8. KAPITEL

 

Es war fast sechs Uhr, als Lara und LaToya die Treppe zu Roman Draganestis Stadthaus auf der Upper East Side erklommen.

»Schicker Laden«. LaToya betrachtete die Nachbarschaft von der Veranda aus. »Nett und ruhig.«

»Ist dir aufgefallen, wie fest die Fenster alle verrammelt sind?« Lara hatte gehofft, irgendwo hineinspähen zu können, aber alle Fenster waren mit schweren Rollläden verschlossen.

Sie betätigte die Klingel. Die Glocken hallten im Inneren wieder, als befände sich dort eine leere Höhle. Irgendetwas stimmte hier nicht, aber sie konnte nicht genau sagen, was. Vielleicht hatte sie nur zu viel Fantasie, und dazu kam das Gefühl, dass sich alles zum Schlechten wendete.

Die U-Bahnfahrt und der kurze Spaziergang hatten nicht dabei geholfen, ihre Nerven zu beruhigen. Eine nagende Angst hatte sich in ihren Eingeweiden festgesetzt, und in ihrem Herzen eine kranke Schwere. Sie erkannte die Symptome, denn sie hatte diesen Schmerz schon einmal gespürt. Ernüchterung. Verrat.

Nach dem Unfall hatte sie so hart dafür gekämpft, ihr Leben neu aufzubauen und die Tage der Schönheitswettbewerbe hinter sich zu lassen. Dann hatte sie Ronny an der LSU kennengelernt und geglaubt, dass er ihr Bedürfnis nach einem neuen und bedeutenden Leben verstand, sie hatte ihm vertraut und war von seiner Liebe überzeugt. Bis er vor seinen Freunden und jedem, der es hören wollte damit angab, dass er eine Schönheitskönigin entjungfert hatte. Sie war nicht mehr als ein toller Titel gewesen, mit dem er eine Kerbe in seine Trophäenwand schlagen konnte.

Verdammt. Sie hatte wirklich gedacht, sie könnte Jack vertrauen. Er war doch anders, er bewunderte sie für ihre Intelligenz und ihre Charakterstärke - oder etwa nicht? Sie hatte gedacht, er wäre der Richtige.

»Wir werden beobachtet«, flüsterte LaToya.

Lara sah zur Überwachungskamera hinauf. Das grüne Licht war angegangen. »Jack arbeitet für eine Firma, die auf Sicherheitsdienste spezialisiert ist.«

»Ich frage mich, was die in Sicherheit wissen wollen«, murmelte LaToya.

Ein Knistern kam aus der Sprechanlage an der Tür. »Kann ich Ihnen helfen?«, ertönte eine männliche Stimme.

Lara drückte auf den Sprechknopf. »NYPD. Wir haben einige Fragen.«

»Ja, machen Sie auf!«, rief LaToya.

Es gab eine Pause. Laras Magen knotete sich förmlich zusammen. Bitte lass Jack ein Alibi für Samstagabend haben.

Die Tür ging langsam auf, und dahinter stand ein große, junger Mann. Die Worte »MacKay S&I« waren auf die linke Seite seines marineblauen Polohemdes gestickt. Seine Khakihosen hielt er mit einem Gürtel tief auf den schmalen Hüften fest. Sein dunkles Haar hatte er zu einem kurzen Pferdeschwanz zusammengenommen, und ein goldener Stecker glänzte in seinem Ohr. Er sah fast so umwerfend aus wie Jack.

»Ich bin Carlos«, begrüßte er die beiden mit einem leichten Akzent. »Wie kann ich Ihnen helfen?«

»Können wir reinkommen?«, fragte LaToya.

Seine Mundwinkel zuckten. »Haben Sie einen Durchsuchungsbefehl?«

»Wir haben nur einige Fragen, wenn es Ihnen nichts ausmacht.« Lara lächelte ihn freundlich an. »Ist Jack da? Giacomo di Venezia, auch bekannt als Jack.«

Carlos legte den Kopf zur Seite und betrachtete sie. »Sind Sie der Cop, der sich bei Ians Hochzeit eingeschlichen hat?

