5. KAPITEL

 

Laras Herz hämmerte in ihrer Brust, als sie mit Kelsey Trent hinter dem schweren Tisch kauerte. Dieser Wahnsinnige hatte einige wilde Schüsse in der Küche abgegeben, wahrscheinlich, um sie selbst vom Gebrauch ihrer Schusswaffe abzuhalten. Eine Kugel zischte über ihrem Kopf durch die Luft und grub sich in die Wand hinter ihr. Kelsey schrie.

Es fiel Lara schwer, zu atmen. Sie musste über den Tischrand blicken, um zu zielen, aber allein der Gedanke daran lähmte sie. Voller Verzweiflung versuchte sie, sich an alle Anleitungen zu erinnern, die man ihr an der Akademie eingehämmert hatte. Verdammt. Sie hatte die Übungssituationen schon beängstigend gefunden, aber die waren das reinste Kinderspiel im Gegensatz zur Wirklichkeit.

Die Schüsse verstummten.

Jetzt oder nie. Lara beugte sich seitwärts am Tisch vorbei und zielte mit ihrer Pistole. Die Zeit verlangsamte sich plötzlich zu einem Kriechen. Kalter Schweiß kühlte ihre Haut, und ihre Ohren füllten sich mit einem Rauschen. Alles, was sie fühlte, war, wie ihr rechter Zeigefinger sich langsam um den Abzug krümmte, bereit, zu töten.

Gott, nein. Gezwungen zu sein, jemanden umzubringen. Sie hatte theoretisch gewusst, dass es dazu kommen konnte, aber sie hatte dummerweise geglaubt, dass es irgendwie, wenn sie nur vorsichtig genug war, nie wirklich passieren würde.

Charlie hatte sie entdeckt und richtete seine Waffe auf sie.

Es war so weit.

Die Luft vor Lara begann zu flimmern.

»Was zum Teufel?« Charlie stolperte rückwärts.

Er sah es auch? Laras Knie begannen in ihrer halb gehockten Stellung zu zittern. Die vielfarbige Blase in der Luft nahm eine Gestalt an. Menschliche Gestalt. Jack. Sie keuchte auf.

****

»Oh mein Gott!« Charlie richtete seine Waffe auf ihn.

In Hochgeschwindigkeit sauste Jack auf Charlie zu, schlug ihm die Waffe aus der Hand und warf ihn zu Boden, wo er ihn festhielt.

Diese Schnelligkeit war atemberaubend. In der Millisekunde, die es dauerte, ihre Augen wieder zu öffnen, hatte Jack Charlie bereits überwältigt und ihm die Hände hinter den Rücken gezerrt.

»Runter von mir!« Charlie wand sich, konnte sich aber gegen seinen Fänger nicht wehren.

Eine Welle kalter Luft erfüllte den Raum.

Jack kniff seine Augen zusammen, in denen golden Eindringlichkeit leuchtete. »Ruhig. Und sei still.«

Charlie wurde schlaff. Kelsey fiel mit leerem Gesichtsausdruck gegen den Tisch. Zitternd beobachtete Lara das Geschehen. Jack. Er benutzte wieder einen seiner Gedankentricks.

»Lara, gib mir deine Handschellen«, verlangte Jack von ihr.

Ein eisiger Nebel kroch über ihre Haut. Oh Gott, im Hotelzimmer war es auch kalt gewesen. War das Jacks Verdienst? Und wie konnte er einfach so wie durch Magie aus dem Nichts auftauchen?

Er blickte zu ihr. »Alles in Ordnung?«

»Ich -« Sie stolperte, und ihre Pistole schlug gegen ein Tischbein. Sie sah hinab, vollkommen verwirrt und desorientiert durch die Ereignisse und die Geschwindigkeit, in der sie gerade geschehen waren.

»Leg die Waffe weg, Lara«, sprach Jack sanft. »Und dann gib mir deine Handschellen.«

Sie steckte ihre Pistole zurück ins Halfter und ging dann auf wackeligen Beinen zu Jack hinüber, um ihm die Handschellen zu reichen. »Gott sei Dank bist du gekommen.« Es war ihr erspart geblieben. Jack hatte sie davor bewahrt, zu töten. Jack hatte vielleicht ihr Leben gerettet. Und das Leben von allen anderen im Haus. Auch das ihres Partners...

