Gehen/ Verlassen

Durch Stille

Anthony M. kam seit drei Monaten zu mir, als er sich endlich nach langer Diskussion auf AIDS testen ließ. Einige Tage später saß er auf der Couch und schluchzte hinter vorgehaltenen Händen – er war neunundzwanzig Jahre alt und hatte gerade erklärt bekommen, dass er HIV-positiv war. Das war 1989, und es gab noch keine Behandlung gegen AIDS.

Sein Arzt in London wollte ihm nicht sagen, wie lange er noch zu leben hatte, also fragte er einen alten Freund, einen Arzt in San Francisco. Bei seinem Immunsystem, erklärte der Freund, könne er »mit zwei Jahren rechnen und auf vier Jahre hoffen«.

In den Wochen, die auf das Testergebnis folgten, schilderte er viele Träume – Träume von Flugzeugen, die vom Himmel fielen, von Tornados, die die Erde aufwirbelten. In einem Traum hatten alle Menschen AIDS. Wir einigten uns darauf, dass dies bedeutete, wenn alle AIDS hatten, dann hatte keiner AIDS. Anthony fühlte sich isoliert, verängstigt und allein.

Während dieser Zeit fuhr Anthony fort, über sein Leben und seine Gefühle zu sprechen, doch floss der Strom der Worte immer spärlicher und versiegte schließlich ganz. Manchmal kam Anthony, erzählte von der Arbeit, seiner Familie, einer Beziehung oder einem Arzttermin, um dann in Schweigen zu verfallen. An anderen Tagen legte er sich hin und blieb die gesamten fünfzig Minuten stumm. »Ich bin einfach so traurig«, sagte er am Ende einer solchen Sitzung.

Es fällt mir schwer, die Gefühle zu beschreiben, die ich während dieser Sitzungen hatte – die überwältigende Schwere und Stille im Praxisraum. Dieses Schweigen hatte nichts Lähmendes an sich; wenn überhaupt, dann lauschte ich sogar noch aufmerksamer als gewöhnlich. Ich rutschte bis an den Stuhlrand und beugte mich vor. Es gibt eine Stille, die ist ungeduldig, jene Stille, wenn der Patient – die Arme verschränkt, die Augen offen – sich zu sprechen weigert. Es gibt eine unbehagliche Stille, wie sie zum Beispiel aufkommt, wenn etwas Intimes oder Sexuelles offenbart wurde. Anthonys Schweigen war völlig anders; er sperrte sich nicht und war auch nicht gehemmt. Einen Patienten, der eine Weile stumm bleibt, frage ich gewöhnlich, was er denkt oder fühlt, und ein- oder zweimal habe ich das auch bei Anthony getan, doch begriff ich bald, dass er meine Worte zudringlich und störend fand.

Während ich Tag für Tag bei ihm saß, wurde sein Schweigen immer tiefer. Und wie er eines Tages so still dalag, der Atem langsam und stetig, schlief er ein. Beim ersten Mal war ihm das ein wenig peinlich. »Ich fürchte, ich bin sehr müde«, sagte er. »Wie lange habe ich geschlafen?« Schon bald aber schlief er regelmäßig während der meisten Sitzungen zehn, fünfzehn Minuten, und ein-, zweimal die Woche verschlief er auch eine ganze Stunde. Er sagte, es käme ihm nicht wie Schlaf vor – ehe, als würde er bewusstlos, als hätte man ihn betäubt. Er wusste nie, wie lange er geschlafen hatte.

Mein erster Gedanke war, dass er in den Sitzungen schlief, weil er sich daheim fürchtete, die Nacht durchzuschlafen. Bei mir fühlte er sich geborgen; ich würde über ihn wachen, solange er schlief.

Gelegentlich träumte er auf der Couch. Einmal, etwa neun Monate nach Beginn der Analyse, lag Anthony auf der Seite, blickte durchs Zimmer auf meine Bücherwand, schloss die Augen und schlief ein.