Ich habe schon von Ihnen gehört.«

Eine leichte Röte breitete sich über ihren Hals hinauf zu ihren Wangen aus. »Ich bin Officer Boucher, und ich bin beruflich hier. Jack hat... unsere Aufmerksamkeit erregt.«

Carlos Augen leuchteten auf. »Das wette ich.«

»Das hier ist meine Partnerin, Officer Lafayette.« Lara zeigte auf LaToya. »Ist Jack da? Wir müssen mit ihm sprechen.«

»Er ist zurzeit nicht zu erreichen.« Carlos belustigter Blick wanderte hinab zu ihren Füßen und wieder hinauf. »Robby hat gesagt, dass Sie hübsch sind, aber das war eine riesige Untertreibung. Er muss wirklich sauer sein, dass Jack Sie sich zuerst geschnappt hat.«

Lara erstarrte. »Ich bin von niemandem geschnappt worden.«

»Das Netz ist jedenfalls ausgeworfen«, erwiderte Carlos lächelnd.

»Hören Sie jetzt mit dem Mist auf und holen Jack?«, verlangte LaToya.

»Miss Lafayette.« Carlos Augen funkelten, als er LaToya genauer betrachtete. »Sie sind wohl eine richtige kleine Wildkatze.«

Sie kniff ihre braunen Augen zusammen. »Kleiner, ich habe Krallen, die du lieber nicht sehen willst.«

Carlos lachte leise. »Ich sage Jack, dass Sie hier waren. Hat er Ihre Nummer?«

»Wir müssen ihn jetzt sprechen«, ließ Lara sich nicht abwimmeln, »mir ist klar, dass er am Tag schläft, aber würden Sie ihn bitte wecken?«

»Leichter gesagt als getan«, murmelte Carlos. »Ich fürchte, er ist zurzeit nicht hier. Nicht im metaphysischen Sinne.«

LaToya schob ihre Hüfte zur Seite und stemmte eine Hand darauf. »Wo ist er dann? Im verdammten metaphysischen Sinn?«

»Das habe ich mich schon oft gefragt«. Carlos legte die Stirn in nachdenkliche Falten. »Wohin gehen sie, wenn sie nicht... bei uns sind?«

Lara wechselte einen Blick mit ihrer Mitbewohnerin. Carlos klang, als hätte er nicht mehr alle Tacos in der Pfanne. »Soll das heißen, Sie wissen nicht, wo Jack ist?«

»Nicht so richtig. Aber wenn Sie gegen halb neun noch einmal herkommen, wird er sich mit Ihnen unterhalten.«

»Das werden wir tun«, sagte LaToya.

»Ausgezeichnet«. Carlos lächelte. »Es war mir ein Vergnügen, Sie kennenzulernen, Ladies. Ciao.« Die Tür schloss sich.

Lara hörte noch, wie Riegel vorgeschoben wurden. »Das war ja interessant.«

»Kann man wohl sagen.« LaToya ging die Treppe zum Bürgersteig hinunter. »Ich kann mich nicht entscheiden, wer am heißesten ist: Ian, Jack oder Carlos.«

Jack, keine Frage. Lara sah auf ihre Uhr. »Lass uns etwas essen.«

Die beiden Frauen gingen auf den Central Park zu und wendeten sich dann nach Süden. Als sie am Plaza vorbeikamen, erinnerte Lara sich daran, dass sich im Hotel ein Business Center befand. Sie teilten sich eine Pizza in einem Deli auf der Sixth Avenue und gingen dann zum Plaza zurück und in das Business Center, wo sie sich nebeneinander vor zwei Computer setzten.

»Ich sehe mir mal diesen Draganesti an«. LaToya tippte auf ihrer Tastatur.

Lara googelte nach Giacomo di Venezia, aber alle Links führten nur zu Giacomo Casanova, dem berühmten Verführer. Das war keine Hilfe, aber es erinnerte sie an etwas. Als Lara Jack in der Kirche ausgefragt hatte, waren sie auf seinen Vater zu sprechen gekommen, der anscheinend hunderte Frauen verführt hatte, Jacks Mutter war die letzte Eroberung gewesen. Was für ein seltsamer Zufall.

War Jack wie sein Vater? War es sein Hobby, Frauen zu verführen? Irgendwie hatte Lara das Gefühl gehabt, seine Zuneigung zu ihr war echt. Aber war das nicht einfach die Herangehensweise solcher Schufte? Sie ließen alle Frauen, die sie verführten, glauben, etwas Besonderes zu sein. Und Lara war schon einmal reingefallen.

