11. KAPITEL

 

»Und bei so viel Gedankenmanipulation, wie wir in der Sache festgestellt haben, können wir wohl davon ausgehen, dass es sich bei Apollo um einen Vampir handelt«, endete Jack seine Erklärung in Bezug auf den Fall der verschwundenen Collegestudentin.

»Dem stimme ich zu.« Connor klopfte mit den Fingern auf seinen Schreibtisch im Sicherheitsbüro bei Romatech Industries. »Er könnte ein Malcontent sein. Statt jede Nacht auf ein Opfer Jagd zu machen, lockt er sie an diesen Ort und legt sich so eine Art Vorrat an.«

»Ja«, überlegte Phineas, »der füllt seine Speisekammer auf.«

Jack hatte den Verdacht, dass Apollo die Frauen nicht nur als Nahrung missbrauchte. Er ging in dem Büro auf und ab. Nachdem er Lara bei ihrer Wohnung abgesetzt hatte, war er zurück zum Stadthaus gefahren. Dann hatte er sich zu Romatech teleportiert und dieses Treffen einberufen.

Phineas lehnte sich in seinen Stuhl zurück. »Schlappschwanz.«

Connor hob eine Augenbraue. »Bitte?«

»Dich meinte ich nicht«, murmelte Phineas.

Connor starrte ihn weiter an.

»Dieser Apollo ist ein Schlappschwanz«, erklärte Phineas. »Er muss Gedankenkontrolle benutzen, um eine Frau zu bekommen. Wenn er der Love Doctor wäre, wie ich, würden die Frauen sich einfach so seinem Charme und seiner männlichen Gestalt hingeben.«

Jack lachte. Er war jetzt fast vier Wochen in New York und ihm waren in dieser Zeit keine Frauen aufgefallen, die sich Dr. Phang ergaben.

Connor räusperte sich. »Ich glaube, es wird für dich Zeit, noch einmal die Runde zu gehen.«

»Ich bin erst vor zehn Minuten unterwegs gewesen.«

»Und das hast du sehr gut gemacht«, meinte Connor, »raus mit dir, Lad.«

Phineas stapfte auf die Tür zu. »Ich bin mehr als nur ein Frauenmagnet, weißt du. Ich merke schon, dass du dich allein mit Jack unterhalten willst.«

Ein Funkeln blitzte in Connors Augen auf. »Och, du bist sehr scharfsinnig.«

»Yeah, darauf kannst du deinen karierten Hintern verwetten.« Phineas klappte den Kragen seines Polohemds hoch. »Dr. Phang ist ein echt scharfsinniger Hundesohn.« Er schloss die Tür hinter sich.

Jack setzte sich in den Stuhl, den Phineas verlassen hatte. »Ich hoffe, du hast Dr. Phang gut ausgebildet. Es wäre zu schade, ihn durch einen Kampf zu verlieren.«

»Er ist ein sehr guter Schwertkämpfer geworden. Ian und Dougal haben seine Ausbildung übernommen.« Connor kniff die Augen zusammen. »Ein paar Stunden von dir könnten ihm noch guttun. Ich würde sagen, du bist der beste Schwertkämpfer in Europa, aber wenn Jean-Luc das hört, spießt er mich auf.«

Jack lächelte. Jean-Luc beanspruchte den Titel als europäischer Champion seit Jahrhunderten für sich. »Ich werde es ihm bestimmt sagen. Er ist sowieso zu eitel.«

Connor schnaufte und wendete seine Aufmerksamkeit den Überwachungsmonitoren zu.

Jack warf ebenfalls einen Blick darauf und entdeckte Phineas, der durch den Seiteneingang das Gebäude verließ. Der Körper des Vampirs verschwamm, als er in das bewaldete Gelände sauste, das Romatech umgab. »Ich schiebe noch vor Sonnenaufgang eine Übungsstunde mit ihm ein.«

»Gut.« Connor trommelte mit den Fingern auf dem Tisch und hörte dann abrupt damit auf. »Wie viel weiß das Mädchen?«

Die Miene des Vampirs wurde ausdruckslos. »Nichts.«

Connor betrachtet ihn eindringlich. »Ist sie... intellektuell beeinträchtigt?«

Seine Mundwinkel zuckten. »Nein.«

»Je mehr Zeit sie mit dir verbringt, desto misstrauischer wird sie werden. Und desto versuchter wirst du sein, ihr zu viel zu verraten.«

»Sie weiß nichts«, sagte Jack bestimmt. »Wir müssen uns um die anderen Polizisten Sorgen machen. Bisher wissen sie nichts über Apollo. Wir müssen dafür sorgen, dass es auch so bleibt. Wir können uns nicht leisten, dass sie den Fall tatsächlich aufklären.«

»Das stimmt. Nichts ist wichtiger, als unsere Existenz geheim zu halten.« Connor sah ihn mit stechendem Blick an.