»Harvey!« Sie rannte aus der Küche und fand ihn auf dem Boden im Wohnzimmer. Er war kaum noch bei Bewusstsein und hatte die Hand gegen sein blutgetränktes Hemd gepresst.

Sie entdeckte einen Wäschekorb voller gefalteter Kleidung auf dem Couchtisch und griff sich, was oben lag. Ein Badehandtuch, gut. Sie kniete sich neben ihren Partner und drückte das Handtuch gegen die Schusswunde in seiner Seite.

»Butch«, keuchte Harvey. »Gott sei Dank. Ich habe Schüsse gehört. Ich dachte, du wärest -«

»Es geht mir gut. Alles ist unter Kontrolle. Du hältst jetzt einfach durch, okay? Der Bus ist auf dem Weg.«

Harvey verzog das Gesicht. »Ich war so dumm. Ich habe seine Waffe gesehen, aber gezögert. Ich - ich musste noch nie jemanden erschießen.«

»Ich weiß.« In Laras Augen standen die Tränen und ließen ihre Sicht verschwimmen. »Ich wollte auch nicht schießen.« Was für eine Erleichterung, dass Jack genau im richtigen Augenblick erschienen war. Und jetzt, wo sie nicht mehr in seiner Nähe war, konnte sie spüren, wie der kalte Nebel sich aus ihren Gedanken lichtete. Ihr wurde klar, dass Kelsey und ihr wahnsinniger Ehemann so ruhig blieben, weil Jack es ihnen befohlen hatte. Er hatte vollkommen die Kontrolle über die Situation übernommen, ohne auch nur Falten in seinen teuren Anzug zu machen.

Sie schauderte. Was für ein Mann konnte wie durch Magie auftauchen? Oder sich schnell wie der Blitz bewegen? Oder die Gedanken von Menschen kontrollieren? Wenigstens war er auf ihrer Seite. Er wäre sonst ein wirklich gefährlicher Mann.

Lara konzentrierte sich sofort wieder auf Harvey, als der die Augen schloss. »Harvey? Harvey, halt durch.«

»Er ist bewusstlos.« Jack kam eilig zu ihr ins Zimmer. »Er wird sofort eine Transfusion brauchen.« Er schloss kurz die Augen und atmete scharf ein. »Blutgruppe 0 positiv.«

»Woher weißt du das?« Lara drückte das Handtuch weiter gegen Harveys Wunde, während sie Jack betrachtete. Er sah so normal aus, wenn man sein extrem gutes Aussehen als normal bezeichnen wollte.

Er kniete sich neben sie. »Ich nehme an, du hast schon Verstärkung und einen Krankenwagen angefordert?« Als sie nickte, fuhr er fort: »Der Mann und die Frau werden sich nicht an mich erinnern. Ich habe ihre Erinnerungen verändert -«

»Wie? Wie hast du das gemacht?«

»Das ist schwer zu erklären.« Er hob eine Hand, als sie ihm widersprechen wollte. »Nicht jetzt, Lara. Die Zeit ist knapp, und wir müssen dafür sorgen, dass deine Aussage mit ihren übereinstimmt.«

»Du willst, dass ich lüge?«

»Für das Paar in der Küche ist es die Wahrheit. Nachdem der Mann deinen Partner angeschossen hat, ist er auf dich losgegangen. Du hast seine Frau hinter dem Tisch versteckt und hinter der Tür auf ihn gewartet. Er ist reingeplatzt, hat wild um sich geschossen, und du hast ihm mit deinem Schlagstock einen Hieb auf den Kopf verpasst.«

»So erinnern sie sich an alles?«

»Ja. Der Mann ist bewusstlos zusammengebrochen. Du hast ihn gefesselt und bist dann hierhergerannt, um deinem Partner zu helfen.«

»Ich glaube nicht, dass der Kerl je bewusstlos war.«

»Das wird er bald.« Jack zog ein weißes Taschentuch aus einer Innentasche seines Mantels. »Gib mir deinen Schlagstock.«

