Wie Paranoia Leid lindern und eine Katastrophe verhindern kann

Amanda P., eine achtundzwanzigjährige, alleinstehende Frau, kehrt von einer Amerika-Geschäftsreise zurück nach London. Sie war zehn Tage in New York gewesen. Sie lebt allein. Sie stellt die Aktentasche vor der Tür ab, und als sie aufschließen will, kommt ihr ein Gedanke. »Ich hatte diese Phantasie, sah sie wie einen Film ablaufen: Das Umdrehen des Schlüssels aktiviert eine Art Zünder, und die ganze Wohnung explodiert; die Tür fliegt aus den Angeln auf mich zu und tötet mich auf der Stelle. Ich malte mir aus, dass ein Terrorist in meiner Wohnung gewesen war und eine Bombe angebracht hatte, um mich umzubringen. Warum sollte ich so verrückte Vorstellungen haben?«

Oder nehmen wir zum Beispiel folgende flüchtige, paranoide Phantasien: Eine Frau geht die Straße entlang und lächelt vor sich hin; Simon A., ein attraktiver, gutangezogener Architekt, ist überzeugt, dass sie über seine Kleider schmunzelt. Oder da ist Lara G. – ihr Boss hat sie gebeten, am Ende des Tages noch in sein Büro zu kommen. Da sie seit Wochen nicht miteinander geredet haben, ist Lara davon überzeugt, dass er sie feuern wird. Sie ist sprachlos, als er ihr stattdessen eine Beförderung und eine Gehaltserhöhung anbietet. Dann ist da George N., der beim Duschen manchmal fürchtet, der Vorhang könnte zurückgezogen und er könnte wie in Hitchcocks Psycho ermordet werden. »Mein Herz rast«, erzählt George. »Und einen Moment lang habe ich diese panische Angst, dass ich nicht allein in meiner Wohnung bin – dass jemand gekommen ist, um mich zu ermorden.«

Die meisten Menschen, wenn nicht gar alle, haben dann und wann solch irrationale Phantasien, doch reden wir nur selten darüber – auch nicht mit dem Ehepartner oder mit engen Freunden. Wir finden es schwer, fast unmöglich, sie zu beschreiben, und wir wissen nicht, was sie bedeuten oder was sie über uns aussagen. Deuten sie an, dass wir kurz vor einem Nervenzusammenbruch stehen? Sind wir zeitweilig verrückt? Es gibt diverse psychologische Theorien darüber, warum paranoide Phantasien zum normalen mentalen Leben gehören. Eine Theorie besagt, Paranoia erlaube uns, aggressive Gefühle auszuleben. Wut wird unbewusst projiziert: »Ich will ihm nicht weh tun; er will mir weh tun.« Laut einer anderen Theorie gestattet uns Paranoia, ungewollte sexuelle Gefühle zu verleugnen: »Ich liebe ihn nicht, ich hasse ihn, und er hasst mich.« Beide Theorien mögen zutreffen, doch scheinen sie mir nicht ganz zu genügen.

Jeder kann paranoid werden – soll heißen, wir können uns auf irrationale Weise einbilden, dass man uns betrügt, auslacht, ausnutzt oder in Gefahr bringt –, allerdings ist Paranoia wahrscheinlicher, wenn wir unsicher sind, einsam und allein. Vor allem aber sind paranoide Phantasien eine Reaktion auf das Gefühl, mit Gleichgültigkeit behandelt zu werden.

Anders ausgedrückt: Paranoide Phantasien verstören, sind aber ein Schutz. Sie schützen uns vor einem noch verheerenderen Gefühlszustand – insbesondere dem Gefühl, dass sich niemand für uns interessiert, dass sich niemand um uns kümmert. Der Gedanke »so-und-so hat mich betrogen« schützt vor dem schmerzlicheren Gedanken »niemand denkt an mich«. Und das ist der Grund, warum Soldaten gemeinhin an Paranoia leiden.