Jack starrte zurück. »Sie weiß nichts.«

Die Stirn in Falten gelegt, wendete Connor sich ab. »Ich erzähle Angus von dem Problem mit Apollo. Und Roman wird ein Memo an alle Zirkelmeister in Amerika schicken. Vielleicht kennt einer von ihnen ein Hotel mit klassisch griechischer Architektur in seinem Bezirk.«

»Ausgezeichnete Idee.«

»Hoffentlich finden wir Apollos Unterschlupf in den nächsten Nächten«, fuhr Connor fort. »Ich nehme an, das Gelände wird umzäunt sein, und es gibt eine Tagwache. Apollos Kontrolle über die Gedanken der Frauen ist vielleicht tagsüber, wenn er in seinem Todesschlaf ist, schwächer.«

»Richtig. Und er kann es sich nicht leisten, eine der Frauen entkommen zu lassen.« Wie viele Frauen Apollo wohl schon umgebracht hatte, fragte Jack sich. »Ich werde eine Liste aller vermissten College-Studentinnen zusammenstellen.« Insbesondere der hübschen rothaarigen.

»Gut.« Connor blickte auf die Überwachungsmonitore. »Weißt du, welche Polizisten an dem Fall arbeiten?«

»Ich könnte es herausfinden. Sie gehören zu dem Revier, in dem sich die Columbia University befindet.«

»Das wäre dann Morningside Heights. Wir sollten ihre Erinnerungen löschen.« Connor sah Jack an. »Wir sollten die Erinnerungen von allen Sterblichen löschen, die von diesem Fall wissen.«

Jack schloss seine Hände um die Lehnen seines Stuhls. »Lara ist immun. Ihre Erinnerung kann man nicht löschen.«

»Du nicht«, ergänzte Connor leise.

»Die Kraft meiner Gedanken ist so stark wie die von jedem anderen Vampir auch.«

»Ich will dich nicht beleidigen, aber ich muss infrage stellen, ob du es richtig versucht hast. Tief in dir drinnen wolltest du vielleicht nicht, dass sie dich vergisst.«

»Ich habe es versucht«, knurrte Jack. »Laszlo hat es ebenfalls versucht. Wir konnten nicht zu ihr durchdringen.«

»Dann macht es dir nichts aus, wenn ich es versuche.«

Jack sprang auf. »Nein.«

Interessiert hob Connor seine Augenbrauen. »Was für eine bemerkenswerte Reaktion.«

»Spiel nicht solche Spielchen mit mir, Connor. Du wirst Lara in Ruhe lassen.«

Der Schotte seufzte tief und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Was zum Teufel ist bloß los mit euch allen? Roman, Angus, Jean-Luc, Ian - das verbreitet sich wie die verdammte Pest. Ich habe mich gefragt, ob ein Vampir im reifen Alter von fünfhundert Jahren vielleicht den Verstand verliert, aber ich bin immun, Gott sei Dank, und du - du bist noch ein Frischling.«

»Zweihundertsechzehn Jahre alt«, gab Jack zu. »Noch grün hinter den Ohren.«

Völlig verständnislos blickte Connor ihn an. »Es gibt wenigstens fünftausend gesetzestreue Vampire, die uns bekannt sind, und fast die Hälfte von denen sind sehr hübsche und kluge Frauen. Warum kannst du dich nicht mit einer von denen vergnügen?«

Gelangweilt zuckte Jack mit den Schultern. »Ich wollte nie, dass es zu so etwas kommt.«

»Ist dir nicht klar, dass das Leben jedes einzelnen Vampirs auf diesem Planeten gefährdet ist, wenn du einer Sterblichen unser Geheimnis verrätst? Du hast nicht das Recht, uns alle in Gefahr zu bringen.«

