22. KAPITEL

 

Jack schlug seine Faust durch die Wand von Raum 102. Die Collegemädchen kreischten und scharten sich dichter zusammen.

Robby griff nach seinem Arm. »Geh zurück zu Romatech. Sofort. Ich mache hier sauber.«

Wütend riss Jack sich los. »Ich habe versagt! Wie konnte ich ihr das antun?«

»Reiß dich zusammen, Jack.« Robby blickte zur Tür, als Phineas hereinkam. »Phineas, bring ihn zurück zu Romatech.«

»Ich gehe nicht«, knurrte Jack.

Robby packte ihn an der Schulter. »Sie ist nicht mehr hier.« Sein Gesicht wurde weicher. »Wir finden sie, Jack.«

»Oh, Shit.« Phineas kam auf sie zu. »Apollo hat -«

»Ja, hat er«, unterbrach Robby ihn. »Und jetzt bring Jack hier raus. Ich bin bald bei euch.«

»Ich brauche keinen Babysitter.« Jack teleportierte sich davon. Er landete auf dem Gelände von Romatech und riss einem arglosen Baum einen Ast aus.

Phineas duckte sich, als der Ast über seinen Kopf flog. »Alter, es tut mir leid. Wir werden sie schon finden, okay?«

Völlig hilflos stapfte Jack auf den Eingang von Romatech zu. »Ich reiße diesen Apollo in Stücke.« Er suchte in seinen Taschen nach seinem Ausweis. Merda. Seine Hände zitterten.

»Ich mach das schon, Alter.« Phineas zog seinen Ausweis durch und aktivierte den Handscanner.

Jack drehte sich um und blickte über die Wälder, die Romatech umgaben. Lara! Lara, kannst du mich hören?

»Woah! Das war laut.« Phineas hielt die Tür auf. »Wie weit reicht so eine gedankliche Nachricht?«

»Nicht mehr als hundert Meilen oder so.« Jack schloss seine Augen und konzentrierte sich. Nichts. Sie konnte ihn nicht hören.

Wie hatte er sie so im Stich lassen können? Nach all seinen Versprechen, sie zu beschützen, hatte er versagt. Sein Herz zog sich vor Angst zusammen. Bleib am Leben, Lara. Bleib am Leben, bis ich dich finden kann.

Es fing wieder von vorne an. Er hatte schon seine erste Liebe im Stich gelassen. Beatrice. Er war nicht für sie da gewesen, und sie war in dem Glauben gestorben, dass er sie verlassen hatte. Und jetzt war er nicht für Lara da.

Robby tauchte auf. »Ich habe die Erinnerungen der Mädchen manipuliert, allerdings ist es mir nicht gelungen, das Loch in der Wand zu reparieren.« Er ging auf die beiden anderen zu. »Wir finden sie, Jack.«

»Ja, das werden wir«, stimmte Phineas zu. »Sie kommt schon klar, Alter.«

Jack fragte sich, ob Gebete aus dem neunten Kreis der Hölle erhört wurden.

****

Lara kniete immer noch auf dem harten Marmorfußboden. Sie versuchte, sich von ihrer Angst und ihren schmerzenden Knien abzulenken, indem sie sich an ihre Lektionen über Flucht erinnerte. Erstens musste sie Informationen sammeln. Wohin sollte sie flüchten, wenn sie nicht wusste, wo sie war.

Jeden Arger musste sie sich vom Hals halten und hoffentlich auch alle Zähne, damit sie bei Kräften blieb. Sie musste die Augen nach allem, was als Waffe benutzt werden konnte, offen halten. Sie brauchte eine Möglichkeit, mit der Außenwelt Kontakt aufzunehmen. Und sie musste die anderen Gefangenen abschätzen, um zu sehen, ob einer von ihnen zum Verbündeten taugte. Die Wachen standen außer Frage. Sie sahen aus, als hätte man sie einer totalen Gehirnwäsche unterzogen, und sie waren bewaffnet.

»Wachen«, sprach Athena, »bringt mir zwei Jungfern.«

»Ja, allwissende Athena«, antworteten sie im Chor.