Es täte ihr wirklich weh, herauszufinden, dass er bloß ein frauenverschleißendes Schwein war. Leider konnte es sogar noch schlimmer kommen. Er könnte ein Verbrecher sein.

Nein! Sie weigerte sich, zu glauben, dass Jack etwas mit dem vermissten Mädchen zu tun hatte. Lara kannte ihn nicht sehr gut, aber sie konnte nicht glauben, dass er je eine Frau misshandeln würde. Er hatte ihr das Leben gerettet. Er war ein Beschützer der Frauen, kein Schänder.

»Also, dieser Roman Draganesti klingt wie ein Genie«, erklärte ihr LaToya gerade. »Er hat herausgefunden, wie sich Blut klonen lässt. In diesem Artikel steht, sein synthetisches Blut rettet jedes Jahr Tausenden das Leben.«

»Synthetisches Blut?« Lara erinnerte sich. »Das hat man mir gegeben, als ich im Krankenhaus war.«

»Dann hat dieser Roman auch dich gerettet«, fuhr LaToya fort. »Er stellt das Zeug bei Romatech Industries her. Er hat mehrere Fabriken im ganzen Land verteilt, aber die größte davon steht in White Plains, New York.«

»Das ist ganz in der Nähe von uns.« Lara suchte nach Romatech und fand einen Bericht über einen Bombenanschlag im letzten Dezember. Ein Auto war auf dem Parkplatz explodiert, aber niemand wurde dabei ernsthaft verletzt. Das war nur der letzte von mehreren Versuchen, die Fabrik zu sprengen. »Sieht aus, als hätte Romatech einige echte Feinde.«

»Vielleicht machen sie auch andere Forschungen, die einigen Leuten gegen den Strich gehen«, schlug LaToya vor.

»Du weißt schon, Stammzellenforschung oder Genmanipulation.«

»Offensichtlich brauchen sie jedenfalls einen guten Sicherheitsdienst.« Lara fragte sich, ob das Jacks Aufgabe war. »Ich könnte mir die Sache mal ansehen.« Gott sei Dank war sie noch einige Tage beurlaubt.

»Ich sollte morgen eigentlich arbeiten, aber ich kann mich krank melden und mitkommen«, bot LaToya an.

»Ich komme schon zurecht. Keine Sorge.« Lara sah auf ihre Armbanduhr. »Es ist kurz nach acht. Gehen wir zurück zu Jack.«

****

»Stimmt etwas nicht?« Jack hatte sich gerade in die Küche des Stadthauses teleportiert. Er war im Büro im vierten Stock gewesen, hatte sein Frühstück getrunken und seine E-Mails gecheckt, als Carlos ihn über die Sprechanlage nach unten bestellte.

»Darauf kannst du wetten.« Phineas saß am Küchentisch. Er trug die Uniform aus Khakihosen und marineblauem Polohemd von MacKay Security and Investigations. »Carlos ist verrückt geworden. Ich glaube, er hat an der Katzenminze geschnuppert.«

Carlos schüttelte den Kopf und öffnete die Kühlschranktür. Er nahm eine Flasche Wasser heraus und schraubte den Deckel ab. »Es waren ein paar Polizisten hier, als ihr zwei... geschlafen habt.«

»Und Carlos hat sie wieder hergebeten!« Phineas schlug mit der Faust auf den Tisch und brachte dabei das halbleere Glas Blut vor ihm zum wanken. »In fünfzehn Minuten sind sie da.«

Jack legte die Stirn in Falten. »Was will die Polizei von uns?«

»Mich wahrscheinlich.« Phineas kippte den Rest seines Frühstücks hinunter und stellte das Glas mit einem Knall auf den Tisch. »Ich - auf mich steht ein Haftbefehl aus.«

»Mann, Phineas.« Carlos verzog das Gesicht. »Du hättest mich vorwarnen sollen. Wie soll ich dich beschützen, wenn ich so etwas nicht weiß?«

Als ihre Tagwache war es Carlos Panterras Job, die Vampire während ihres Todesschlafes zu beschützen. Bisher war Jack von der Wachsamkeit des Brasilianers beeindruckt gewesen. Wie viele der sterblichen Tagwachen, die für MacKay Security and Investigations arbeiteten, hatte Carlos besondere Fähigkeiten. Und ein besonderes Geheimnis. Er schwieg über die Vampire, und sie schwiegen über seine Fähigkeit, seine Gestalt zu verwandeln.