»Ich habe ihr kein Wort erzählt.«

»Noch nicht.« Connor rieb sich die Stirn. »Ich habe das alles schon zu oft mitgemacht. Du benimmst dich genauso krank wie die anderen.«

»Liebe ist nicht krank. Amore ist die mächtigste und positivste Kraft in unserem Universum.«

»Du kennst sie jetzt wie lange? Zwei Wochen? Von Liebe kann nicht die Rede sein. Das ist ein schwerer Fall von Begierde, nichts weiter.«

Jack ging im Raum auf und ab. Nein, er hatte schon früher Lust verspürt. Er hatte schon geliebt. Er kannte den Unterschied. »Das ist mehr als Lust.«

»Es ist Leichtsinn«, knurrte Connor.

Vielleicht schon, aber war es Liebe? Jack blieb stehen und starrte ins Nichts. Wie sehr war er Lara bereits verfallen?

»Kannst du aufhören, dich mit ihr zu treffen?«, fragte Connor sanft.

Konnte er? Es gab nur wenig, was er tun musste, um zu überleben. Sich vor der Sonne verbergen. Blut trinken. So gesehen schien das Leben eines Vampirs endlos eintönig.

Jeden Tag bei Sonnenuntergang erwachte das Herz in seiner Brust zum Leben, aber er fühlte sich schon so lange innerlich tot. Er hatte sich ganz dem Kampf gegen die Malcontents ergeben, weil es ihm einen Grund gab, jede Nacht aus dem Bett zu steigen. Es war ein dunkles Leben aus ständigem Kampf und Blutvergießen. Es dauerte jetzt zwei Jahrhunderte und könnte für immer so weitergehen. Merda, er lebte in einem Kreis der Hölle.

Lara kam ihm wie ein Engel vor, der zu seiner Rettung gekommen war. Ganz Schönheit und Licht. Er lebte nicht länger für den Tod, sondern für Amore. Er war dabei, sich zu verlieben.

Liebe. Er hatte immer an die wahre Liebe geglaubt, aber er hatte nie Glück mit ihr gehabt. Seine erste Liebe, Beatrice, war gestorben, ehe er sie heiraten konnte. Ihr Verlust hatte ihn mit solcher Verzweiflung getroffen, dass viele Jahre vergangen waren, ehe er sich wieder verlieben konnte, 1855. Er verriet seiner Geliebten voller Hoffnung sein Geheimnis, nur um daraufhin von ihr abgewiesen zu werden. Er war gezwungen gewesen, ihre Erinnerung zu löschen, aber seine Erinnerungen waren geblieben, und es dauerte Jahre, bis er den Schmerz ihres Verlustes überwand.

1932 stand er vor der gleichen Situation. Durchlebte er den gleichen Schmerz, verlor die Frau, die er liebte. Er zweifelte nicht daran, dass Lara die Wahrheit zu erzählen gleichbedeutend mit sie zu verlieren war. Er schluckte. Das konnte er nicht riskieren. Er konnte den Gedanken, sie nie wieder zu sehen, nicht ertragen. Allein die Möglichkeit, sie zu verlieren, ließ seine Brust sich schmerzhaft zusammenziehen.

Es war etwas so Besonderes an ihr. Und er wollte etwas Besonderes mit ihr teilen, etwas, das er liebte. Wieder kam ihm Venedig in den Sinn. »Ich muss bei ihr sein.«

»Das hatte ich befürchtet.« Connor schritt auf die Tür zu. »Ich berichte Roman von der Situation und beginne die Jagd auf Apollos Unterschlupf.«

»In Ordnung.« Jack umrundete den Schreibtisch und setzte sich vor den Computer. Er würde die nächsten paar Stunden damit verbringen, Informationen über vermisste College-Studentinnen zusammenzutragen. Er blickte zu dem schottischen Vampir auf, der schon halb aus der Tür war. »Danke für dein Verständnis, Connor.«

»Was ich verstehe, ist, dass du dem Wahnsinn verfällst. Möge Gott deiner Seele gnädig sein.«

»Amore kann das Herz mit Freude und Frieden erfüllen«, erklärte Jack. »Sie kann einen vervollständigen.«

Ein schmerzerfüllter Blick trat in Connors blaue Augen. »Oder sie reißt einem das Herz entzwei.« Mit diesen Worten schloss er die Tür.

