Aufwachen aus einem Traum

Vor einigen Jahren wurde mein damals vierjähriger Sohn kurz vor Weihnachten ins Krankenhaus eingeliefert. Er hatte am rechten Auge einen Infekt, eine periorbitale Zellulitis – das Augenlid war gerötet und zugeschwollen. Die Ärzte fürchteten, die Entzündung könnte auf den Sehnerv und von da aus auf das Gehirn übergreifen, weshalb man meinem Sohn intravenös Penizillin verabreichte und ihn rund um die Uhr beobachtete. Sieben Tage blieben meine Frau und ich bei ihm und passten uns dem Leben auf einer Kinderstation an, der Zwölf-Stunden-Schicht der Krankenschwestern, der morgendlichen Ärztevisite und der regelmäßigen Medikamentenvergabe an unseren Sohn. Die schneegedämpften Straßen draußen verstärkten noch den Eindruck der Isolation.

Als mein Sohn den ersten Abend wieder daheim war, weigerte er sich, die Antibiotika zu nehmen. Abwechselnd flehten meine Frau und ich, redeten mit tränenerstickter Stimme oder wütend auf ihn ein, doch es nützte gar nichts. Schließlich erzählte ich ihm eine Geschichte über die Zeit, in der man mir die Mandeln herausnehmen wollte und ich vor den zwei Krankenschwestern davongerannt war, die mich in den OP bringen wollten. »Ich mochte einfach nicht«, sagte ich. Mein Sohn überlegte und erklärte sich nach wenigen Augenblicken bereit, seine Medizin zu nehmen. Als zur Schlafenszeit die Gutenachtgeschichte gelesen und das Licht ausgemacht worden war, bat er mich, ihm noch einmal von dem Tag zu erzählen, an dem ich vor den Schwestern fortgelaufen war.

In jener Nacht schreckte ich aus einem Traum auf, der sich mit dem Erwachen bereits aufzulösen begann. Es blieb ein Bild von mir, wie ich die Hand ausstreckte und versuchte, eine kleine, grasgrüne Eidechse zu fangen, die in einen dunklen Schlitz zwischen zwei Felsen huschte und in die Erde verschwand. Der Traum fühlte sich wie eine Erinnerung an – er war von der Farbe alter Fotografien, war vielleicht etwas, das ich als Junge tatsächlich erlebt hatte. Ich nahm an, er hatte mit der Erkrankung meines Sohnes zu tun, nur was? Und dann fiel mir noch ein Detail ein, die vier Buchstaben: S, I, D, A.

Ich blieb einen Moment im Dunkeln liegen und haschte nach dem Traum, konnte mich aber an nichts weiter erinnern. Frustriert stieg ich aus dem Bett, ging in die Küche, drehte den Hahn auf und ließ mir ein Glas Wasser einlaufen. Die grünen Ziffern der Digitaluhr über dem Herd standen auf 01.25. Ich nahm das Glas und ging nach oben ins Wohnzimmer. Dort blieb ich in der Stille sitzen, die nur gelegentlich von einem Nachtbus unterbrochen wurde, dessen Fahrer auf dem Hügel um die Ecke vom Haus den Gang wechselte.

Als Psychoanalytiker missfällt es mir, wenn ich mich an einen Traum nicht erinnern kann. Das ist natürlich ganz irrational, aber wenn ich mich an einen Traum nicht erinnern kann, finde ich das ein bisschen peinlich, und ein wenig komme ich mir dann wie ein Scharlatan vor. »Austeilen kannst du, einstecken aber nicht«, habe ich mir bei mehr als einer Gelegenheit gesagt. In jener Nacht tat ich, was Analytiker ihren Patienten raten, wenn sie versuchen wollen, sich an die Einzelheiten eines Traums zu erinnern: Ich assoziierte frei, ließ jeden Gedanken zu, der aufkam, wie unlogisch oder peinlich er auch sein mochte.