»Er ist schon gefesselt. Willst du ihn trotzdem schlagen?«

»Lara, die Geschichte muss einen Sinn ergeben. Es ist glaubwürdiger, dass du einen bewaffneten Mann überwältigen konntest, der so viel größer ist als du, wenn du ihn vorher bewusstlos geschlagen hast.«

Er hatte recht, auch wenn Lara das nicht gerne zugab. Draußen heulten Sirenen. Die Verstärkung war auf dem Weg, und hoffentlich auch ein Krankenwagen für Harvey. »Hier.« Sie gab Jack den Schlagstock. »Aber schlag nicht zu fest zu.«

Jacks Mundwinkel bogen sich nach oben. »Du bist zu weichherzig für diesen Job, Bellissima.« Sein Lächeln verblasste. »Dieser Mann hat versucht, dich umzubringen. Dafür verdient er mehr als nur eine Beule am Kopf.«

Jack verließ das Zimmer, den Schlagstock mit seinem Taschentuch umwickelt in der Hand. War seine Einschätzung etwa richtig? Aber wenn sie kein Mitleid zeigen könnte, wie wäre sie da je ein guter Cop? Sie spannte sich innerlich an und wartete auf ein Geräusch.

Klonk. Sie zuckte zusammen. Harvey hatte nicht gekeucht oder wenigstens gestöhnt. In Sekundenschnelle war Jack wieder an ihrer Seite und reichte ihr den Schlagstock.

Sie steckte ihn unter ihrem Gürtel fest. »Wie bewegst du dich so schnell?«

Er fuhr mit der Hand durch sein dichtes schwarzes Haar. »Jetzt ist keine Zeit für Erklärungen.«

Aber sie wollte jetzt Antworten, verdammt. Sie wusste, sie würde den Rest der Nacht mit Papierkram und Krankenhausbesuchen bei Harvey verbringen. »Okay. Dann morgen.«

Sie drehte sich um, als sie Schritte den Flur hinabtrampeln hörte. Eine Herde Elefanten rückte zu ihrer Rettung an. In Gedanken stellte sie sich vor, dass Tarzan auf einem Elefanten ritt. Nein, Moment. Der wilde, gutaussehende Held war ja schon bei ihr im Zimmer.

»Morgen solltest du mir wirklich alles erklären«. Sie wendete sich Jack zu.

Er war verschwunden.

****

»Oh, das riecht gut!« LaToya Lafayette ließ ihre Handtasche und ihre Schlüssel auf die Anrichte neben der Tür fallen. »Was ist am Kochen, Mädchen?«

»Geschwärzter Rotbarsch.« Lara drehte die Fischfilets vorsichtig in der Pfanne um.

»Toll!« LaToya zog ihren lila LSU-Tiger-Kapuzenpullover aus und fuhr sich durch die glänzend schwarzen Korkenzieherlocken. »Es regnet schon den ganzen verdammten Tag.« Sie legte ihr feuchtes Sweatshirt über eine Stuhllehne in ihrem winzigen Wohnzimmer. »Also, wieso bist du am Kochen? Nicht, dass ich mich darüber beschwere. Ich liebe, was du kochst. Aber ich wollte dich eigentlich zur Feier des Tages ausführen.«

»Ich will keine große Sache daraus machen.«

»Aber es ist eine große Sache.« LaToya schlenderte in die Küche. »Du hast dieser Frau das Leben gerettet. Und das ihrer Kinder auch. Und Harveys.«

»Ich habe Harvey nicht gerettet. Das haben die Ärzte getan.«

»Du bist echt zu bescheiden, Mädchen.« LaToya wusch sich die Hände an der Spüle. »Auf meinem Revier reden alle über dich. Ich habe gehört, sie wollen eine Pressekonferenz mit dem Polizeipräsidenten anberaumen, der dich lobend erwähnen wird.«

»Oh Gott, ich hoffe nicht.« Lara rührte gehackte Petersilie und Frühlingszwiebeln in eine Schüssel Kartoffelbrei.

