7. KAPITEL

 

Vor der Erfindung von synthetischem Blut hatte Jack Jagd auf Frauen gemacht, um zu überleben. Es war nichts, worauf er sonderlich stolz war, aber er hatte immer dafür gesorgt, es auch für die Frau zu einem Vergnügen zu machen. Er drang in ihre Gedanken ein, die ihm offenbarten, wonach ihr verlangte. Wenn sie Sex wollte, dann sorgte er dafür, dass sie vollkommen befriedigt war. Wenn sie Trost und Verständnis brauchte, dann gab er ihr auch das. Und dann nahm er sich leise eine Portion Blut und löschte ihre Erinnerung.

Lara war anders. Er konnte nicht sagen, was sie wollte, und wenn er einen Fehler machte, konnte er ihn nicht aus ihrem Gedächtnis löschen und von vorn beginnen.

Es war beängstigend. Es war aufregend. Es war, als wäre er wieder sterblich. Alle seine Sinne richteten sich auf das Jetzt. Er musste es richtig machen, und zwar sofort. Er fühlte sich so lebendig, wie seit vielen Jahren nicht mehr. Und auch verletzlicher.

Seine alten Unsicherheiten kamen zurück. Konnte er sie befriedigen, wenn er doch nicht wusste, was sie wollte? Er war über zweihundert Jahre alt, und in seiner Technik gut geübt. Aber Lara war anders. Sie verdiente mehr als eine einstudierte Routine. Das war eine Erinnerung, die er nicht löschen konnte, also musste sie etwas Besonderes sein.

Zärtlich saugte er ihre Unterlippe in seinen Mund und liebkoste sie mit seiner Zunge. Das entlockte ihrer Kehle ein tiefes Stöhnen, und sein Herz schwoll vor Freude an. Es gefiel ihr wirklich. Er strich mit der Zunge über ihre versiegelten Lippen. Sie öffneten sich.

Er war verloren. Wie konnte er sich nicht in Lara verlieben? Sie öffnete sich ihm, ohne dass er auf seine Vampirtricks zurückgreifen musste. Sein Mund schmiegte sich an ihren und erwiderte seinen Kuss. Sie schlang ihre Arme um seinen Hals und zog ihn nahe an sich. Santo cielo. Sie wollte Jack, den Mann. Nicht Giacomo, den Casanova. Auch nicht Jack, den Vampir. Sie wollte ihn.

Mit einem Knurren schloss er sie fest in seine Arme. Ihre Antwort war ein süß klingendes Wimmern. Wie Hingabe. Und es ließ eine Leidenschaft in ihm auflodern, einen Hunger, der lange geschwiegen hatte, den Hunger, eine Frau zu besitzen und sie sich zu Eigen zu machen. Er fuhr mit der Zunge in ihren Mund, und sie streichelte sie mit ihrer eigenen. Sie schmeckte nach Wein und Schokolade, herb und gleichzeitig süß. Sie war gleichzeitig Verführerin und Engel, und er wollte sich auf sie werfen und sie gleichzeitig auf Knien verehren.

Seine Hände strichen ihren Rücken hinab, er spreizte die Finger und drückte sie an sich. Sie schmolz in seinen Armen dahin und klammerte sich an seine Schultern. Sie gab so viel, aber sie verlangte auch. Zur Hölle mit den Jahren der Finesse und der gesitteten Verführung. Er wollte sie ohne Umschweife nehmen. Er wollte sie zum Schreien bringen.

Als er mit seinen Händen über ihren festen wohlgeformten Po glitt, packte er plötzlich zu und drückte sie fest gegen seine Härte. Aufkeuchend vor Erregung, löste sie ihren Kuss. Mit seinem Mund wanderte er einen Pfad hinab zu ihrem Hals. Dort konnte er ihr Blut, Gruppe A, riechen, das wild in ihrer Halsschlagader pulsierte. Ihr pochender Herzschlag hallte in seinen Ohren wider.