Phineas' Schultern sackten nach unten. »Ich wollte nicht, dass Angus etwas davon weiß. Er hat an mich geglaubt und mir einen Job gegeben. Ich bin echt gern einer von den Guten.

»Keine Sorge. Angus ist sehr zufrieden mit dir«, versicherte Jack ihm und wendete sich dann an Carlos. »War die Polizei auf der Suche nach Phineas?«

»Nein, sie haben ihn nicht einmal erwähnt. Er dürfte nicht in Gefahr sein.« Carlos nippte an seinem Wasser.

Erleichtert atmete Phineas auf. »Dann verschwinde ich von hier.«

»Was schade wäre.« Carlos setzte sich neben ihn an den Tisch. »Das waren zwei wirklich hübsche Frauen.«

Jacks Herzschlag beschleunigte sich abrupt. »Die Polizisten waren Frauen?« War Lara auf der Suche nach ihm?

»Hübsche Ladies?« Phineas strich sein kurzes Haar zurück. »Klingt nach einer Aufgabe für den Love Doctor.«

»War Lara hier?« Jack ging auf den Tisch zu. »Ich meine Officer Boucher?«

»Ja. Sie hat nach dir gefragt. Und sie hatte Officer Lafayette dabei.« Carlos lächelte Phineas an. »Sie ist eine sehr hübsche schwarze Frau.«

»Krass!« Phineas' Gesicht leuchtete auf, ehe es in sich zusammenfiel. »Warum arbeitet ein hübsches junges Ding für die Bullen?«

»Klug sind die beiden anscheinend auch«, erzählte Carlos weiter. »Sie haben irgendwie herausgefunden, wo Jack wohnt.«

»So sind die Bullen, Alter. Die finden einen überall!« Phineas nahm sein leeres Glas und die Flasche Blut und ging an die Spüle, um alles auszuspülen.

Nachdenklich setzte Jack sich an den Tisch und versuchte, sich zu erinnern. Er hatte genau darauf geachtet, Lara nicht zu verraten, wo er lebte oder arbeitete. Der Wagen! Deshalb musste Laras Mitbewohnerin auf der Straße auf ihn gewartet haben. »Sie müssen die Schilder von Romans Wagen zurückverfolgt haben.«

Carlos nickte. »Die sind ziemlich schlau.«

»Unnachgiebig.« Phineas knallte sein leeres Glas und die Flasche in die Spülmaschine. »Du solltest lieber nicht mit denen reden, Alter. Die schleppen dich auf die Wache, wo sie diese Verhörzimmer haben mit den Einwegspiegeln, und wenn du da nicht im Spiegel auftauchst, braten sie dich am Spieß.«

»Ich werde schon aufpassen.« Jack blickte zur Uhr über der Spüle. In acht Minuten sollten sie erscheinen. »Phineas, fang schon ohne mich an. Sag Connor, ich komme bald nach.«

»Okay, aber ich kann dir jetzt schon sagen, dass ihm das nicht gefallen wird.« Phineas runzelte die Stirn, als sein Körper verschwamm und dann verschwand.

Jack seufzte. Connor hatte mehr als deutlich klargemacht, dass Jack sich diese Frau aus dem Kopf schlagen sollte. Und er hatte auch wirklich versucht, sie zu vergessen, aber es war unmöglich. Irgendwer bei Romatech lief in einem blauen Hemd herum, das ihn an die Farbe ihrer Augen erinnerte. Oder er hörte jemanden lachen und erwischte sich dabei, wie er sich nach dem Klang von Laras Lachen sehnte. Immer, wenn er duschte, erinnerte er sich an ihre Hände auf seiner Haut.

Und wenn er sich hinlegte, um in seinen Todesschlaf zu fallen, stellte er sich vor, wie die Sonne als feuriger Ball aus Rot und Gold aufging. Er konnte sie nie wiedersehen, aber er konnte Laras Haare sehen, wie sie rot und golden glänzten, und wie die weichen Strähnen sich um ihre Stirn schmiegten. Es fühlte sich in seinen Händen wie seidiges Feuer an.

