15. KAPITEL

 

Lara legte ihre Hand auf die Stirn, während sie darauf wartete, dass der Raum aufhörte, sich zu drehen. Alles war so schnell geschehen. Der Orgasmus war so unvorstellbar gewesen, dass sie dachte, sie hätte das Bewusstsein verloren. Aber jetzt wurde ihr klar, dass sie sich teleportiert hatten.

Jack setzte sich neben ihr auf und brachte dabei das Bett zum Schaukeln. Bett? Sie lag auf dem Rücken in einem Bett. Auf einer schwarz-weiß gestreiften Überdecke.

Jack stützte sich auf einen Ellenbogen und sah zu ihr hinab. »Alles in Ordnung?«

Sie atmete tief durch. Er hatte gesagt, dass er sie liebte. »Jack.« Sie berührte seine Wange.

»Cara mia.« Mit einem Lächeln fuhr er mit den Fingern ihren Hals hinab und zwischen ihre Brüste. »Wo waren wir?«

»Wo sind wir?« Sie sah sich im Zimmer um. Die schwarzen Möbel und die schlichten cremeweißen Wände sahen furchtbar modern aus für einen Palazzo.

Er wog ihre Brüste in seinen Händen. »In meinem Schlafzimmer.«

»Wir...« Sie zuckte, als er ihre Brustwarze neckte. Ein Nachbeben ihres Orgasmus durchfuhr sie. »Oh Gott.« Er war so gut. Und er hatte von Liebe gesprochen.

Jack zog seine Lederjacke aus und warf sie auf den Boden.

»Wir - wir haben uns teleportiert, richtig?«

»Ja.« Er streckte sich neben ihr aus.

»In dein Schlafzimmer im Palazzo?«

Einen Moment schien er zu zögern und küsste sie dann auf die Stirn. »Das ist doch egal. Wir sind zusammen, und wir haben die ganze Nacht Zeit.«

»Ich...« So, wie er schon wieder an ihrem Hals entlang knabberte, konnte Lara sich überhaupt nicht konzentrieren. »Sind wir noch in Venedig?« Sie spürte sein Seufzen auf ihrer Haut.

»Wir sind in New York.«

Eigentlich wäre sie lieber in Italien geblieben. »Aber ich hatte so eine schöne Zeit in Venedig.«

»Das war mir aufgefallen.« Er löste die Bänder, die den Umhang um ihren Hals festmachten. »Du hast in meinen Armen gebebt, meine Hand durchnässt und mir fast die Haare ausgerissen.«

Hitze stieg ihr in die Wangen und ein weiteres Nachbeben erfüllte sie zwischen ihren Beinen. So einen Orgasmus hatte sie noch nie gehabt. Wahrscheinlich hatten ihre Schreie alle Tauben Venedigs dauerhaft traumatisiert. Aber es war so unglaublich romantisch gewesen. Und Jack hatte gesagt, dass er sie liebte. »Warum mussten wir zurückkommen?«

»Es war der Plan, nur für ein paar Stunden dort zu sein, weißt du noch? Wir wollten am Apollo-Fall weiterarbeiten.«

»Arbeiten würde ich das nicht gerade nennen.«

Er lächelte, als er mit dem Finger eine ihrer Brüste umrundete. »Ich war durch die Verlockungen des Himmelreiches abgelenkt.«

Sie atmete tief ein. »Venedig war sehr romantisch.«

»Wir können auch hier romantisch sein.« Hoffnungsvoll schaute er Lara an.

Er wollte, dass sie sich liebten. Lara musste schlucken. Es war eine Sache, von seiner Liebeserklärung in Venedig kalt erwischt zu werden. Sie war in einem Wirbelwind der Leidenschaft gefangen gewesen, und es hatte ihr den Atem geraubt. Leider hatte die zweite Teleportation sie in die Wirklichkeit zurückgebracht.

Noch immer wusste sie überhaupt nichts über Jack.