»Lara«, flüsterte er in ihr Ohr, »ich will dich.«

Sie bebte in seinen Armen. Gott, er wollte sie lecken. Er wollte sie von der Klippe springen lassen. Normalerweise konnte er seine Gedankenkontrolle benutzen, und dazu etwas von seinem Vampirspeichel, um die Frau zum Höhepunkt zu bringen, nur indem er ihren Hals leckte. Es war ein alter Trick, der das Eindringen der Fangzähne orgasmisch statt schmerzhaft machte. Aber er musste nicht trinken, und er hatte keine mentale Verbindung zu Lara. Er war sich nicht sicher, ob sie überhaupt irgendetwas spüren würde.

Er presste seine Lippen gegen die pulsierende Ader. Sein Zahnfleisch kribbelte, weil es die Fangzähne vorschießen lassen wollte. Selbst mit vollem Magen war sie eine fast unwiderstehliche Verlockung. Er fuhr mit der Zunge über ihren Hals, und sie schauderte.

»Jack.« Sie vergrub ihre Hände in seinen Haaren.

Sie spürte es. Auf die altmodische Weise. Ihre Reaktionen waren ehrlich, so wie sie selbst. Seine Erektion spannte in seiner Hose. Merda. Er würde bald platzen. Er legte seine Stirn gegen ihre Schläfe und atmete tief durch. Ihre Brüste pressten sich gegen ihn, als auch sie nach Atem rang.

»Wow«, flüsterte sie.

» Santo cielo«, hauchte er.

»Was heißt das? Heilige... Decke?«

»Himmel.«

»Oh, ja. Das auf jeden Fall.« Ihre Hände strichen über seinen Rücken. »Gute Nachrichten. Ich habe herausgefunden, dass deine Zunge nicht gespalten ist.«

»Das ist eine Erleichterung.« Er trat ein Stück zurück, um die Folter seiner Lenden zu lindern.

Erschreckt starrte sie ihn an und nahm ihre Hände von ihm. Merda. Zu spät wurde ihm klar, dass seine Augen immer noch rosa gefärbt waren. Vor dem Kuss hatte er es verbergen können, aber jetzt...

»Deine Augen sind rot!« Sie trat noch einen Schritt zurück.

»Bellissima, mach dir keine Sorgen. Das ist nichts.«

»Quatsch! Rot glühende Augen sind definitiv etwas. Ich weiß nicht, was, aber du solltest es mir lieber verraten.«

Wie konnte er es ihr erklären? »Das ist einfach ein Anzeichen, dass ich... angemacht bin.«

Lara erstarrte. »Angemacht? Wie ein Android? Bist du wie Data?«

Jack zögerte. Er war sich nicht sicher, was sie meinte. Leider nahm Lara sein Zögern als Zustimmung.

»Ich glaube es einfach nicht, auch wenn es einiges erklärt.« Sie sah ihn neugierig an. »Ich hätte nicht gedacht, dass Androiden so küssen können. Die richtigen Männer können einpacken.«

»Lara -«

»Hast du einen Ein/Aus-Schalter?« Sie fasste hinter ihn und fuhr mit den Fingern durch die Haare in seinem Nacken. »Ich glaube, Datas Schalter war irgendwo hier.«

»Lara, ich bin kein Android. Ich habe ein Herz, erinnerst du dich?«

»Es könnte ein künstliches Herz sein. Oder du bist wie der Sechs-Millionen-Dollar-Mann und hast nur einige mechanische Teile. Das würde die Supergeschwindigkeit und dein Gehör erklären.« Sie fuhr mit den Händen seine Schultern hinab bis zu seiner Brust. »Wo ist der Schalter?«

Armes Mädchen, sie versuchte so verzweifelt, in der Situation einen Sinn zu finden.

