Welt war ein bizarrer Ort, wenn der umsichtigste Mann, den sie kannte, ein Vampir war. »Ich nehme das Wasser. Danke.« Sie steckte sich zwei Aspirin in den Mund und trank. Die Cola stellte er auf den Tisch und setzte sich dann auf den Stuhl.

Lara legte ihren Kopf gegen die Wand. Rede Über etwas Ungefährliches. »Also... werden Vampire jemals krank?«

»Es tut höllisch weh, wenn wir kein Blut bekommen«, antwortete er ruhig. »Man kann uns vergiften, verbrennen oder verwunden, aber wir heilen normalerweise in unserem Todesschlaf.«

»Todesschlaf?« Sie verzog das Gesicht, hörte dann aber damit auf, weil es zu sehr wehtat. »Du bist wirklich tot, wenn du schläfst?«

»Deshalb nennt man uns die Untoten.«

Kein Wunder, dass er sie tagsüber nie zurückgerufen hatte. Er war nicht unhöflich, sondern bloß tot. Das war eine ziemlich gute Entschuldigung, aber sie hasste es, ihn sich tot vorzustellen. »Und jetzt bist du ganz und gar lebendig?«

Verärgert kniff Jack seinen Mund zusammen. »Du hast meinen Herzschlag gehört. Ich bin gerade so lebendig wie jeder Sterbliche. Und, falls du es vergessen haben solltest, auch voll funktionstüchtig.«

Um nicht auf seine Jeans zu starren, wendete sie sich von ihm ab. Sie hatte seine Erektion mehrmals gespürt. Zeit, das Thema zu wechseln. »Dann... bist du wirklich der Sohn von Casanova?«

Seine Stirn legte sich in noch tiefere Falten. »Ja.«

Es stimmte also: Sie hatte sich in einen echten Casanova verliebt. »Warum benutzt du den Namen nicht mehr?«

Er rutschte auf seinem Stuhl hin und her. »Fühlst du dich jetzt besser?«

»Nicht so richtig.« Warum er wohl so ungern darüber sprach, fragte sich Lara im Stillen. »Du hast meine Frage nicht -« Sie hielt inne, als er ihr plötzlich einen ihrer Sportschuhe auszog. »Was machst du da?«

Dann kam der andere Schuh dran, dann ihre Socken. »Du hast Schmerzen. Ich will dir helfen, dich zu entspannen.« Er schob seinen Stuhl näher heran, damit er sich ihre Füße in den Schoß legen konnte.

Fast hätte ein Stöhnen ihre Lippen verlassen, als er seine Daumen in ihre Fußsohlen grub. Es fühlte sich so gut an. Ihre Füße waren wund, weil sie ständig auf der Suche nach Apollos Aushängen über den ganzen Campus gewandert war. »Hattest du schon vorher Schwierigkeiten damit? Ich meine, in die Gedanken von jemandem einzudringen?«

»Nein. Du bist die Erste.« Er zog sanft an ihren Zehen. »Ich denke, es hat etwas mit deinem Unfall zu tun.«

Sie zuckte zusammen. »Davon weißt du?«

Er nickte und wendete seine Aufmerksamkeit dann dem anderen Fuß zu. »Ich habe einen Zeitungsartikel darüber online gelesen. Es tut mir sehr leid, dass du so viel leiden musstest.«

»Danke.« Im Augenblick wurden ihre Leiden immer weniger. Jacks Fußmassage vollbrachte Wunder. Er könnte sich um mehr als deine Füße kümmern. Sie verjagte diesen vorlauten Gedanken. Gott sei Dank las er ihre Gedanken nicht. »Ich lag eine Woche lang im Koma. Die haben nicht gedacht, dass ich es schaffe.«

Jack fuhr mit seiner Massage fort. »Du bist eine Kämpferin. Das bewundere ich an dir.«

Seine Bewunderung fühlte sich noch besser an als die Fußmassage. Und die Massage war verdammt gut. »Der Unfall hat mein Leben verändert. Er hat mich fast umgebracht, aber auf eine merkwürdige Weise war er das Beste, was mir passieren konnte.«

Plötzlich hielten seine Hände still. »Wie kann das sein?«

»Er hat die Pläne meiner Mutter, die Welt zu erobern, zerschlagen. Sie wollte, dass ich Miss Louisiana werde, dann Miss USA, und dann natürlich Miss Universum.«

Zum Glück massierte er jetzt weiter. »Das wolltest du nicht?«

»Ich wusste es nicht besser. Sobald ich laufen konnte, hat meine Mutter mich zu Schönheitswettbewerben angemeldet. Als ich vier Jahre alt war, habe ich den angesehen Titel der Little Miss Mudbug gewonnen.«

Ungläubig verzog er das Gesicht. »Mudbug? Schlammkäfer?«

»So nennen wir zu Hause Flusskrebse.« Als Jack immer noch verwirrt aussah, winkte sie ab. »Ist auch egal. Es reicht zu wissen, dass meine Mom verrückt ist. Sie ist zweiundfünfzig Jahre alt und nimmt immer noch an Wettbewerben teil. Wenn sie keinen findet, bei dem sie sich einschreiben kann, erfindet sie einen, zum Beispiel Miss New Orleans für starke Frauen. Sie trägt eine Schärpe und ein Diadem zum Einkaufen.«

»Wie... seltsam.« Jack fuhr mit der Hand unter ihre lockere Trainingshose und massierte ihre Wade.

