Warum wir von Krise zu Krise stolpern

Als Elizabeth M. zu mir kam, war sie sechsundsechzig Jahre alt und ihr Mann gerade an Bauchspeicheldrüsenkrebs gestorben.

Zu ihrer ersten Sitzung kam sie zu spät, da sie sich, kurz bevor sie aus dem Haus gehen wollte, an einer Glasscherbe geschnitten hatte, als sie den Stabfilter ihrer Kaffeekanne nach unten drückte und ausrutschte; die Kanne zerbrach. »Die Blutung hat aufgehört, aber meinen Sie, ich sollte trotzdem zum Arzt gehen?«, fragte sie.

Als ich sie in der Woche darauf wiedersah, hatte sie gerade ihre Handtasche mitsamt Handy, Portemonnaie und den Schlüsseln verloren. »Meinen Sie, ich sollte alle Schlösser austauschen lassen?«, wandte sie sich an mich. Eine Woche später erzählte sie, dass sie versehentlich Rotwein auf dem beigefarbenen Sofa ihrer Freundin verschüttet und es völlig ruiniert hatte. »Wie kann ich das nur wiedergutmachen?«, wollte sie wissen. Woche um Woche, Monat um Monat begann Elizabeth jede Sitzung damit, dass sie mir von ihrem neuesten Missgeschick erzählte und mich dann um Rat fragte.

Wir arbeiteten zusammen, erwogen sorgsam ihre Optionen, und meist kam ich mir nicht so sehr wie ein Psychoanalytiker vor, sondern wie ein Feuerwehrmann, der Kätzchen aus den Bäumen zu locken versucht. Während dieser ersten Sitzungen erzählte mir Elizabeth keinen einzigen Traum und redete auch nie über ihre Gefühle, dafür blieb keine Zeit; stets gab es neue, drängende Probleme. Ich sagte mir: »Was für ein Pech!« oder »Wenn das und das erst einmal geregelt ist, geht es mit der Analyse richtig los.« Doch nach mehreren Monaten wurde mir schließlich klar, dass es mit diesen Desastern nie aufhören würde – und dass dieses Stolpern von Krise zu Krise den Kern ihrer Analyse ausmachte. Ich würde es verstehen müssen, wenn ich sie verstehen wollte.

Nach etwa sechs Monaten gestand Elizabeth, dass sie morgens unter einer »deprimierenden, beklemmenden Angst« litt. Sie wachte verschreckt auf und zitterte oft vor Furcht, bis ihr ein Problem einfiel, irgendeine drängende Angelegenheit, die sie zwang, das Bett zu verlassen und sich dem Tag zu stellen. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, deprimierende, ängstliche Gefühle zu umgehen. So ist es zum Beispiel nicht ungewöhnlich, dass man dafür sexuelle Phantasien nutzt oder hypochondrische Sorgen. Elizabeth setzte ihre Katastrophen ein, um sich zu beruhigen – sie waren für sie wie Beruhigungspillen.

Es ist auch keineswegs ungewöhnlich, mit Hilfe des Unglücks anderer Menschen oder irgendwelcher größeren Katastrophen von eigenen destruktiven Impulsen abzulenken, und mir fiel bald auf, dass Elizabeth auch dazu neigte. Als sie sagte, sie hätte die Geburtstagseinladung zum Abendessen bei ihrer Schwester vergessen – »Der Termin stand in meinem Notizkalender. Ich weiß gar nicht, wie das passieren konnte. Er ist mir völlig entfallen« – deutete ich an, dass sie sich womöglich über ihre Schwester ärgerte, weil sie meinte, von ihr kürzlich übergangen worden zu sein.

»Wollen Sie behaupten, ich hätte ihren Geburtstag absichtlich vergessen?«, fragte sie.