Mein erster Gedanke: ein spanisches Gedicht. Von Pedro Salinas? Ich wusste, die Worte stimmten nicht genau, aber ich erinnerte mich an Folgendes: »Ich vergaß deinen Namen; seine Buchstaben verwirbeln jetzt unverbunden, einander nicht bekannt/Gruppieren sich zur Reklame auf Bussen, tauchen in Briefköpfen auf, um andere Namen zu bilden/Du bist da irgendwo, jedoch zerstückelt, zerlegt, unmöglich.«

Mit einem Mal wusste ich auch, was die vier Buchstaben bedeuteten: SIDA ist Spanisch für AIDS, zudem sind es dieselben Buchstaben, nur anders angeordnet – verwirbelt wie die Buchstaben im Gedicht.

Mir fiel ein junger Mann ein, der Jahre zuvor zu zwei Gesprächen gekommen war. Sein Hausarzt hatte ihn an mich überwiesen, da er HIV-positiv war und eine Lungenentzündung hatte, gegen die er sich nicht behandeln lassen wollte. Ob ich ihn vielleicht überzeugen könnte, auf seinen Arzt oder seine Eltern zu hören?

Während unserer ersten Begegnung erzählte mir der junge Mann, dass er in Cornwall geboren und aufgewachsen war, in einem kleinen Dorf auf Lizard. »Lizard, englisch für Eidechse, heißt die südlichste Spitze Großbritanniens, eine Halbinsel; übrigens wurde von einem Acker neben dem Haus meiner Eltern zum ersten Mal die Spanische Armada gesichtet«, erzählte er. Wir redeten über seine Krankheit, doch beunruhigte mich, dass er sich um sich selbst kaum Sorgen zu machen schien. Ich gab mir Mühe, zu ihm durchzudringen. Wir redeten über seine Angst vor dem Sterben, und ich deutete an, dass er sich vor dieser Angst schützte, indem er leugnete, krank zu sein, weshalb er sich auch nicht behandeln lassen wollte. Als er ging, war er keineswegs überzeugt, Hilfe zu brauchen, versprach aber, sich am nächsten Tag zu einem weiteren Gespräch mit mir zu treffen.

Er kam zu spät. Als er eintraf, sagte er, er hätte eingesehen, dass ich recht habe, er müsse besser für sich sorgen. Doch statt sich auf die Behandlung einzulassen, hatte er beschlossen, Urlaub zu machen. Der Flug nach Rio zum Mardi Gras war bereits gebucht – warum nicht gleich aufbrechen?

Im darauffolgenden Herbst hörte ich von seinem Arzt, dass er gestorben war, allerdings nicht an Lungenentzündung, sondern an Ruhr.

Draußen fuhr ein weiterer Bus vorbei. Diese beiden Konsultationen, die mir gar nicht so lang zurückzuliegen schienen, mussten vor über zwanzig Jahren stattgefunden haben. Der junge Mann war kaum sechsundzwanzig Jahre alt, als er starb. Die Eltern lebten vermutlich noch. Ich stellte mir ihr Haus am Meer vor, der Acker nebenan schneebedeckt, und sah sie, wie sie Präsente auspackten, Radio hörten und sich an ihren hübschen Jungen im Flanellpyjama erinnerten, der sich am Weihnachtsmorgen über seine Geschenke freute.

Ich wünschte mir, ich hätte ihn überreden können, die Medizin zu nehmen, ins Krankenhaus zu gehen und sich von den Ärzten behandeln zu lassen. Doch wie die Eidechse in meinem Traum hatte er sich meiner Hand, meinem Zugriff entzogen.

Die Worte, mit denen ich ihn zum Bleiben überreden konnte, hatte ich damals nicht gefunden und würde sie heute vielleicht auch nicht finden. Als ich aufblickte, sah ich mein Spiegelbild im großen dunklen Fenster. Wieder überkam mich die Hilflosigkeit vom Abend zuvor – diese kurze Machtlosigkeit, als mein Sohn sich weigerte, die Medizin zu nehmen, und dann die Angst, er könnte ebenfalls in die Erde verschwinden.

Heute sind so viele Patienten, die ich in jüngeren Jahren behandelt habe, fort oder tot; doch manchmal, wenn ich aus einem Traum aufwache, ertappe ich mich dabei, wie ich die Hand nach ihnen ausstrecke und ihnen noch etwas sagen möchte.

Die Frau, die nicht lieben wollte und andere wahre Geschichten über das Unbewusste
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