Um die Zukunft trauern

»Hallo. Diese Nachricht ist für Stephen Grosz. Ich heiße Jennifer T. Ihren Namen habe ich von Dr. W. in San Francisco. Daher komme ich. Ich hätte gern gewusst, ob Sie Zeit haben und noch neue Patienten annehmen. Oder ob Sie mir helfen könnten, einen anderen Arzt zu finden.«

Jennifer kam zehn Minuten zu spät zu ihrem Termin. Es tat ihr leid, in der Schule war etwas Wichtiges zu erledigen gewesen, weshalb sie noch mit einer Lehrerin reden musste, ehe sie gehen konnte. Nachdem sie mir gegenüber Platz genommen hatte, sagte sie, sie wolle einen Therapeuten aufsuchen, weil ihr Vater kürzlich gestorben sei. Vor vier Monaten hatte er auf einem Highway angehalten, um einem jungen Paar zu helfen, dessen defektes Auto auf der Mittelspur stand. Ihr Vater hielt am Straßenrand und machte dem Paar Zeichen, es solle im Wagen bleiben, als er von einem Lastwagen gestreift wurde, der dem Auto auszuweichen versuchte. Er starb noch im Krankenwagen. Er wurde zweiundsechzig Jahre alt.

Sie erzählte, sie habe ihrem Vater besonders nahe gestanden. Die Eltern hätten sich scheiden lassen, als sie noch ein Teenager war; ihre Mom hatte wieder geheiratet. Sie war ein Einzelkind. Ihr Dad lebte in Kalifornien, doch schrieben sie sich häufig E-Mails und unterhielten sich oft miteinander. Als Frühaufsteherin gefiel es ihr, ihren Dad gleich nach dem Aufstehen anzurufen, wenn sie sich einen Kaffee machte und er ein wenig aufräumte, ehe er zu Bett ging. »Ich verstehe nur nicht«, sagte sie, »dass ich so seltsam gefasst bleibe. Ich bin gar nicht so aufgebracht, wie ich meiner Meinung nach sein sollte.«

Sie sagte, seit der Beerdigung habe sie nicht mehr geweint. Als sie sich am Abend zuvor mit Dan, ihrem Partner, einen Film auf DVD ansah, waren ihr die Tränen gekommen. »Er hat einen Arm um mich gelegt und geglaubt, ich würde an meinen Dad denken – aber das habe ich nicht, ich habe geweint, weil der Film so traurig war. Und ich weiß noch, dass ich dachte, ich müsste meinem Dad von dem Film erzählen. Er hätte ihm gefallen.

Ich habe das Gefühl, wir leben zwischen zwei Anrufen. Er sitzt nicht am Schreibtisch, weshalb er mir gerade keine Mail schicken kann. Er ist noch nicht von der Arbeit zurück, ist am Strand – er hat keinen Empfang. Ich glaube irgendwie nicht, dass er tot ist. Ich denke immer noch, dass er da sein wird, wenn Dan und ich heiraten, wenn wir Kinder bekommen.«

Einen Moment lang dachte ich, ich hätte was verpasst. Und als ich schon fragen wollte, ob sie denn bald heiraten wolle, fuhr sie fort, dass es da noch etwas gäbe, worüber sie mit mir reden müsse, und zwar über Dan.

Er war achtunddreißig, vier Jahre älter als sie – ein Betriebswirt, der im Finanzsektor arbeitete. Sie hat nie Bank gesagt; alle Welt hasst Banker. Ursprünglich hatten sie vorgehabt, ein, zwei Jahre in London zu arbeiten und zu reisen – um dann, wenn sie so weit waren, Kinder zu bekommen. Doch jetzt lebten sie schon seit vier Jahren in London, und Jennifer wollte Kinder, na ja, schon lange.

Dan habe eigentlich nichts gegen Kinder, fuhr sie fort, er findet nur, dass jetzt noch nicht der richtige Zeitpunkt dafür sei. Und da war noch etwas. »Letzte Woche waren wir zusammen essen, und neben uns saß eine Familie mit zwei Kindern. Dan hat den Kellner um einen anderen Tisch gebeten. Er hasst Chaos, und ich mache mir Sorgen, dass er vielleicht doch kein so guter Vater sein wird.«

Ich fragte, ob es schon Pläne für die Hochzeit gäbe – hatten sie bereits einen Termin vereinbart?