Jack seufzte. Er hatte das schon erlebt, war allein mit entzweigerissenem Herzen zurückgeblieben. Er konnte nur hoffen, dass ihm mit Lara nicht das Gleiche widerfuhr.

****

Am späten Montagnachmittag langweilte sich Lara zusehends. LaToya war bei der Arbeit, also war sie ganz allein. Um 13 Uhr war sie beim Psychologen ihrer Abteilung gewesen, und der hatte sie ab Mittwoch wieder für dienstfähig erklärt. Sie überlegte sich, früher wieder zur Arbeit zu gehen, damit sie auf die Akten der vermissten Personen zugreifen konnte. Aber wie sollte sie erklären, dass sie an einem Fall arbeitete, für den sie gar nicht eingeteilt war?

Sie fragte sich, wie Jack mit den Nachforschungen vorankam. Im Grunde drehten sich fast alle ihre Fragen um Jack. Als es vier Uhr geworden war, lag sie auf ihrem Sofa und betrachtete noch einmal die »You Don't Know Jack-Liste«, die sie in der Nacht zuvor geschrieben hatte.

Die erste Liste gab ihr alle Gründe, warum sie sich zu Jack hingezogen fühlte. Intelligent. Stark. Gut aussehend. Schlagfertig. Sexy. Lieb. Umwerfend. Beschützend. Unterstützend. Großzügig. Frech. Toller Küsser. Und er war so viel mehr als das. Er schien auf ihre Gedanken und Gefühle eingestellt zu sein wie kein anderer Mann, dem sie je begegnet war. Und er machte sich wirklich etwas aus ihr. Sie konnte es in seinen Augen sehen. Wenn sie nicht gerade rot glühten.

Mit einem Seufzen las sie die zweite Liste. Mentale Kräfte. Superkräfte. Altmodisch. Das letzte Wort ließ sie zusammenzucken. Wenn sein Vater 1798 gestorben war, bedeutete das, Jack war 1791 geboren worden.

Sollte sie nicht allein schon diese Tatsache abschrecken? Sogar Jack hatte ihr empfohlen davonzurennen, als wären die Höllenhunde hinter ihr her. Aber wenn er wirklich ein schlechter Mensch wäre, würde er sie dann überhaupt warnen? Vielleicht hatte er Angst, dass er ihr aus Versehen mit seinen Superkräften wehtat.

Sie warf die Liste zurück auf den Couchtisch. Genug mit diesen nutzlosen Vermutungen. Sie brauchte harte Fakten. Wenn sie ein Detective wäre, wie würde sie dann Nachforschungen über ihn anstellen? Der erste Anhaltspunkt müsste sein Arbeitsplatz sein. Sie würde sich Romatech Industries ansehen und sein Alibi für Samstagnacht bestätigen lassen. Die Fahrt dürfte ein paar Stunden dauern, also musste sie LaToya wissen lassen, dass sie nicht zum Abendessen zurück sein würde.

Als sie ihr Handy anschaltete, bemerkte Lara einen Anruf in Abwesenheit auf ihrer Mailbox. Wahrscheinlich wieder ihre Mutter, die sie anbettelte, den Unsinn mit der Polizei zu lassen und zurück nach Hause zu kommen, um etwas Vernünftiges mit ihrem Leben anzustellen, zum Beispiel bei der Wahl zur Miss Louisiana anzutreten.

Als Lara nach New York gezogen war, hatte ihre Mutter sie am Anfang jeden Tag angerufen, um sie zu nerven, also hatte sie sich dazu entschieden, ihr Telefon abzustellen, wenn sie nicht bei der Arbeit war. Und jetzt, da sie die Nachtschicht arbeitete, hatte sie es auch sonst ausgestellt, damit sie tagsüber schlafen konnte.

Mit einem resignierten Seufzen stählte sie sich für noch mehr Nörgelei und aktivierte ihre Mailbox. Ihr Herz machte einen Sprung, als sie den Klang von Jacks Stimme hörte.

»Lara, ich habe Informationen über den Fall zusammengesucht. Ich würde sie dir gerne Montagnacht zeigen. Ich habe auch ein... Date für uns geplant. Es würde nur einige Stunden deiner Zeit in Anspruch nehmen, und dann kommen wir zurück und arbeiten weiter. Ich rufe dich am Montag gegen halb neun an, um zu sehen, ob du gern mit mir ausgehen würdest. Schlaf gut, Bellissima.« Er legte auf.