Sie fuhr hinab bis zu seinem Nabel. »Ist er hier?«

Er konnte nicht widerstehen. »Etwas tiefer.«

Die Beule in seiner Hose war größer als vorher, registrierte sie wohlwollend. »Oh, komm schon.« Sie gab ihm einen Klaps auf den Arm. »Das ist kein Schalter. Vielleicht ein kleiner Aus-Knopf.«

»Wohl eher ein Hebel. Und wenn du ihn packen würdest, dann ginge sicher irgendetwas los.«

»Du musst einfach ein ganz normaler Kerl sein. Du hast schon den ganzen Abend versucht, auf deine Kosten zu kommen.«

Er grinste. »Bellissima, wenn es um das Austeilen von Lust geht, dann sage ich immer, die Dame zuerst.«

Ihre Wangen röteten sich. »Ich hätte wissen müssen, dass du kein Android bist. Niemand würde eine Maschine dazu programmieren, so haarsträubend zu sein wie du.«

»Du würdest doch auch gar nicht wollen, dass ich eine Maschine bin, oder?«

»Nein, aber ich weiß immer noch nicht, was du sonst bist.« Sie drehte sich um und öffnete die Trocknertür. »Du kannst dich genauso gut anziehen. Offensichtlich wirst du mir nichts weiter verraten.«

»Lara.« Er berührte ihre Schulter. »Es tut mir leid.«

Mit einem Seufzen nahm sie das schwarze T-Shirt aus der Maschine. »Ich verstehe nicht, warum du es mir nicht einfach sagen kannst.«

Er nahm das warme T-Shirt. »Das ist eine Frage der Sicherheit. Es gibt... andere die in Gefahr geraten, wenn ich zu viel verrate.«

»Andere, die so sind wie du?«

Er zog sich das T-Shirt über den Kopf. »Ich sollte das wirklich nicht sagen.«

»Es muss doch einen Weg darum herum geben.« Sie schloss die Trocknertür. »Was, wenn ich rede, und wenn ich mich irre, sagst du es mir, und wenn nicht, sagst du nichts.«

Für ein paar Fragen könnte das funktionieren. Sie würde sowieso nie erraten, dass er in Wirklichkeit ein Vampir war.

»Bist du ein Außerirdischer?«

»Nein.« Er steckte sein T-Shirt in seine Jeans.

»Hast du Metallteile, wie der Sechs-Millionen-Dollar-Mann?«

»Nein.«

Sie legte eine Hand auf seine Brust. »Bist du ein lebendiger, menschlicher Mann?«

»Im Augenblick schon.« Sein Herz schlug, aber es würde bei Sonnenaufgang aufhören.

Ihre Mundwinkel zuckten. »Du bist nur im Augenblick ein Mann?«

»Wenn du an meiner Männlichkeit zweifelst, Liebes, dann leg deine Hand einfach ein Stück tiefer.«

Sie lachte. »Du gibst wohl nie auf.«

Er berührte ihre Wange. »Ich fürchte, ich muss, für heute Nacht. Ich muss zur Arbeit.«

»Wo arbeitest du?«

»Wo man mich einsetzt.«

Sie griff nach seinem Hemd und ballte die Baumwolle in ihren Fäusten. »Du machst mich wahnsinnig!«

»Cara mia.« Er legte eine Hand in ihren Nacken. »Das Gefühl ist ganz auf meiner Seite.«

»Warum kannst du mir nicht vertrauen?«, flüsterte sie. »Du hast mich gerettet. Wahrscheinlich verdanke ich dir mein Leben. Wir haben uns wirklich nett geküsst -«

»Nett?«

»Wirklich nett.« Sein Blick war eher zweifelnd. »Okay, es war superduperüberheiß. Fakt bleibt, ich würde nie irgendwas tun, was dir wehtut. Du kannst mir vertrauen.«

Sein Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Ja, jetzt meinte sie es ernst, aber sobald die Wahrheit herauskam, würde sie ihn für ein Monster halten. »Lara.« Er legte seine Stirn gegen ihre. »Ich wünschte, ich könnte der Mann sein, den du haben willst. Die Art Mann, die du verdienst.«

Liebevoll berührte sie sein Gesicht. »Was hält dich davon ab?«

Er schloss seine Augen. »Das Leben... und der Tod.« Sie war das eine, er das andere.

»Das verstehe ich nicht.«

»Ich weiß.« Er küsste sie auf die Stirn. Es wäre das Beste für ihn, sie nie wiederzusehen. Aber der Gedanke, sie nie wieder in seinen Armen zu halten, nie wieder ihr Lachen zu hören, nie wieder in den blauen Himmel zu blicken, der ihre Augen waren - das riss sein Herz entzwei.