Lara seufzte vor Wonne. Ihre Beine taten weh, seit das FBI versucht hatte, sie mit Marathon-Trainingseinheiten umzubringen. Sie fragte sich, warum sie Jack ihre Lebensgeschichte erzählte, aber er war ein so guter Zuhörer, ganz zu schweigen von seinen Fähigkeiten als Masseur, dass sie nicht damit aufhören wollte.

»Mom war so aufgeregt, als ich den Titel der Miss Teen Louisiana gewonnen hatte. Aber nach vierzehn Jahren voller Schönheitswettbewerbe wollte ich aufhören. Mom ist jedes Mal durchgedreht, wenn ich vom Aufhören auch nur anfing. Also habe ich dafür gesorgt, dass meine Wettbewerbskarriere ruiniert ist.«

Jack wendete sich ihrer anderen Wade zu. »Was hast du getan?«

»Als ich neunzehn war, stand ich im Finale zur Miss Louisiana. Es war die Runde in der sie dich auf der Bühne interviewen. Normalerweise sind das Sachen wie ›Was würden Sie an der Welt gerne verändern?‹, und die Antwort ist normalerweise. ›Weltfrieden‹.«

Jack lächelte. »Was hast du gesagt?«

»Dass ich für eine Ausweitung der Todesstrafe bin. Ich habe mir ausgemalt, es würde wahnsinnigen Spaß machen, wenn die Gemeinde zu einer schönen, altmodischen Vollstreckung zusammenkommt.«

Jack lachte. »Du ungezogenes Mädchen.«

Lara grinste. »Du hättest die Gesichter der Preisrichter sehen sollen. Meine Mutter hat tatsächlich gekreischt. Selbstverständlich bin ich fünfte von fünf Finalistinnen geworden. Meine Mutter hat einen hysterischen Anfall bekommen. Sie hat darauf bestanden, dass es zu peinlich wäre, im Hotel gesehen zu werden. Also sind wir noch in der Nacht nach Hause gefahren.«

Jack hielt seine Hände ganz still. »Und dann ist es passiert?«

Lara nickte. »Es war dunkel. Und wir waren so mit Streiten beschäftigt, dass wir den Laster nicht gesehen haben.« Sie schloss die Augen und war dankbar, dass sie sich an den Unfall selbst nicht erinnern konnte.

Das Bett schaukelte, und sie öffnete ihre Augen schnell wieder.

Jack hatte sich neben sie aufs Bett gesetzt. »Das muss schrecklich gewesen sein.«

»Mom hatte mehrere Knochenbrüche. Ich habe mir einen Arm gebrochen. Und einen schlimmen Schlag auf den Kopf bekommen.«

»Das tut mir so leid.« Jack streichelte das Haar, das jetzt die Narben bedeckte.

Tränen standen in Laras Augen. »Das Erste, was ich gehört habe, als ich aus dem Koma aufgewacht bin, war, wie meine Mutter sich mit meinem Vater unterhalten hat. Sie hat gesagt: ›Gott sei Dank ist ihr Kopf verletzt und nicht ihr Gesicht‹.«

Jack atmete scharf ein. »Cara mia, das ist furchtbar.«

»Und genau da wusste ich, dass ich nie wieder an einem Wettbewerb teilnehmen konnte. Ich wollte meinen Kopf benutzen, nicht mein Gesicht.« Lara blinzelte ihre Tränen fort. »Leider funktionierte mein Kopf nicht mehr allzu gut. Ich konnte mich nicht mehr daran erinnern, wie man liest und schreibt.«

Jack beugte sich näher. »Du musstest alles noch einmal lernen?«

»LaToya lag mit mir im selben Krankenzimmer. So haben wir uns kennengelernt. Sie hat in einem Lebensmittelgeschäft gearbeitet, als ein bewaffneter Räuber hereingekommen ist. Er hat ihr in die Schulter geschossen. Physiotherapie hatten wir bereits zusammen, also haben wir beschlossen, auch unseren Verstand gemeinsam zu trainieren. Sie konnte nicht sehr gut lesen, aber immer noch besser als ich, und es hat ihr gefallen, mir zu helfen. Sie hat gesagt, wenn ich mir den Hintern abarbeiten kann, dann kann sie es auch.«

