21. KAPITEL

 

Lara konnte das Gefühl nicht loswerden, ein Lamm zu sein, das an die Schlachtbank geführt wurde. Die zwei Special Agents versicherten ihr, dass sie auf keinen Fall in Gefahr war. Sie behaupteten, der elektronische Peilsender in der eingewebten Haarsträhne war vollkommen idiotensicher.

Arbeiteten für die Regierung vielleicht Idioten? Irgendwie fehlte Lara das Gefühl der Sicherheit. Außerdem wäre es typisch für ihr Leben, wenn Apollo sich auf einmal entschied, dass Glatzköpfe sexy waren, und ihren Kopf kahl rasierte.

Und wie konnte sie sich mit einem derart übernatürlichen Entführer je sicher fühlen? Ihre ganze Ausbildung in Kampfkunst würde ihr gegen seine überlegene Vampirkraft und seine Geschwindigkeit nicht helfen. Wenn er versuchte, sie zu vergewaltigen oder zu töten, wäre sie dann in der Lage, ihn aufzuhalten?

Als am Samstag die Nacht hereinbrach, war ihr mehr als mulmig zumute. Die zwei Agenten vom FBI waren die Einzigen, die im Verwaltungsgebäude sein würden. Sie wollten kein großes Polizeiaufgebot, das könnte Apollo vielleicht abschrecken.

Sie ging in ihrem Wohnheimzimmer unruhig auf und ab. Sie sah auf die Uhr. Acht. Das FBI würde sich bald in der Verwaltung einfinden. Sie sollte alleine hineingeschlendert kommen und so tun, als würde sie die beiden nicht kennen. Von dort aus sollte sie direkt in Raum 102 gehen.

Kein Problem, hatten die gesagt. Das Elektronikteil in ihrer Haarsträhne konnte per Satellit aufgespürt werden. Man konnte sie überall auf der Welt finden. Sie blieb stehen, als ihr ein schauriger Gedanke kam. Sie könnten sie sogar noch dann aufspüren, wenn sie tot war.

»Hallo, Lara.«

Mit einem erschreckten Keuchen wirbelte sie herum. »Verdammt, Jack. Was hatten wir über das Heranschleichen an Leute gesagt?«

Er lächelte. »Bist du etwas angespannt, Bellissima?«

»Das ist nicht lustig, Jack.« Sie wusste nicht, ob sie diesen umwerfend schönen Mann erwürgen oder sich ihm in die Arme werfen sollte. Sie hatte ihn gebeten, nicht wiederzukommen, bis die Sache vorbei war, aber sie war so froh, ihn jetzt zu sehen. Er machte sich wenigstens wirklich Gedanken um sie. Für das FBI, hatte sie das Gefühl, war sie nur ein austauschbares Besatzungsmitglied.

»Alles in Ordnung?«, fragte er und musterte sie dabei eingehend.

»Super«, log sie, »was machst du hier?« Und wie kannst du es wagen, ganz in schwarz angezogen so sexy auszusehen?

»Wir werden unsere Pläne für heute Nacht durchziehen.«

Jetzt entschloss Lara sich, ihn wirklich zu erwürgen. »Ich habe dir gesagt, du sollst dich raushalten.«

»Wir haben keine Wahl, Lara. Wir dachten, wir würden Apollo vor heute Nacht finden, aber das haben wir nicht. Heute Nacht wissen wir genau, wo er sein wird, also müssen wir zuschlagen. Das ist für alle die beste Lösung.«

Er musste die rosa Zettel gesehen haben. Sie sah ihn mit gerunzelter Stirn an. »Du willst bloß euer Vampirgeheimnis bewahren.«

»Und dich. Niemand ist für mich wichtiger als du.«

Wie gern sie diese Worte von ihm hörte, wagte sie noch nicht einmal vor sich selbst zuzugeben. Und sie hatte auch nichts dagegen, beschützt zu werden. Es ärgerte sie nur, wie er hereingeplatzt kam und verkündete, dass er die Sache ab jetzt übernahm. »Ich verstehe nicht, wie euer Plan funktionieren soll. Es wissen zu viele Leute von dem Fall.«