»Ich sage ja nicht, dass es bewusst passiert ist – aber es würde erklären, warum Sie ihn vergessen haben. Wie du mir, so ich dir.«

»Ich weiß nicht.« Elizabeth verstummte, schaute sich im Zimmer um und sagte dann: »Ich glaube, ich werde Ihnen ein paar Energiesparlampen mitbringen. Sie sollten sich wirklich mehr um die globale Erwärmung sorgen.«

In einem Essay über unbewusste Schuldgefühle wies der Psychoanalytiker Donald Winnicott 1956 beiläufig darauf hin, dass ein melancholischer Patient gegen alle Vernunft behaupten mochte, eine größere Katastrophe ausgelöst zu haben, mit der ihn nicht das Geringste verband. »Die Krankheit«, schrieb Winnicott, »ist der Versuch, Unmögliches zu tun. Der Patient behauptet absurderweise, für ein Desaster verantwortlich zu sein und vermeidet es auf diese Weise, sich der eigenen Zerstörungslust zu stellen.« Mit anderen Worten: Manchmal versuchen wir, die Verantwortung für eine größere Katastrophe zu übernehmen, damit wir uns nicht mit der Verantwortung für unser eigenes destruktives Verhalten auseinandersetzen müssen.

Allmählich ging mir auf, dass Elizabeths oft wiederholte Frage: »Wie kann ich das nur wiedergutmachen?« ein Unglück kaschierte, von dem sie wusste, dass es nicht wiedergutzumachen war.

Elizabeths Mann hatte in seinem letzten Lebensjahr gewusst, dass es mit ihm zu Ende ging. Seine Angst wuchs, und er ertrug es kaum noch, allein zu sein, doch je mehr er sich wünschte, dass Elizabeth bei ihm zu Hause bliebe, desto eingesperrter fühlte sie sich. »Mir wurde von vielen Seiten Hilfe angeboten – ich brauchte gar nicht so oft einzukaufen. Und meine Freunde hätten es gewiss verstanden, wenn ich hin und wieder die Einladung zu einem Essen ausgeschlagen hätte, aber ich habe es nie getan.«

Sie sagte sich, wenn sie ausginge, helfe es ihr, das innere Gleichgewicht zu wahren, außerdem könne sie ihrem Mann besser beistehen, wenn sie sich diese kleinen Auszeiten erlaubte. Doch die Gefühle änderten sich noch auf andere Weise: Es fiel ihr immer schwerer, den eigenen Mann zu berühren, geschweige denn, Sex mit ihm zu haben. Aus Angst vor seinem Tod, der sie an die eigene Sterblichkeit gemahnte und wütend, weil sie eines Tages ihrem Tod allein gegenübertreten musste, spürte Elizabeth, dass sie ihren Mann während seiner letzten Monate immer stärker abwies.

Nach einem Jahr Analyse fing Elizabeth an, mir von der schmerzlichen letzten Zeit mit ihrem Mann zu erzählen. Und zum ersten Mal erinnerte sie sich auch an einen Traum: »Mein Mann ist tot, aber er ruft zu Hause an. Ich bin so erleichtert, dass er endlich von sich hören lässt. Ich will abnehmen, aber der Apparat ist nicht da, wo er gewöhnlich steht. Ich kann ihn läuten hören, kann ihn aber nicht finden. Ich fege die Kissen vom Sofa, ziehe die Bücher aus den Regalen. Ich suche wie wild. Ich versuche sogar, mit den bloßen Händen die Dielen aus dem Boden zu reißen und breche mir dabei die Nägel. Schluchzend wache ich auf.«

Elizabeth weinte, als sie mir diesen Traum erzählte. Sie weinte oft genug wegen irgendeines Desasters, das ihr widerfuhr, doch hörte ich sie zum ersten Mal weinen, weil sie jemandem weh getan hatte, den sie geliebt hatte und von dem sie geliebt worden war.

Unmittelbar nach einer größeren Katastrophe erklären Politiker wie Journalisten gern: »Jetzt wird alles anders.« Und Katastrophen können tatsächlich viel verändern. Selbst in einem unbeteiligten Zuschauer können sie neues Mitgefühl oder neue Furcht wecken. Der politische Kontext, in dem wir leben, mag sich ändern, und er hat sich auch verändert, manchmal aber lassen sich Veränderungen mittels einer Katastrophe auch blockieren. Wie Elizabeth können wir eine Katastrophe nutzen, um uns damit am eigenen Nachdenken und Fühlen zu hindern – und um uns um die Verantwortung für die eigenen, destruktiven Taten zu drücken.

Die Frau, die nicht lieben wollte und andere wahre Geschichten über das Unbewusste
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