»Du weißt genau, sie werden aus der Sache rausholen, so viel sie können. Drei Monate aus der Akademie, und schon bist du der Held des Tages. Du bist quasi das Aushängeschild dafür, wie erfolgreich die Ausbildung ist.«

»Aber ich habe ja nichts gemacht!« Lara zerquetsche eine Knoblauchzehe mit der flachen Seite eines Messers. »Jack war es.«

»Du weißt das. Ich weiß das. Aber sonst weiß es niemand.« LaToya lehnte ihre Hüfte gegen die Anrichte. »Guck mich nicht so an, während du ein Messer in der Hand hast, Mädchen.«

Lara schnaufte, als sie den zerquetschten Knoblauch in die Kartoffel kratzte. Nach ein paar Stunden, in denen sie Formulare ausfüllen und sich von den Detectives, die den Fall übernommen hatten, befragen lassen musste, und nach weiteren zwei Stunden, die sie im Krankenhaus verbrachte, um nach Harvey zu sehen, hatte Lara sich endlich gegen halb neun Uhr morgens nach Hause in ihr Apartment in Brooklyn geschleppt.

Ihrer Freundin musste sie die ganze Geschichte einfach erzählen, ehe LaToya sich auf den Weg zu ihrem Job im sechsundzwanzigsten Bezirk machte. Dann duschte Lara und fiel ins Bett. Aber selbst in ihrem erschöpften Zustand hatte sie Schwierigkeiten gehabt, einzuschlafen. Schüsse und Schreie hallten in ihrem Kopf, und vor ihren Augen sah sie immer wieder Harvey, der blutend auf dem Boden lag.

Und sie dachte immer wieder an Jack. Sie hatte beschlossen, dass sie ihm für seine Rettung am besten mit einer selbstgekochten Mahlzeit danken konnte, ganz im Stil von Louisiana. Sie wählte seine Nummer, aber er ging nicht ans Telefon. Sie hinterließ ihm eine Nachricht, in der sie ihn zum Essen einlud, und ging dann zum Einkaufen. Gegen fünf Uhr nachmittags versuchte sie noch einmal, ihn zu erreichen.

Er hatte sie nicht zurückgerufen.

»Was ist in dem Salat?« LaToya betrachtete die Holzschüssel, die sie zum Tisch trug.

»Spinat, auf dem Feuer gebackene Tomaten und Pinienkerne.«

»Oh, edel.« LaToyas Blick wanderte über ihr bestes Porzellan, Stoffservietten und Kerzenhalter. »Du hast dir aber eine Menge Mühe gegeben.«

»Mir war langweilig.« Lara füllte zwei Teller mit Fisch und Kartoffeln. »Der Captain hat mir befohlen, freizunehmen.«

»Bezahlt? Du Glückskind.« LaToya zündete ein Streichholz an und hielt es gegen die Kerzen. »Trotzdem sieht das alles furchtbar... romantisch aus.«

»Lass uns einfach essen.« Lara stellte die Teller auf den Tisch.

LaToyas braune Augen schmälerten sich, als sie das Streichholz auspustete. »Das hast du alles für Jack gemacht, oder?«

Lara seufzte tief, als sie sich an den Tisch setzte. Es hatte keinen Zweck, irgendetwas zu leugnen. »Schon gut. Ich habe ihn zum Abendessen eingeladen, aber er hat noch nicht mal zurückgerufen. Das bedeutet nicht, dass ich nicht vorhatte, mit dir zu essen.«

LaToya setzte sich ihr gegenüber. »Mädchen, ich weiß, wenn drei einer zu viel sind. Ich hätte dich mit deinem geheimnisvollen Mann schon alleine gelassen. Aber du sagst, er hat nicht zurückgerufen?«

»Nö.« Lara häufte etwas Salat in ihre Salatschüsseln. »Und ich habe ihm zwei Nachrichten auf die Mailbox gesprochen.«

»Vielleicht hat er sie nicht bekommen.«

»Ich rufe nicht noch mal an. Das würde zu verzweifelt klingen. Und ich bin nicht verzweifelt. Überhaupt nicht.« Lügnerin. Sie wollte ihn wirklich unbedingt wiedersehen.