Als er zwanzig Minuten später aufwachte, erzählte er, er habe geträumt, in einem medizinischen Fachbuch zu lesen. Im Buch entdeckte er ein Querschnittfoto, das einen Fötus in seiner Mutter zeigte. Und obwohl das Bild in einem Buch war, bewegte es sich. Anthony sah, wie durch die Nabelschnur Blut von der Mutter zum Kind gepumpt wurde. Der Bildtext dazu lautete: »Dieses Baby wird vom Mutterblut infiziert; die Mutter ist HIV-positiv.« Dann kam ein Wind auf und schlug die Buchseiten um, »wie in einem Film, wenn ein Windstoß die Kalenderseiten aufblättert«. Gleich darauf erwachte er.

Ausgehend von dem, was ich über Anthony wusste, und von dem, was ich unter Übertragung verstand – dass wir uns nämlich alle gegenseitig nach frühen Blaupausen erschaffen –, hielt ich seinen Traum für einen Ausdruck des Wunsches, mir nahe sein und mich zugleich auf Distanz halten zu wollen. Er sehnte sich danach, sich bei mir aufgehoben und geborgen zu fühlen, argwöhnte aber, ich könnte ihn vergiften. Wir arbeiteten heraus, dass er fürchtete, meine Worte könnten ihm schaden, könnten ihn krank machen wie den Fötus, der von der Mutter infiziert wurde. Er sagte: »Ich habe Angst, dass ich krank werde, wenn wir nur darüber reden oder auch bloß daran denken.«

Ich meinte zu verstehen, was während der Analyse geschah, und schrieb darüber eine Vorlesung, doch kurz nach ihrer Veröffentlichung im International Journal of Psychoanalysis begann ich, am Geschriebenen zu zweifeln. Anthony schlief während der Sitzungen immer noch ein, und soweit ich sehen konnte, zeigten meine Deutungen kaum Wirkung. Ich spürte, wie ich mich immer mehr in seiner Stille zu verlieren begann.

Nach abertausend mit Patienten verbrachten Stunden ist meine innere Uhr präzise auf fünfzig Minuten eingestellt, bei Anthony aber funktionierte diese Uhr nicht mehr. Mit ihm konnte mir eine ganze Sitzung wie wenige Minuten vorkommen oder sich ewig lang hinziehen. Einmal wollte ich Anthony bereits sagen, dass wir aufhören mussten, als ich auf die Uhr schaute und feststellte, dass erst wenige Minuten vergangen waren. Damals kam mir ein Gedanke, den ich ihm aber nicht mitteilte; ich vermutete, dass er versuchte, die Zeit anzuhalten, um so auf immer in der Gegenwart leben zu können, in der er nicht krank war und nicht starb.

Drei Jahre nach Beginn der Analyse brach Anthonys Immunsystem zusammen. Die Zahl seiner CD4-Zellen war schon seit einiger Zeit nicht mehr im normalen Bereich gewesen (500 bis 1500 Zellen pro Kubikmilliliter Blut), fiel nun aber rapide von 175 auf 43. Ist jemand mit HIV infiziert und die Zahl seiner CD4-Zellen fällt unter 200, beginnt man, ihn gegen AIDS zu behandeln. Und obwohl Anthony gesund aussah und sich nicht krank fühlte, wurde es nun immer wahrscheinlicher, dass er sich bald eine Lungenentzündung oder eine andere potentiell tödliche Infektion zuziehen würde.

Einige Tage, nachdem ich erfahren hatte, dass Anthonys CD4 s auf ein kritisches Niveau gesunken waren, erhielt ich eine Einladung zu einem klinischen Seminar im Ausland und beschloss, dort Anthonys Fall vorzustellen. Mir war dies wichtig, weil ich den Eindruck hatte, dass wir ungewöhnliche Arbeit machten, HIV-positive Patienten aber oft nur eine psychologische Betreuung erhielten, die sich auf Beratung und Beschwichtigung konzentrierte – Anthony nannte das »mit Zuckerguss überziehen«. Er sagte, Realismus, wie schmerzhaft er auch sei, fände er allemal beruhigender als jegliche Form von Beschwichtigung. Darüber hinaus war ich davon überzeugt, dass wir Psychoanalytiker es noch sehr viel häufiger mit Patienten wie Anthony zu tun bekommen würden. Während einer Kaffeepause kam ein bekannter amerikanischer Analytiker zu mir und sagte: »Nach Ihrer Präsentation bin ich mit einigen Kollegen ins Reden gekommen und möchte Sie nun fragen, warum Sie Ihre Zeit mit diesem Patienten vergeuden. Er wird bald sterben. Warum helfen Sie nicht jemandem, der noch eine Zukunft hat?«