Doch welche Wahl blieb ihm? Sie konnte entweder unwissend bleiben und sich liebevoll an ihn erinnern, oder sie erfuhr zu viel und konnte dann nur noch voller Ekel an ihn denken. Die erste Option war für sie beide am besten. »Gute Nacht, Lara.«

Lebe wohl, cara mia. Er verließ ihre Wohnung und wünschte sich, er wäre tot. Leider wurde dieser Wunsch mit jedem Sonnenaufgang wieder wahr.

****

Fünf Tage vergingen, ohne dass sie etwas von Jack hörte. Lara versuchte, nicht an ihn zu denken, aber wie konnte sie den faszinierendsten Mann, dem sie je begegnet war, vergessen? Oder den unglaublichsten Kuss, den sie je bekommen hatte?

Fünf lange Tage. So was nannte man wohl aus dem Weg gehen. Offensichtlich wollte er ihr nichts über sich selbst verraten, aber konnten sie nicht trotzdem Freunde sein? Tief in sich spürte sie, dass man ihm vertrauen konnte. Er hatte sie gerettet und beschützt. Und dass er ihr nicht mehr erklären konnte, hatte er wirklich bedauert. Er musste einfach ein guter Mann sein. Ganz nebenbei küsste er wie ein junger Gott.

LaToya nervte sie immer wieder, ihn anzurufen, aber Lara widerstand. Über sein Nummernschild hatten sie seine Adresse herausgefunden, aber Lara weigerte sich, zu ihm zu gehen. Sie war verletzt und enttäuscht, dass er sich ihr nicht anvertraut hatte, also mied sie ihn ebenfalls.

Als Heldin der Polizei hatte sie noch einige freie Tage, die sie mit Kochen, Putzen und DVD gucken verbrachte, meist romantische Komödien. Keiner der Helden war so sexy wie Jack. Sie vermied es allerdings, die Science-Fiction-Aufzeichnungen anzusehen. Es würde sie zu sehr nerven, einen der Charaktere teleportieren zu sehen.

Als das Telefon Sonntagnachmittag klingelte, machte ihr Herz einen Sprung. Rief Jack sie endlich an? Sie hechtete nach dem Hörer, gab sich dann aber in Gedanken einen Klaps. Benimm dich nicht so verzweifelt.

Gemächlich legte sie den Hörer an ihr Ohr und fragte mit gelangweilter Stimme. »Hallo?«

»Hey, Mädchen.«

Ihre Schultern sackten zusammen, als LaToyas Stimme ertönte.

»Hey.«

»Ich komme gleich von der Arbeit«, erklärte die Freundin ohne Umschweife, »wir treffen uns in dreißig Minuten im Morningside Park.«

»Warum?«

»Kann ich dir jetzt nicht erklären. Bis dann.« LaToya senkte ihre Stimme. »Vergiss deine Dienstmarke nicht.«

»Was?«, fragte Lara, aber ihre Mitbewohnerin hatte schon aufgelegt. Was hatte LaToya vor? Normalerweise kam sie immer gleich nach Hause, wenn ihre Schicht vorbei war.

Dreißig Minuten später ging Lara durch den Haupteingang des Parks und entdeckte LaToya, die in Polizeiuniform auf sie zukam.

»Was ist los?« Lara warf sich ihre Handtasche über die Schulter.

»Ich will dir etwas zeigen.« Gemeinsam gingen sie zum Eingang der Columbia University. »Ich wollte nicht darüber reden, während ich noch auf der Arbeit war. Der Fall ist an einige Detectives weitergeleitet worden, also sollte ich mich eigentlich ab jetzt raushalten.«

»Welcher Fall?«

»Eine verschwundene Studentin. Vanessa Carlton. Mein Partner und ich haben einen Notruf beantwortet, und später haben wir ihn an die Detectives übergeben.«

»Und warum sind wir dann hier?«, fragte Lara.