Lara drehte vorsichtig ihren Kopf ein Stück zur Seite, damit sie etwas sehen konnte. Die Wachen öffneten die Tür und verschwanden. Die Sandalen des Größeren von beiden machten ein hohes Quietschgeräusch bei jedem zweiten Schritt.

Sie hörte, wie andere Schritte sich näherten.

»Athena.« Es war Apollo.

Lara musste schlucken. Hoffentlich hatte dieser Mistkerl keinen Hunger.

Athena sah zu ihr hinab. »Platz.«

»Ja, allwissende Athena.« Du bist so weise und so toll.

Athena ging aus dem Zimmer. »Ja, mein Lord Apollo?«

Lara bemühte sich, ihr Gespräch zu belauschen. Sie machten sich nicht die Mühe, ihre Stimmen besonders zu senken. Lara nahm an, die beiden hielten sie kaum für eine Bedrohung.

»Diese zwei Vampire haben mich fast erwischt«, knurrte Apollo. »Sie sahen wirklich wütend aus.«

»Das waren wahrscheinlich welche von diesen dämlichen Vampiren, die aus der Flasche trinken«, fauchte Athena. »Ich schwöre dir, ich hasse die und ihre selbstgefällige Art. Als wären die so viel besser als wir. Wir haben jedes Recht auf eine frische Mahlzeit.«

Lara verzog das Gesicht. Bei den beiden kam sie sich wie die Frikadelle ohne das Sesambrötchen vor.

»Ich glaube, sie haben mich erwartet«, sagte Apollo. »Wir müssen uns ein neues Jagdgebiet suchen.«

»Kein Problem«, antwortete Athena, »der ganze Nordosten ist voll von Colleges.«

Das war doch interessant. Anscheinend waren sie irgendwo im Nordosten.

»Wenigstens ist dieser Ort noch geheim«, überlegte Apollo. »Sie sind uns nicht hierhergefolgt, also wissen sie offensichtlich nicht, wo wir sind. Was ist mit der Neuen? Meinst du, sie arbeitet mit ihnen zusammen?«

Athena lachte. »Auf keinen Fall. Sie ist sogar noch dämlicher als die anderen.«

Na toll. Gut, würde Lara eben weiter so tun als hätte sie von nichts eine Ahnung, bis sie zur Flucht bereit war.

»Gut. Bereite sie vor. In fünf Minuten halte ich die Auswahlzeremonie ab.« Apollo stolzierte davon.

Lara hörte zwei weibliche Stimmen in der Ferne. »Seid gegrüßt, mein Lord Apollo.«

»Kommt, Jungfern«, rief Athena ihnen zu. Sie kehrte in den Raum zurück. »Steh auf, Jungfer.«

Die Aufforderung konnte nur Lara gelten. Sie erhob sich mit steifen Gliedern und blickte sich um. Über ihr befand sich eine elektrische Lampe. Man stelle sich vor. In Elysion gab es Strom. Die anderen Mädchen mussten von der Vampirkontrolle völlig aus dem Takt gebracht worden sein, wenn sie nicht merkten, dass sie sich immer noch auf der Erde befanden.

Der Raum war bis auf eine große Holztruhe und ein Bücherregal voller gefalteter Roben leer. Keine Bücher. Na gut, wer brauchte schon Bücher, wenn die allwissende Athena zur Stelle war?

Zwei rothaarige junge Mädchen kamen ins Zimmer geeilt. Sie verbeugten sich. »Seid gegrüßt, allwissende Athena.«

»Wir sind heute Abend früher als gedacht zurückgekehrt, und wir haben eine neue Jungfer mitgebracht«, sagte Athena. »Ihr werdet sie für die Auswahlzeremonie vorbereiten, die in fünf Minuten beginnt.« Sie stolzierte aus dem Zimmer.

Lara erkannte die zwei Mädchen von den Fotos in ihren Akten. Eine war Vanessa Carlton, die im Mai aus der Columbia University verschwunden war. Die andere war Kristy Robinson, die im April aus der NYU verschwand. Was für eine Erleichterung, sie beide noch am Leben zu sehen. »Hi. Ich bin Lara.«

Erschreckt zuckten die beiden zusammen und sahen zur offenen Tür.

