10. KAPITEL

 

»Megan, das hier ist Jack... Venezia.« Lara war sich immer noch nicht sicher, wie Jacks Nachname richtig lautete, und in Anbetracht der Tatsache, dass sie nun schon oft in seinen Armen gelegen und ihn geküsst hatte, war das mehr als merkwürdig. »Er wird uns dabei helfen, Vanessa ausfindig zu machen.«

»Okay.« Megans Augen wurden groß, als sie Jack in der Tür stehen sah.

»Wie geht es Ihnen?« Er nickte höflich. »Dürfen wir hereinkommen?«

Megan stolperte ein paar Schritte rückwärts und starrte Jack weiter an. Lara wusste, wie sie sich fühlte. Jack hatte es so an sich, einem die Sinne zu rauben.

Er schloss die Tür. »Setzen Sie sich bitte. Es wird nur einen Augenblick dauern.«

Megan ging rückwärts, bis sie gegen ihr Bett stieß, und ließ sich dann einfach auf den Hintern fallen. Lara setzte sich ihr gegenüber auf das andere Einzelbett. Sie zog einen Stift und Papier aus ihrer Handtasche und fragte sich, was genau Jack mit dem Mädchen anstellen wollte.

Lässig gegen die Tür gelehnt, begann Jack mit seinen Fragen. »Also, Megan, Sie und Vanessa sind gute Freundinnen?«

»Oh, ja. Vanessa ist echt die coolste Freundin, die ich je hatte. Ich - ich hoffe es geht ihr gut.« Megans Unterlippe begann zu zittern, und Tränen stiegen ihr in die Augen. »Ich habe solche Angst um sie.«

»Da bin ich mir sicher.« Jack sprach mit sanfter Stimme. »Und wohin sind Vanessa und Sie letzte Nacht gegangen?«

Die Veränderung, die in Megans Gesicht vor sich ging, war dramatisch. Laras ganzer Körper überzog sich mit einer Gänsehaut, als sie dabei zusah, wie die junge Frau innerhalb von Sekunden vollkommen ausdruckslos wurde.

»Wir waren in unserem Zimmer und haben gelernt«, sagte Megan mit einer merkwürdigen Roboterstimme.

Ein eisiger Wind erhob sich im Zimmer. Mit einem Zittern wendete Lara sich wieder Jack zu. Was für ein menschliches Gehirn konnte die Temperatur verändern? Er hatte die Stirn in Falten gelegt und war ganz auf Megan konzentriert. Die goldenen Flecken in seinen Augen glänzten.

Lara musste schlucken. Was wusste sie eigentlich über ihn?

Er trat auf Megan zu. »Wo bist du letzte Nacht gewesen?«

»Wir waren... in unserem Zimmer...« Megan schwankte, und ihre Augen schlössen sich.

Ein seltsames Knistern hallte in Laras Ohren wider. Unter diesem Summen glaubte sie, eine tiefe, männliche Stimme zu hören. Sie klang wie Jack, aber die Worte konnte sie nicht ausmachen. Da sein Mund sich nicht bewegte, musste er telepathisch kommunizieren.

»Ja«, flüsterte Megan.

Ja was? Ja, sie würde seine Fragen wahrheitsgemäß beantworten, oder ja, sie würde alles sagen, was er ihr in Gedanken befahl? Ein ungutes Gefühl kroch Laras Nacken hinauf. Konnte LaToya recht haben? Programmierte Jack Megan darauf, für ihn zu lügen?

Er legte eine Hand auf den Kopf des Mädchens und schloss seine Augen. »Du wirst dich erinnern. Wo bist du Samstagnacht gewesen?«

»Wir waren in -« Megan verzog das Gesicht. »Wir sind zur Studentenverwaltung gegangen und haben an einem Seminar teilgenommen. Vanessa wollte hin.«

»Wer hat das Seminar abgehalten?«, fragte Jack.

»Er -« Megan sackte in sich zusammen.