Der Frage nach seinem Alter war er zum Beispiel geschickt ausgewichen. Sie hatte gehofft, bei ihrem Date mehr über ihn herauszufinden, aber er hatte es geschafft, ihr nichts zu verraten - nur, dass er sie liebte. »Ich fühle mich etwas frustriert.«

Er blickte auf seine Jeans. »Da bist du nicht die Einzige.«

»Liebst du mich wirklich?«

»Ja.« Er erwiderte ihren Blick, und seine Augen waren eindringlich und ehrlich. »Ich liebe dich wirklich.«

Mit tränenerstickter Stimme fragte sie: »Warum hast du mich nach Venedig gebracht?«

»Ich wollte meine Heimat mit dir teilen. Ich wollte wissen, ob du sie genauso lieben kannst, wie ich es tue.«

»Jack.« Sie berührte seine Wange. »Ich liebe sie. Ich wollte noch nicht gehen.«

»Dann könntest du dir vorstellen, dort zu leben? Mit mir?«

»Das - das kommt etwas plötzlich.« Wie konnte sie mit einem Mann leben, über den sie so wenig wusste? Ja, er war lieb und liebenswert. Er musste einfach ein Mensch sein. Seine Gefühle waren absolut menschlich und seine Liebe auch. Und im Augenblick sah er aus, als würde er sich ehrlich Sorgen machen. Sie setzte sich auf und fand ihren BH zusammengequetscht in ihrem Kleid. Sie legte ihn an und schloss ihn wieder.

Jack setzte sich neben sie. »Du musst nicht gehen.«

»Doch, ich glaube, das muss ich.« Lara knöpfte ihr Kleid zu. »Ich habe anscheinend meinen Gürtel verloren.«

»Ich rufe Mario an, damit er ihn von jemandem einsammeln lässt. Ich kann ihn dir morgen Nacht zurückgeben.«

»Du könntest dich morgen Nacht zurückteleportieren?« Als er nickte, fuhr sie fort. »Aber jetzt kannst du es nicht?«

»Nein.« Er wendete seinen Blick ab.

»Das ergibt für mich keinen Sinn.«

Schweigend saßen sie nebeneinander.

Ihre Schultern sackten zusammen. »Du wirst es mir nicht erklären, nicht wahr?« Bloß jetzt nicht heulen, ermahnte Lara sich. Wie konnte er sagen, dass er sie liebte, wenn er ihr so wenig vertraute. Wortlos angelte sie sich ihre Unterwäsche aus seiner Jackentasche. Sein Ring hing immer noch daran fest.

»Lara, du musst nicht gehen.«

Sein Blick war so voller Traurigkeit, dass es ihr das Herz brach. »Ich - ich habe meine Handtasche nicht hier.«

»Ich bringe sie dir später in deine Wohnung.«

»Ich brauche sie jetzt, damit ich ein Taxi nehmen kann.«

Jack seufzte. »Ich bin gleich wieder da. Bleib genau, wo du bist.«

»Okay.« Lara setzte sich gerade auf den Rand seines Bettes, als er vor ihren Augen verschwand.

»Oh, so ein Mist.« Sie ließ sich aufs Bett fallen und starrte an die Decke. Sie war dabei, sich in ihn zu verlieben. Er vereinte all die wunderbaren Eigenschaften, die sie je an einem Mann gewollt hatte. Aber all diese übersinnlichen Gaben machten ihr Angst und ließen sie zögern.

Wenn sie alles, was sie wusste, zusammenzählte, war sie zu der Erkenntnis gezwungen, dass er sich genetisch irgendwie von einem durchschnittlichen Menschen unterschied. Eine Art merkwürdige Mutation war mit der menschlichen Spezies vor sich gegangen, die einigen Menschen Superkräfte verlieh und noch dazu unglaublich lange Lebensspannen. Und er war nicht allein. Es gab noch andere wie ihn, und sie wollten, dass ihre Existenz ein Geheimnis blieb. Vielleicht hatten sie Angst, missverstanden oder ausgenutzt zu werden. Das konnte man ihnen nicht übel nehmen. Wenn andere glaubten, sie hätten einen Jungbrunnen entdeckt, würde man wegen diesem Geheimnis Jagd auf sie machen.