LaToya rückte ihre Sonnenbrille gegen die blendende Nachmittagssonne zurecht. »Ich war dabei, als die Detectives die Mädchen im Schlafsaal befragt haben, und es war echt merkwürdig. Ich musste immer wieder daran denken, wie du Harvey und die Sanitäter beschrieben hast, als sie unter Jacks Gedankenkontrolle standen.«

Vor Schreck zuckte Lara zusammen. »Du meinst, Jack hat mit dem Verschwinden dieses Mädchens zu tun?«

»Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Und ich konnte den Detectives auch nicht sagen, was mit Harvey war, weil er sich doch nicht daran erinnert. Dann würden die uns beide für verrückt halten.«

»Das stimmt.«

»Also dachte ich, du siehst dir diese Mädchen besser mal an«, fuhr LaToya fort. »Du hast Gedankenkontrolle schon erlebt, also kannst du vielleicht sagen, ob es das ist, was mit den Mädchen passiert ist.«

Laras Herz wurde schwer. »Okay.« Sie hatte immer gewusst, dass Jack anders war. Ungewöhnlich. Aber sie hatte ihn nie für einen Kriminellen gehalten. Er konnte nichts mit der Sache zu tun haben. Bitte nicht.

Sie folgte LaToya zu den Schlafsälen. Ein schwarzes Brett bedeckte die Wand neben dem Eingang. Leuchtend bunte Zettel verkündeten Seminare und Partys.

Auf den Korridoren standen in kleinen Gruppen Mädchen und flüsterten miteinander. Als sie die Frau in Uniform bemerkten, wurde es still.

»Officer?«, fragte eines der Mädchen. »Gibt es etwas Neues von Vanessa?«

»Noch nicht, es tut mir leid«, sagte LaToya. Die Mädchen nickten und verschwanden in ihren Zimmern.

»Das hier ist Vanessas Zimmer.« LaToya klopfte an Raum 116 und hob dann ihre Stimme. »NYPD.«

Die Tür öffnete sich einen Spalt, und eine junge Frau spähte heraus. Ungefähr achtzehn, mutmaßte Lara. Rundes, pummeliges Gesicht und unschuldige Augen.

»Haben Sie sie gefunden?« Ihre Augen waren voller Erwartung und Hoffnung.

»Wir arbeiten noch daran«, gab LaToya zu. »Megan, ich habe noch einen... Detective mitgebracht, um dir einige Fragen zu stellen.« LaToya zeigte auf Lara. »Können wir reinkommen?«

»Klar.« Megan öffnete ihnen die Tür. »Aber ich habe den anderen Detectives schon alles gesagt, was ich weiß.« Sie setzte sich mit verschränkten Beinen auf eines der Einzelbetten und stellte sich eine Schüssel M&Ms auf den Schoß. »Möchten Sie welche?«

»Nein, danke.« Lara setzte sich auf den Schreibtischstuhl, der sich zwischen den zwei Betten befand.

Auf dem anderen Bett nahm LaToya Platz, bevor sie einen Notizblock und einen Stift aus der Hemdtasche zog.

Zuerst stellte Lara Fragen zu Vanessas Tagesablauf, ihren Freundinnen, ihren Freunden, ihren Feinden, ihren liebsten Zeitvertreiben und wo sie ihre Freizeit verbrachte. LaToya machte sich fleißig Notizen, und Megan antwortete, wenn sie den Mund nicht gerade voller Schokolade hatte.

»Haben Sie ein aktuelles Foto von Vanessa?«, fragte Lara.

»Na ja, die anderen Detectives haben das Beste mitgenommen.« Megan nahm ein Fotoalbum von ihrem Schreibtisch und blätterte darin herum. »Das hier ist ziemlich gut.« Sie gab es weiter.

Lara betrachtete das Foto. »Kastanienbraunes Haar, blaue Augen, schlank gebaut.«

»Ja. Vanessa ist echt hübsch«. Megan sah ihre Schüssel mit M&Ms voller Schuldgefühle an. »Sie ist nicht übergewichtig, so wie ich.«

»Hatte sie Schwierigkeiten mit Jungs?«, fragte Lara.