Ein Date? Sie hörte sich seine Nachricht noch einmal an. Ja, Jack plante ein Date! Sie ließ sich zurück in die Couchkissen fallen und schloss ihre Augen, um die tiefe, sexy Stimme zu genießen. Jack wollte sich mit ihr verabreden, und er fragte sie, ob sie einverstanden war? Sie schüttelte den Kopf. Das war, als würde man sie fragen, ob sie mit dem Weltfrieden einverstanden wäre. Oder einem Heilmittel für Krebs.

Ihr Blick fiel noch einmal auf die Liste auf dem Couchtisch, und der Titel schien sie zu verspotten. You Don't Know Jack. Sollte sie sich wirklich so sehr auf eine Verabredung mit einem geheimnisvollen Mann mit seltsamen Fähigkeiten freuen? Aber würde nicht eine Verabredung mit ihm ihr die Möglichkeit verschaffen, ihn besser kennenzulernen?

Sie sah nach, wann er sie angerufen hatte. Halb sechs Uhr morgens. Sie sah auf die Uhr. Halb fünf am Nachmittag. Sie hatte noch vier Stunden, ehe er anrief. Es würde keine vier Stunden dauern, sich fertig zu machen.

Und was sollte aus ihrem Plan werden, zu Romatech zu fahren? Wie konnte sie das unter einen Hut bringen? Sie hatte die Zeit, nach White Plains zu fahren, aber der Rückweg würde knapp werden. Dann kam ihr eine Idee, und sie rief Jack an. Er ging nicht ran, also hinterließ sie eine Nachricht.

»Hi, Jack. Ich freue mich auf ein Date mit dir. Und danke, dass du an dem Fall gearbeitet hast. Ich nehme an, du hast die ganze Arbeit bei Romatech erledigt, also treffen wir uns einfach um halb neun dort, okay? Bye.«

Sie duschte und suchte sich nach einer halben Stunde Nachdenken endlich ein blaues Sommerkleid mit einem weißen Strohgürtel aus. Dazu nahm sie sich noch eine gehäkelte weiße Jacke, falls es kühl werden sollte. Sie wechselte außerdem zu einer weißen Handtasche, die zu ihren weißen Schuhen passte.

Als sie zum zehnten Mal ihr Make-up überprüfte, meldete sich ihr schlechtes Gewissen. Da draußen gab es entführte Mädchen, die ihre Hilfe brauchten, und alles, woran sie denken konnte, war dieses Date. Ihre Verknalltheit in Jack lief Lara langsam aus dem Ruder.

Aber es wird immer irgendwelche Verbrecher geben, gab der verliebte Teil in ihr zu bedenken. Wie oft findet man dagegen Liebe? Sie starrte sich selbst im Spiegel an. War es Liebe? War sie wirklich dabei, sich zu verlieben?

Ihre Brust zog sich mit einer Mischung aus Vorfreude und Unsicherheit zusammen, als sie ihre Sachen zusammensammelte und die Wohnung verließ. Sie nahm die U-Bahn bis Central Park und stieg dort in den Express nach White Plains. Es war fast sieben, als ihr Taxi bei Romatech ankam. Die Anlage war größer, als sie sich vorgestellt hatte, und vollständig von einer Mauer umgeben. Das Vordertor war verschlossen, und in der Nähe gab es eine Wachstation.

Als die Wache bei ihrem Taxi ankam, kurbelte sie das Fenster herunter und zeigte ihm ihre Marke von der NYPD. »Hi, ich würde mich gern mit ihrem Sicherheitschef unterhalten. Und ich habe einen Termin mit Jack... Venezia, sobald er ankommt.«

Der Wachmann sah sie zweifelnd an. »Ich habe noch nie erlebt, dass die Polizei im Taxi ankommt. Und ich will Sie ja nicht beleidigen, aber Sie sehen eher wie ein Model aus.«

Wärme schoss in ihre Gesichtshaut. Sie reichte ihm ihre Marke. »Überprüfen Sie mich, wenn es sein muss, und lassen Sie mich dann mit Ihrem Vorgesetzten reden.«

Er betrachtete die Marke. »Lara Boucher? Von Ihnen habe ich gehört.«

Was gehört? Ihr Gesicht wurde noch wärmer.