Aber sie würde nie etwas tun, was Jack oder seinen Freunden schaden könnte. Warum konnte er ihr nicht vertrauen?

Mit geschlossenen Augen erinnerte sie sich an ihre Verspieltheit in der Gondel und ihre Leidenschaft im Glockenturm. Mein Gott, was für eine Leidenschaft. Sie hatte noch nie etwas so Wildes und Aufregendes erlebt. Es wäre so einfach, sich auszuziehen und in Jacks Bett zu klettern.

Gedankenverloren betrachtete sie die Kissen. Sie konnte die ganze Nacht hier verbringen. Jack würde ihr wahrscheinlich alle ihre erotischsten Träume erfüllen. Und sie wollte ihn. Sie wollte ihn so sehr.

Aber sie wollte auch Antworten! Wie konnte sie einem Mann ihre ganze Verletzlichkeit offenbaren, der ihr nichts von sich erzählen wollte?

Er hatte gesagt, dass er sie liebte.

Verdammt! Lara setzte sich auf. Wenn er sie liebte, musste er ihr vertrauen. Sie wollte ihn lieben, aber wie konnte sie die letzte Hürde wagen, wenn er ihr noch so viele Geheimnisse vorenthielt?

Mit einem Seufzen ließ sie ihre Unterwäsche aufs Bett fallen. Sie hängte den Samtumhang in seinen Schrank und konnte nicht widerstehen, ihre Finger über seine anderen Kleidungsstücke gleiten zu lassen. Verdammt, sie war ihm schon so sehr verfallen.

Sie benutzte das Telefon auf Jacks Nachttisch und rief sich ein Taxi. Dann nahm sie ihren Slip mit in sein Badezimmer, um nach einer Schere zu suchen. Es gab keinen Spiegel über seinem Waschtisch. Wie merkwürdig. Sie kramte durch seine Schubladen. Zahnpasta, Rasierklingen, Zahnseide, das Übliche. Für ein übernatürliches Wesen schien Jack manchmal furchtbar normal.

Sie fand eine kleine Schere und befreite seinen Ring mit einem Schnitt. Es war ein schwerer goldener Ring mit einer Art aufwendiger Insignie darauf. Er sah sehr alt aus. Fäden von ihrer Unterwäsche hingen immer noch in dem Muster fest.

Sie befreite die Fäden und legte den Ring auf den Waschtisch.

»Lara?« Jacks Stimme kam aus dem Badezimmer. Er musste sich gerade zurückteleportiert haben.

Schnell schlüpfte sie in den Slip und öffnete die Badezimmertür. »Ich bin hier.« Die Erleichterung auf seinem Gesicht berührte ihr Herz.

Er stellte ihre Handtasche auf seine Kommode. »Ich würde dich gern noch einmal ausführen.« Er sah sie mit diesem gierigen Blick an, der ihre Knie weich werden ließ. »Wir haben noch etwas zu erledigen.«

Lieber Gott, wenn dieser Mann noch heißer wäre, würde sie einen Herzinfarkt bekommen. Aber was für ein schöner Tod. »Ich - es war so schön.« Meine Güte, wie konnte sie etwas so Lahmes sagen.

»Du hast geschrien.«

»Ja, das schon.« Ihre Wangen wurden heiß. »Normalerweise -«

»Mir hat es gefallen.« In seinen Augen glitzerte eine Weichheit, die sie unglaublich anrührte.