Jack fasste nach ihrem Kopf und bedeckte ihre Schläfen. »Wer war er?«

»Apollo«, flüsterte sie.

Lara schrieb den Namen auf ihren Notizblock.

»Beschreib ihn«, befahl Jack.

»Groß, blond, und richtig gut aussehend.« Megan rümpfte ihre Nase. »Und echt blass.«

Lara hielt mitten in ihren Notizen inne. Sie fand auch, dass Jack etwas zu blass war.

»Was hat Apollo euch erzählt?«, fragte Jack.

»Er hat uns eine PowerPoint-Präsentation gezeigt, mit Bildern von einem schicken Hotel mit Spa. Wir haben eine Umfrage mit unseren Lieblingsschönheitsbehandlungen ausgefüllt, und eine glückliche Gewinnerin wurde ausgesucht, die ein Luxus-Spa-Paket gewonnen hat. Eine Woche, alles inklusive. Vanessa war die Glückliche.«

Lara schüttelte den Kopf. So viel Glück konnte einen umbringen.

»Hat er gesagt, wo das Spa sich befindet?«, fragte Jack.

»Ich weiß es nicht.« Megan legte die Stirn in Falten. »Es sah hübsch aus. Klassische griechische Architektur. Weiße Marmorgebäude. Es war irgendwo auf dem Land.«

»Danke, Megan. Du wirst jetzt schlafen gehen, und wenn du morgen aufwachst, erinnerst du dich nicht mehr daran, dass wir hier gewesen sind. Du wirst dich nicht daran erinnern, meine Fragen beantwortet zu haben.« Jack ließ sie los.

Sie fiel seitwärts auf ihr Bett, und Jack zog sie hoch, bis ihr Kopf auf dem Kissen zu liegen kam. Die kalte Luft im Raum verzog sich.

Lara zog Megan ihre Flipflops aus. »Warum hast du ihre Erinnerung an uns gelöscht?«

Jack deckte das Mädchen zu. »Solange sie bei der Geschichte bleibt, auf die Apollo sie programmiert hat, ist sie in Sicherheit. Wenn er je den Verdacht hegt, dass sie über ihn gesprochen hat, könnte ihr Leben in Gefahr sein.«

»Verstehe.« Lara ging zur Tür. »Ich bezweifle, dass Apollo sein richtiger Name ist.«

»Ich auch.« Jack schaltete das Licht aus, ehe er das Zimmer verließ. »Er denkt wahrscheinlich, es passt gut zu der griechischen Architektur von seinem so genannten Hotel.«

»Tja, und einem geschenkten Wellnessurlaub können die wenigsten Frauen widerstehen.« Die beiden gingen den Flur hinab. »Willst du mit ihren anderen Freundinnen sprechen?«

Ramya war in der Bibliothek, um zu lernen, also machte Jack seine gruselige Gedankenanzapfung nur bei Carmen. Genau wie Megan erzählte Carmen ihnen, dass Apollo groß war, blond und gut aussehend, und dass er Vanessa ausgewählt hatte, die das Spa-Paket gewann. Sie ließen Carmen schlafend zurück und gingen dann über den Campus zum Gebäude der Studentenverwaltung. Es gab keine Aufzeichnungen darüber, dass Apollo irgendwelche Anträge ausgefüllt hatte, um einen Raum zu mieten, und der Manager erinnerte sich nicht an ihn.

Als sie sich dem Ausgang näherten, entdeckte Lara einen Getränkeautomaten. »Ich muss etwas trinken. Willst du auch etwas?« Sie tastete in ihrer Handtasche nach ihrer Brieftasche.

»Nein, danke.« Jack zog seinen Geldbeutel heraus und steckte einen Dollar in die Maschine, ehe sie ihre Brieftasche öffnen konnte.

Er war wirklich schnell. »Danke.« Sie drückte den Knopf für eine Cola Light. Wieder vermied er es, etwas mit ihr zu trinken.