Während des Ersten Weltkrieges waren die britischen Soldaten in den Schützengräben davon überzeugt, dass die französischen Bauern, die wie gewohnt ihre Felder pflügten, der deutschen Artillerie insgeheim Signale schickten. In The Great War and Modern Memory dokumentiert Paul Fussell die unter Soldaten verbreitete Überzeugung, dass die Bauern deutsches Geschützfeuer auf englische Stellungen lenkten. Fussell schreibt: »In beiden Kriegen wurde weithin angenommen, wenn auch meines Wissens nie bewiesen, dass Franzosen, Belgier oder die Bewohner des Elsass, die gleich hinter der Front lebten, der fernen deutschen Artillerie auf unglaublich kompliziertem und ausgefuchstem, doch präzisem Wege Signale sandten.« Die Truppen entdeckten beängstigende Codes in den zufälligen Umdrehungen einer Windmühle, im Anblick eines Mannes, der zwei Kühe auf eine Weide führte oder in der Art und Weise, wie eine Bäuerin die Wäsche zum Trocknen auf die Leine hängte. Es ist weniger schmerzhaft, sich verraten als sich vergessen zu fühlen.

Im Alter sinkt die Wahrscheinlichkeit, an einer ernsten psychologischen Störung zu erkranken, doch die Wahrscheinlichkeit einer Paranoia steigt. Im Krankenhaus habe ich oft gehört, wie ältere Männer und Frauen klagten: »Die Krankenschwestern hier wollen mich vergiften.« »Ich habe meine Brille nicht verlegt; bestimmt hat sie meine Tochter gestohlen.« »Sie werden es mir nicht glauben, aber ich kann Ihnen versichern: Mein Zimmer ist verwanzt, und meine Post wird gelesen.« »Bitte, bringen Sie mich nach Hause, ich bin hier nicht mehr sicher.« Natürlich werden die Alten manchmal schlecht behandelt, von Familienmitgliedern schikaniert und vom Pflegepersonal misshandelt, weshalb man ihnen aufmerksam zuhören muss, wenn sie von ihren Ängsten erzählen. Nur fühlen sich die Alten im Angesicht des Todes allzu häufig einfach vergessen, genau wie die Soldaten in den Schützengräben. Frauen und Männer, früher attraktiv und wichtig, werden immer öfter gar nicht wahrgenommen. Meiner Erfahrung nach sind diese paranoiden Phantasien oft eine Reaktion auf die Missachtung der Welt. Der Paranoiker weiß wenigstens, dass jemand an ihn denkt.

Ich bat Amanda P., mir mehr über ihre Rückkehr aus New York zu erzählen. »Ich liebe meine Wohnung«, sagte sie, »aber die Ankunft nach einer Reise gehört zu jenen Augenblicken, in denen ich es wirklich hasse, alleinstehend zu sein. Ich öffne die Tür, und auf der Fußmatte liegt die Post der letzten zehn Tage, der Kühlschrank ist leer, das Haus kalt. Niemand hat gekocht, also riecht es irgendwie verlassen – einfach deprimierend.« Sie hielt inne. »Wenn ich als Kind von der Schule heimkam, war es ganz anders. Meine Mum oder das Kindermädchen – oder beide – waren da und machten mir etwas zu essen. Irgendwer hat immer auf mich gewartet.«

Beim Reden wurde deutlich, dass Amanda P.s flüchtige paranoide Phantasie – den Schlüssel umdrehen und von einem Terroristen in die Luft gejagt werden – keineswegs so verrückt war, wie sie befürchtet hatte. Einen Moment lang machte ihr diese Phantasie Angst, doch die Angst bewahrte sie letztlich vor dem Gefühl der Einsamkeit. Der Gedanke »jemand will mich umbringen« bedeutete, dass sie gehasst wurde – und nicht vergessen war. Sie existierte immerhin in den Gedanken des Terroristen. Ihre Paranoia schützte sie vor der Katastrophe der Gleichgültigkeit.