Oh, sie wollte sich ihm in die Arme werfen. Sie wollte ihn lieben. »Jack, ich bin so... versucht von dir.«

Die goldenen Flecken in seinen Augen begannen zu leuchten. »Cara mia, lass mich dich lieben.«

Laras Atem bebte, und sie betete um Kraft. »Ich kann nicht. Ich kann mich nicht weiter mit dir einlassen, ehe du mir nicht alles erzählst.« Sie hob ihr Kinn. »Also, hier ist deine Gelegenheit. Rede mit mir. Lass mich in deine Welt.«

Schmerzerfüllt verzog er das Gesicht. »Lara, es gibt mehrere Gründe, warum ich es dir nicht erzählen kann. Wenn es nur um mich ginge, würde ich es vielleicht riskieren. Aber es gibt noch andere wie mich - liebe Freunde, die mir vertrauen. Ihr Leben hängt von meinem Schweigen ab.«

»Ich würde nichts tun, was deinen Freunden schaden könnte.«

Er schüttelte den Kopf. »Ich kann ihr Leben nicht aufs Spiel setzen.«

Warum wollte er ihr nicht vertrauen? Sie ballte ihre Hände zu Fäusten.

»Es tut mir leid, Lara, aber meinen Freunden muss ich treu bleiben. Könntest du mich respektieren, wenn ich die Art Mann wäre, der sie hintergeht?«

Zum ersten Mal wurde ihr klar, dass sie ihn dazu zwang, sich zwischen ihr und seinen Freunden zu entscheiden. Und wenn es stimmte, was sie vermutete, und er Jahrhunderte alt war, dann hatte er diese Freunde vielleicht schon eine lange, lange Zeit. Trotzdem war sie dabei, sich in ihn zu verlieben. Hatte sie nicht das Recht, von ihm Vertrauen und Offenheit zu erwarten?

Sie machte ein gequältes, frustriertes Geräusch. »Was muss ich tun, damit du dich mir öffnest? Müssen wir verheiratet sein, ehe das passiert?«

Jack riss die Augen weit auf. »Machst du mir einen Antrag?«

»Nein!« Lara wollte ihn nicht verwirren. »Es war nur sarkastisch gemeint.«

Verletzt zog er seine Augenbrauen zusammen. »Spiel nicht mit mir, Lara.«

Sie stöhnte auf. »Ich meinte nur, wenn wir einander unsere verletzlichen Seiten zeigen, dann müssen wir einander auch vertrauen. Ich kann keinen Schritt weiter gehen, ehe du mir nicht genug vertraust, um mir die ganze Wahrheit zu sagen.«

Nervös fuhr er sich mit der Hand durch sein Haar. »Reicht es nicht, dass ich dich liebe? Dass ich dich mit meinem Leben beschützen würde? Und ich dich ehren und preisen will bis ans Ende meiner Tage?«

Das war wunderschön, aber sie musste es trotzdem wissen. »Von wie vielen Tagen reden wir hier genau?«

Er warf ihr einen wütenden Blick zu. »Das sollte nicht wichtig sein. Nicht, wenn du mich liebst.«

»Natürlich ist das wichtig! Ich bin nicht dumm, Jack. Ich vermute, dass du wirklich alt bist. Ich habe diese Theorie, dass Giacomo Casanova tatsächlich dein Vater war. Kannst du das leugnen?«

Er wurde blass.

Je länger sich die Zeit ausdehnte und er stumm blieb, desto mehr sank ihr Herz. Er konnte es nicht leugnen. Ihre Theorie musste stimmen.

Als ihr die ganze Tragweite plötzlich bewusst wurde, presste sie eine Hand auf ihren Mund, um nicht laut aufzuschreien. Was machte sie hier? Sie konnte sich nicht in jemanden verlieben, der niemals alt wurde. Das war schrecklich! Er hätte sie warnen müssen.

Das hatte er. Er hatte ihr gesagt, sie solle rennen, als wären die Höllenhunde hinter ihr her. Er hatte versucht, sie zu meiden. Sie war es, die ihn bei der Hochzeit ausfindig gemacht hatte, in seinem Stadthaus, bei Romatech. Sie hatte ihn gnadenlos verfolgt.

Und jetzt sagte er, dass er sie liebte.