Vanessa schloss sie schnell. »Du bekommst Arger, wenn du einen Namen benutzt«, flüsterte sie. »Wir sind Jungfern. Wir bekommen erst einen Namen, wenn wir zu Auserwählten werden.«

Kristy klatschte in die Hände und grinste. »Und heute Nacht wird eine von uns gewählt!«

»Oh, Junge.« Lara versuchte ein Lächeln.

»Beeilt euch.« Kristy eilte ans Regal. »Zieh dich bis auf die Unterwäsche aus. Wir müssen dich einkleiden.« Sie zog eine gefaltete weiße Robe aus dem Regal und schüttelte sie aus.

Lara betrachtete die zwei Mädchen, während sie ihre Schuhe auszog. Sie waren beide in lange weiße Tuniken gekleidet, die an der linken Schulter mit einer Spange zusammengefasst waren und die rechte Schulter frei ließen. Zwei lange Streifen aus weißem Leinen waren unter den Armen an der Tunika befestigt. Diese Streifen waren um den Körper gewickelt, an Bauch und Rücken verschränkt, und dann vorn an der Taille zu einer Schleife gebunden.

Lara zog ihr T-Shirt aus und dann ihre Jeans. »Wisst ihr zwei zufällig, wo wir hier sind?«

»Wir sind Jungfern«, wiederholte Kristy. »Hat die allwissende Athena es dir nicht erklärt?«

»Sie hat was von den Feldern von Elysion erzählt.« Lara zog ihre Socken aus. »Das hat aber wohl nichts mit den Champs Elysées in Paris zu tun?«

Die Mädchen starrten sie ausdruckslos an.

»Ihr wisst schon, in Frankreich? Ich will nicht sterben, ohne Paris gesehen zu haben.«

Mutlos sackten Vanessas Schultern zusammen. »Das ist für uns zu spät. Wir können niemals zurück.« Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Ich vermisse meine Familie und meine Freunde.«

»Nicht weinen«, zischte Kristy sie an. »Wenn du schlecht aussiehst, wirst du niemals auserwählt. Außerdem wirst du deine Familie ja eines Tages wiedersehen.«

»Ja«, bestätigte Vanessa düster, »nachdem sie gestorben sind.«

»Warum musst du warten?«, fragte Lara. »Wir können doch einfach hier verschwinden und nach Hause gehen.«

»Wir können nicht nach Hause«, jaulte Vanessa mitleiderregend, »wir sind tot!«

»Schh.« Kristy gab ihr einen Stoß. »Die werden dich hören. Du weißt doch, dass die Götter ein Supergehör haben.« Sie sah Lara an. »Was auch immer du tust, mach die Götter nicht wütend.«

»Warum?«, fragte Lara. »Was können sie uns schon antun?«

»Das sind Götter«, flüsterte Vanessa. »Sie können verschwinden und wieder auftauchen. Und sie haben Superkräfte. Ich habe gesehen, wie sie Bäume aus dem Boden gerissen haben, und sie haben große Steine geworfen, als wären es Kiesel. Sie können unsere Gedanken übernehmen und uns tun lassen, was immer sie wollen.«

»Das stimmt.« Kristy nickte. »Einmal hat eine der Wachen Athena wütend gemacht, und sie hat ihn dazu gebracht, sich mit seinem eigenen Schwert zu erstechen. Und dann hat Apollo sein heiliges Blut benutzt, um ihn zu heilen.«

Vanessa schauderte. »Wenn du sie wirklich wütend machst, schicken sie dich vielleicht für immer in den Hades.«

»Aber wir wollen dir keine Angst machen«, sagte Kristy. »Du musst echt nett sein, weil sie dich hergebracht haben.«

Vanessa lächelte. »Nur besondere Menschen wie wir dürfen hier leben und den Göttern dienen.«

»Und wenn du ihnen gefällst, wirst du eine Auserwählte, und sie machen dich zu einer Göttin«, fügte Kristy mit einem Grinsen hinzu. »Beeil dich! Die Auswahlzeremonie beginnt bald.«

Lara schlüpfte aus ihrem BH, und Vanessa warf ihr die weiße Tunika über den Kopf. Während Lara sie glattstrich, benutzte Kristy eine Nadel aus Bronze, um sie an der linken Schulter festzumachen. Vanessa griff sich die Leinenstreifen, wickelte sie mit Kristys Hilfe um Lara und band sie an ihrer Taille fest.