Lächelnd betrachtete Jack sie. »Und so seid ihr beste Freundinnen geworden.«

»Ja. Wir haben jeden Tag zusammen gearbeitet, und nach ein paar Monaten haben wir uns gegenseitig Detektivgeschichten vorgelesen und die Fälle gelöst. Wir haben immer schwerere und schwerere Bücher genommen, bis wir endlich beschlossen haben, selbst Detectives zu werden und Verbrecher zu entlarven. Um die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Und hier sind wir heute.«

»Du bist unglaublich«, flüsterte Jack. »Ich habe noch nie eine so unglaubliche Frau wie dich getroffen.« Er nahm ihre Hand und küsste sie.

Ein Kribbeln überzog ihre Haut, wo seine Lippen sie berührt hatten. Er drehte ihre Hand um und küsste ihre Handfläche. Das Kribbeln breitete sich von ihrer Hand ihren Arm hinauf bis zu ihren Brüsten aus.

Als er ihr in die Augen sah, war sein Blick braun und warm vor Liebe. Keine leuchtenden Goldflecken, bemerkte sie. Keine Vampirkraft, die er benutzte, um sie anzulocken. Nur Liebe.

Und sie wollte es so sehr.

Sein Blick senkte sich auf ihren Mund. Wenn sie ihn jetzt nicht aufhielt, würde sie ihm nie mehr widerstehen können.

Sie zog ihre Hand aus seinem Griff und rutschte an den Rand des Bettes. »Na dann, ich glaube, wir haben für heute Nacht genug getan. Mein Kopf tut zu sehr weh, um noch etwas zu versuchen.«

»Ich verstehe.« Jack stand auf und zog langsam seine Jacke wieder an. »Es ehrt mich, dass du deine Geschichte mit mir geteilt hast, aber ich muss mich fragen, warum. Vielleicht ist dir das nicht klar, aber ich will jetzt noch mehr mit dir zusammen sein als jemals zuvor. Wolltest du mich ermuntern?«

Lara schluckte. »Ich - ich denke, wir könnten Freunde sein. Vielleicht.«

»Du könntest mit einem Vampir befreundet sein?«

Sie senkte ihren Blick und zupfte an ihrer Bettdecke aus Chenille. »Ich will keine... Vorurteile haben. Du scheinst mir nicht wie ein sehr schlechter Vampir.«

»Na, vielen Dank.«

Ihre Wangen wurden warm. »Ich habe mir gedacht, dass du vielleicht angegriffen und gegen deinen Willen verwandelt wurdest.« Sie sah ihn voller Hoffnung an. »War es so?« Bitte sag mir, dass du kein Monster sein wolltest.

Er fuhr mit einer Hand durch sein Haar. »Ich würde lieber nicht darüber reden, aber ja, ich wurde angegriffen.« Er trat von einem Fuß auf den anderen. »Sollen wir morgen Nacht weitermachen?«

Er hatte das Thema gewechselt. Vielleicht versuchte er, ihr die grausamen Einzelheiten zu ersparen. Schließlich musste sie davon ausgehen, dass er ermordet wurde. Irgendwie. Sie war sich nicht ganz sicher, wie Vampire entstanden. Aber sie war sich ziemlich sicher, dass es für ihn nicht angenehm gewesen war. Armer Jack. »Ja. Treffen wir uns morgen Nacht. Ich glaube, wir haben Fortschritte gemacht.«

Er lächelte. »Ja, ich glaube, das haben wir.« Dann verschwand er.

Der Mann war einfach viel zu verlockend, dachte Lara seufzend. Aber auch viel zu anders. Wollte sie wirklich ein Teil von seiner Welt werden? Wollte sie eine Beziehung mit jemandem, der tagsüber tot war und der ewig lebte, ohne zu altern? Wo blieb sie dabei? Soweit sie es sah, hatte sie bei Jack zwei Möglichkeiten. Sie konnte älter werden und am Ende allein, vergessen und mit gebrochenem Herzen dastehen. Oder sie konnte als Vampir für immer bei ihm bleiben.

Sie schauderte. Wie konnte sie das tun? Wie konnte sie Polizistin sein, wenn sie ein Vampir war? Wie konnte sie das Tageslicht aufgeben und gutes Essen und Schokolade? Wie sollte sie es ihrer Familie sagen? Wie sollte sie ihre eigene Familie haben?

Nein, sie würde vernünftig an die Sache herangehen. Jack würde ein interessanter Freund sein. Aber nicht mehr als das.

Sie musste ihn einfach aus der Ferne lieben.