Oh Gott, was hatte sie getan? »Ich muss gehen.« Sie griff sich ihre Handtasche und ging mit eiligen Schritten aus dem Zimmer.

»Lara, ich kann dich nach Hause teleportieren.« Er folgte ihr, als sie die Treppe hinabstieg. »Oder ich könnte fahren.«

»Ich habe schon ein Taxi gerufen.« Schwer atmend kam sie endlich im Erdgeschoss an. Ihr Brustkorb war wie zusammengequetscht, als läge ein schwerer Stein darauf.

»Ich muss den Alarm abstellen.« Er sauste an ihr vorbei zu einer Sicherheitskonsole neben der Tür.

Tränen brannten in ihren Augen. Er war so anders als sie. Zu anders. »Ich werde niemandem von dir erzählen. Du kannst mir vertrauen, Jack. Du und deine Freunde, ihr seid in Sicherheit.«

Mit einem flehenden Blick öffnete er die Tür. »Ich will dich wiedersehen. Wir sind zu weit gekommen, um jetzt aufzugeben.«

Sie trat auf die Veranda hinaus. Es tat zu sehr weh, ihn ganz aufzugeben. »Wir bleiben in Kontakt. Wir arbeiten an dem Fall zusammen, erinnerst du dich?« Sie stieg die Stufen hinab. »Ich war von deiner Arbeit wirklich beeindruckt.«

»Wenn ich mich zu etwas entschlossen habe, kann mich nichts davon abhalten, mein Ziel zu erreichen.«

Auf dem Gehsteig blickte sie noch einmal zu ihm zurück. Er betrachtete sie mit einem wilden Leuchten in seinen Augen. Sie musste sich fragen, ob sie selbst zu einem seiner persönlichen Ziele geworden war.

****

Lara schleppte sich am Dienstagnachmittag gegen dreizehn Uhr aus dem Bett. Sie war zu aufgewühlt gewesen, um zu schlafen, als sie in der Nacht zuvor in ihre Wohnung zurückkehrte. Und sie durfte den Rhythmus der Nachtschicht nicht durcheinanderbringen. Also hatte sie sich damit beschäftigt, das Material aus dem Apollo-Ordner, das sie an sich selbst geschickt hatte, auszudrucken und es sich noch einmal anzusehen.

Um fünf Uhr morgens war der ganze Küchentisch mit Informationen bedeckt gewesen, und ihre Augen hatten zu sehr gebrannt, um sie sich weiter anzusehen. Sie war ins Bett gestolpert. Ihr letzter wacher Gedanke hatte Jack gegolten. Es war richtig gewesen, sich zurückzuziehen. Aber als ihre Augen sich schlössen, erinnerte sie sich an die sanfte Art, auf die seine Augen voller Liebe geleuchtet hatten, als er sie ansah.

»Jack«, flüsterte sie und drückte das Extrakissen gegen ihre Brust. Wie konnte sie ihn nicht wollen? Sie sank in den Schlaf und träumte von Venedig.

Nach dem Aufwachen schleppte sie sich in die Küche. Ihre Augen waren immer noch zugeschwollen. Sie schaltete die Kaffeemaschine an und bereitete sich eine Schüssel Cornflakes. In der Spüle stand dreckiges Geschirr. LaToya musste es vor der Arbeit am Morgen eilig gehabt haben.

Lara saß am Küchentisch, löffelte sich automatisch Frühstücksflocken in den Mund und fragte sich, ob Jack je so etwas aß, als sie den leeren Tisch bemerkte.

Sie blinzelte. Wo zum Henker war das ganze Zeug, das sie ausgedruckt hatte? Sie sprang auf und durchsuchte schnell die Wohnung. Alle Apollo-Papiere waren verschwunden.

LaToya. Lara griff sich das Telefon und rief sie an.