Mit einem spöttischen Grinsen gab der Wachmann ihr die Marke zurück. »Nur einen Augenblick.« Er ging zur Station und sprach am Telefon.

Lara stöhnte innerlich auf. So schwierig hatte sie es sich nicht vorgestellt, in diesen Ort hineinzukommen. Und natürlich war klar, dass niemand glaubte, sie würde an einem Fall arbeiten, solange sie so angezogen war. Es war einfach zu offensichtlich, dass sie hinter Jack her war.

Der Wachmann kehrte zum Taxi zurück. »Miss Boucher, Howard Barr empfängt sie an der Eingangstür.« Er drückte einen Knopf auf seiner Fernbedienung, und das eiserne Tor öffnete sich.

Das Taxi fuhr weiter eine zweispurige Straße entlang, die durch ein bewaldetes Gebiet führte. Dann, nach einer Kurve, erblickte sie die Anlage. Ein kleiner Parkplatz befand sich davor, und ein größerer links bei einem Seiteneingang. Das Gebäude war weitläufig, mit mehreren Flügeln, die sich auf das schön gestaltete Grundstück erstreckten.

Ein großer Mann in Khakihosen und einem marineblauen Polohemd kam aus der Vordertür, als das Taxi gerade anhielt.

Lara bezahlte den Fahrer und stieg aus dem Wagen.

»Hallo, ich bin Lara Boucher.« Sie streckte eine Hand aus.

»Howard Barr.« Er lächelte und schüttelte ihre Hand. »Ich habe schon von Ihnen gehört.«

»Ah... danke.« Sie sah zu, wie er seinen Ausweis durch einen Schlitz zog und dann seine Hand auf einen Scanner legte. »Sie haben hier ganz schön strenge Sicherheitsmaßnahmen.«

»Jepp.« Ein grünes Licht leuchtete an einem Tastenfeld auf, und er öffnete die Tür. »Treten Sie ein.«

Vor ihr präsentierte sich ein großes Foyer. Auf dem Marmorboden standen einige schöne Pflanzen, und wunderschön gerahmte Kunstwerke hingen an den Wänden. Der Duft nach antibakteriellem Reiniger hing in der Luft und erinnerte sie an ein Krankenhaus. Wenig überraschend allerdings, da sie hier eine sterile Umgebung für die Herstellung von synthetischem Blut brauchten.

Howard führte sie zu einem kleinen Tisch. »Es tut mir leid, aber ich muss mir ihre Handtasche ansehen.«

»Das verstehe ich.« Sie stellte ihre weiße Strohhandtasche auf den Tisch. Zum Glück hatte sie ihre Waffe zu Hause gelassen. »Jack hat erwähnt, dass Sie Feinde haben.«

»Jepp.« Howard tastete mit seinen riesigen Händen in ihrer Handtasche herum und machte den Verschluss dann wieder zu. »Wir sind ein paarmal bombardiert worden, deshalb zahlt es sich aus, besonders vorsichtig zu sein.«

»Warum sollte jemand diese Einrichtung bombardieren?« Lara warf sich ihre Handtasche über die Schulter. »Das synthetische Blut, das Sie hier herstellen, rettet doch Tausende von Leben.«

»Ja, aber es gibt einige... merkwürdige Gestalten da draußen, die etwas dagegen haben, dass es kein echtes Blut ist. Also, Miss Boucher, wie kann ich Ihnen helfen? Jack ist für etwa eine Stunde nicht erreichbar.«

»Ich beschäftige mich mit dem Fall einer Collegestudentin, die seit Samstagnacht verschwunden ist.«

Howard nickte. »Jack hat letzte Nacht daran gearbeitet. Er hat die Informationen auf einem Laptop hinterlassen. Wollen Sie die sehen?«

»Ja, bitte.«

»Hier entlang.« Howard führte sie einen Flur entlang. »Sie können eines der Konferenzzimmer benutzen. Jack hat erwähnt, dass er mit Ihnen zusammenarbeitet, also dürfte es in Ordnung sein, dass Sie sich die Informationen ansehen, die er gefunden hat.«

Lara spürte einen Anflug von Empörung. Natürlich war das in Ordnung. Das vermisste Mädchen war eine Sache der Polizei. »Ich nehme an, Jack war Samstagnacht hier und hat im Sicherheitsdienst gearbeitet?«