Ein lauter Gong erklang in der Ferne.

»Oh nein! Sie fangen an.« Vanessa rannte zum Bücherregal und nahm ein paar weiße Sandalen heraus. »Hier. Zieh die an.«

Lara schlüpfte mit den Füßen hinein, während Vanessa ihr half, die Sandalen zu schließen. Kristy sammelte alle Kleidungsstücke, die Lara abgelegt hatte, zusammen und warf sie in die Holzkiste.

»Was passiert bei dieser Zeremonie?«, wollte Lara wissen.

»Apollo bestimmt eine neue Auserwählte«, erklärte Vanessa ihr. »Das ist normalerweise eine Jungfer, die schon länger hier ist, also werden wir wahrscheinlich nicht genommen.«

Kristy lockerte ihr langes kastanienbraunes Haar. »Ich kann es kaum abwarten, bis ich endlich dran bin.«

Lara zuckte zusammen. Die Auserwählte war wahrscheinlich das Abendessen.

Der Gong erklang erneut.

»Gehen wir.« Kristy griff sich eine rote Robe aus dem Bücherregal und öffnete die Tür.

»Bist du sicher, dass wir tot sind?«, flüsterte Lara. »Ich bin wahnsinnig aufgeregt für eine Leiche.«

Grinsend schaute Kristy sie an. »Es ist wirklich aufregend, oder? Wir sind auf einer ganz anderen Daseinsebene. Und wir leben bei den Göttern. Wie cool ist das, bitte? Wir sind wirklich gesegnet.«

Wirklich manipuliert war eher der Fall. Schnell liefen sie durch ein Foyer zu einer reich verzierten Flügeltür. Kristy und Vanessa öffneten jeder einen Flügel, und was Lara jetzt zu Gesicht bekam, ließ sie aufkeuchen.

Es sah aus wie der Parthenon, bloß dass alles glänzte und neu war.

Vanessa lächelte. »Ich habe auch ganz schön gestaunt, als ich es zum ersten Mal gesehen habe. Unglaublich toll hier, oder?«

»Beeilt euch«, scheuchte Kristy sie. »Die anderen Jungfern stehen schon an ihrem Platz.«

Mit offenem Mund betrachtete Lara ihre Umgebung, während sie in den Tempel schritt. Auf jeder Seite des rechteckigen Raumes erhoben sich sechs Marmorsäulen hoch bis an die Decke. Zwischen den korinthischen Säulen ruhten bronzene Kohlebecken. In jedem Becken glomm ein Feuer, dass den weißen Marmor in Gold tauchte.

Am Ende des Tempels ruhten drei goldene Throne auf einem Podium. Über ihnen hing, umgeben von Fackeln, eine große bronzene Sonne von der Decke und leuchtete im Licht des Feuers. Auf der Seite stand eine Wache in einer kurzen weißen Toga und schlug noch einmal gegen den Gong. Der tiefe, metallische Klang hallte durch den großen Raum.

In der Mitte des Tempels lagen neun rote Kissen in drei Reihen auf dem Boden. Sechs Jungfern, die in Weiß gekleidet waren, standen hinter den ersten sechs Kissen.

Vanessa blieb hinter einem Kissen in der letzten Reihe stehen und bedeutete Lara, sich neben sie zu stellen. Kristy eilte zum Gong und legte die rote Robe auf den Boden neben die Wache. Dann eilte sie zurück in die letzte Kissenreihe.

»Sehet, die Auserwählte Kalliope.« Noch einmal wurde der Gong geschlagen.

Vier Wachen marschierten herein, die eine goldene Bahre auf den Schultern trugen. Als sie um die Throne herumgingen, konnte Lara die junge Frau sehen, die auf den goldenen Kissen ruhte. Sie war ganz in Rot gekleidet. Ihre Robe glich denen der anderen Jungfern, bis auf den roten Schal um ihren Hals. Lara zuckte zusammen. Darunter mussten Bissspuren verborgen liegen.

