Über Langweiler

Graham C. war langweilig. Das war ihm eines Abends von seiner Freundin gesagt worden, die in der Stadt als Betriebswirtin arbeitete. Auf einer ihrer Dinnerpartys hatte sie ihn immer wieder dabei beobachtet, wie er alle Menschen langweilte, mit denen er sich unterhielt. »Merkst du denn gar nicht, wenn die Leute abschalten?«, hatte sie gefragt und sich dann von ihm getrennt.

Einige Wochen später wurde Graham vom Senior Partner der Anwaltskanzlei, für die er arbeitete, zu sich gerufen. Man sagte ihm, dass an seiner Arbeit nichts auszusetzen sei und dass man seine vielen Überstunden zu schätzen wisse, doch wurde ihm warnend mitgeteilt, dass seine Kunden nicht mit ihm redeten. Falls Graham wünschte, zum Partner aufzusteigen, mussten sich die Kunden ihm verbunden fühlen und ihn mit ihren Problemen anrufen wollen. Graham sah die Zukunft gefährdet, die er für sich ausgemalt hatte. Besorgt und deprimiert kam er zu mir.

In den ersten Monaten seiner Analyse langweilte Graham mich auch. Je weiter unsere Arbeit gedieh, desto heftiger ödeten mich unsere Stunden an. Vor jeder Sitzung trank ich einen Kaffee und spritzte mir kaltes Wasser ins Gesicht, was aber kaum half: Langeweile ist keine Müdigkeit. Ich halte sie für eine körperliche Reaktion ähnlich der Übelkeit. In den Sitzungen vor und nach Graham ging es mir gut, während seiner Stunde aber fühlte ich mich immer mehr wie betäubt. Ich war mir nicht sicher, warum das so war. Graham hörte sich meine Überlegungen an und brachte eigene Ideen vor, stellte Fragen und verlangte Erklärungen; er wusste meine Arbeit auch zu schätzen, berichtete sogar von Verbesserungen. Und doch fühlte sich all das hohl an. Wir redeten über ihn, aber nur selten hatte ich das Gefühl, das er mit mir redete.

Es gab noch ein Rätsel: Grahams Leben hätte mich eigentlich interessieren müssen. Seine Eltern und Großeltern arbeiteten in der Filmindustrie, und bei seiner Arbeit als Anwalt ging es um eine Reihe ebenso komplizierter wie faszinierender Fälle. Sein Leben war interessant, nur konnte er aus irgendeinem Grund bei anderen Menschen kein Interesse dafür wecken.

Für einen Analytiker kann die Langeweile ein nützliches Instrument sein. Sie mag ein Anzeichen dafür sein, dass der Patient bestimmte Themen meidet, dass er oder sie nicht in der Lage ist, unmittelbar über etwas Intimes oder Peinliches zu reden. Sie kann auch bedeuten, dass Patient und Analytiker feststecken, dass der Patient immer wieder zu Gefühlen zurückkehrt, zu einem Kummer oder Verlangen, zu etwas also, um das sich der Analytiker nicht angemessen kümmert. Ein langweiliger Mensch ist womöglich eifersüchtig und lässt jedes Gespräch im Sande verlaufen – bricht es ab oder zieht es endlos in die Länge –, weil er es nicht ertrüge, sich von jemand anderem hilfreiche oder triftige Gedanken anzuhören. Oder der langweilige Patient stellt sich tot; denn so wie manche Tiere im Dschungel nur überleben, wenn sie sich totstellen, können sich auch manche Menschen komplett abschotten, wenn sie Angst haben. Außerdem trifft es zu, dass Analytiker und Patient sich manchmal unbewusst ergänzen, um die Lage zu entspannen, da sie fürchten, die Atmosphäre während ihrer Sitzungen könnte emotional zu aufgeladen oder zu erregend werden. (Vor einigen Jahren merkte ich, wie meine Stunden mit einer jungen attraktiven Frau immer lebloser verliefen. Müsste ich raten, würde ich heute sagen, dass wir beide unbewusst jegliche Gefühlsaufwallung zu verhindern suchten.)