Die Frau, die nicht lieben wollte und andere wahre Geschichten über das Unbewusste
titlepage.xhtml
CR!63PT0N8K7D2J99VDB8KEN6ARBNPE_split_000.html
CR!63PT0N8K7D2J99VDB8KEN6ARBNPE_split_001.html
CR!63PT0N8K7D2J99VDB8KEN6ARBNPE_split_002.html
CR!63PT0N8K7D2J99VDB8KEN6ARBNPE_split_003.html
CR!63PT0N8K7D2J99VDB8KEN6ARBNPE_split_004.html
CR!63PT0N8K7D2J99VDB8KEN6ARBNPE_split_005.html
CR!63PT0N8K7D2J99VDB8KEN6ARBNPE_split_006.html
CR!63PT0N8K7D2J99VDB8KEN6ARBNPE_split_007.html
CR!63PT0N8K7D2J99VDB8KEN6ARBNPE_split_008.html
CR!63PT0N8K7D2J99VDB8KEN6ARBNPE_split_009.html
CR!63PT0N8K7D2J99VDB8KEN6ARBNPE_split_010.html
CR!63PT0N8K7D2J99VDB8KEN6ARBNPE_split_011.html
CR!63PT0N8K7D2J99VDB8KEN6ARBNPE_split_012.html
CR!63PT0N8K7D2J99VDB8KEN6ARBNPE_split_013.html
CR!63PT0N8K7D2J99VDB8KEN6ARBNPE_split_014.html
CR!63PT0N8K7D2J99VDB8KEN6ARBNPE_split_015.html
CR!63PT0N8K7D2J99VDB8KEN6ARBNPE_split_016.html
CR!63PT0N8K7D2J99VDB8KEN6ARBNPE_split_017.html
CR!63PT0N8K7D2J99VDB8KEN6ARBNPE_split_018.html
CR!63PT0N8K7D2J99VDB8KEN6ARBNPE_split_019.html
CR!63PT0N8K7D2J99VDB8KEN6ARBNPE_split_020.html
CR!63PT0N8K7D2J99VDB8KEN6ARBNPE_split_021.html
CR!63PT0N8K7D2J99VDB8KEN6ARBNPE_split_022.html
CR!63PT0N8K7D2J99VDB8KEN6ARBNPE_split_023.html
CR!63PT0N8K7D2J99VDB8KEN6ARBNPE_split_024.html
CR!63PT0N8K7D2J99VDB8KEN6ARBNPE_split_025.html
CR!63PT0N8K7D2J99VDB8KEN6ARBNPE_split_026.html
CR!63PT0N8K7D2J99VDB8KEN6ARBNPE_split_027.html
CR!63PT0N8K7D2J99VDB8KEN6ARBNPE_split_028.html
CR!63PT0N8K7D2J99VDB8KEN6ARBNPE_split_029.html
CR!63PT0N8K7D2J99VDB8KEN6ARBNPE_split_030.html
CR!63PT0N8K7D2J99VDB8KEN6ARBNPE_split_031.html
CR!63PT0N8K7D2J99VDB8KEN6ARBNPE_split_032.html
CR!63PT0N8K7D2J99VDB8KEN6ARBNPE_split_033.html
CR!63PT0N8K7D2J99VDB8KEN6ARBNPE_split_034.html
CR!63PT0N8K7D2J99VDB8KEN6ARBNPE_split_035.html
CR!63PT0N8K7D2J99VDB8KEN6ARBNPE_split_036.html
CR!63PT0N8K7D2J99VDB8KEN6ARBNPE_split_037.html
CR!63PT0N8K7D2J99VDB8KEN6ARBNPE_split_038.html
CR!63PT0N8K7D2J99VDB8KEN6ARBNPE_split_039.html
CR!63PT0N8K7D2J99VDB8KEN6ARBNPE_split_040.html
CR!63PT0N8K7D2J99VDB8KEN6ARBNPE_split_041.html
CR!63PT0N8K7D2J99VDB8KEN6ARBNPE_split_042.html
CR!63PT0N8K7D2J99VDB8KEN6ARBNPE_split_043.html
CR!63PT0N8K7D2J99VDB8KEN6ARBNPE_split_044.html
CR!63PT0N8K7D2J99VDB8KEN6ARBNPE_split_045.html