Die vier Wachen senkten die Bahre auf den Boden, und dann halfen zwei von ihnen Kalliope beim Aufstehen. War sie so schwach? Lara sah immer besorgter zu, wie sie ihr die Stufen auf das Podium hinaufhalfen und sie sich dann auf dem kleineren Thron an der linken Seite niederließ.

Lara konnte jetzt ihr Gesicht sehen und erkannte sie aus ihrer Akte. Die Auserwählte war Brittney Beckford, das Mädchen, das im Juli aus der Columbia University verschwunden war.

Als Nächstes wurde die Bahre von den Wachen irgendwo hinter den Thronsesseln untergebracht. Lara vermutete, dass sich dort weitere Räume befanden.

Der Gong erklang erneut. »Sehet, die Götter sind unter uns«, verkündete der Wachmann. »Allwissende Athena, Tochter des Zeus und Göttin der Weisheit.«

»Allwissende Athena«, wiederholten die Jungfern im Chor und knieten sich auf ihre roten Kissen.

Lara tat es ihnen gleich und war dankbar, dass es dieses Mal ein Kissen gab. Sie blickte vorsichtig hoch, als Athena hereinkam. Die Vampirfrau hatte Jeans und T-Shirt gegen eine lange Toga aus violetter Seide getauscht. Ein Kranz aus goldenen Blättern schmückte ihren Kopf. Sie stieg das Podium hinauf und setzte sich auf den rechten Thron.

»Mein Lord Apollo, Sohn des Zeus und Gott der Sonne«, verkündete der Wachmann.

Apollo stolzierte herein. Er trug eine lange Toga aus schimmerndem Gold. Ihm folgten die vier Wächter, und jeder von ihnen trug ein Schwert. Das machte insgesamt fünf Wächter, vermutete Lara. Sie schienen alle vollkommen unter Kontrolle zu stehen.

Die Jungfern seufzten alle, als Apollo an ihnen vorbeiging. Tatsächlich konnte man an seinem Aussehen nicht herummeckern, aber durch die kalten Luftmassen, die Lara umwirbelten, wusste sie auch, dass er seine Vampirkraft benutzte, um sich selbst unwiderstehlich wirken zu lassen.

Apollo betrat das Podium und wendete sich ihnen mit erhabener Miene zu.

»Mein Lord Apollo.« Die Jungfern verbeugten sich noch tiefer.

Lara machte ihre Bewegungen nach.

»Es ist wieder einmal an der Zeit für mich, einen neue Auserwählte zu benennen«, verkündete Apollo. »Es ist die größte Ehre, die einer Sterblichen je zuteil werden kann. Wenn ihr mir gut dient, werde ich euch zur Göttin erheben.«

Ein Flüstern ging durch die Reihen. »Bitte, nimm mich.« Lara hasste den Gedanken daran, dass eine von ihnen gebissen wurde, aber wahrscheinlich war es am besten, wenn Brittney eine Nacht Pause bekam. Das arme Mädchen musste wieder zu Kräften kommen.

Der Vampir deutete auf den Wächter neben dem Gong. »Bring die rote Robe.«

»Ja, mein Lord Apollo.« Der Wächter nahm sie und ging auf die neun Jungfern zu.

Apollo kam vom Podium herunter und ging langsam um die Mädchen herum. »Setzt euch auf, damit ich eure Gesichter sehen kann.«

Sie richteten sich auf, knieten aber noch auf ihren Kissen. Lara versuchte, sich krumm hinzusetzen und unattraktiv zu wirken, während die anderen ihre Brüste vorstreckten und sich die Haare hinter die Schultern strichen.

»Erste Reihe, aufstehen«, befahl er.

Die ersten drei Mädchen standen auf.

Apollo betrachtete sie eingehend und blieb dann vor dem Mädchen in der Mitte stehen. »Entblöße dich.«

»Ja, mein Lord Apollo«, flüsterte sie und löste die bronzene Nadel an ihrer Schulter. Der weiße Stoff fiel bis dorthin, wo die Leinenstreifen ihren Brustkorb umschlungen hielten, und ließ ihre Brüste frei.