»Soll ich dich jetzt nach Hause fahren?«

»Ja, bitte.« Sie drehte den Verschluss von ihrer Colaflasche ab und nahm einen Schluck, während er ihr die Tür öffnete.

Während sie über den Campus schlenderten, ging Lara in Gedanken noch einmal durch, was sie bisher über den Fall erfahren hatten. Mädchen im Collegealter zu entführen war ungewöhnlich genug, aber dazu noch Gedankenmanipulation zu benutzen war wirklich merkwürdig. Apollo verwischte seine Spuren genauso gut wie Jack es im Plaza Hotel getan hatte. Wie viele Leute, die diese Gabe besaßen, konnte es geben? Wie viele Verbrechen geschahen jeden Tag, die so gut verschleiert wurden, dass niemand merkte, wie sie begangen wurden? Es war das perfekte Verbrechen, wenn das Opfer überhaupt nicht mitkriegte, dass es ein Opfer geworden war.

Der ganze Gedankengang war mehr als verstörend. Es könnte ein ganzes Verbrechersyndikat aus geheimen Gedankenmanipulierern geben, die die Unschuldigen missbrauchten, vergewaltigten und töteten. Und wenn niemand davon wusste, wie sollte man sie dann je aufhalten?

Sie nippte an ihrer Cola. »Jack, wir müssen diesen Kerl finden. Er könnte ein Serienmörder sein.«

»Das stimmt.«

Erst als sie auf den Parkplatz kamen, bemerkte Lara, dass auch Jack geschwiegen hatte. Seine Stirn lag in Falten, und er schien tief in Gedanken versunken. Wie viel von dem, was er wusste, verriet er ihr nicht?

»Und, was willst du als Nächstes unternehmen?«, fragte sie.

»Ich werde versuchen, noch weitere Informationen zu bekommen.« Er sah sie mit einem verschmitzten Lächeln an. »Schließlich bin ich ein Detective, erinnerst du dich?«

»Ein sehr geheimnisvoller«, murmelte sie.

»Das sind die besten.« Er drückte auf seinen Schlüssel, um den Lexus zu entriegeln.

»Wenn wir zusammenarbeiten wollen, solltest du mir alles sagen, was du weißt.«

Ein schmerzerfüllter Ausdruck flackerte über sein Gesicht, als er ihr die Beifahrertür öffnete. »Ich werde tun, was ich kann.«

Was sich als »nicht sehr viel« übersetzen ließ, nahm Lara an, als sie sich auf den Beifahrersitz setzte. Er schloss die Tür hinter ihr und ging um das Auto herum. Wieder einmal fiel ihr auf, wie altmodisch er war. Sie schnallte sich an und stellte ihre Cola im Becherhalter ab.

Als er neben ihr saß, startete er den Wagen. »Ich wollte dir dafür danken, Lara, dass du mir von diesem Fall erzählt hast.«

»Gern geschehen.« Sie kramte in ihrer Handtasche und nahm all ihren Mut zusammen, während er den Parkplatz verließ. »Weißt du, als ich dich bei Megan und Carmen vorgestellt habe, ist mir klar geworden, dass ich mir bei deinem Nachnamen nicht sicher bin. Ist es wirklich Venezia?«

»Venedig ist meine Heimat.« Er betrachtete sie lächelnd. »Würdest du sie gern kennenlernen?«

Sie blinzelte. »Ja, sicher. Natürlich.« Sicher wäre es wunderbar romantisch, in einer Gondel mit einem attraktiven Italiener dahinzugleiten. Welcher Frau würde das nicht gefallen? Und dieser Schuft hatte schon wieder das Thema gewechselt. Er war gut darin, einen zu manipulieren, auch ohne seine mentalen Kräfte zu gebrauchen. »Was deinen Nachnamen angeht -«

»Ich werde dich mitnehmen.«

»Bitte?«

Er bog nach Süden auf den Henry Hudson Parkway ein. »Ich nehme dich mit nach Venezia.«