»Es funktioniert bereits. Connor und Robby sind im sechsundzwanzigsten Bezirk. Die beiden können locker hundert Menschen auf einmal in ihren Bann bringen. Sie löschen jeden Gedanken an Apollo, und jede Spur von ihm auf Papier und Computern.«

Das ärgerte sie noch mehr. Vampiren fiel es anscheinend so leicht, die Gedanken der Menschen zu manipulieren, dass sie es mit hundert auf einmal aufnehmen konnten? »Das FBI weiß auch von der Sache.«

»Dorthin geht Connor als Nächstes.« Jack zuckte mit einer Schulter. »Wir haben so etwas mit den Jahrhunderten schon oft erledigt. Wir wissen, was wir tun.«

Dass seine Vampirfreunde es schaffen konnten, daran hatte Lara schon lange keine Zweifel mehr. Sie hatte gesehen, wie gut Jack alle Anzeichen der Party im Plaza gelöscht hatte.

»Ehe wir Apollo mitnehmen,, gibt es noch ein offenes Ende, um das ich mich kümmern muss.« Er trat auf sie zu.

Sie trat zurück und prallte gegen den Schreibtisch. »Wage es nicht, auch meine Erinnerungen zu löschen.«

Er hielt inne. »Das würde ich nicht einmal versuchen. Ich will, dass du dich an Venedig erinnerst, und an uns.«

Ihr Herz zog sich in ihrer Brust zusammen. Sie wollte es auch nicht vergessen.

Er zog eine Schere aus der Jackentasche. »Das Problem sind deine Haare. Oder vielmehr, die Haare, die nicht zu dir gehören.«

»Was?« Wie konnte er das wissen? Der Experte des FBI hatte ihre Haarfarbe genau getroffen.

Jack trat näher. »Ich werde mich viel besser fühlen, wenn das falsche Haar entfernt ist. Nur um sicherzugehen.«

Sie strich mit der Hand die falsche Haarlocke glatt. »Das ist meine einzige Verbindung zum FBI.«

»Du brauchst sie nicht, Lara. Du gehst nirgendwo hin. Und wenn wir mit dem FBI fertig sind, wissen sie gar nichts mehr von einem Peilsender. Sie werden sich nicht daran erinnern, wer du bist.«

Sie zuckte zusammen. »Ihr übernehmt die Sache komplett, ob es mir gefällt oder nicht. Ich dachte, wir wären Freunde.«

»Ich bin dein Freund. Ich kann den Sender hören, Lara. Ich kann die elektrischen Impulse spüren. Und wenn ich das kann, kann Apollo es auch.«

Kälte und eine unangenehme Gänsehaut überliefen ihre Haut. Mein Gott, wie nahe war sie daran gewesen, in eine Todesfalle zu tappen?

»Ich hätte es schon früher abgeschnitten, aber ich wollte das FBI nicht auf uns aufmerksam machen.« Jack griff nach dem künstlichen Haar und schnitt es ab. Er warf es zusammen mit der Schere aufs Bett und zog sie in seine Arme.

»Was machst du da?«

»Sichergehen, dass alles weg ist.« Er vergrub sein Gesicht in ihren Haaren. »Dein Herz rast.«

»Du... du hast mich überrascht.«

Er fuhr mit einer Hand über ihr Haar. »Ich weiß, dass du wütend bist. Ich hoffe, eines Tages kannst du mir verzeihen.«

Ein Teil von ihr wollte in seinen Armen schmelzen und ihm für alles danken, aber ein anderer Teil war immer noch verärgert, dass er gegen ihre Wünsche die Kontrolle an sich gerissen hatte. »Wehe, ihr findet die verschwundenen Mädchen nicht.«

»Das werden wir.« Er küsste sie auf die Stirn. »Sag deiner Mitbewohnerin, sie soll mit niemandem über die Sache reden. Ihr seid die einzigen zwei, die sich daran erinnern werden.«

Erleichtert atmete Lara auf. Er würde LaToya in Ruhe lassen.