Sie erklärte, Dan vertrage keinen Druck. Außerdem sehe er keinen Sinn in der Ehe. »Er sagt: ›Ich entscheide mich jeden Tag für dich, warum sollten wir da heiraten?‹«

Mehrere Male hatte sie darauf gedrängt, dass er sich festlegte, ihr zumindest zu verstehen gab, wie es weitergehen sollte. Vor einem Jahr hatte er dann gesagt, dass er eine Ehe in Betracht ziehe, aber auf einen Ehevertrag bestünde. Sie war wie vor den Kopf geschlagen; allein der Gedanke schien ihr den Wind aus den Segeln zu nehmen. Sie erklärte, sie habe aufgehört, um das zu bitten, was sie sich wünschte, und versuche nun, sich mit dem abzufinden, was sie habe.

»Sie glauben nicht, dass er einen guten Vater abgeben würde, oder?«, fragte sie.

»Was meinen Sie?«

»Er kann sich doch ändern, nicht?«

»Was lässt Sie glauben, dass er sich ändern möchte?«, fragte ich.

Sie schwieg einen Moment. Dann sagte sie, sie hätte Dan vorgeschlagen, einen Paartherapeuten aufzusuchen, aber er wollte sich auf nichts einlassen, solange sich die Dinge in seinem Job nicht wieder beruhigt hätten. In letzter Zeit musste er berufsbedingt oft verreisen.

Ich fragte sie, ob sie ihn vermisse, wenn er fort sei.

Früher ja, aber seit einiger Zeit male sie sich ein Leben nach dem Ende ihrer Beziehung aus.

»Und was stellen Sie sich so vor?«, fragte ich.

»Ich mache mir Sorgen um ihn. Ich stelle mir vor, ich reise in die Staaten zurück und rufe ihn an, um mich zu vergewissern, dass es ihm gutgeht. Er ist ein prima Kerl, aber in vielerlei Hinsicht eben noch ein Junge. Man muss sich um ihn kümmern.«

Ich blieb stumm.

»Sie glauben, ich behandle ihn, als wäre er mein Baby«, sagte sie. »Finde ich mich deshalb mit der Situation ab, statt darauf zu drängen, selbst ein Kind zu bekommen?«

Das weiß ich noch nicht, erwiderte ich, um ihr dann zu sagen, wie sehr es mich verblüffe, dass sie nicht wütend sei, da Dan doch seine Ansichten geändert hatte und jetzt keine Kinder mehr wolle.

Sie sagte, sie empfinde keine Wut. »Ich weiß, das sollte ich – meine Freundinnen sagen mir, dass sie ziemlich wütend wären –, aber ich kann nicht. Es macht mir nichts aus, jedenfalls nicht so viel, wie es eigentlich angemessen wäre.«

Eine Weile sagten wir beide nichts; dann bat ich sie, mir mehr von sich zu erzählen. Wo war sie aufgewachsen? Wie war ihre Mutter?

In der nächsten Stunde erzählte Jennifer viel über ihre Familie und ihre Kindheit. Vater und Mutter hatten beide in San Francisco oder Umgebung gearbeitet. Mom arbeitete in einem großen Kaufhaus, machte dann aber ihr eigenes Kleidergeschäft auf. Manchmal hatten sie Geld, dann wieder schienen sie keinen Penny mehr zu haben. Als sie zehn Jahre alt war, lebten sie in einem großen viktorianischen Haus; dann zogen sie plötzlich in eine kleine Zwei-Zimmer-Mietwohnung, in der es nach Acrylteppich roch.

Sie erzählte, dass ihre Familie kaum gesellschaftlichen Umgang pflegte – Mom und Dad schienen keine Freunde zu haben; niemand kam zum Essen. Zweimal im Jahr, zu Thanksgiving und Weihnachten, wurde der Wohnzimmertisch ausgezogen, die weiße Leinendecke gestärkt und gebügelt und Moms Familie eingeladen. Gemeinsam mit ihrer Mom begann Jennifer schon mehrere Tage im Voraus, sich um das Essen zu kümmern; es gab immer viel zu viel, und die Gespräche – sofern es denn welche gab – drehten sich ums Essen.