Er wollte sie wiedersehen. Santo cielo, er wollte sie.

»Ich hoffe, es macht dir nichts aus, dass ich sie wieder hergebeten habe«, sagte Carlos. »Ich dachte, es wäre am besten, ihre Neugierde zu beschwichtigen. Wir wollen ja nicht, dass sie noch einmal tagsüber herkommen und einen Durchsuchungsbefehl dabeihaben.«

»Das wäre eine Katastrophe.« Dann würden sie die Toten finden.

»Du bist jetzt wach, also dürfte alles ganz normal erscheinen.«

»Stehen noch Särge im Keller?«, fragte Jack.

»Nein. Dougal hat seinen mitgenommen, als sie ihn versetzt haben. Ian hat seinen Sarg gespendet. Er ist rausgewachsen.«

Jack lächelte. »Und ich nehme an, seine neue Frau wollte auch keinen neuen mit ihm teilen.«

Carlos lachte. »Nein, das würde Toni nicht mitmachen.«

Jack blickte zur Uhr. Noch fünf Minuten. »Ich sollte mich fertigmachen.« Er teleportierte sich in sein Schlafzimmer im dritten Stock. In Vampirgeschwindigkeit duschte er, putzte sich die Zähne, und zog saubere Jeans und ein kastanienbraunes T-Shirt an. Er fuhr sich gerade mit dem Kamm durch die Haare, als er die Klingel im Erdgeschoss hörte. Lara.

Sein Blick fiel auf die leere Wand über der Anrichte im Bad. Selbst wenn dort ein Spiegel wäre, könnte er sich darin nicht sehen. Er rieb sich über die Stoppeln an seinem Kinn. Zum Rasieren reichte die Zeit nicht mehr. Hoffentlich sah er für Lara trotzdem annehmbar aus.

****

Er sah umwerfend aus. Lara beobachtete, wie die Luft verschwamm, und dann stand Jack auf einmal am Absatz der Treppe im ersten Stock. Sie blinzelte. Hatte er sich mit Supergeschwindigkeit bewegt? Jetzt stand er einfach ruhig da und betrachtete sie.

Sein Lächeln ließ ihr Herz höher schlagen. Dieser Mann konnte auf keinen Fall ein Kidnapper sein. Alles, was er tun musste, war, mit dem Finger zu winken, und jede Frau käme zu ihm gerannt.

»Officer Boucher?«

Ein Klopfen auf ihrer Schulter ließ Lara zusammenschrecken. »Ja?«

Carlos grinste. »Ich habe gefragt, ob Sie und Ihre Partnerin gern über das Gelände geführt werden möchten.«

»Oh.« Lara zuckte innerlich zusammen. Sie hatte Carlos beim ersten Mal nicht gehört. Sie war zu sehr damit beschäftigt gewesen, Jack anzustarren. Als sie und LaToya vor einer Minute angekommen waren, hatte Carlos sie in eine geräumige Empfangshalle geführt. Sie hatte den glänzenden Marmorboden bemerkt und die große, geschwungene Treppe, und dann war Jack aufgetaucht. Jetzt ging er langsam die Stufen hinunter und hatte den Blick immer noch auf sie gerichtet.

»Ich mache die Führung mit«, verkündete LaToya, »Lara kann mit Jack reden.«

Lara stellte sich näher zu ihrer Mitbewohnerin. »Bist du sicher, dass wir uns... trennen

»Keine Sorge, Officer Boucher«' sagte Carlos, »Ihre Freundin ist bei mir in Sicherheit«

LaToya verschränkte abschätzend die Arme- »Die Frage ist doch eher, ob Sie bei mir in Sicherheit sind.«

Carlos Augen leuchteten auf. »- Also, wie würden Sie gern vorgehen? Sollen wir oben anfangen und uns nach unten vorarbeiten?«

LaToya hob eine Augenbraue. »Klingt gut-« »Officer Lafayette.« Jack verbeugte sich leicht, als er den Fuß der Treppe erreichte. »Was ein Vergnügen, Ihnen noch einmal zu begegnen. Ich hoffe, Ihr Ex macht Ihnen nicht länger Schwierigkeiten. Ich glaube, sein Name war Bob?«

»Es geht«, grummelte LaToya- »Sie sind es der hier in Schwierigkeiten stecken könnte.« stapfte mit Carlos die Treppe hinauf.