Lara musste kämpfen, um ihren Ekel nicht in ihrem Gesicht erkennen zu lassen. Perverser. Lügender Bastard. Er versprach diesen Mädchen, sie zu Göttinnen zu machen, obwohl er nur vorhatte, von ihrem Blut zu trinken.

Oder vielleicht schenkte er ihnen wirklich ewiges Leben. Ihr Blick wanderte zu Athena. Sie sah wie eine rothaarige Collegestudentin aus. Konnte sie eine gewesen sein, ehe man sie zum Vampir gemacht hatte?

Seine blauen Augen begannen zu leuchten, als Apollo zurücktrat. »Sehet, die neue Auserwählte. Sie wird bekannt sein als Aquila.«

Der Wächter marschierte mit der Robe in den Armen vor. Die zwei Jungfern in ihrer Reihe halfen Aquila dabei, sich anzuziehen. Sie sahen enttäuscht aus, aber Aquila strahlte vor Freude.

Es war eine Schande. Das arme Mädchen war als Abendessen ausgewählt worden. Apollo nahm sie bei der Hand und führte sie um die Thronsessel herum zu den Räumen im hinteren Teil des Tempels. Verdammt. Lara konnte nichts dagegen tun.

Athena folgte mit zwei Wächtern. Vielleicht waren die beiden ihr Abendessen. Zwei weitere Wächter halfen der Auserwählten Kalliope vom Podium und führten sie um die Thronsessel herum.

Der Gong erklang.

»Das war's.« Vanessa stand auf. »Jetzt gehen wir in unser Zimmer.«

Als Lara aufstand, betrachtete sie die neun roten Kissen. Jetzt waren sie nur noch acht Jungfern. Sie folgte ihnen auf die Flügeltür zu.

Eine der Abgelehnten brach in Tränen aus. »Warum wählt er nie mich? Ich diene den Göttern schon seit Monaten.«

»Du musst Geduld haben«, beruhigte sie eine andere Jungfer. »Die Götter wissen, wann es für jede von uns an der Zeit ist.«

Sie durchquerten das Foyer und verließen das Gebäude durch eine andere Flügeltür. Kalte, frische Luft empfang Lara, und sie atmete tief ein. In der Luft lag der Geruch von Pinien. Es war zu dunkel, um etwas zu erkennen, aber der Himmel war so klar, dass sie annehmen musste, auf dem Land zu sein.

Die Mädchen gingen auf ein kleineres, quadratisches Gebäude zu. Dahinter erkannte Lara ein noch kleineres Gebäude. Sie sah zum Tempel zurück. Er war das größte Gebäude auf dem Gelände. Soweit sie es sagen konnte, war es nur von einer niedrigen Steinmauer umgeben. Uber die konnte man leicht klettern. Einige Fackeln erleuchteten den Weg, aber dazwischen waren jede Menge dunkle Stellen, durch die man unbemerkt entkommen konnte.

Sie könnte wahrscheinlich fliehen, aber wohin? Sie hatte keine Ahnung, in welche Richtung sie gehen sollte, und das Gelände schien auf allen Seiten von dunklem, dichtem Wald umgeben. Sie könnte tagelang unterwegs sein.

Gemeinsam gingen die jungen Frauen zu dem quadratischen Gebäude, das ganz im Stil einer römischen Villa errichtet war. Vier Seiten umschlossen einen Innenhof mit einem Schwimmbecken.

Die Mädchen wendeten sich nach rechts um und betraten einen langen Schlafsaal, in dem auf beiden Seiten je fünf Betten standen.

»Hier schlafen wir. Die Wächter schlafen auf der anderen Seite des Hofes.« Vanessa erklärte Lara alles Wichtige.

»Aber halte dich von ihnen fern«, warnte Kristy sie. »Wir müssen rein bleiben für Apollo.«

»Richtig.« Vanessa senkte ihre Stimme. »Die Wächter dienen Athena. Sie wird wütend, wenn du sie auch nur ansiehst.«

»Ich verstehe.«

Lara duschte sich im großen Badezimmer, das die Mädchen alle gemeinsam benutzten, und zog dann das schlichte weiße Nachthemd an, das Kristy ihr gab. Man sagte ihr, in welchem Bett sie schlafen sollte.