Sie sah ihn zweifelnd an. »Wenn du darauf bestehst, aber erst solltest du volltanken. Und ich meine mich zu erinnern, dass irgendwo auf dem Weg auch ein Ozean liegt, der ein Problem werden könnte.«

Er lachte leise. »Ich bin nicht darauf vorbereitet, gleich heute Nacht zu gehen.«

»Ach nein. Ich habe auch kein Flugticket. Und ich kann mir auch keines leisten, also, auch wenn ich das Angebot zu schätzen weiß, muss ich leider ablehnen.«

»Du wirst kein Geld brauchen, Bellissima. Du kannst in meinem Palazzo wohnen.«

»Ist das wie ein Palast?«

»Wir werden im Mondlicht in einer Gondel fahren«, fuhr er fort, »und ich zeige dir meine Lieblingsorte.«

»Wie kann ein Typ der bei einer Sicherheitsgesellschaft arbeitet, sich einen Palazzo leisten?«

Er zuckte mit den Schultern. »Es ist kein sehr großer Palazzo. Er gehört meiner Familie schon seit Jahren. Und ich arbeite, weil ich mehr tun will, als einfach nur zu existieren. Ich will etwas Bedeutendes mit meinem Leben machen, zum Beispiel die Welt von den Bösen befreien. Das haben wir gemeinsam, nicht wahr?«

»Ja, aber ich habe keine Superkräfte so wie du.«

»Du hast auch eine Gabe, Bellissima. Du kannst jeden Mann in die Knie zwingen.«

Dieser Schmeichler, dachte Lara gerührt.

Sein Lächeln war verheißungsvoll. »Es würde dich überraschen, was ich auf den Knien alles anstellen kann.«

Ihre Wangen wurden warm. »Also, dein Palazzo - lebt dort noch jemand von deiner Familie?«, fragte sie beiläufig und hoffte, ihm damit mehr Informationen zu entlocken.

»Nein. Ich bin nicht sehr oft dort. Normalerweise erledige ich meine Aufträge.«

»Hast du überhaupt noch Familie?«

»Ich habe einen... entfernten Cousin, der sich um das Familienunternehmen kümmert. Ich bin einer der Hauptinvestoren.«

»Und was macht euer Familienunternehmen?«

»Schifffahrt.« Er warf ihr einen amüsierten Seitenblick zu. »Ich kenne mich also mit den Ozeanen ein wenig aus.«

»Gut. Jetzt fühle ich mich gleich viel sicherer.«

»Cara mia, bei mir wirst du nie vollkommen in Sicherheit sein.«

Laras Haut kribbelte. »Willst du mir drohen?«

Er lächelte sie verlegen an. »Nicht mit etwas Schlimmem. Wenn ich dich anspränge, dann nur zu deinem Vergnügen.«

»Oh.« Ihr Gesicht brannte, als sie sich abwendete, um aus dem Fenster zu sehen.

Während die Minuten verstrichen, wurde die Spannung im Wagen immer spürbarer. Scheinwerfer zuckten an ihnen vorbei und Hupen ertönten, aber all das schien in der Ferne zu liegen, als wären sie allein auf der Welt, als könnte nichts sie in ihrem privaten Kokon stören. Es gab nur ihn und sie und diese seltsame, magnetische Energie, die sie zueinander zog.

Ein merkwürdiges Gefühl, als würde sie ihrem Schicksal gegenüberstehen, überwältigte ihre Gedanken. Sie fühlte sich, als hätte sie ihr ganzes Leben nur für diesen einen Augenblick gelebt. Diesen Augenblick mit Jack.

Sie dachte, Schweigen würde helfen, aber das tat es nicht. Tiefes Verlangen loderte in ihr und ließ sie erglühen. Es fühlte sich so echt an, als würde tatsächlich eine körperliche Verbindung zwischen ihr und Jack bestehen. Wenn er nicht am Steuer säße, sie wäre längst auf ihn geklettert.