Dans Familie stammte aus Boston. Sie waren nicht besonders wohlhabend, führten aber eine andere Art Leben. Der Vater war Arzt, die Mutter arbeitete im Büro des Bürgermeisters. Sie hatten eine große Küche, und irgendwer schien immer am Tisch zu sitzen und Gespräche zu führen. Seine Eltern liebten Partys. Jennifer war gern dort. Sie fühlte sich bei ihnen zu Hause, umsorgt. Waren sie und Dan erst einmal verheiratet, würde es bei ihnen daheim ähnlich zugehen. Sie stellte sich vor, dass Dans Eltern in der Nähe wohnten – »sie würden phantastische Großeltern abgeben«.

Während Jennifer redete, dachte ich darüber nach, wie ähnlich doch die Situation mit ihrem Vater und mit Dan war – der Vater war gestorben, die Beziehung zu Dan fast tot. Beides, sagte sie, nähme sie seltsam gefasst hin, beinahe unbesorgt. Warum trauerte sie nicht um den Vater? Oder um das Ende ihrer Beziehung zu Dan?

Ich versuchte, Jennifer meine Gedanken darzulegen. »Mir scheint, Sie sind so sehr in der Zukunft gefangen – Ihr Vater kommt zu Ihrer Hochzeit und wohnt nicht weit von Dans Eltern –, dass Sie Ihr jetziges Leben, das Leben in der Gegenwart, ganz unberührt lässt.«

Sie schaute mich an, lächelte und nickte. Ich dachte, sie stimmt mir zu, wie sie Dan zustimmt – sie begreift es nicht, macht sich aber um sich keine Sorgen. »Sie wirken nicht gerade beunruhigt«, sagte ich. »Dabei könnten Sie für sehr, sehr lange Zeit dort festsitzen.«

»Sie behaupten also, Dan würde sich nicht mehr ändern«, sagte sie.

Ich betrachtete die junge Frau mir gegenüber und stellte mir meine Tochter vor, wie sie, Jahre später, in Jennifers Alter, in einer ähnlich leblosen Beziehung steckte – was sollte ihr ein Kollege dann raten? Was könnte er sagen, das ihr helfen würde?

Ich wünschte mir, er würde ihr sagen, dass wir manchmal um die Zukunft trauern müssen, dass viele junge Paare mehr Zukunft als Gegenwart haben. Sich trennen bedeutet nicht nur, die Gegenwart aufzugeben, sondern auch die Zukunft, die sie sich erträumten. Eine Beziehung beenden, ein neues Leben beginnen, den richtigen Menschen kennenlernen, heiraten und Kinder bekommen, all das kann sehr viel Zeit in Anspruch nehmen – weit mehr, als sie vielleicht glaubt. Um zu bekommen, was sie möchte, wird sie vermutlich einigen Schmerz erleiden müssen, doch sich der Realität zu stellen, wie schrecklich sie auch sein mag, ist fast immer besser als die Alternative. Ich wünschte mir, mein Kollege würde meiner Tochter sagen, dass er ihr helfen würde, falls sie es denn möchte, dass er sich all dem mit ihr gemeinsam stellen wollte.

Das sagte ich zu Jennifer. Sie nickte erneut und erwiderte, was ich gerade gesagt hätte, wühle sie sehr auf, doch sei sie froh über meine Worte. Sie weinte noch, als sie ging.

Analytiker weisen gern darauf hin, dass die Vergangenheit in der Gegenwart fortlebt, aber das gilt auch für die Zukunft. Die Zukunft ist kein Ort, zu dem wir unterwegs sind, denn sie ist heute schon eine Idee in unserem Kopf. Sie ist etwas, was wir erschaffen, und von der wir wiederum erschaffen werden. Die Zukunft ist eine Phantasie, die unsere Gegenwart prägt.

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