»Hallo, Schlafmütze«, meldete sich LaToya, »ich wollte dich gerade mit einem Anruf wecken. Ich glaube, die wollen dich sehen.«

»Wer?«

»Die Spezialeinheit«, erklärte ihre Freundin. »Kannst du es fassen? Das ist alles so aufregend. Moment, ich gehe eben in ein Befragungszimmer, damit niemand uns belauschen kann.«

»LaToya, hast du meine Apollo-Sachen genommen?«

»Natürlich. Du hattest so viele Informationen, Mädchen. Es war unglaublich.«

Laras Herz sank. »Du hättest sie nicht nehmen sollen.«

LaToya schwieg eine Weile, ehe sie flüsterte: »Ist das dein Ernst? Mädchen, du kannst keine Informationen vorenthalten, die einen laufenden Fall betreffen. Dafür werden Leute verhaftet.«

Damit hatte ihre Mitbewohnerin nicht unrecht. »In Ordnung, aber du hättest fragen sollen, ehe du sie genommen hast.«

»Warum? Wolltest du die Sache geheim halten? Ich dachte, wir arbeiten zusammen. Und ich dachte, der Sinn dahinter ist, den Typen zu fassen.«

»Ja, schon, aber...« Es war das Projekt zusammen mit Jack. Wenn die Polizei den Fall übernahm, hatte sie keinen Grund, ihn wiederzusehen. Ihr Herz sank noch tiefer.

»Keine Sorge«, beruhigte LaToya sie, »ich habe deinen Namen oben auf alles geschrieben, damit die Detectives wissen, dass du die ganze Arbeit gemacht hast.«

»Aber ich -«

»Zuerst waren die Typen richtig angepisst, weil wir uns nicht einmischen sollten«, fuhr LaToya fort, und die Worte sprudelten vor Aufregung nur so aus ihr hervor, »aber als sie gemerkt haben, dass du einen Serienkidnapper aufgedeckt hast, wurden die richtig aufgeregt. Die haben es unserem Captain gezeigt, und der hat deinen Captain angerufen. Dann haben die sich zusammengetan und den Polizeipräsidenten informiert, und das FBI!«

»Ach du Schande«, hauchte Lara.

»Die stellen eine Einheit zusammen, weil es so aussieht, als hätte dieser Apollo wenigstens zehn Frauen aus verschiedenen Staaten entführt. Wie hast du die ganzen Informationen so schnell gefunden?«

Lara stöhnte. »Das habe ich ja nicht.«

»Was soll das heißen? Ich habe dich letzte Nacht arbeiten gehört. Der verdammte Drucker ist viel zu laut.«

»Ich war nicht fleißig. Das war Jack.«

»Oh. Verdammt.« LaToya senkte ihre Stimme. »Ich habe irgendwie schon allen erzählt, dass du es warst.«

»Ich kann nicht Jacks Arbeit als meine ausgeben.«

»Na gut. Willst du dem Polizeipräsidenten und dem FBI erklären, wer Jack ist?«

Erschreckt darüber, diese Möglichkeit überhaupt in Erwägung zu ziehen, zuckte Lara zusammen.

»Ich finde, du solltest aufhören, dich mit dem Typen zu treffen. Er ist zu merkwürdig«, gab ihre Freundin zu bedenken.

Lara knirschte mit den Zähnen. »Das wäre ziemlich undankbar. Er hat Stunden damit verbracht, die ganzen Informationen zusammenzutragen.«

»Ja, aber er hat auch deinen Verstand total durcheinandergebracht, Mädchen. Du verhältst dich, als hätte die Polizei kein Recht auf diesen Fall, dabei ist es Jack, der sich in Dinge einmischt, die ihn nichts angehen. Was hat er überhaupt davon?«

Lara wusste nicht, wie sie das beantworten sollte. Warum interessierte sich Jack so für diesen Fall? Wenn Apollo und Jack ähnliche Fähigkeiten hatten, Gedanken zu kontrollieren, was hatten sie dann sonst noch gemeinsam?

»An ihm ist irgendetwas echt Verdächtiges«, murmelte LaToya.