Mit nach oben gezogenen Augenbrauen drehte er sich zu Lara um. »Ich habe Schwierigkeiten?«

Nein, die Schwierigkeiten hatte sie selber. Ihre Haut kribbelte, dabei hatte er sie nicht einmal angefasst. »Können wir uns irgendwo unterhalten?«

»Hier entlang.« Er zeigte auf ez1nen Raum links von ihnen.

In einem Wohnzimmer standen drei kastanienbraune Sofas an drei Seiten eines großen, quadratischen Couchtisches. Die vierte Seite zeigte auf einen Breitbildfernseher. »Möchtest du etwas trinken?«, -erkundigte sich Jack. »Wasser wäre nett.« Die Pizza^ die sie vorher gegessen hatte, machte sie sehr durstig. Sie petzte sich in die Ecke einer Couch und stellte ihre Handtasche neben sich, damit Jack ihr nicht zu nahe kommen konnte.

An der gegenüberliegenden Wand bemerkte sie einen Schreibtisch, auf dem ein Computer stand. Links davon hingen kastanienbraune Vorhänge an einem Fenster, das auf die Straße hinausführte. Die Metallrollläden waren fest geschlossen, als würden sie sich Sorgen machen, dass jemand hineinsehen könnte. Aber als Lara sich im Zimmer umsah, konnte sie nichts Außergewöhnliches entdecken. Vielleicht hatte hier nur jemand etwas gegen Sonnenlicht.

»Bitte sehr.«

Überrascht blickte sie zu Jack. Das war schnell gegangen.

Er reichte ihr ein Glas eiskaltes Wasser und legte dann auf den Tisch vor ihr einen Untersetzer aus Holz. »Shanna reißt mir den Kopf ab, wenn wir Wasserflecken auf den Tisch machen.«

»Shanna? Wer ist das?«

»Romans Frau. Den beiden gehört das Stadthaus.« Jack setzte sich neben sie auf die Couch.

»Roman Draganesti?« Lara nippte an ihrem Wasser.

»Ja.« Jack drehte sich zur Seite, um sie anzusehen, und legte einen Ellenbogen auf die Rückenlehne der Couch. »Du hast deine Hausaufgaben gemacht. Ich nehme an, du hast die Nummernschilder von Romans Wagen im System gesucht.«

»Ja.« Lara trank noch etwas Wasser. »LaToya hat eigentlich keinen Exfreund namens Bob.«

Jacks Mundwinkel hoben sich. »Was für eine Überraschung.«

Verdammt, er war so niedlich. Lara stellte ihr Glas auf den Untersetzer. »Hast du keinen Durst?«

»Nein, danke.«

Merkwürdig, dass er nie etwas mit ihr trank, überlegte Lara. Sie blickte zum Fenster. »So schwere Rollläden habe ich in einem Privathaus noch nie gesehen. Sie sehen wie Industriestärke aus.«

»Sie schirmen den Lärm der Großstadt ab.«

»Das bestimmt. Es ist hier drinnen ruhig wie in einer Gruft.«

Er rieb sich das stoppelige Kinn. »Das könnte man so sagen.« Dann fixierte er Lara eindringlich. »Ich habe dich vermisst.«

Ihre Kehle zog sich zusammen. »Du hättest anrufen können.«

»Ich habe versucht, dir zu widerstehen.«

»Versucht? Ich würde sagen, du warst ganz und gar erfolgreich.« In Gedanken gab sich Lara eine Ohrfeige. Sie klang zu klammernd. Sie machte eine abwinkende Geste. »Nicht, dass das etwas ausmacht. Ich bin dir auch aus dem Weg gegangen.«

»Das war sehr klug von dir.«

»Warum? Hast du schon eine andere?«

»Nein.« Er berührte ihre Haare. »Nachdem ich dich getroffen habe, wie könnte ich eine andere wollen?«

Meinte er das ernst, oder konnte er einfach nur gut mit Worten umgehen? Sie strich sich die Haare hinter die Schulter, wo er sie nicht anfassen konnte. »Ich bin beruflich hier.«

»Verstehe. Wie kann ich dir helfen?«

»Wo bist du letzte Nacht gewesen?«

Er hob seine Augenbrauen. »Arbeitest du an einem Fall?«

»Ja.« Ihr Blick senkte sich auf die gefalteten Hände in ihrem Schoß. Jetzt kam sie sich richtig gemein vor. »Eine Collegestudentin ist letzte Nacht verschwunden. Vielleicht hat man sie entführt. Und es sieht so aus, als hätte jemand die Erinnerungen ihrer Freunde manipuliert.«

»Und du hast mich im Verdacht?«, fragte er leise.