Jack ließ sie los und trat zurück. »Es ist jetzt vorbei für dich, Bellissima. Du kannst nach Hause gehen.« Er verschwand.

Sie starrte die leere Stelle an, wo er eben noch gestanden hatte. »Machst du Witze?« Sie konnte jetzt nicht gehen. Sie wollte sehen, wie dieses Ekel Apollo gefasst wurde.

Fünfzehn Minuten später schlenderte sie ins Gebäude der Studentenverwaltung. Sie ging an der Mensa vorbei und auf die Versammlungsräume zu. Als sie ans Ende des Hauptkorridors kam, hörte sie Jacks Stimme in ihrem Kopf.

Ihr werdet in eure Büros zurückkehren. Ihr erinnert euch nicht an Apollo oder irgendeines seiner Opfer.

Lara spähte um eine Ecke und entdeckte Jack mit den zwei FBI-Agenten. Sie sah sich nach rechts um und entdeckte Raum 102. Robby saß am Ende des Ganges auf einem Stuhl und tat, als würde er die Zeitung lesen. Er hatte seinen Kilt gegen eine verschlissene Jeans getauscht.

Sie blickte nach links. Jack war mit den zwei FBI-Agenten fertig und redete mit einem jungen schwarzen Mann. Noch ein Vampir?

Die Typen vom FBI schlenderten auf sie zu, und sie zog sich zurück und betrachtete einen Getränkeautomaten. Als die zwei Agenten um die Ecke kamen, lächelte Lara ihnen zu. Sie nickten und gingen weiter. In ihren Gesichtern war nicht zu lesen, dass sie sie erkannten. Verdammt. Es sah aus, als wären die Polizei und das FBI offiziell vom Fall abgezogen.

Der Schwarze kam um die Ecke und sah sie im Vorbeigehen aufmerksam an. Er wusste wohl nicht, wer sie war, denn er versuchte nicht, mit ihr zu sprechen. Er setzte sich in die Cafeteria. Anscheinend sollte er den Vorder- und Seiteneingang im Auge behalten.

Laras Herzschlag beschleunigte sich. Jede Minute würde Apollo durch diese Türen stolziert kommen. Es sei denn, er teleportierte sich näher am Seminarraum ins Gebäude. Aber Robby und Jack waren beide im Flur, also sollten sie ihn sehen.

Eine Gruppe Mädchen kam an ihr vorbei, lachend und redend. Drei Brünette und eine Blonde. Eine der Brünetten hielt einen rosa Zettel in der Hand. Sie erreichten das Ende des Hauptkorridors und wendeten sich nach rechts. Lara nahm an, sie waren auf dem Weg zu Raum 102, aber sie dürften in Sicherheit sein. Sie hatten alle die falsche Haarfarbe.

»Hey, gehst du auch zum Seminar?«

Lara drehte sich um und sah eine weitere junge Frau mit einem rosa Zettel in der sorgfältig manikürten Hand.

Die junge Frau lächelte. »Klingt ganz lustig.«

Laras Magen zog sich zusammen. Das Haar des Mädchens war leuchtend rot. Oh Gott, nein. Die Leute vom FBI hatten vorgehabt, alle andere Rothaarigen davon abzuhalten, das Seminar zu besuchen. Aber sie waren nicht hier, um dieses Mädchen aufzuhalten. »Ich - ich glaube, das ist die Zeit nicht wert. Wahrscheinlich versuchen die nur, uns etwas zu verkaufen, weißt du?«

Der hübsche Rotschopf zuckte mit den Schultern. »Na ja, ich habe gehört, es gibt Gratisproben. Und sie verlosen einen großen Preis.« Sie schlenderte den Korridor hinab und wendete sich nach rechts.

Lara stöhnte innerlich auf. Was, wenn Jack und seine Freunde Apollo nicht erwischten? Als Vampir war er superschnell. Er teleportierte sich vielleicht davon. Und nahm dieses rothaarige Mädchen mit sich.

Verdammt. Sie musste das Mädchen da rausschaffen. Entschlossen marschierte sie den Korridor hinab und wendete sich dann nach rechts. Die Rothaarige war bereits in Raum 102 verschwunden.