»Bitte erzähl niemandem von ihm. Das ist mein Ernst. Bitte.« Sie hatte ihm dieses Versprechen gegeben, dass sie niemandem von ihm oder seinen Freunden erzählen würde. Es zu brechen wäre Verrat.

LaToya hielt inne und flüsterte dann: »Weißt du jetzt die Wahrheit über ihn?«

»Nicht so richtig.« Bis auf ihre Theorie, dass er der Sohn von Casanova war und eine Art mutierter Mensch mit übersinnlichen Fähigkeiten. Wenn sie ihren Vorgesetzten das erzählte, landete sie für immer hinter Gittern.

»Warum habe ich das Gefühl, du verschweigst mir etwas?«

Wie recht LaToya hatte. Lara war in der gleichen Zwickmühle wie Jack - sie musste sich zwischen ihm und ihren Freunden entscheiden. »Jack hat die ganze Arbeit erledigt, nur um uns zu helfen. Ich will nicht, dass er deswegen Ärger bekommt.«

LaToya schwieg wieder. »Na dann, okay. Wenn Jack aus der Sache raus ist, dann musst du eben den Helden spielen. Ich wette, die machen dich bald zum Detective.«

Das waren gute Neuigkeiten. Das war die letzten sechs Jahre Laras Ziel gewesen. Sie wollte die Tage der Schönheitswettbewerbe hinter sich lassen und etwas Bedeutendes mit ihrem Leben anstellen. Die Bösen fassen und die Unschuldigen beschützen - das war ihr wie die heldenhafteste Sache vorgekommen, die sie mit ihrem Leben anfangen konnte.

Kein Wunder, dass sie sich so zu Jack hingezogen fühlte. Seine Ziele waren die gleichen wie ihre. Und während sie nur darauf aus war, ein normaler Held zu werden, war er bereits ein Superheld.

»Einen Augenblick. Da ist jemand an der Tür«, sagte LaToya, und Lara hörte, wie Stimmen murmelten. »Ja, Sir. Ich sage es ihr sofort. Lara, bist du noch dran?« Ja.«

»Steck deinen Hintern in die Uniform. Ein Streifenwagen holt dich in zehn Minuten ab. Die Sondereinheit will dich sehen.«

Fast eine Stunde später betrat Lara das Revier Morningside Heights. Während ein Sergeant Lara durch das Meer an Schreibtischen führte, drehten sich Dutzende Köpfe nach ihr um. LaToya winkte ihr von der anderen Seite des Raumes und streckte beide Daumen nach oben.

»Boucher.« Captain O'Brian aus ihrem Revier in Midtown North begrüßte sie auf dem Weg ins Konferenzzimmer. »Hat man Sie informiert?«

»Ja, Sir.«

»Man hat Ihnen gesagt, Sie sollen sich nach dem Trent-Vorfall eine Woche frei nehmen, und dennoch haben Officer Lafayette und Sie es auf sich genommen, in einem Fall zu recherchieren, der Ihnen überhaupt nicht zugeteilt war.«

Lara musste schlucken. Hoffentlich bekam LaToya keinen Arger. »Ja, Sir.«

Captain O'Brian sah sie streng an. »Es scheint, als würde die Gemeinde von Ihrer vollkommenen Missachtung der Regeln und ihrer Unfähigkeit, das Konzept von Urlaub zu begreifen, profitieren. Brillante Arbeit, Butch.«

Ihre Wangen röteten sich vor Wärme. Sie hasste es, das Lob für Jacks Arbeit einzuheimsen.

»Drinnen warten sie auf dich«, fuhr der Captain vertrauter fort. »Ich habe denen gesagt, du schaffst das, Butch. Lass mich nicht hängen.«

Was schaffen? »Ja, Sir.«

Captain O'Brian öffnete die Tür zum Konferenzzimmer und führte sie hinein. Beim Anblick des Polizeipräsidenten bekam Lara einen klaren Kopf. Am Tisch waren fünf Männer, die sie alle wortlos musterten. Captain O'Brian stellte sie vor. Neben dem Polizeipräsidenten war da noch der Captain dieses Bezirks, einer der Detectives, die den Fall für das NYPD bearbeiteten, und zwei Special Agents vom FBI.