Er bog in die Canal Street ein und fuhr nach Osten.

Sie räusperte sich. »Jack?«

»Ja?« Seine Stimme klang angespannt. Fühlte er es auch?

»Wenn wir jemals... ich meine, wenn ich ins Bett mit dir gehe, will ich, dass es vollkommen meine eigene Entscheidung ist.« Sie drehte sich ihm zu. »Versprich mir, dass du deine manipulative Gabe nicht benutzen wirst, um mich in die eine oder andere Richtung zu lenken.«

»Ich verspreche es.« In seinen traurigen Augen konnte sie lesen, dass er es ehrlich meinte. »Anders würde ich es nicht wollen.«

»Danke.« Sie atmete tief ein. »Wie lautet dein Nachname, Jack?«

»Gute Frage. Ich verwendete den Namen Giacomo di Venezia, weil mein Nachname immer schon fragwürdig war.« In seinen Augen funkelte Belustigung. »Ich bin ein Bastard, aber das ist dir sicher schon aufgefallen.«

Sie lächelte. »Ja, das war von Anfang an erschreckend klar.«

Er lachte leise. »Laut meiner Geburtsurkunde bin ich Henrik Giacomo Sokolov.«

»Du machst Scherze. Du bist... ein Deutscher?«

»Halb böhmisch, auf der Seite meiner Mutter. Der Name ihres Mannes war Sokolov. Ich habe den Namen noch nie benutzt, weil ich nichts mit diesem Hahnrei zu tun habe, der mich nicht in sein Haus aufnehmen wollte.«

»Der Mann deiner Mutter hat dich als Baby nicht angenommen?«

Jack zuckte mit den Schultern. »Warum auch? Ich war ein Zeichen der Untreue seiner Frau. Er hat sie in Ungnade zurück zu ihrer Familie geschickt, und sie ist ein paar Jahre später gestorben. Ich habe sie nie richtig gekannt.«

»Das ist furchtbar!« Lara lehnte sich zu ihm. Armer Jack. »Was ist mit dir geschehen?«

»Man hat mich an den... Ort geschickt, an dem mein Vater gearbeitet hat. Eine alte Krankenschwester hat mich aufgezogen.« Jack überquerte die Manhattan Bridge. »Es war im Grunde nicht schlimm. Nana Helga war eine liebe Frau, und ich habe meinen Vater gesehen, wann immer ich konnte. Er hat mir Italienisch beigebracht. Mit allen anderen habe ich Tschechisch gesprochen.«

»Dein Vater ist also Italiener?«

»Er war es. Er ist gestorben, als ich sieben Jahre alt war.«

»Oh nein, Jack.« Lara berührte seinen Arm. »Das tut mir so leid.«

»Das ist schon gut. Mein Vater war dreiundsiebzig, als er gestorben ist. Er hatte ein erfülltes Leben. Ein sehr erfülltes Leben.«

»Was ist dann mit dir passiert?«

»Man hat mich nach Venedig geschickt, um bei einem Onkel und einigen Cousins zu wohnen.« Er drückte ihre Hand. »In Venedig habe ich mich verliebt. Ich würde es dir so gerne zeigen.«

»Na gut, vielleicht. Das wäre schön.« Noch immer verschwieg er seinen richtigen Nachnamen. Und etwas an seiner Geschichte kam ihr seltsam bekannt vor. »Dein Vater war Italiener, aber er hat in Böhmen gearbeitet, wo er deiner Mutter begegnet ist?«

»Er hat an vielen Orten gelebt, aber er hatte es an sich, hinter sich alle Brücken abzubrechen.« Jack fuhr auf ihre Straße in Brooklyn zu. »Kann ich dich morgen Nacht wiedersehen? Wir könnten noch weiter an diesem Fall arbeiten.«

»Du meinst an der Entführung?« Sie war so sehr in Jacks Geschichte versunken gewesen, dass sie Apollo fast vergessen hatte.