Dennoch verstand ich nicht, was in Grahams Sitzungen vor sich ging. Es stimmte, dass er Engagement und Konflikt mied. So hatte ich zum Beispiel nie den Eindruck, dass er den Beruf des Anwalts mit großer Leidenschaft ausübte – ich nahm an, dass er damit nur seine Eltern zufriedenstellen wollte, denen er sehr nahestand. Er verbrachte noch die meisten Urlaube mit seinen Eltern. Als ich mir aber diesen Mangel an Unstimmigkeiten genauer vornehmen wollte, lachte er. »Das ist es also?«, fragte er. »Ich bin depressiv, weil ich nicht auf meine Eltern wütend sein kann?«

Eines Tages erzählte Graham, er sei mit Richard, einem Arbeitskollegen, einen trinken gegangen. Sie wollten für ein paar Stunden abschalten, aber schon nach einer Dreiviertelstunde sei Richard eingefallen, dass er noch etwas zu erledigen habe, weshalb er sich verabschiedete. Ich nahm an, dass Graham mir die Geschichte erzählte, weil er wusste, dass Richard sich gelangweilt hatte. Also fragte ich: »Haben Sie je den Eindruck, dass Sie andere Menschen langweilen?«

»Mir fällt auf, wenn Leute mir nicht länger zuhören oder den Blick abwenden, falls es das ist, was Sie meinen.«

»Hat Richard den Blick abgewendet?«

»Hat er, aber er war nicht gelangweilt.«

»Woher wissen Sie das?«

»Ganz einfach, weil ich nicht langweilig war.«

»Also haben Sie stur weiter auf ihn eingeredet?«

»Ich habe weitergeredet, ja«, erwiderte er.

Ich begann zu vermuten, dass Grahams Bereitschaft, Langeweile zu verbreiten, etwas Aggressives war. Schließlich hatte er eingestandenermaßen selbst bemerkt, dass sein Zuhörer ihm nicht länger zuhörte. Warum also hatte er weitergeredet?

Graham hatte mir einmal von den Sonntagen bei seinen Eltern daheim erzählt. So lang er sich erinnern konnte, luden seine Eltern am Sonntag die Großeltern sowie diverse Freunde zum Mittagessen ein. Und er gestand, dass er diese Besuche außerordentlich qualvoll fand. »Ein Raum voller Erwachsener, die nur reden und lachen – soweit ich mich erinnere, haben sie niemals eine Familie mit Kindern in meinem Alter eingeladen.« Ich malte mir aus, wie einsam sich Graham gefühlt haben musste. Vielleicht wollte er in seinen Zuhörer jenes Gefühl erzeugen, dass er seit diesen Mittagessen mit sich herumtrug – vielleicht war die Apathie, die er verbreitete, eine Art der Verzweiflung.

Nach einigen Monaten Analyse fiel Graham ein Traum ein. Darin stand er vor dem Haus, in dem er aufgewachsen war. Er wollte es betreten, konnte es aber nicht. Ich hatte es mir zur Regel gemacht, mich auf den Inhalt von Träumen zu konzentrieren, einige Zeit mit ihrer Entschlüsselung zu verbringen und all die Anspielungen zu verstehen. Graham brauchte ziemlich lang, um mir den Traum zu schildern. Er beschrieb das Haus sowie seine Geschichte und berichtete dann bis ins Detail seine Empfindungen, die er mit den einzelnen Räumen und ihrer Einrichtung verband. Als er dann wenige Tage später während einer Sitzung sehr lang brauchte, um einen vergleichsweise unbedeutenden Vorfall aus seiner Kindheit zu erzählen, überkam mich plötzlich der Gedanke, dass Graham mich zum Schweigen bringen wollte. Er wusste, dass ich Träume und Erinnerungen wichtig fand und ihn nicht unterbrechen würde, also ließ er sich Zeit und hielt sich so lang wie möglich mit diesen Geschichten auf.

Grahams Langeweile war tatsächlich aggressiv – sie war seine Art zu kontrollieren und auszugrenzen, gesehen zu werden, ohne zu sehen. Sie diente auch noch einem anderen Zweck. Gerade im Kontext seiner Analyse bewahrte sie ihn davor, in der Gegenwart leben zu müssen, anerkennen zu müssen, was um ihn herum im Zimmer geschah.

Wenn ich mit ihm über Geschehnisse in seinem Leben redete, blickte er zurück und vermied es, sich zu fragen, was er heute dabei empfand oder darüber dachte. »Ich bin nie dagewesen«, sagt Hamm in Becketts Endspiel. »Abwesend, immer. Alles ist ohne mich vorgegangen.« Grahams lange Abschweifungen ins Vergangene waren eine Zuflucht vor der Gegenwart. Unwissentlich verweigerte er der Gegenwart immer wieder jegliche Bedeutung.

Die Frau, die nicht lieben wollte und andere wahre Geschichten über das Unbewusste
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