Übers Nicht-wissen-wollen

Ich vermutete schon lang, dass der Mann meiner Patientin eine Affäre hatte, wusste es natürlich aber nicht mit Gewissheit.

Einige Jahre nach meiner Abschlussprüfung, ich war damals neununddreißig, nahm ich eine Patientin an, die ich Francesca L. nennen will. Sie kam auf Empfehlung ihres Hausarztes und litt an einer postpartalen Depression. Im Verlaufe des ersten Jahres ihrer Psychoanalyse legte sich die Depression nach und nach, doch Unstimmigkeiten mit ihrem Mann – vermutlich aufgrund ihrer Unfähigkeit, sich als Paar zu begreifen – führten dazu, dass sie sich unglücklich und ruhelos fühlte.

Ich kann nur wissen, was mir meine Patienten erzählen, trotzdem wurde ich während dieser ersten beiden Analysejahre das Gefühl nicht los, dass Francescas Mann ihr untreu war. Bereits während seiner ersten Ehe hatte Henry zahlreiche Affären gehabt und seine Frau sowie den zehnjährigen Sohn verlassen, um Francesca zu heiraten. Außerdem gab es da eine Reihe kleiner, scheinbar unbedeutender Details, die bei mir die Alarmglocken schrillen ließen. Henry ging jeden Abend nach der Arbeit zum Schwimmen in den Fitnessclub, nur war er bei zwei Gelegenheiten nicht dort, als Francesca ihn dort treffen wollte. Und dann die Anrufe – Anrufe zu merkwürdigen Zeiten, dringende Anrufe, die in einem anderen Zimmer entgegengenommen werden mussten, Anrufe, die bewirkten, dass Henry alles stehen und liegen ließ und für zwei, drei Stunden verschwand.

In einer unserer Sitzungen beschrieb Francesca einmal recht naiv, wie sie in Henrys Büro angerufen hatte. Ein Kollege nahm den Anruf entgegen. »Er legte die Hand über die Sprechmuschel, aber ich hörte ihn trotzdem rufen: ›Hey, Stecher, ist für dich.‹«

Ich wartete, und als Francesca nicht weiterredete, fragte ich sie, was das für sie bedeutete.

»Nichts – ich fand es nur lustig. Typisch Jungs«, sagte sie.

Ich schwieg.

»Vielleicht war es sogar ein Kompliment.«

»Sind Sie denn nicht neugierig darauf, warum die Kollegen Ihren Mann einen ›Stecher‹ nennen?«

»Nein, nicht besonders. Die reden doch alle so.«

Aufgrund der Geschichten, die Francesca mir erzählte, machte ich mir immer größere Sorgen. Sitzung um Sitzung verzweifelte ich zunehmend an ihrem Mangel an Neugier. Ich konnte nicht glauben, dass sie gar nicht nachsehen wollte, ob Henry die Schwimmsachen überhaupt benutzt hatte, dass sie nicht nach ungewöhnlichen Quittungen in seiner Brieftasche suchte. Sie war nicht bloß passiv; sie schien sich größte Mühe zu geben, möglichst unwissend zu bleiben. Ich versuchte auf diverse Weise, das Thema zur Sprache zu bringen, war mir aber nicht sicher, wie weit ich ihr zusetzen durfte.

In manchen Nächten fiel mir das Schlafen schwer. Ich wachte auf, trank ein Glas Wasser, ging wieder zu Bett, lag wach und schlief erst wenige Stunden vor Tagesanbruch erneut ein. Ich war wütend wegen eines Vorfalls in meinem eigenen Leben – was dazu führte, dass es Momente gab, in denen ich glaubte, die eigenen Probleme überlagerten Francescas Analyse. Kurz vor Beginn ihrer Therapie machte ich mit einer Freundin eine schwierige Zeit durch. Es gab seltsame Anrufe – mehr als einmal ging ich an den Apparat, und der Anrufer legte auf. Als ich übers Wochenende auf einer Psychoanalytiker-Konferenz in Kopenhagen war, rief ich am Samstag spätabends an, aber meine Freundin nahm nicht ab. Als ich nach Hause kam, sagte sie, sie hätte sich am Samstagmorgen unwohl gefühlt, das Telefon ausgeschaltet und vergessen, es wieder anzustellen. »Tut mir leid«, sagte sie, »mir ist es erst am Sonntag eingefallen.« Einen Monat später trennten wir uns, und ich zog aus – erst als ich meine Sachen wieder auspackte und in den Schrank hängte, fiel mir ein Männerhemd auf, das mir gar nicht gehörte. Im Bett dachte ich dann daran, wie ich betrogen worden war und konnte nicht schlafen.