Als Megan den Kopf schüttelte, tanzten die braunen Locken um ihr Gesicht. »Die Leute nehmen immer an, dass Vanessa sich andauernd verabredet, aber das stimmt nicht. Sie... sie ist irgendwie wählerisch. Sie will sich für den Richtigen aufsparen.«

»Verstehe.« Die Vermisste klang nicht wie der Typ, der wegen einer Affäre davonrannte. Lara wendete sich an LaToya. »Hat man ihre Familie verständigt?«

»Ja«, sagte LaToya. »Sie haben keine Ahnung, wo sie sein könnte. Sie sagen, sie ist früher noch nie einfach so davongelaufen.«

»Und der Exfreund?«, fragte Lara weiter.

»Hat ein Alibi. Und ist glücklich verlobt mit einer anderen. Der war eine Sackgasse.«

Lara konzentrierte sich wieder auf Megan. »Sie haben keine Ahnung, wo Vanessa sein könnte?«

»Keine.« Megan schaufelte sich weiter Süßigkeiten in den Mund. Sie nahm noch mehr M&Ms in die Hand.

»Sind Sie letzte Nacht mit Vanessa irgendwo gewesen?«, fragte Lara.

Megans Hand erschlaffte, und die M&Ms fielen mit einem prasselnden Geräusch zurück in die Schüssel. Ihr Gesicht wurde leer. »Wir waren in unserem Zimmer und haben gelernt.«

Ein kalter Schauer kroch Laras Arme hoch. Megans Gesicht war ausdruckslos, genau wie Harveys es gewesen war. Die Sanitäter und die Trents hatten auch so ausgesehen. Lieber Gott, nein. Lass Jack nichts mit der Sache zu tun haben.

»Ich hab dir doch gesagt, es ist merkwürdig«, flüsterte LaToya.

Lara räusperte sich. »Megan, das war Samstagabend. Sie sind doch sicherlich irgendwo hingegangen? Vielleicht etwas essen?«

»Wir waren in unserem Zimmer und haben gelernt«, wiederholte Megan.

»Und Vanessa ist auch nicht ausgegangen?«

»Wir waren in unserem Zimmer und haben gelernt.« Der Satz klang wie einstudiert.

»Ich verstehe.« Lara stand auf und steckte das Foto von Vanessa in ihre Jeanstasche. »Danke, dass Sie sich die Zeit genommen haben.«

Megan blinzelte und sah überrascht aus. »Sie gehen schon?«

»Ja. Wir bleiben in Kontakt.« Lara ging zur Tür.

»Okay.« Megans Augen waren wieder ganz lebendig. »Ich hoffe, Vanessa geht es gut. Sie... sie ist echt nett zu mir, wissen Sie. Sie hat mir gezeigt, wie man sich richtig schminkt.«

Als die beiden Frauen den Gang vor den Schlafsälen hinuntergingen, fragte LaToya: »Verstehst du, was ich mit merkwürdig meine? Megan hat sich ganz normal verhalten, und dann auf einmal hat sie sich in eine sprechende Puppe verwandelt.«

»Ich weiß«, gestand Lara, »es sah aus, als wäre sie programmiert worden.«

»Und wir kennen nur eine Person, die zu so etwas in der Lage ist.«

Das konnte einfach nicht sein. Nicht Jack, bitte. »Es könnte noch andere mit dieser Fähigkeit geben.« Hatte er nicht etwas darüber gesagt, dass er andere beschützen musste? Andere, die wie er sein könnten? Aber wenn seine Freunde dazu fähig waren, jemanden zu entführen, was sagte das dann über Jack aus?

LaToya klopfte an Tür 124. »Vanessas Freunde leben hier. Carmen und Ramya.«

Auch mit diesen beiden Mädchen unterhielt Lara sich. Sie waren beide hübsche Brünette. Carmen sah hispanisch aus, und Ramya stammte aus Indien. Sie machten sich offensichtlich Sorgen um Vanessa und wollten helfen, so gut sie konnten. Bis Lara sie fragte, ob sie am Abend zuvor ausgegangen waren.

Ihre Gesichter wurden leer, und ihre Augen verschlossen sich. »Wir waren in unserem Zimmer und haben gelernt«, antworteten sie im Chor.