»Ja.« Howard legte die Stirn in Falten. »Warum fragen Sie?«

»Bloß Routine«, murmelte sie. Sie bemerkte die Schilder an den Türen, an denen sie vorbeigingen. Waschraum, Lager, Konferenzraum. Spielzimmer? Sie glaubte, hinter der verschlossenen Tür das Lachen eines Kindes zu hören. Zahnarzt. »Sie haben hier einen Zahnarzt?«

»Jepp. Shanna Draganesti.« Howard deutete auf ihre Praxis. »Sie ist die Betriebszahnärztin für alle Angestellten hier, für nur einen Bruchteil der normalen Kosten.«

»Wie nett. Also, um welche Zeit war Jack am Samstagabend hier?«

»Die ganze Nacht.« Howard blieb stehen. »Sie halten ihn doch nicht ernsthaft für einen Verdächtigen, oder? Jack ist ein toller Kerl. Und wenn er schuldig wäre, warum sollte er Ihnen dann bei dem Fall helfen?«

Lara trat von einem Fuß auf den anderen. »Ich möchte nicht undankbar klingen, aber es würde Klarheit in einige Dinge bringen, wenn ich einen Beweis bekommen könnte, dass er in jener Nacht hier war.«

Voller Empörung sah Howard sie an. »Na gut. Ich zeige Ihnen die Sicherheitsaufnahmen von Samstagnacht.« Er führte sie zu einer Tür, auf der MacKay Security stand. Wieder zog er seinen Ausweis durch einen Schlitz und legte seine Hand auf einen Scanner. »Wir bewahren da drinnen ein paar Waffen auf, deshalb müssen wir es fest verschließen.«

»Verstehe.« Lara folgte ihm hinein.

Zuerst sah es wie ein normales Sicherheitsbüro aus: Schreibtisch, Computer, Aktenschränke, eine Wand voller Monitore, die zu den Überwachungskameras gehörten. Aber dann entdeckte sie einen vergitterten Bereich am hinteren Ende. Sie sperrte den Mund auf.

Ein paar Waffen? Sie ging auf den Käfig zu, der mit einem Vorhängeschloss versehen war, und zählte die Sturmgewehre, die dort in einem Regal standen. Zwölf. Jede Menge Handfeuerwaffen auf einem weiteren Regal. Kisten voller Munition auf dem nächsten. Aber was ihr wirklich ins Auge fiel, waren die Schwerter. Glänzende Breitschwerter und Florette füllten die Wand links von ihr. An der Rechten fanden sich tödlich aussehende Dolche und Messer.

Sie legte eine Hand um eine Masche des Drahtkäfigs und betrachtete die Schwerter. Einige von ihnen sahen wirklich alt aus. Und was für eine altmodische Art, ein Gebäude zu beschützen.

Altmodisch. Das Wort begann, sie zu verfolgen. »Was sollen die ganzen Schwerter? Erwarten Sie eine attackierende Wikingerhorde?«

Howard schnaubte, als er sich hinter den Schreibtisch setzte. »Die Jungs sammeln diese Dinger.« Er tippte etwas auf der Tastatur. »Okay, ich habe das Überwachungsvideo von Samstagabend hochgeladen.«

Lara wendete sich den Monitoren zu. Das numerische Datum für den vergangenen Samstag erschien in der unteren rechten Ecke neben der Zeit. Einundzwanzig Uhr.

Mit der Fernbedienung in der Hand stellte Howard sich neben Lara. »Wie Sie sehen ist das Gebäude an einem Samstagabend ziemlich leer. Nur die Sicherheitsleute und die Besucher der Messe.«

»Verstehe.« Lara hatte bemerkt, dass die meisten Monitore leere Korridore zeigten. Sie erkannte das Hauptfoyer. Dort waren einige Leute versammelt.

Eine verschwommene Bewegung auf einem anderen Monitor lenkte ihre Aufmerksamkeit auf sich. Es sah aus, als würde jemand in Höchstgeschwindigkeit über das bewaldete Gelände rasen. »Wie schnell bewegt sich der Kerl da?«

»Oh, das steht bloß auf vorspulen«, murmelte Howard.

Konnte wirklich ein Bildschirm vorgespult werden, während die anderen weiter normal abspielten, fragte sich Lara nachdenklich.