Während sie sich etwas von der Balsamico-Vinaigrette über den Salat träufelte, dachte LaToya laut nach. »Dieses Ekel. Ich hätte Lust, ihn selbst anzurufen und ihm die Meinung zu sagen.«

»Nein!«

Die Freundin grinste und ging dann zum Kühlschrank. »Ich habe die perfekte Lösung für all deine Probleme. Wein. Die Allzweckwaffe. Wir können auf deine heldenhaften Taten trinken und gleichzeitig unsere Sorgen über enttäuschende Männer ertränken.«

»Darauf trinke ich.« Lara stocherte in ihrem Salat. Das Essen sah toll aus und duftete herrlich, aber es fehlte ihr an Appetit. Dieser blöde Jack. Es ergab keinen Sinn. Er hatte sein Leben riskiert, um sie zu retten, und jetzt konnte er sie nicht einmal zurückrufen?

Mit zwei Gläsern in der Hand, gefüllt mit Weißwein, kam LaToya an den Tisch zurück. Sie setzte sich und hob ihr Glas. »Ein Toast. Auf meine beste Freundin, eine wahre Heldin.«

»Ich bin keine Heldin. Bei der Arbeit ist es schlimm genug, aber von dir will ich es wirklich nicht hören, wo du doch die Wahrheit kennst.«

»Ja, ich kenne die Wahrheit. Wenn du nicht wärest, wäre ich immer noch eine Angestellte in einem kleinen Laden in irgendeiner Stadt, von der noch nie jemand gehört hat. Du hast mich angetrieben, wenn ich nicht mehr weiter konnte.

Du bist meine Heldin.«

In Laras Augen standen Tränen. Sie hatte LaToya kennengelernt, als sie nach ihrem Autounfall im selben Krankenzimmer gelegen hatten. LaToya war bei einem Überfall auf das Geschäft, in dem sie arbeitete, angeschossen worden. Lara mochte vor dem Unfall ein verwöhntes Leben geführt haben, aber LaToya hatte schon jahrelange Misshandlungen überlebt. »Am Anfang hast du mich gehasst.«

Ein Lächeln huschte über LaToyas Gesicht. »Ich dachte, du wärst bloß ein verwöhntes kleines weißes Mädchen. Miss Teen Louisiana.«

Lara zuckte zusammen. »Und wahrscheinlich hat es auch nicht geholfen, dass meine Mutter immer ein Diadem und eine Schärpe getragen hat, wenn sie mich besuchen kam.«

LaToya lachte. »Deine Mom ist durchgeknallt, echt.«

»Das ist mal sicher.« Laras Mutter nahm im Alter von zweiundfünfzig Jahren immer noch an Schönheitswettbewerben teil. »Du hast mir auch geholfen, weißt du. Es wäre so viel schwerer gewesen, gegen meine Familie zu rebellieren und meine Träume zu verwirklichen, wenn ich alleine gewesen wäre. Ich weiß nicht, was ich ohne dich gemacht hätte.«

»Auf uns.« LaToya stieß ihr Glas gegen das von Lara. »Die zwei härtesten Anfänger-Cops in der großen Stadt.«

»Auf uns. Lebe lang und in Frieden.« Lara zitierte ihren liebsten Trinkspruch, den sie sich von den Vulkaniern aus ›Star Trek‹ geborgt hatte.

Sie aßen eine Weile schweigend, und Laras Gedanken wanderten zurück zu Jack. Der Schuft hatte die Erinnerungen von Mr. und Mrs. Trent so verändert, dass sie in ihren Aussagen wie eine Heldin klang. Und sie hatte dafür sorgen müssen, dass ihre Geschichte dazu passte. »Ich muss mich beim Seelenklempner einfinden.«

»Das ist wahrscheinlich nur Routine.« LaToya schaufelte sich mehr von den Kartoffeln in den Mund.

»Wahrscheinlich.« Lustlos schob Lara ihren Fisch auf dem Teller hin und her. »Ich mache mir irgendwie Sorgen deswegen. Ich meine, was, wenn ich dem Arzt meine Geschichte erzähle, und er merkt, dass ich lüge?«

»Er wird dich nicht infrage stellen. Nicht, wenn du alles, was die Trents sagen, bloß bestätigst.«

Lara seufzte. »Ich fühle mich überhaupt nicht wohl damit, dass alle denken, ich bin eine Heldin.«