Eine Gänsehaut ließ Lara erzittern. »Danke.« Als die Tür sich hinter ihnen schloss, wendete sie sich an LaToya. »Sag es nicht. Es kann nicht Jack sein.«

Kommentarlos verzog LaToya das Gesicht und ging auf die Treppe zu. »Da ist noch jemand, den du treffen solltest.«

Lara folgte ihr hinauf in den ersten Stock. »Alle drei Mädchen wurden programmiert, das Gleiche zu sagen. Sie müssen alle zusammen ausgegangen sein. Aber warum wurde Vanessa entführt und die anderen Mädchen zurückgeschickt?«

»Vielleicht kann der Verdächtige nur mit einer Person zurzeit fertig werden.« LaToya wendete sich nach rechts und ging den Gang hinab.

»Das glaube ich nicht. Mit Gedankenkontrolle könnte er einen ganzen Raum voller Frauen manipulieren. Dazu bräuchte er noch nicht einmal Fesseln. Sie würden ihm einfach folgen, wie Schafe.«

»Ja, das stimmt natürlich.« LaToya klopfte an einer Tür. »Das hier ist das Zimmer von Roxanne.«

Ein Mädchen mit gefärbten schwarzen Haaren, dickem schwarzem Eyeliner und einem Ring in der Lippe öffnete die Tür. »Ja, was gibt's?«

»Ich sag dir, was«, sagte LaToya. »Megan, Carmen und Ramya sagen alle, dass sie gestern Nacht in ihren Zimmern waren und gelernt haben.«

»Na gut, für Carmen und Ramya kann ich keinen Eid leisten. In deren Zimmer bin ich nicht gewesen. Aber ich weiß, dass Vanessa ausgegangen ist, also müssen die anderen Mädchen bei ihr gewesen sein. Sie folgen ihr überall hin wie Schoßhündchen. Es ist echt armselig.«

»Woher wissen Sie, dass Vanessa ausgegangen ist?«, fragte Lara.

Roxanne verdrehte die Augen. »Okay, also ich hatte wirklich schlimme Menstruationskrämpfe, klar, und Vanessa - die ist die reinste Apotheke da unten. Also bin ich in ihr Zimmer gegangen, um ein Schmerzmittel abzustauben, und niemand ist an die Tür gegangen. Es war abgeschlossen, aber ich war wirklich verzweifelt, okay? Also habe ich das Schloss geknackt und bin reingegangen.«

»Was haben Sie gesehen?«, wollte Lara wissen.

»Eine Schachtel Midol in der oberen Schublade ihrer Kommode, also habe ich zwei Tabletten genommen. Ich habe ihr fünfzig Cent dagelassen. Ich bin keine Diebin, wissen Sie«. Besorgt blickte sie zu LaToya. »Ihr verhaftet mich jetzt doch nicht, oder?«

»Keine Sorge«, versicherte Lara ihr, »aber Sie sagen, das Zimmer ist leer gewesen? Vanessa war nicht da?«

»Logisch. Vanessa und ihr dicker Schoßhund waren weg.«

»Irgendeine Ahnung, wo sie hingegangen sein könnten?«

Genervt schüttelte Roxanne den Kopf. »Ich weiß nicht. Vielleicht waren sie beim Shopping oder bei der Maniküre.

Sie dreht echt durch, wenn ihre Nägel nicht perfekt sind. Oder ihre Haare. Sie hat ungefähr fünfzig verschiedene Taschen für ihre Bücher, damit sie immer zu dem passen, was sie am Tag gerade anhat.«

LaToya kniff die Augen zusammen. »Du magst sie nicht sonderlich, was?«

»Oh, ausgezeichnete Arbeit, Nancy Drew. Aber wenn Sie meinen, ich würde irgendetwas tun, um Vanessa zu schaden, sind Sie nicht ganz dicht. Sie hat mir dieses Semester dreihundert Dollar gezahlt, damit ich ihre Hausarbeiten schreibe. Ich brauche sie.« Roxanne verzog das Gesicht. »Und die ganze Sache ist irgendwie total gruselig. Das Gleiche ist letztes Jahr mit Brittney Beckford passiert. Sie ist verschwunden, und die Cops konnten sie nie finden.«

Lara wechselte einen besorgten Blick mit LaToya. Brittney galt als vermisst, noch ehe sie beide nach New York gekommen waren. Wie lange war Jack schon in New York? »Können Sie Brittney beschreiben?«

»Typisch verwöhnte, reiche Zicke«, grollte Roxanne.