Seine Frage schockierte und ärgerte mich. Ich fand sie grausam. Für Anthony und mich stand fest, dass ihm die Analyse geholfen hatte, seine Ängste und Depressionen zu überwinden, so dass er besser mit den Ärzten umgehen konnte. Die Analyse half ihm auch, mit dem Unbekannten zurechtzukommen. Um es mit seinen Worten zu sagen: »Lebe gut, solange du kannst, sterbe gut, wenn du musst.«

Trotzdem ließ mich die Frage des amerikanischen Analytikers nicht los; sie machte mir deutlich, wie sehr ich meinen Patienten in Schutz nahm.

Einige Wochen später fragte mich Anthony, ob wir uns auch dann noch sehen würden, wenn man ihn in ein Krankenhaus einlieferte. Ich versprach, jeden Tag zu unserer Sitzung zu kommen; wir würden uns weiterhin fünfmal die Woche treffen.

»Und wenn man es im Krankenhaus nicht erlaubt?«

»Ich denke nicht, dass man mir verbieten kann, während der Besuchszeit zu Ihnen zu kommen, einen Stuhl an Ihr Bett zu ziehen und mich mit Ihnen zu unterhalten.«

»Vielleicht gibt man uns ein eigenes Zimmer. Und wenn nicht, könnten wir doch einfach den Vorhang ums Bett ziehen, nicht?«

»Sie wollen wissen, dass ich zu Ihnen komme, solange Sie mich brauchen, und das werde ich.«

Er antwortete, er wisse, dass ich bei ihm bleiben würde, und dann weinte er.

Erst nach diesem Gespräch konnten wir besser in Worte fassen, was er wollte. Er wollte zum Ende hin lieber Selbstmord begehen, sagte er, als das Gefühl zu haben, der HIV-Virus hätte gewonnen. Er wollte nicht verängstigt und allein sterben, und soweit irgend möglich wollte er keine Schmerzen leiden. Er wollte nicht in einem Zustand der Panik, nicht in Angst vor der eigenen Auslöschung sterben, er wollte »mit dem Tod leben« können.

*

Anthony findet, er hat Glück gehabt. Zweiundzwanzig Jahre nach unserer ersten Begegnung ist die Viruslast im Blut nicht mehr messbar, und die Anzahl der CD4-Zellen liegt im normalen Bereich. Er ist bei guter Gesundheit. Da er nicht mehr fürchtet, akut zu erkranken, wenn er über AIDS redet oder auch nur daran denkt, kümmert er sich aktiv um seine medizinische Versorgung. Und die richtige Medizin kam zur richtigen Zeit. »Nimm dies, du Arsch«, denkt er, wenn er seine tägliche Pillenration schluckt.

Wir treffen uns immer noch, allerdings nicht mehr so häufig. Und wenn auch nur noch selten, so gibt es doch weiterhin Gelegenheiten, bei denen er während einer Sitzung für wenige Augenblicke einschläft – meist an jenen Tagen, an denen er einen Bluttest machen ließ, das Ergebnis bekam oder vom Tod eines Verwandten oder Freundes erfuhr. Wenn es heute geschieht, ist es wie ein Signal, das uns beide mahnt, um wie viel der Tod uns näher ist, als wir glauben wollen.

Ich bin inzwischen davon überzeugt, dass Anthonys Schweigen zu verschiedenen Zeiten Unterschiedliches bedeutet hat: Trauer, das Verlangen, mir nahe zu sein und doch Distanz wahren zu wollen sowie der Wunsch, die Zeit anzuhalten. Anthony hat erzählt, dass er dieses Schweigen heilsam fand, eine Gelegenheit zu regredieren, sich umsorgen zu lassen. Die sich vertiefende Stille war ein Beweis für Anthonys wachsendes Vertrauen. Mag sein, dass dieses Schweigen auch seine Art war, den Augenblick des Todes zu proben, doch war es vor allem etwas, das wir gemeinsam durchgemacht haben. Und im Schweigen merkte Anthony, dass er den Gedanken an seinen Tod leichter ertragen und die Stille akzeptieren konnte, da er sich im Geiste eines anderen lebendig fühlte.

Die Frau, die nicht lieben wollte und andere wahre Geschichten über das Unbewusste
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