»Wie wäre es mit Viertel vor neun?« Er bog in ihre Straße ein. »Bei dir?«

»Okay.« Sie sammelte ihre Sachen zusammen. »Danke, dass du mir geholfen hast.«

»Lara.« Er hielt den Wagen vor ihrem Wohnhaus. »Ich will Apollo aufhalten. Ich bete darum, dass die Mädchen noch am Leben sind. Aber was mir am wichtigsten ist, ist deine Sicherheit.«

»Ich komme zurecht.« Sie löste ihren Gurt.

Zart berührte Jack ihre Wange und löste damit ein Herzstolpern in ihrer Brust aus.

»Ich will dich küssen«, sagte er leise. »Ist das in Ordnung?

»Ja.« Oh Gott, ja. Sie fuhr mit den Fingern über seine hohen Wangenknochen und dann über seine hohle Wange und die dunklen Stoppeln auf seinem Kiefer.

Er beugte sich vor und drückte seine Lippen auf ihre. Sein Mund bewegte sich langsam und presste sich gegen sie, bis sie sich schmerzlich danach sehnte, sich für ihn zu öffnen. Sie ließ ihre Hand in seinen Nacken gleiten und fuhr mit den Fingern in sein weiches dunkles Haar. Er war so köstlich, so verlockend.

Dann löste er sich plötzlich von ihr und lehnte sich in seinen Sitz zurück. »Gute Nacht, Lara.«

Dieser Schurke. Er musste wissen, wie erregt und verstört er sie zurückließ. Das rote Leuchten seiner Augen verriet ihr, dass er genauso erregt war wie sie. »Gute Nacht, Jack.«

Sie stieg aus dem Wagen und eilte die drei Treppen zu ihrer Wohnung hinauf.

»Und, wie ist es gelaufen?« LaToya lehnte im Türrahmen zu ihrem Schlafzimmer und trug bereits ihren Pyjama.

Lara fuhr den Computer auf ihrem Schreibtisch hoch. »Es war toll. Wir haben jetzt eine Beschreibung des Verdächtigen. Groß, blond und nennt sich Apollo.«

»Cool.« LaToya gähnte. »Und Jack hat sich gut benommen?«

»Ja.« Lara ging ins Internet und googelte nach Giacomo Casanova. »Du siehst müde aus. Geh ins Bett. Ich erzähle dir die Details dann morgen.«

»Okay. Gute Nacht.« LaToya schloss ihre Schlafzimmertür hinter sich.

Als Jack ihr von seiner Kindheit erzählt hatte, waren Lara einige Dinge besonders aufgefallen, und es hatte eine Weile gedauert, bis sie gemerkt hatte, warum. Das Leben von Jacks Vater war so schlüpfrig gewesen, dass der alte Priester, der Jack unterrichtet hatte, unbedingt verhindern wollte, dass er in die Fußstapfen seines Vaters trat. Der Mann war ein Verführer gewesen, der an vielen Orten gelebt hatte. Sein letzter Job hatte ihn nach Böhmen geführt, wo er Jacks Mutter begegnete. Er war dort im Alter von dreiundsiebzig Jahren gestorben.

Als Lara Casanovas Biografie überflog, zog sich ihre Brust zusammen. Ihr Herz raste. Giacomo Casanova. Der berühmte Verführer. Er hatte an vielen Orten gelebt, bis er durch irgendeinen Skandal gezwungen wurde, weiterzuziehen. Seine letzte Arbeitsstelle hatte er als Bibliothekar auf Schloss Dux in Böhmen gehabt, wo er im Alter von dreiundsiebzig Jahren verstorben war. Im Jahre 1798.

Laras Magen rebellierte, und sie drückte eine Hand gegen ihren Mund, als ihr die Galle in die Kehle stieg.

Nein, das war nur irgendein merkwürdiger Zufall. Menschen wurden keine zweihundert Jahre alt. Sie bildete sich das alles nur ein. Aber hatte sie sich Jacks Supergeschwindigkeit und sein Gehör nur eingebildet? Seine Fähigkeit, zu teleportieren und die Gedanken von anderen zu kontrollieren?