»Ich weiß nicht —« Lara schluckte den Klumpen, der ihre Kehle zusammenzog, fest hinunter. »Ich will es nicht glauben, aber du bist der einzige Mensch, den ich kenne, der Gedanken so manipulieren kann.« Sie blickte nervös in seine Richtung. »Gibt es noch andere, die das können?«

»Merda«, murmelte er und verzog das Gesicht zu einer finsteren Miene.

»Sag mir, dass es noch andere gibt. Sag mir, dass du ein Alibi hast.«

»Glaubst du wirklich, ich würde eine junge Frau entführen?« Er warf ihre Handtasche auf den Tisch vor ihnen und rutschte näher zu ihr.

Sie erstarrte. »Was machst du da?«

»Wenn du meinst, ich könnte ein Krimineller sein, dann kennst du mich eindeutig nicht gut genug.« Er hob sie auf seinen Schoß.

»Hör auf.« Sie versuchte, sich ihm zu entwinden, aber sein Griff blieb fest. »Du könntest Schwierigkeiten bekommen, weil du eine Untersuchung erschwerst -«

»Lara«, unterbrach er sie und sah ihr eindringlich in die Augen. »Ich habe letzte Nacht gearbeitet.«

»Bei Romatech Industries?«

»Ja. Wir halten dort Samstagnacht eine Messe ab. Ich war bei dem Empfang danach.« Er knirschte mit den Zähnen. »Da waren ungefähr dreißig Leute, wenn du sie gerne befragen würdest.«

»Das - das werde ich tun.« Außer auf seiner Brust oder seinen Schultern gab es keine Möglichkeit, ihre Hände hinzulegen. »Ihr habt eine Kirche bei der Arbeit?«

»Ja. Father Andrew kommt jede Samstagnacht. Unsere... Feinde wissen das. Sie haben uns schon einmal angegriffen, deshalb muss ich dort sein und für die Sicherheit sorgen.«

Feinde? Das klang übertrieben. Aber andererseits, wenn Jack in der Kirche gewesen war, konnte er mit Vanessas Verschwinden nichts zu tun haben. Es sah aus, als wären ihre Gebete erhört worden. »Was ist mit der Gedankenmanipulation?«

Er legte die Stirn in noch tiefere Falten. »Es gibt noch andere mit dieser Fähigkeit.«

»Freunde?«

»Ja.« Seine Augen nahmen einen harten Ausdruck an, und in den goldenen Flecken glänzte Wut. »Und Feinde.«

Eine Gänsehaut überzog Laras Arme. Freunde und Feinde mit der Fähigkeit, Gedanken zu manipulieren? Sie zitterte und fühlte sich plötzlich, als balancierte sie an einem Abgrund und stand kurz davor, hinabzufallen.

Er berührte ihre Wange. »Das ist alles sehr schockierend für mich.«

»Was du nicht sagst.« In was in aller Welt war sie da hineingeraten? Sie versuchte, einen Sinn in all dem zu finden, aber wie konnte sie überhaupt einen klaren Gedanken fassen, solange er sie anfasste und sie so eindringlich ansah.

Er strich mit den Fingern über ihren Kiefer. »Ich bin... erstaunt, wie weh es mir tut, dass du schlecht von mir denkst.«

»Ich wollte es nicht. Es hat mich krank gemacht. Ich - ich wollte es wirklich nicht glauben.«

»Dann tu es nicht.« Er vergrub seine Hände in ihren Haaren.

»Ich will dir vertrauen, Jack.« Aber es war so verdammt schwer, wenn seine Augen schon wieder anfingen, rot zu glühen.

»Das kannst du.« Er zog sie in seine Arme und küsste sie.