Sie tat, als würde sie schlafen, während sie darauf wartete, dass die anderen Mädchen entschlummerten. Vielleicht war es möglich, in der Nacht heimlich einige Informationen zu sammeln. Oder sollte sie besser nach den Auserwählten sehen, um sicherzugehen, dass es ihnen gut ging? Leider wusste sie nicht genau, wo sie waren, und sie konnte es nicht riskieren, aus Versehen auf einen Vampir zu treffen. Und auf keinen Fall durften die Vampire merken, dass sie nicht unter deren Kontrolle stand. Sonst brachten sie Lara vielleicht auf der Stelle um.

Sie hasste, was mit diesen Mädchen geschah, aber sie konnte ihnen am besten helfen, indem sie am Leben blieb und vorsichtig vorging. Sie seufzte. Eines der abgewiesenen Mädchen war noch wach und weinte leise in ihrem Bett. Ungewollt ergab sich Lara langsam dem Schlaf.

****

»Aufwachen, Schlafmütze.« Vanessa schüttelte sie. »Es ist Tag.«

Lara setzte sich abrupt auf und hoffte, Elysion und Auserwählte und Vampire, die sich als Götter ausgaben, waren nur ein Traum gewesen. Aber nein, sie war immer noch im Schlafsaal der Jungfern.

»Komm schon«, trieb Vanessa sie an. »Zieh dich an. Wir haben Aufgaben zu erledigen.«

Nach dreißig Minuten, in denen sie Vanessa und Kristy dabei geholfen hatte, das Badezimmer und den Schlafsaal zu säubern, fühlte Lara sich eher wie ein Zimmermädchen als eine Jungfer.

»Wo sind die anderen Jungfern?«, fragte sie.

»Manche reinigen den Tempel, und einige bewachen Apollo«, erklärte Kristy ihr, während sie schmutzige Handtücher und Nachthemden in einen Weidenkorb warf. »Wir wechseln uns damit ab, ihn tagsüber zu bewachen.«

Seufzend machte Lara das nächste Bett. »Wenn er ein allmächtiger Gott ist, warum muss er dann beschützt werden?«

»Wir beschützen nur seinen Körper«, sagte Kristy. »Er verlässt seinen Körper bei Tag.«

»Klar.« Weil ein Vampir tagsüber tot war. Lara fragte sich, ob sie irgendwie an ein Messer oder einen Pflock kommen konnte. Sie könnte diesen Apollo tagsüber umbringen, wenn er in seinem Todesschlaf lag. »Darf ich ihn auch mal bewachen?«

»Klar. Wir tun es zu zweit und sitzen vor seinem Zimmer«, erklärte Vanessa ihr und fegte dabei weiter den Boden.

»Darf man nicht reingehen?«, fragte Lara.

»Oh nein, das Zimmer ist verschlossen.« Vanessa kehrte alles auf eine Schaufel, die sie in den Mülleimer leerte. »Wir sind nur dort, um ihm Ehre zu erweisen. Er muss seinen Körper vor Sonnenaufgang verlassen, damit er zur Sonne werden kann.«

»Und wenn die Sonne untergeht, kehrt er in seinen Körper zurück«, fuhr Kristy fort. »Er ist dann sehr müde und hungrig. Die Auserwählte hilft ihm, wieder zu Kräften zu kommen.«

»Darauf wette ich«, sagte Lara trocken.

»Ich glaube, wir sind fertig.« Kristy sah sich zufrieden im Zimmer um. »Lasst uns frühstücken gehen.«

Lara begleitete sie zum kleineren Gebäude im hinteren Teil des Grundstücks. Dort war eine der Jungfern mit Kochen beschäftigt.

Kristy rümpfte die Nase, als sie das Essen auf dem Tisch sah. »Du hast schon wieder den Toast verbrannt.«

»Na und?« Die Köchin starrte sie wütend an. »Versuch du doch, dreimal am Tag für fünfzehn Leute zu kochen. Ich habe diesen Job so satt.«

Vanessa keuchte erschreckt auf und blickte zur Tür. »Du darfst dich nicht beschweren. Einer der Wächter könnte dich hören.«

»Und es ist ein Vergnügen, den Göttern zu dienen«, fügte Kristy hinzu.