Sie sprang auf und ging im Wohnzimmer auf und ab. Wer war er? Was war er?

Er musste ein Mensch sein. Sein Herz schlug, das hatte sie selbst gespürt. Sie hatte seinen Atem auf ihrem Gesicht gespürt, als er sie geküsst hatte. Und seine Erregung unter dem Reißverschluss seiner Jeans war ebenfalls nicht zu übersehen gewesen.

Sie ging auf und ab, aber nichts ergab einen Sinn. Sie ließ sich auf die Couch fallen und nahm sich einen Schreibblock vom Couchtisch. Sie würde der Sache auf den Grund gehen, verdammt noch mal. Wenn sie zum Detective befördert werden wollte, dann musste sie klug genug sein, um solche Geheimnisse zu lösen.

Sie kritzelte einen Titel oben auf die Seite. You Don't Know Jack. Dann begann sie eine Liste seiner Merkmale zusammenzustellen. Intelligent. Stark. Gut aussehend. Schlagfertig. Sexy. Lieb. Umwerfend. Beschützend. Unterstützend. Großzügig. Frech. Guter Küsser. Sie betrachtete die Liste mit gerunzelter Stirn und strich sie mit einem großen X durch. Sie sah aus wie die Wunschliste für den perfekten Mann, nicht wie Hinweise auf seine wahre Identität.

Ihr Blick wanderte noch einmal über die Liste. Verdammt, er wäre wirklich der perfekte Mann, wenn an ihm nicht irgendetwas so seltsam wäre. Was sie brauchte, war eine Liste seiner mysteriösen Eigenschaften. Wieder schrieb sie: Teleportation; Gedankenlesen und Manipulation; Supergeschwindigkeit; Stärke und Gehör. Das war das Offensichtliche. Sie musste tiefer gehen. Die Wahrheit könnte sich hinter dem Obskuren verstecken.

Geheimnisvoll. Er hatte etwas, aus dem er ein Geheimnis machen musste.

Fleißig. Motiviert. Sie hatte den Eindruck bekommen, dass er für seinen Lebensunterhalt nicht arbeiten musste. Er bekämpfte, was er als die Bösen bezeichnete.

Hat Feinde. Er hatte seine Feinde einige Male erwähnt. Und seine Freunde und Feinde hatten alle ebenfalls die Fähigkeit, Gedanken zu kontrollieren.

Was noch? Altmodisch. Das ließ sie zusammenzucken. Er hatte gesagt, sein Vater war gestorben, als er selbst sieben Jahre alt gewesen war. Was, wenn sein Vater 1798 gestorben war?

Trinkt nie mit mir. Wenn sie genau darüber nachdachte, hatte sie ihn auch noch nie etwas essen sehen.

Blass. Megan hatte gesagt, dass auch Apollo blass war.

Augen, die rot glühen.

Lara starrte ihre Liste an. In Gedanken ging sie die Möglichkeiten durch, die LaToya abends beim Essen erwähnt hatte. Damals waren ihr diese Einfälle albern vorgekommen, aber jetzt nicht mehr. Superheld. Mutant. Alien. Bionischer Mann.

Konnte Jacks Geheimnis etwas mit Romatech Industries zu tun haben? Wenn es Roman Draganesti gelungen war, Blut herzustellen, welche anderen seltsamen Dinge hatte er dann noch vollbracht?

Lara warf die Liste auf den Couchtisch und lehnte sich im Sofa zurück. Sie rieb sich die Schläfen. Was auch immer Jack war, er bereitete ihr höllische Kopfschmerzen. Wenn sie auch nur etwas bei Verstand war, mied sie ihn ab jetzt. Aber sie wusste, das würde sie nicht. Wenn es um Jack ging, war sie unendlich fasziniert. Und verfiel ihm immer mehr.