Je seriöser die Fassade, desto mehr ist zu verbergen

Während ich an Bord der Maschine von New York nach San Francisco zu meinem Platz gehe, stelle ich fest, dass ich die Reihe mit einer attraktiven, gutgekleideten Frau teile. Sie sitzt am Fenster, ich am Gang, der Platz zwischen uns ist frei. Ich biete ihr an zu tauschen, damit ihre beiden Jungen mit Plätzen in der übernächsten Reihe neben ihr sitzen können. Sie lacht und sagt, ich hätte offenbar keine Kinder im Teenageralter: »Sie würden am liebsten noch viel weiter weg sitzen.«

Sie will mehr über mich wissen, ich mehr über sie. Ich frage, ob sie in den Urlaub fliege. Nein, antwortet sie, sie sei auf dem Weg, ihre Mutter zu besuchen. Sie nestelt an ihrer Kette. »Der erste Besuch seit sechzehn Jahren – seit meine Eltern mich nicht mehr in ihrem Leben haben wollten.«

Ihre Bemerkung hat jene Wirkung, die sie sich meiner Meinung nach erhofft hatte – ich will wissen, was geschehen ist.

Abby erzählt, sie hätte vor achtzehn Jahren einen Mann namens Patrick kennengelernt. Sie studierten damals beide Medizin. Und obwohl sie Jüdin und er Katholik war, hatte sie angenommen, dass ihre Eltern sich letztlich mit ihm abfinden würden. »Meine Familie war noch nie besonders gläubig, und Patrick ist wirklich was Besonderes.«

Abbys Dad, ebenfalls Arzt, fand den Gedanken, dass sie einen blonden Freund hatte, schlicht unerträglich und gab dazu ein paar widerliche, rassistische Kommentare ab. Als sich Abby mit Patrick verlobte, sagte er, wenn sie ihn wirklich heirate, wolle er nichts mehr mit ihr zu tun haben. Er sagte, er würde für sie Schiwa sitzen, also um sie trauern.

»Ich weiß nicht, ob er tatsächlich Schiwa saß, aber seit dem Tag meiner Hochzeit mit Patrick hat er aufgehört, mit mir zu reden.« Und ihre Mutter folgte wie üblich dem Beispiel des Vaters. Jahrelang schickte Abby ihren Eltern Geburtstagskarten und Chanukka-Geschenke, aber als sie nach der Geburt des ersten Kindes nicht einmal mehr auf die Geburtsanzeige antworteten, gab sie auf.

Es hat Zeiten gegeben, vor allem in den ersten Jahren ihrer Ehe, da fürchtete sie, verrückt zu werden. Wann immer sie sich mit Patrick stritt, kam ihr der Gedanke, sie hätte jemanden heiraten sollen, der ihr ähnlicher war, einen Juden – vielleicht hatte Dad doch recht gehabt. Sie redete mit ihrem Psychotherapeuten darüber, aber das half eigentlich auch nicht weiter. »Wir konnten uns keinen Reim darauf machen, was geschehen war – war mein Dad eifersüchtig auf Patrick? Eifersüchtig auf mich? Sein Verhalten ergab überhaupt keinen Sinn.

Und dann erhielt ich vor einigen Monaten wie aus heiterem Himmel einen Anruf von meiner Mom, die mir sagte, dass sie und mein Dad sich scheiden ließen. Mom hatte herausgefunden, dass er eine Affäre mit Kathy hatte, seiner Sprechstundengehilfin. Sie arbeitet seit fünfundzwanzig Jahren für meinen Dad. Offenbar gab es diese Affäre bereits, seit ich von der Highschool abgegangen war. Und wer hätte das gedacht? – Kathy ist Katholikin und blond.

Da habe ich es schließlich kapiert«, sagt Abby. »Je seriöser die Fassade, desto mehr ist zu verbergen.«

In der Psychoanalyse wird das »Splitting« genannt – eine unbewusste Strategie, die hilft, uns Gefühle, die wir unerträglich fänden, nicht eingestehen zu müssen. Typischerweise wollen wir uns selbst für einen guten Menschen halten und verlagern deshalb jene Aspekte unserer selbst, die wir beschämend finden, auf eine andere Person oder auf eine Gruppe.

Splitting ist eine Möglichkeit, uns vor Selbsterkenntnis zu bewahren. Als Abbys Vater nichts mehr mit ihr zu tun haben wollte, versuchte er, sich von jenen hassenswerten Aspekten seiner selbst zu befreien, die er unerträglich fand. Auf kurze Sicht gewährt dies eine gewisse Erleichterung – »ich bin nicht schlecht, du bist es«. Doch indem wir einen Teil unserer selbst verleugnen oder auf jemand anderen projizieren, werden diese negativen Aspekte zu etwas, von dem wir glauben, wir hätten darüber keine Kontrolle. Im Extremfall wird die Welt durch Splitting zu einem verstörenden, gar gefährlichen Ort – statt den Teufel in sich selbst zu entdecken, sieht Abbys Vater ihn in seiner Tochter wie zum allerersten Mal.

Man stelle sich die Zwickmühle vor, in der er steckte – er fand es unerträglich, sich seine Liebe zu einer Frau einzugestehen, die nicht seiner Religion angehörte. Als er dasselbe Problem dann bei Abby ausmachte, nahm er es in sich selbst nicht länger wahr. Er setzte die Affäre mit Kathy fort, doch da ihm nun die innere Wahrnehmung des eigenen Fühlens und Handelns fehlte, hatte er die beste Möglichkeit verloren, sich selbst oder seine Tochter zu verstehen.

Ich mag Abbys Redewendung Je seriöser die Fassade ist, desto mehr ist zu verbergen – sie sagt mehr aus, als der psychoanalytische Fachbegriff. Splitting ist enger gefasst, weniger dynamisch, und deutet zwei separate, unzusammenhängende Sachverhalte an. Die Redewendung aber gibt wieder, dass Vorn und Hinten zusammengehören.

Wenn ich von einem Politiker höre, der für traditionelle Familienwerte einsteht und mit heruntergelassener Hose erwischt wurde oder von einem dieser »Homosexualität-ist-eine-Sünde«-Evangelisten, den man im Bett mit einem Callboy überrascht hat, denke ich, seit ich Abbys Geschichte gehört habe: Je seriöser die Fassade, desto mehr ist zu verbergen.

Die Frau, die nicht lieben wollte und andere wahre Geschichten über das Unbewusste
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