Einige Wochen nach unserem Gespräch über den Spitznamen »Stecher« hörte Francesca ihr Handy klingeln – eine SMS. Sie nahm das Gerät vom Küchentisch und las: xxx. Es war ganz untypisch für Henry, ihr einen Kuss zu schicken, geschweige denn gleich drei. Erst später fiel ihr auf, dass es gar nicht ihr Handy war – sie und Henry hatten identische Apparate – es war seins. Wer, fragte sie sich, schickte ihm Küsse? Er sagte, bestimmt handle es sich um ein Versehen oder einer der Jungs aus dem Büro habe sich einen Scherz erlaubt – er kenne die Nummer des Anrufers nicht.

»Haben Sie sich die anderen Textnachrichten angesehen? Oder die Anruferliste?«, fragte ich.

»Nein, ich dachte, ich hätte getan, was ich Ihrer Meinung nach tun sollte – ich habe ihn gefragt, was es damit auf sich hat, und er hat es mir erklärt«, sagte sie. »Ich hoffte, Sie wären zufrieden.«

Mir wurde das Herz schwer. Es wurde immer deutlicher, dass Francesca sich gedrängt fühlte, mir Geschichten zu erzählen, die mich glauben ließen, Henry sei ihr untreu, doch wenn ich darüber reden wollte, dass Henry eine Affäre haben könnte, mauerte sie plötzlich. Das ergab keinen Sinn, und doch schien Francesca mit diesen Unstimmigkeiten so zufrieden zu sein, dass ich annahm, sie müssten auf einer tieferen Ebene für sie Sinn ergeben – nur welchen?

Einige Monate lang kamen wir immer wieder auf dieses Problem zurück. Natürlich fragte ich mich, ob mich meine Überidentifikation mit Francesca veranlasste, ihre Situation falsch einzuschätzen, indem ich den mir selbst widerfahrenen Betrug in ihre Ehe hineindeutete – nur ergab das keinen Sinn. Schließlich erfand Francesca ja Henrys Verhalten nicht. Sollte ich gleichsam stellvertretend ihre Sorgen tragen? Wollte sie, dass ich in ihr ein Opfer sah, die arme Leidtragende? – doch aus welchem Grund? Wir gingen näher auf die Beziehung zu ihren Eltern ein, die mir stets ein gewisses Rätsel geblieben war. Ich fand, sie wirkten höflich und distanziert. Der Vater arbeitete beinahe pausenlos in seinem kleinen Bilderrahmengeschäft. Außerdem fiel mir auf, dass die Eltern zwar in der Nähe wohnten, die Mutter ihre Tochter aber nur selten besuchte. Sie legte auch kein besonderes Interesse für ihre Enkelin Lottie an den Tag.

Als ihre Mutter sie allein zu einem Mittagessen einlud, rechnete Francesca folglich damit, dass sie ihr etwas Wichtiges mitzuteilen hatte – Geldsorgen? Krebs? Stattdessen bekannte sie, dass Francescas Vater über dreißig Jahre lang eine Affäre mit seiner Geschäftspartnerin June gehabt hatte. Die Eltern versuchten nun, zu retten, was noch zu retten war. Ihr Vater verkaufte seinen Anteil am Geschäft; außerdem lösten sie sämtliche persönlichen Bindungen zu June und ihrem Mann. Allerdings wusste ihre Mutter nicht genau, was sie eigentlich wollte.

Ich fragte Francesca, wie ihre Mutter die Affäre entdeckt hatte.

»Hat sie nicht«, sagte Francesca. »Junes Mann hat es ihr erzählt. Er wusste seit Jahren Bescheid. Und er hat Mum etwas in der Annahme gesagt, dass sie es ebenfalls wisse.«

Francesca war von den Neuigkeiten ihrer Mutter nicht im mindesten überrascht. Sie erinnerte sich an diverse Augenblicke, in denen sie gesehen hatte, wie June und ihr Vater sich auf eine Weise benahmen, die verriet, dass sie ein Liebespaar waren. Francesca erzählte, wie sie eines Tages einmal nach der Schule, sie war fünfzehn oder sechzehn Jahre alt, spontan zum Geschäft gegangen war. Als sie vorm Eintreten durchs Fenster blickte, sah sie die beiden im leeren Schauflächenbereich, wie sie sich über einen Tisch beugten, um ein Bild zu betrachten; die Köpfe berührten sich fast. Ihr Vater hatte June einen Arm um die Hüfte gelegt. Einen Moment später schaute er auf, entdeckte sie, wurde blass und trat abrupt einen Schritt zurück. Sobald er sich wieder gefasst hatte, stürzte er zur Tür und bat sie mit weit ausholender Geste und viel zu lauter Stimme herein.