Howard deutete auf den Bildschirm. »Da ist Jack, er verlässt das Büro.«

Sie betrachtete seine langen, eleganten Schritte. »Wie lange kennen Sie ihn schon?«

»Seit ich angefangen habe, für MacKay Security and Investigations zu arbeiten«, erklärte Howard. »Etwa zehn Jahre, würde ich sagen.«

Lara sah, wie ein kleiner Junge auf den Flur rannte. Jack nahm ihn in seine Arme und hob ihn hoch. »Wer ist das?«

»Constantine Draganesti. Romans und Shannas Sohn. Das da ist Shanna, die mit ihrem Baby aus dem Spielzimmer kommt.«

Lächelnd beobachtete Lara, wie Jack zurücktrat. Er sah mit dem Kleinkind vollkommen normal aus, aber das Baby schien ihm furchtbare Angst zu machen. Shanna gab das Baby an eine ältere Frau weiter, die ebenfalls aus dem Spielzimmer kam. Während die ältere Frau die Kinder ins Spielzimmer zurückbrachte, ging Shanna mit Jack den Korridor hinab.

»Sie sind auf dem Weg zur Kapelle, um an der Messe teilzunehmen«, fuhr Howard fort. »Ich spule vor.«

Lara bemerkte, dass Howard dieselbe Kleidung trug, wie Carlos sie im Stadthaus getragen hatte. »Tragen Sie eine Uniform?«

»Ja. Die der Wachen von MacKay.«

»Jack habe ich noch nie in Uniform gesehen.«

»Jack ist einer unserer besten Detectives, und er arbeitet viel Undercover. Er kann im Grunde tun, was er will.« Howard drückte einen Knopf auf der Fernbedienung. »Gleich sehen Sie, wie alle aus der Kapelle kommen.«

»Es kommt mir etwas seltsam vor, hier einen Gottesdienst abzuhalten.«

Howard zuckte mit den Schultern. »Roman tut es gern. Okay, hier sind sie.« Howard deutete auf den Monitor, als alle aus der Kapelle kamen. Die meisten von ihnen gingen in einen Raum rechts davon. »Das ist der Gemeindesaal, in dem wir Erfrischungen zu uns nehmen. Da drinnen gibt es keine Kamera.«

Lara entdeckte Jack vor der Kapelle, wie er mit dem Schotten im Kilt redete, den sie auf der Hochzeit getroffen hatte. Robby. Die zwei schlenderten in den Gemeindesaal. Die Zeit in der Ecke des Bildschirms besagte zweiundzwanzig Uhr. Es schien, als hätte Jack wirklich ein Alibi.

Die ältere Frau tauchte auf dem Monitor auf, der den Flur vor dem Spielzimmer zeigte. Sie hatte das Baby auf dem Arm, der kleine Junge hüpfte neben ihr her. Sie erschienen bald darauf auf dem Monitor vor der Kapelle. Der kleine Junge sprang seinem Vater in die Arme. Roman Draganesti umarmte ihn, und Shanna nahm das Baby. Sie waren eine nette Familie und sahen so normal aus.

All diese Leute sahen normal und nett aus. Lara fragte sich, ob sie zu misstrauisch war, was Jack anging. Vielleicht sollte sie sich einfach entspannen und es genießen, sich zu ihm hingezogen zu fühlen.

Plötzlich trat Jack auf den Flur. Er hatte ein Glas in der Hand und nippte daran. Endlich! Der Beweis, dass Jack tatsächlich etwas trank.

Sie beugte sich näher an den Bildschirm. »Was trinkt er da? Wein?«

Der Bildschirm wurde schwarz.

»Was -?« Sie sah hinter sich zu Howard und bemerkte noch, wie er die Fernbedienung auf seinen Schreibtisch legte.

»Ich nehme an, das reicht aus, um sein Alibi zu beweisen.« Er tippte etwas auf seine Tastatur, und die Monitore liefen wieder in Echtzeit. »Würden Sie jetzt gern die Informationen sehen, die Jack letzte Nacht zusammengestellt hat?«

»Ja, das würde ich. Danke.«

»Das ist alles auf diesem PC.« Howard nahm einen Laptop und schlenderte damit zur Tür. »Sie können das Konferenzzimmer gegenüber benutzen.«

Lara nahm ihre Handtasche, um Howard zu folgen, und sah noch einmal auf die Monitore. War sie paranoid, oder hatte er wirklich versucht, etwas vor ihr zu verbergen?