»Komm endlich drüber weg. Deshalb wollten wir doch Cops werden, weißt du noch? Wir wollten die Bösen fangen und etwas verändern. Außerdem wird dir sowieso niemand glauben, dass irgendein komischer Kerl wie durch Magie aus dem Nichts erschienen ist und die Situation gerettet hat.«

»Du glaubst mir doch, oder nicht?«

LaToyas braune Augen wurden weicher, und sie lehnte sich vor, um nach Laras Hand zu greifen. »Das tue ich. Ich habe dich im Krankenhaus beobachtet, als du noch einmal lernen musstest, zu lesen und zu schreiben. Ich war bei dir, als wir uns beide durch die Kurse an der LSU gequält haben. Und ich habe die Akademie mit dir überlebt. Ich weiß, dass du mich nie belügen würdest, egal, wie seltsam die Geschichte klingt.«

»Danke.« Lara drückte die Hand ihrer Freundin und ergriff dann ihre Gabel. »Ich muss wirklich aufpassen, wenn ich mich mit dem Psychiater unterhalte. Ich will nicht, dass er denkt, ich leide immer noch unter meiner Kopfverletzung.«

»Tust du nicht. Das ist sechs Jahre her. Du bist drüber weg.«

»Wie kannst du dir da so sicher sein? Niemand erinnert sich daran, Jack gesehen zu haben, außer mir. Habe ich ihn mir am Ende nur eingebildet?«

»Und wer hat dann Mr. Trent niedergeschlagen? Und was ist mit der Visitenkarte, die er dir gegeben hat? Seine Telefonnummer hat funktioniert.«

»Das stimmt.« Die Visitenkarte hatte sie sich nicht eingebildet.

»Du hast ihn bei Ian MacPhies Hochzeit gesehen«, fuhr LaToya fort, »und ich weiß, dass Ian MacPhie echt ist. Ich habe ihn angerufen, als er auf dieser Dating-Seite war.«

»Hast du nicht.«

»Hab ich wohl.« LaToya brachte ihren Teller in die Küche. »Irgendeine Frau hat meine Nachricht angenommen, und dann hat Ian richtig spät zurückgerufen, gegen Mitternacht. Ich war ziemlich angepisst deswegen, besonders, weil er gesagt hat, er ist schon vergeben, aber sein Akzent war echt niedlich.«

Lara schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht fassen, dass du ihn angerufen hast.«

»Und ich kann nicht glauben, dass du mich nicht zu seiner Hochzeit mitgenommen hast.« LaToya stemmte ihre Hände in die Hüften. »Ich hätte ihn so gerne mal gesehen. Sieht er so gut aus wie auf dem Bild?«

»Ich habe ihn selber gar nicht gesehen.«

»Bist du wahnsinnig? Der Kerl ist so heiß!«

»Und vergeben, weißt du noch?«

LaToya seufzte. »Ja, ich weiß. Also, wie sieht dieser Jack aus? Ist er auch nur annähernd so niedlich wie Ian?«

Lara konnte sich nicht richtig erinnern, wie Ian ausgesehen hatte. Es war auch egal. Er konnte auf keinen Fall besser aussehen als Jack. Sie brachte ihr Geschirr in die Küche. »Jack ist der bestaussehende Mann, der mir je begegnet ist.«

»Echt?«

»Was wahrscheinlich heißt, ich habe ihn mir wirklich eingebildet.« Lara öffnete die Kühlschranktür. »Willst du Nachtisch? Ich habe Mississippi Mud Pie gemacht.«

»Verdammt noch mal, Mädchen, du wolltest es echt wissen.

Lara stellte den saftigen Schokoladenkuchen auf die Anrichte. »Ich wollte, dass er meine Fragen beantwortet.«

»Gutes Essen, Kerzenlicht - klingt, als wolltest du mehr als nur reden.«

Mit einem genervten Blick schnitt Lara zwei Stücke Kuchen ab. »Ich habe nur versucht, eine gemütliche Stimmung zu schaffen, damit er sich wohl genug fühlt, mir seine Geheimnisse zu verraten.«

»Klar.« LaToya nahm sich eine Gabel und eine Untertasse mit Kuchen und ging zurück an den Tisch. »Wo ich herkomme heißt Mississippi Mud Pie ›Zur Sache, Kleiner‹.«