Kaum hörte ich von der Affäre ihres Vaters, dachte ich, sie könne vielleicht erklären, warum Francesca so blind gegenüber Henrys Verhalten war – warum sie, aus einem mir noch unbekannten Grund, eine Version ihres Vaters geheiratet und die Rolle ihrer Mutter übernommen hatte. Als Francesca einige Tage später erneut eines von Henrys Manövern beschrieb – er war fast die ganze Nacht ›mit einem Kunden‹ unterwegs gewesen –, machte ich sie darauf aufmerksam, wie sehr ihre Ehe der ihrer Eltern glich. »Henry scheint eine Frau gefunden zu haben, die – wie Ihre Mum – beide Augen vor jedem Anzeichen von Untreue verschließt.«

»Aber ich bin überhaupt nicht wie sie«, erwiderte Francesca. »Ich habe meiner Mum alles erzählt – auch, dass ich sie im Geschäft zusammen gesehen hatte. Viele Male habe ich sie gefragt, ob es ihr denn keine Angst mache, dass Daddy und June ständig zusammen seien. Und immer hat sie geantwortet: ›Aber nicht doch, sie sind nur Geschäftspartner.‹ Ich wusste, irgendwas ging da vor sich, aber ich konnte Mum nicht davon überzeugen.«

Mir schien, dass Francesca nicht nur in die Rolle ihrer Mutter als betrogene Ehefrau geschlüpft war – sie brachte mich außerdem in dieselbe Lage, in der sie sich als Kind befunden hatte. Versuchte sie, mir unbewusst und unwillentlich mitzuteilen, wie verzweifelt und einsam sie sich gefühlt haben musste?

Francesca erzählte: »Auf einer gewissen Ebene musste Mum Bescheid gewusst haben, nur konnte sie sich das nicht eingestehen. Ihre ganze Welt wäre in die Brüche gegangen. Sie hätte ihre Familie verloren, ihr Zuhause. Ohne diese Verdrängung wäre sie zusammengebrochen.« Dennoch hat die Verhaltensweise ihrer Mutter Konsequenzen gehabt.

Francescas Mutter stellte die Erklärungen ihres Mannes über die ihrer Tochter. Indem sie nicht auf das reagierte, was Francesca ihr zu erzählen versuchte, schuf sie eine unmögliche Distanz zwischen ihnen.

Zu Beginn von Francescas drittem Analysejahr musste Henry berufsbedingt für ein Jahr nach Paris. Für gewöhnlich nahm er am Montagmorgen den Eurostar, blieb die Woche über in der Firmenwohnung und kam am Freitagabend nach London zurück. Doch seit seinem Umzug hatte Henry bereits mehrere Wochenenden in Paris verbracht – er war nicht zu Lotties Geburtstag im Januar erschienen und hatte das Valentine-Wochenende im Februar verpasst. Im März beschlossen sie, dass Francesca und Lottie über Ostern zu ihm in die Pariser Wohnung kommen sollten.

Während unserer ersten Sitzung nach der Osterpause erzählte mir Francesca von diesem Besuch.

»Freitagabend kamen wir am Gare du Nord an. Henry wartete auf uns. Wir fuhren mit dem Taxi zu seiner Wohnung im Marais und aßen alle gemeinsam zu Abend. Es fühlte sich gut an, wieder eine Familie zu sein. Wir brachten Lottie zu Bett und gingen in die Küche, um aufzuräumen und ein Glas Wein zu trinken.

Als ich die Spülmaschine aufmachte, wusste ich sofort, dass irgendwas nicht stimmte, doch brauchte ich eine Sekunde, um zu begreifen, was es genau war.

Plötzlich ergab alles einen Sinn – die geflüsterten Telefongespräche, der Spitzname »Stecher«, Lotties verpasster Geburtstag. Es war wie in einem dieser Quizspiele. Da gibt es immer einen Moment, in dem man genügend Buchstaben beisammen hat – nicht alle, aber genug, – und plötzlich ist die Lösung klar. Genau so war es. Ich brauchte keine weiteren Informationen. In der Spülmaschine waren zwei Kaffeetassen, zwei kleine Frühstücksteller, zwei Messer, zwei Gläser und zwei Teelöffel, alle genau da, wo sie hingehörten – nicht einfach wahllos hineingestopft, wie es Henry immer tat. Es war, als hätte sie mir eine Nachricht hinterlassen.

Und ich habe ihn gefragt: ›Wer hat die Spülmaschine eingeräumt? Sag, wer hat die Spülmaschine eingeräumt?‹«

Die Frau, die nicht lieben wollte und andere wahre Geschichten über das Unbewusste
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