Lara war nicht überrascht, als Jack sie am Arm packte.

»Was tust du hier?«, flüsterte er. »Ich habe doch gesagt, du sollst nach Hause gehen.«

»Und warum um Himmels Willen glaubst du, ich würde dir gehorchen?«

Er blinzelte. Er öffnete den Mund, um zu antworten, und schloss ihn mit verwirrter Miene wieder.

Das war ein Treffer, sie hatte ihn tatsächlich sprachlos gemacht. »Eine rothaarige Frau hat gerade den Raum betreten. Ich hole sie da raus.«

Mit einem Stirnrunzeln ließ Jack sie los. »In Ordnung, aber beeil dich. Es ist fast neun Uhr.«

»Mach ich. Und versuch, nicht so auffällig auszusehen. Du wirkst eher wie ein männlicher Macho-Krieger als ein Collegestudent.«

Jacks Augen leuchteten auf. »Tue ich das?«

Sie schüttelte den Kopf, als sie Raum 102 betrat. An einem Ende war ein riesiger Bildschirm aufgebaut. Etwa acht Stuhlreihen waren auf den Bildschirm ausgerichtet. Die meisten Plätze waren leer. Zwei Mädchengruppen saßen in den ersten vier Reihen. Sie waren damit beschäftigt, sich zu unterhalten und bemerkten Lara kaum. Es war keine Rothaarige unter ihnen.

Die Rothaarige, die sie vorhin gesehen hatte, saß in den hinteren Reihen ganz allein.

Sie lächelte, als Lara auf sie zukam. »Ich bin froh, dass du gekommen bist. Willst du dich setzen?« Sie berührte den Stuhl neben sich.

»Danke.« Lara setzte sich hin und fragte sich, wie sie das Mädchen aus dem Raum schaffen konnte. Vielleicht wenn sie »Feuer!« brüllte?

»Ich bin Thina«, stellte sich die Rothaarige vor. »Komischer Name, ich weiß. Ich habe gerade von Utica hierher gewechselt.«

»Ich bin auch neu hier«, sagte Lara. »Und ich bin am Verhungern. Wie wäre es, wenn wir in der Cafeteria etwas essen gehen?«

»Das klingt gut.« Thina stand auf und blickte dann auf den Bildschirm. »Ups, sieht aus, als fängt es an.«

Lara stand auf, als sie sah, wie jemand um den Bildschirm herum kam. Ein großer, gut aussehender Mann mit kurzem blondem Haar und sehr blauen Augen. Apollo. Er trug einen Laptop.

»Wow«, flüsterte Thina beeindruckt.

Alle anwesenden Mädchen waren zu sehr damit beschäftigt, Apollo zu bewundern, um zu bemerken, dass er den Raum nie tatsächlich betreten hatte. Er musste sich hinter den Bildschirm teleportiert haben. Und das bedeutete, Jack und Robby wussten nichts von seiner Ankunft.

Er schlenderte auf einen Seitentisch zu und stellte seinen Laptop ab. Lara nahm an, darauf befand sich seine Power-Point-Präsentation.

Eine Welle kalter Luft schwappte durch den Raum.

Ich bin Apollo, und ihr werdet mir gehorchen. Sein stechender, kalter Blick wanderte über die Mädchen in den ersten vier Reihen und fokussierte sich dann auf sie und Thina. Er lächelte.

Die Botschaft war offensichtlich. »Lass uns hier verschwinden.«

Etwas bewegte sich blitzschnell durch die Tür. Lara atmete erleichtert aus. Robby hastete auf Apollo zu. Jack war dicht hinter ihm. Er drehte sich zu ihr, um sicherzugehen, dass es ihr gut ging, aber in dieser winzigen Millisekunde schnappte Apollo sich seinen Laptop und teleportierte sich davon.

»Nein!«, brüllte Robby.

Lara keuchte auf. Es war alles so schnell passiert. Sie hatte das Missgeschick kaum bemerkt, als sich ein eiserner Griff um ihren Arm schloss.

»Was -?« Sie wollte sich befreien, aber der Griff war zu stark. Superstark, wie der eines Vampirs. Oh Gott, nein. Apollo hatte einen Komplizen.