Nachdem Lara ihren Teller auf den Tisch gestellt hatte, ging sie zurück in die Küche, um sich ein Glas Wasser zu holen. »Ich fürchte, er geht mir aus dem Weg, weil er seine Geheimnisse für sich behalten will.«

»Hmmm.« LaToya dachte mit dem Mund voller Kuchen nach. »Wir wollen Detectives werden, richtig? Wir müssen seine düsteren Geheimnisse einfach selbst aufdecken.«

»Das versuche ich schon seit einer Woche.« Lara nippte auf dem Weg zum Tisch an ihrem Wasser. »Alles, was ich mit Sicherheit sagen kann, ist, dass er mentale Superkräfte hat.«

»Weil er mit den Gedanken der Leute spielt?«

»Genau.« Lara setzte sich. »Aber er hat auch noch andere Kräfte, die ich nicht erklären kann. Zum Beispiel ist er extrem schnell.«

»Dann ist er ein Superheld. Du weißt doch, schneller als eine Kugel.« LaToya stopfte sich noch mehr Kuchen in den Mund.

»Das hier ist die wirkliche Welt, kein Comic. Wie könnte aus einem normalen Mann plötzlich ein Superheld werden?«

Ein Funkeln in LaToyas Augen unterstrich ihren Witz. »Vielleicht ist er vom Blitz getroffen worden oder in ein Fass mit Säure gefallen.«

Lara lachte. »Er sieht vielleicht lecker aus, aber nicht, als hätte man ihn frittiert.«

»Dann muss er ein Alien sein. So hat Superman seine Kräfte bekommen.«

Während Lara etwas von ihrem Kuchen aß, stellte sie sich Jack in einem Latexanzug mit flatterndem Cape vor. Verdammt, sah er gut aus. »Ich hätte nichts gegen einen Superhelden, wenn er wie Jack aussieht. Aber das erklärt noch nicht, warum er auftauchen und verschwinden kann, wie er will.«

»Das ist tatsächlich schwierig.« LaToya konnte von dem leckeren Kuchen gar nicht genug bekommen, und ihre Augen leuchteten auf, als sie sich erneut einen Bissen in den Mund schob. »Ich hab es! Astralprojektion.«

»Was?«

»Das bedeutet, er ist am gleichen Ort geblieben, und nur sein Geist -«

»Ich weiß, was das heißt, aber Jack war kein Geist. Er hat Charlie Trent zu Boden geworfen und ihm Handschellen angelegt.«

»Okay.« Das war wirklich kompliziert. »Dann kann er kein Geist sein.«

»Nein.« Lara erinnerte sich daran, wie sie sich im Lagerraum der Kirche an ihm gerieben hatte. »Er ist vollkommen solide.«

»Du hast ihn angefasst?«

Lara zuckte mit den Schultern. »Im Zuge des Verhörs.«

Verächtlich schnaufend sah LaToya sie an. »Darauf wette ich. Also ist die einzige Erklärung für sein Verschwinden, dass der Typ weiß, wie man sich teleportiert. Wie bei ›Star Trek‹.«

»Das scheint so, aber Teleportation ist noch nicht erfunden.«

Eindringlich sah LaToya ihre Freundin an und zeigte dabei mit der Gabel auf sie. »Die wollen nur, dass wir das glauben.«

Lara grinste. »Du glaubst, die NASA oder irgendeine geheime Unterabteilung der Regierung hat herausgefunden, wie man sich teleportiert?«

»Klar. Und Jack ist einer von deren Geheimagenten.«

»Schwer zu glauben«, murmelte Lara mit vollem Mund.