»Ich bekomme die Götter so gut wie nie zu sehen«, grollte die Köchin. »Ich schufte immer hier drinnen, wie ein Sklave.«

Das war der perfekte Ort, um nicht aufzufallen. »Ich helfe dir.«

»Schh.« Vanessa zog an ihrer Robe und flüsterte: »Hier willst du nicht arbeiten.«

»Aber ich will den Göttern dienen«, sagte Lara mit Nachdruck, »und ich koche wirklich gern.«

»Im Ernst?« Die Köchin starrte sie an. »Du - du würdest mir helfen?«

»Natürlich.« Lara ging in die Küche und sah sich um. Halleluja, es gab Messer hier drinnen! Sie konnte Apollo zum Abendessen Gemetzeltes servieren.

Die Köchin griff nach ihrer Hand. »Ich danke dir so sehr. Ich kann dir gar nicht sagen, wie oft ich zu spät zur Zeremonie gekommen bin und noch Speisereste auf meiner Robe hatte. Apollo wählt mich nie aus. Er sagt, ich stinke nach sterblichem Essen, und beleidige damit seine Unsterblichkeit.« Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Vielleicht habe ich jetzt eine Chance.«

»Keine Ursache.« Schuldbewusstsein machte sich in ihr breit. Rettete sie sich selbst auf Kosten dieses Mädchens? Nein, sie musste sich selbst schützen, um die anderen retten zu können.

Sie öffnete die Speisekammer und betrachtete die Kartons, Dosen und Flaschen. Sie entdeckte eine Flasche Ahornsirup aus Vermont, die aussah, als wäre sie vor Ort abgefüllt worden. Vielleicht waren sie in Vermont. »Woher kommt das ganze Essen?«

Die Köchin zuckte mit den Schultern, während sie einen Haufen Rührei auf einen Servierteller schaufelte. »Es kommt jede Woche an. Die Götter haben einen Weg gefunden, es von der sterblichen Ebene kommen zu lassen.«

»Klar.« Lara musste unbedingt sehen, wie die Vorräte geliefert wurden. Wenn sie eine Nachricht an den Lieferanten weitergeben konnte, war sie vielleicht in der Lage, alle zu retten.

Sie stellte die Flasche Ahornsirup auf die Anrichte. »Wer will Pfannkuchen?«

»Ich, ich!« Kristy und Vanessa wedelten mit den Händen.

Eine andere Jungfer kam mit einem Tablett voller Eier, Speck und Toast durch die Küchentür gerannt. »Oh meine Götter.« Sie stellte das Tablett hin und legte eine zitternde Hand auf ihre Brust. »Ich glaube, es ist passiert.«

»Was?«, fragte Vanessa.

Die Jungfer deutete auf das Tablett voll Essen. »Ich habe Kalliope ihr Frühstück in den Tempel gebracht, und ihr Zimmer war leer. Sie war nicht da.«

Kristy, Vanessa und die Köchin keuchten alle auf.

»Bist du sicher?«, flüsterte Kristy. »Sie war nicht bei einem der Götter?«

»Nein.« Die Jungfer schüttelte den Kopf. »Ich habe die Wächter gefragt, und sie haben gesagt, sie ist letzte Nacht aufgestiegen.«

Erneutes Keuchen.

Lara ging auf die Jungfer zu. »Was meinst du mit ›aufgestiegen‹?«

Die Augen des Mädchens füllten sich mit Tränen. »Sie ist auf eine höhere Ebene aufgestiegen. Kalliope ist zur Göttin geworden.«

»Gelobet seien die Götter«, flüsterte Kristy.

»Im Ernst«, fügte Vanessa hinzu. »Das ist so cool. Ich hoffe, ich werde eines Tages auch Göttin.«

Kälte durchdrang ihren ganzen Körper und ließ Lara erzittern. Sie erinnerte sich daran, wie schwach Brittney Beckford in der Nacht zuvor ausgesehen hatte. Sie legte eine Hand auf den Mund, als ihr Galle in die Kehle stieg. Sie hatte das schreckliche Gefühl, Brittney Beckford war tot.