»Gehen wir«, flüsterte Thina.

Jacks Aufschrei konnte Lara noch hören, ehe alles um sie herum schwarz wurde.

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Lara stolperte, als ihre Füße auf festem Boden landeten, und sie nutzte die Schwungkraft ihres Körpers, um sich aus Thinas Griff zu befreien. Sie sprang zurück und ging in Kampfstellung. Sie musste davon ausgehen, dass Thina zubiss.

Zum Glück sprang Thina sie nicht an. Sie sah bloß auf Lara herab, als würde sie etwas Fauliges riechen.

Während Thina mit ihrem Hochnäsigtun beschäftigt war, hatte Lara Zeit, sich die Umgebung anzusehen.

Kleines Zimmer. Weiße Wände. Zwei männliche Wachen an der Tür, Schwerter in der Hand. Nicht gut. Sie hatten beide diesen leeren Ausdruck im Gesicht, der anzeigte, dass sie unter Vampirkontrolle standen. Gar nicht gut. Ihre knappen weißen Togen zeigten enthaarte Brust und Beine. Es gab nur eine Tür. Keine Fenster. Nichts, was herumlag, das man als Waffe benutzen konnte. So viel zu sofortiger Flucht.

»Du bist mutiger als die meisten Sterblichen«, gestand Thina verächtlich. »Normalerweise sind sie jetzt schon auf Knien und weinen nach ihren Müttern.«

Lara schluckte. Weil sie so entschlossen gewesen war, am Leben zu bleiben, hatte sie vergessen, dass sie verängstigt und ahnungslos tun sollte. Sie setzte einen erschreckten Blick auf. »Oh mein Gott! Was habt ihr mit mir gemacht? Wo sind wir?«

Thina lächelte. Anscheinend gefiel ihr diese Zurschaustellung von Angst. »Das wird, wenn die Zeit reif ist, all jenen gewahr, die für würdig erachtet werden.«

Am liebsten hätte Lara ihren Fuß in Thinas selbstgefälliges Lächeln gepflanzt. »Könntest du etwas genauer werden?« Sie drehte sich zu den zwei Wachen um. »Oh, verstehe! Das ist eine Verbindungsparty! Wow, tolle Togen! Warum bringt ihr uns nicht ein paar Bier?«

»Schweig!«, befahl Thina. »Knie vor mir.«

Lara blickte zu den zwei gut gebauten Wachen. »Ihr habt die Lady gehört. Auf die Knie.« Sie zwinkerte. »Mal sehen, was ihr zu bieten habt.«

»Genug, Jungfer!« Thinas Augen blitzten wütend auf.

Verwirrt blickte Lara zur Seite. »Hast du mit mir geredet?«

Eine Welle kalter Luft traf sie mit Wucht, und sie stolperte rückwärts. Unsichtbare Eiszapfen stachen auf ihren Kopf ein. Um am Leben zu bleiben, musste sie mitspielen und so tun, als stünde sie unter deren Kontrolle. Sie leerte ihre Miene. Sie musste sich wie die Wachen benehmen und überhaupt keine Gefühlsregungen erkennen lassen.

Thina ging auf sie zu und schlug sie mitten ins Gesicht.

Lara stand still und versuchte, so sehr sie konnte, sich den Schmerz und die Überraschung nicht anmerken zu lassen. Trotzdem wurden ihre Augen ein wenig feucht. Sie konnte nichts dagegen tun.

Thina lächelte. »So ist es besser. Jetzt knie vor mir. Verbeug dich bis auf den Boden.«

Lara fiel auf die Knie und beugte sich so weit vor, dass ihre Stirn den kalten Steinboden berührte. Das war im Grunde sogar besser. So konnte man ihr Gesicht nicht sehen.

»Ich bin Athena, Tochter von Zeus und Göttin der Weisheit. Du wirst mich als allwissende Athena ansprechen.«

Lara rümpfte ihre Nase. Meinte die Frau das ernst? Sie hatte jedenfalls ein gesundes Ego.

