Vom Wiederfinden verlorener Gefühle

Als sie sechs Jahre alt und in der zweiten Klasse war, verliebte sich Emma F. in ihre Lehrerin Miss King. Miss King trug blitzende Kreolen und leuchtend roten Nagellack, und wie Emma begeisterte sie sich für Fossilien. Einmal gestand Emma ihr, dass sie Wilbur und Charlotte noch einmal ganz von vorn lese, woraufhin Miss King Emmas Hand drückte – es war auch eines ihrer Lieblingsbücher.

Am letzten Samstag im Schuljahr setzte Emma sich vor dem Frühstück an den Küchentisch, um Miss King eine Dankeschön-Karte zu schreiben. Sie malte ein Bild von einem Ammoniten auf die Vorderseite, klappte die Karte auf und schrieb: »Liebe Miss King, Sie sind die allerbeste Lehrerin. Vielen Dank dafür, dass Sie meine Lehrerin sind. Sie werden mir nächstes Jahr fehlen. Ich liebe Sie mehr als alle Menschen auf der Welt, sogar mehr als meine Mummy. In Liebe, Emma xxxxx.«

Als der Vater sich an den Tisch setzte, zeigte ihm Emma die Karte. »Du kannst nicht schreiben, dass du Miss King mehr liebst als Mummy«, sagte er, »das stimmt nicht.« Emma nahm den rosafarbenen Radiergummi aus ihrer Federmappe und begann, den letzten Satz auszuradieren. Ihr Vater hinderte sie daran. »Dann kann man immer noch lesen, was du geschrieben hast«, sagte er. »Du wirst eine neue Karte schreiben müssen.« Und weil er nicht wollte, dass auch nur eine Spur ihrer Worte übrig blieb, wusste Emma, dass sie etwas wirklich Schlimmes geschrieben hatte.

Emma hatte die Karte und das Gespräch mit ihrem Vater bald vergessen, doch während einer psychoanalytischen Sitzung dreiundzwanzig Jahre später erinnerte sie sich wieder daran.

An jenem Morgen hatte sich Emma auf einen Kaffee mit ihrem Freund Mark verabredet und war zu spät gekommen. Und kaum saßen sie sich gegenüber, begannen sie, sich über Emmas Beziehung zu ihrer Freundin Phoebe zu streiten. Mark beharrte darauf, dass es für Emma nicht gut sei, sich mit ihrer Freundin zu treffen; Phoebe sorge immer dafür, dass sie sich schlecht fühle.

»Er kapiert nicht, warum ich sie mag«, erzählte Emma mir später. »Er sagt, nach einem Treffen mit ihr sei ich immer so down.«

»Und? Sind Sie das?«, fragte ich.

»Mark behauptet es jedenfalls.«

»Ich habe nicht danach gefragt, was Mark glaubt. Ich versuche herauszufinden, wie Sie sich selbst fühlen.«

»Er wird schon recht haben – warum sollte er lügen?«

Und als ich darauf nicht unmittelbar antwortete, musste sie an Miss King denken. Ich behandelte Emma schon fast seit einem Jahr. Sie war gekommen, weil sie mit Beginn ihrer Doktorarbeit anfing, an einer akuten Depression zu leiden. Man verschrieb ihr ein Antidepressivum, und ihr Psychiater bat mich, mich ihrer anzunehmen, da sie ihm erzählt hatte, dass sie gern mit jemandem reden würde – »um die Mauer zu durchbrechen, die mich vom Leben trennt«.

Während unserer ersten Sitzungen beschrieb Emma ihre Kindheit als glücklich und normal, in den folgenden Monaten aber kam allmählich eine andere Geschichte zutage. Emmas Vater war oft unterwegs, die Mutter unsicher und unselbstständig. Sie stritten sich häufig. Kurz vor der Geburt ihrer Schwester wurde Emma nach Schottland zur Großmutter geschickt, bei der sie sechs oder sieben Monate blieb. Emotionslos beschrieb Emma ihre Rückkehr zu den Eltern und der kleinen Schwester und erzählte, wie sehr sie ihre Oma vermisst und nachts vor Sehnsucht nach ihr geweint hatte. »Meine Eltern haben mir diese komische Geschichte erzählt, wie ich, als ich nach Hause kam, darauf beharrt hatte, meine Mum mit ›Lady‹ anzureden – ich wollte sie nicht ›Mummy‹ nennen.«

Wenn ich Emma richtig verstand, schien das Selbstwertgefühl ihrer Eltern, ihr emotionales Gleichgewicht, davon abzuhängen, wie Emma sich benahm, wie gut sie war.

Vorkommnisse in Emmas frühem Leben, die in einem Kind normalerweise Angst auslösten – der erste Tag im Kindergarten, zur Abholzeit vor der Schule vergessen werden, im Kaufhaus verlorengehen – schienen ihr überhaupt nichts ausgemacht zu haben. Ich hegte den Verdacht, dass Emma fürchtete, erneut fortgeschickt zu werden, wenn sie ihre Gefühle zuließ. Ihre Fähigkeit, sich den Wünschen der Eltern anzupassen, hatte die Entwicklung von Emmas beträchtlichem Intellekt nicht behindert, ihre emotionale Entwicklung aber aufgehalten.

Als Emmas Doktorvater sie bat, sich zwischen zwei Forschungsgebieten zu entscheiden und ihm zu sagen, aus welchen Gründen sie das ausgesuchte Feld bevorzugte – brach Emma zusammen. Sie sollte eine Richtung wählen und hatte keinen Kompass, sie wusste nicht weiter.

In der Stille des Therapiezimmers fragte Emma: »Was glauben Sie, warum mir jetzt die Karte an Miss King einfällt?«

»Was meinen Sie denn?«

»Ich weiß nicht. Das Gespräch mit meinem Dad war wie das Gespräch mit Mark – beide haben mir gesagt, was ich fühlte oder fühlen sollte.«

Emma sagte, sie verstünde nicht, wie Leute wüssten, was sie tatsächlich fühlten. »Die meiste Zeit weiß ich nicht, was ich fühle. Ich stelle mir vor, was ich fühlen sollte und handle entsprechend.«

Ich begann, Emma darauf aufmerksam zu machen, dass sie durchaus wusste, wo es zu suchen galt: in ihren Erinnerungen, ihren Träumen und Handlungen. Die Erinnerung an den Vater kam ihr, als wir uns über ihren Streit mit Mark unterhielten – die beiden Ereignisse schienen für sie zusammenzuhängen. Und indem sie mir erzählte, dass sie erneut zu spät zu einem Treffen mit Mark gekommen sei, signalisierte sie uns beiden, dass sie sich nicht besonders darauf freute, ihn wiederzusehen. Als ich meine Überlegungen erläutern wollte, begann Emma zu weinen.

»Miss King«, schluchzte sie. »Miss King.«

Später erzählte Emma, dass sie nicht wusste, warum sie die Erinnerung an jenen Morgen in der Küche so aufwühlte und gefühlsduselig machte. »Mum hasst Selbstmitleid«, fuhr sie fort. Ich sagte, ich sähe kein Selbstmitleid, nur Trauer. Sie schien mir um das Selbst zu weinen, das sie verloren hatte, um das kleine Mädchen, dem es nicht erlaubt worden war, Gefühle zu haben.

Die Frau, die nicht lieben wollte und andere wahre Geschichten über das Unbewusste
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