»Stehen Sie bequem, Officer«, sagte der Polizeipräsident. Er blätterte durch einige Papiere, die auf dem Tisch vor ihm lagen. »Mal sehen, Sie haben die Akademie vor sechs Monaten beendet, und man hat Sie der Nachtschicht in Midtown North zugeteilt.«

»Ja, Sir.«

Der Präsident wendete sich an die Agenten des FBI. »Was meinen Sie?«

Der im grauen Anzug deutete auf die Apollo-Papiere vor ihm auf dem Tisch. »Sie ist eine gute Ermittlerin. Sie hat Informationen ausfindig gemacht, die den Detectives, die mit dem Fall betraut waren, entgangen sind.«

Der Detective des NYPD richtete sich auf. »Ich habe diese Collegemädchen selbst befragt. Sie haben kein Wort von Apollo oder diesem Seminar erwähnt.«

»Vielleicht fühlten sie sich wohler dabei, mit einem weiblichen Officer zu reden«, schlug der zweite Agent vor. »Aber die Frage bleibt, wie schlägt sie sich da draußen?«

»Sie schlägt sich sehr gut«, teilte Captain O'Brian den anderen Männern mit. »Gerade vor einer Woche hat sie einen bewaffneten Mann bei einer häuslichen Auseinandersetzung überwältigt. Er hatte auf ihren Partner geschossen und ihn verwundet.«

»Das Aussehen stimmt«. Der FBI-Agent im grauen Anzug deutete auf die Fotos von Apollos Opfern. »Sie hat die richtige Haarfarbe und sieht jung genug aus, um als Collegestudentin durchzugehen.«

»Ausgezeichnet.« Der Polizeipräsident rieb sich die Hände und betrachtete Lara grimmig. »Was halten Sie von einem Undercover-Einsatz, Officer Boucher?«

Lara musste schlucken. Sie sollte als Köder eingesetzt werden. Ihre Gedanken rasten. Es war korrekt, ihr Aussehen stimmte mit dem der anderen Frauen überein. Was die nicht wussten und was nicht in den Papieren stand, war die Tatsache, dass Apollo Gedankenkontrolle benutzte, um seine Opfer zu entführen und seine Spuren zu verwischen.

Sie war immun gegen Jacks Gedankenkontrolle, und hoffentlich auch gegen die von Apollo. Wenn es ihr gelang, bei Sinnen zu bleiben, dann konnte sie es wahrscheinlich schaffen.

Sie räusperte sich. »Ich soll mich als Collegestudentin ausgeben, um dabei zu helfen, Apollo zu finden, wenn er auf den Campus kommt, um sein Seminar abzuhalten?«

»Sein Seminar verstößt gegen kein Gesetz«, sagte der eine NYPD-Detective. »Wir müssen wissen, wohin er die Mädchen bringt. Erst dann haben wir die Beweise, die wir brauchen, um ihn zu verhaften.«

»Genau«, stimmte der FBI-Agent im grauen Anzug zu. »Officer Boucher, Sie müssten sich von Apollo entführen lassen.«

Lara schluckte. Was würde sie tun, wenn er sie zum Beispiel fesselte? Was, wenn er versuchte, sie zu vergewaltigen... oder zu töten? Vielleicht sollte sie die Sache einem weiblichen Officer mit mehr Erfahrung überlassen. Aber was, wenn diese Frau Apollos Gedankenkontrolle unterlag? Ihre Chancen, zu überleben, standen schlechter als Laras. Und was, wenn sie umgebracht wurde, wie könnte Lara damit leben? Und wie konnte sie diesen Job ablehnen und nichts tun, während Apollo weiterhin jeden Monat ein neues Mädchen entführte?

Sie atmete tief und bebend ein. »Ich mache es.«