Du wirst mir in allen Dingen gehorchen. Antworte mir jetzt.

»Ja«, antwortete Lara. Sie knirschte mit den Zähnen. »Allwissende Athena.« Gott sei Dank hatte Jack ihr beigebracht, auf die mentalen Stimmen von Vampiren zu hören.

Das volle Gewicht ihrer Situation wurde ihr plötzlich bewusst. Sie saß so was von in der Tinte. Sie hatte keinen Peilsender an sich. Das FBI und die Polizei wussten nicht einmal, dass sie nach ihr suchen sollten.

Aber Jack würde nach ihr suchen. Er würde wie wild auf der Suche nach ihr sein. Bei der Vorstellung, wie aufgebracht Jack sein musste, wurde ihr ganz übel. Sie hätte den Raum nicht betreten dürfen. Sie hatte einen großen Fehler gemacht mit ihrem dummen Versuch, edel zu sein.

Na schön, sie würde es wiedergutmachen. Das FBI hatte sie sehr gut darin ausgebildet, effektiv eine Flucht zu organisieren. Sie brauchte keinen Ritter in strahlender Rüstung oder einen Vampir in stumpfer Rüstung, der zu ihrer Rettung eilte. Sie würde sich selbst aus dieser Misere befreien.

Hoffte sie wenigstens.

»Du wirst Apollo in allem gehorchen«, verkündete Athena, »du wirst ihn als ›Mein Lord Apollo‹ ansprechen.«

»Ja, allwissende Athena«, murmelte Lara.

»Wenn eine Wache dir einen Befehl erteilt, wirst du gehorchen und antworten: Ja, Meister'.«

»Ja, allwissende Athena.« Was für ein lustiger Urlaubsort das hier doch war. Vielleicht konnte sie sich wenigstens die Haare entfernen lassen, wie bei den Wachen. Noch eine kalte Welle, die ihr Gänsehaut auf den Armen bescherte, ergoss sich über Lara.

Athenas Stimme hallte in ihrem Kopf wieder. Ich werde dir jetzt ein geringes Maß meiner Weisheit zukommen lassen.

Oh, super. Lara hoffte, das dauerte nicht zu lange. Ihre Knie fingen an, wehzutun. Der Boden war hart wie Stein. Höchstwahrscheinlich war es ein Steinboden. Vielleicht Marmor. Weiß und makellos.

»Ich habe dich von der sterblichen Ebene des Daseins errettet«, verkündete Athena, »du darfst mir jetzt danken.«

Lara verdrehte die Augen. »Danke, allwissende Athena.« Göttin der ausgeleierten Unterwäsche. Sie gab sich in Gedanken einen Stoß. Sie musste auf ihre Gedanken besser Acht geben, nur falls Athena sie doch mithören konnte. Athena ist klasse.

»Ich habe dich zu den Feldern von Elysion gebracht«, fuhr Athena fort, »die sterbliche Welt ist dir jetzt verschlossen. Du kannst nie zur Erde zurück. Verstehst du?«

»Ja, allwissende Athena.« Du bist so eine coole Göttin.

»Wenn du versuchst, diesen Ort zu verlassen, landest du im Hades, dem Land ewiger Qualen. Wenn du mir oder Apollo missfällst, schicken wir dich ebenfalls dorthin. Wünschst du, die Ewigkeit in der Hölle zu verbringen?«

»Nein, allwissende Athena.« So also hatten sie die anderen Mädchen davon abgehalten, die Flucht zu versuchen. Die Mädchen glaubten tatsächlich, es gäbe keinen Weg zurück auf die Erde, und sie hatten Angst, in die Hölle zu kommen.

»Du bist jetzt eine Jungfer. Du hast keinen Namen mehr. Du bist hier, um den Göttern zu dienen. Das ist dein einziger Lebenszweck.«

Lara schluckte. Sie konnte sich vorstellen, wie Apollo bedient werden wollte. Ein bisschen Bett und Frühstück, und sie selbst auf der Speisekarte. Sie würde hier keine Maniküren und Massagen bekommen. Das war kein Hotel. Auch kein Spa.

Das war eine bizarre Vampirsekte.