»Ich hab es!« LaToyas Gesicht strahlte vor Aufregung. »Er ist ein Geheimagent aus der Zukunft.«

»Klar. Teleportation und Zeitreisen zusammen. Das ist natürlich gleich viel glaubhafter.«

LaToya warf ihr einen wütenden Blick zu. »Hey, das ist doch ganz eindeutig. Heutzutage weiß man noch nicht, wie man teleportiert, aber in der Zukunft werden sie es herausfinden. Ipso facto muss er aus der Zukunft sein.«

»Und er ist in der Zeit zurückgereist um einen Junggesellenabschied im Plaza Hotel zu feiern.«

»In Ordnung, mach dich so viel lustig, wie du willst.« LaToya brachte ihren leeren Teller in die Küche. »Aber die Alternative wird dir auch nicht gefallen. Da Menschen nicht wissen, wie man sich teleportiert, muss dein Jack ein Alien sein.«

»Das kann nicht dein Ernst sein.«

»Das ist der zweite Gedankengang, der damit endet, dass er ein Alien sein muss. Zufall?« Sie wackelte mit ihrem Finger und ihrem Kopf. »Ich glaube nicht. Schreibt er seinen Namen mit einem Apostroph? Also Jack statt... Jack?«

»Warum sollte er das machen? Das klingt beides genau gleich.«

»Alle Aliens machen das so. Das gehört zu ihrem Code.«

Lara schüttelte den Kopf. »Mir kam er ausgesprochen menschlich vor.«

»Er will, dass du glaubst, er sei menschlich, aber das ist alles nur Fassade. Er spielt mit deinen Gedanken und macht, dass du ihn als Mensch siehst, obwohl er in Wirklichkeit eine schleimige Kreatur mit Tentakeln ist. Und dann schwängert er dich mit seinem Alien-Baby und es zerfleischt deinen Bauch von innen -«

»Genug!« Lara brachte den Rest ihres Kuchens in die Küche zurück und warf ihn in den Müll. »Ich habe keinen Appetit mehr.«

»Hat er sich an dich rangemacht? Hat er versucht, dich zu küssen?«

»Nicht so richtig. Na ja, irgendwie schon. Aber ich hatte ihn darum gebeten.« Lara sackte unter dem schreckerfüllten Blick, mit dem LaToya sie bedachte, zusammen. »Es war nicht ernst gemeint. Nur eine Verhörtechnik.«

Erstaunt musterte LaToya ihr Gegenüber. »Die Lektion muss ich an der Akademie verpasst haben. Aber jetzt, wo ich darüber nachdenke, solltest du dich wirklich an ihn ranmachen. Bring ihn dazu, sich auszuziehen.«

»Warum sollte ich?« Auch wenn die Aussicht ziemlich verlockend klang. »Ich bin an ihm nicht auf diese Weise interessiert.«

LaToya sah sie skeptisch an. »Willst du behaupten, du hast nie darüber nachgedacht, dich über ihn herzumachen?«

Ein Glühen überzog Laras Gesicht. »Na gut. Aber wenn er wirklich ein Alien ist, dann sind wir wahrscheinlich biologisch nicht kompatibel.«

»Oh du lieber Gott, stimmt. Er ist vielleicht nicht mal ein Säugetier. Er könnte ein Reptil sein, und vielleicht hat er sogar zwei... Herzen.«

Lara verzog das Gesicht. »Du siehst zu viele Science-Fiction-Serien. Nur weil Jack sich teleportieren kann, macht ihn das noch lange nicht zur Eidechse.«

Das Telefon klingelte.

Vor Schreck zuckte Lara zusammen. Rief Jack sie endlich zurück?

»Es ist die Eidechse«, flüsterte LaToya.

»Sei nicht albern. Er ist so menschlich wie du und ich.« Lara lief zum Telefon, doch dann zögerte sie. »Nein, geh du ran.«

»Ich spreche bestimmt mit keinem Alien.«

»Er ist kein Alien.« Das Telefon klingelte wieder. »Ich möchte, dass noch jemand ihn hört, damit ich weiß, dass ich nicht verrückt bin.«

Schwer seufzend stimmte LaToya zu. »Okay. Für dich tue ich es.« Das Telefon klingelte wieder, und sie nahm den Hörer ab. »Hallo? Sie sind mit der irdischen Behausung von Boucher und Lafayette verbunden.«

Lara stöhnte.

»Sie möchten Lara sprechen?«, sagte LaToya mit einer säuselnden, süßen Stimme. »Darf ich fragen, wer spricht? Aber natürlich, Jack. Ich hole sie sofort. Nur einen Augenblick, bitte.« Sie bedeckte den Hörer mit ihrer Hand. »Es ist die sprechende Eidechse. Und Schätzchen, er verkauft dir keine Versicherungen.«