»Geht's noch ein bisschen genauer?« LaToya nahm ihr Notizbuch und ihren Stift zur Hand.

Roxanne seufzte. »Lange Haare, rotblond gebleicht. Solariumbraun. Blaue Augen nur mit Kontaktlinsen. Collagengespritzte Lippen. Falsche Freunde, die sie schon vergessen haben. Das einzig echte an Brittney war ihr niedriger IQ.«

»Danke. Du hast uns sehr geholfen.« LaToya steckte ihr Notizbuch zurück in die Tasche und machte sich auf den Weg zurück zur Treppe.

»Faschos«, murmelte Roxanne, als sie die Tür hinter ihnen schloss.

Schweigend gingen Lara und LaToya die Treppe hinab und machten sich dann langsam auf den Weg den Korridor hinunter zum Eingang der Schlafsäle.

»Vanessa scheint sich viele Gedanken um ihr Aussehen zu machen«, grübelte Lara laut.

»Sie und eine Million anderer Mädchen«, murmelte LaToya.

»Ja, es klingt, als hätten sie und Brittney eine Menge gemeinsam.« Zwei verschwundene Mädchen mit rotem oder rotblondem Haar und blauen Augen. Lara blieb vor dem schwarzen Brett stehen. Ein rosafarbener Zettel interessierte sie. »Sieh dir das an«. Sie riss ihn ab.

LaToya las laut vor. »Willst du auf ewig jung und schön bleiben? Gratis-Seminar. Raum 4, Verwaltungsgebäude. Samstag, 21 Uhr.«

»Das wäre genau die Art Seminar, zu der Vanessa gehen würde.« Lara betrachtete den Zettel eingehend. »Sehen wir es uns an.«

Sie fanden den Raum, in dem das Treffen stattgefunden hatte, aber er war bis auf ein paar Plastikstühle und eine Tafel leer. Sie sprachen mit dem Gebäudemanager, und er sah in seinen Terminplan.

»Raum 4?« Sein Gesicht wurde merkwürdig leer. »In dem Raum ist Samstagabend niemand gewesen.«

Wer auch immer das Seminar geleitet hatte, er hatte seine Spuren verwischt. Genau wie Jack alle Anzeichen für ihn und seine Freunde im Plaza verwischt hatte. Verdammt! Sie wollte so gern an Jack glauben. Sie wollte ihm vertrauen.

Ihre Eingeweide rebellierten besorgniserregend, als sie gemeinsam über den Campus gingen. Sie konnte nicht glauben, dass er mit der Sache zu tun hatte. Es musste noch jemanden mit seinen Fähigkeiten geben. »Ich muss mit Jack sprechen.«

»Hast du ein Glück«. LaToya zog ihr Notizbuch hervor und blätterte durch die Seiten. »Ich habe seine Adresse genau hier. Der Lexus, den er gefahren hat, ist auf einen gewissen Roi11311 Draganesti registriert. Upper East Side.«

»Dann gehen wir gleich hin« Laras Herz zog sich in ihrer Brust zusammen. Sie wollte Jack so gern wiedersehen. Aber jetzt musste sie ihn als Verdächtigen befragen.

»Was hast du in unserer Wohnung über Jack herausgefunden?«' fragte LaToya. »Du hast gar nichts davon erzählt.«

Sie hatte nicht über den Kuss sprechen wollen. Er war zu fantastisch gewesen, um ihn mit Klatsch herunterzuspielen. Eine Vision tauchte vor ihren Augen auf - Jack, in seinen Jeans ohne Hemd. Seine breite Brust und seine starken Schultern. Seine warmen braunen Augen, in denen Gold schimmerte. Und die rot leuchteten, wenn er erregt war.

Sie schluckte. »Ich bin mir nicht sicher, was er ist.«

»Es sieht schlecht für ihn aus«, sagte LaToya kopfschüttelnd.

»Ich weiß.« Lara wurde übel. Bitte, Gott. Lass Jack keinen Entführer sein. Und keinen Mörder.