Eine Veränderung in der Familie

Vor etwa zwanzig Jahren hatte ich eine Patientin namens Emily. Sie war zehn Jahre alt und von ihren Eltern zu der Klinik gebracht worden, in der ich arbeitete, weil sie »Unfälle« hatte. Sie machte nachts ins Bett und versuchte eines Tages, eine schmutzige Unterhose die Toilette hinunterzuspülen, wodurch sie für eine Überschwemmung sorgte.

Emily war das mittlere Kind; sie hatte einen älteren Bruder, Grant, zwölf Jahre alt, und einen jüngeren Bruder, noch ein Baby. Vor meiner ersten Begegnung mit Emily traf ich mich mit den Eltern, um mehr über die Familie zu erfahren. Sie erklärten, dass Emily ihnen Rätsel aufgebe. Grant sei ein Musterschüler, bei Emily konnte davon nicht die Rede sein. Sie sei »nicht besonders intelligent und ziemlich tollpatschig«, sagte die Mutter, »und bei Tisch macht sie immer eine Sauerei.« Als ich einwarf, der Kliniktest habe gezeigt, dass Emily über durchschnittliche Intelligenz und eine normale Feinmotorik verfüge, schauten die Eltern einander überrascht an. »Wir haben damit gerechnet, dass Sie uns sagen, sie sei Legasthenikerin oder so«, erwiderte Emilys Vater. Er beugte sich vor: »Wir wollen einfach nur, dass sie glücklich ist. Es macht nichts, wenn sie nicht so gut abschneidet wie ihr Bruder.« Wir vereinbarten, dass ich Emily jeden Morgen vor der Schule sehen sollte; und ohne sie wollten wir uns einmal im Monat treffen.

Einige Tage später wurde Emily von ihrem Vater und ihrem Bruder zur Klinik gebracht. Vater und Sohn waren tadellos gekleidet – der Vater trug einen Anzug, der Sohn die Schuluniform. Emily dagegen bot einen ziemlich heillosen Anblick – das Haar ungekämmt, die Nase triefte. Sie saß da, ließ die Beine baumeln und starrte in ihren Schoß.

Während unserer ersten Stunde malte Emily ein Bild von ihrer Familie. Als sie fertig war, machte ich sie darauf aufmerksam, dass sie Zac vergessen hatte, das Baby. Daraufhin griff sie wieder nach dem Filzstift und malte Zac ins Bild, malte ihn aber größer als sich selbst. Mir kam der Gedanke, dass sie wohl nichts gegen Zac hatte, aber darunter litt, nicht länger das Baby in der Familie zu sein, und das sagte ich ihr. Daraufhin erzählte sie, dass sich seit der Geburt ihres Bruders niemand mehr die Zeit nähme, bei ihr sitzen zu bleiben, wenn sie in der Wanne lag. »Und meine Mum hat mir immer Zahnpasta auf die Bürste gedrückt, aber jetzt sagt sie, ich sei schon ein großes Mädchen und müsse das selbst tun.«

Die restliche Stunde unterhielten wir uns dann über all die Veränderungen, zu denen es in Emilys Leben seit Zacs Geburt gekommen war – Mummy blieb morgens noch mit dem Baby im Bett, während Daddy Frühstück machte und sie zur Schule brachte, und abends musste sie jetzt selbst eine Gutenachtgeschichte lesen. Gegen Ende der Sitzung war ich versucht, Emily zu sagen, dass sie womöglich ins Bett machte, weil sie wie ihr kleiner Bruder gewaschen und frisch eingekleidet werden wollte, aber ich tat es nicht. Ich fürchtete, meine Worte könnten sie beschämen; außerdem hatte sie das Thema gar nicht aufgebracht. Wir würden darüber reden, sagte ich mir, sobald sie von selbst darauf zu sprechen kam.

Beim Treffen mit den Eltern im nächsten Monat erzählten sie, Emily hätte schon seit der allerersten Sitzung kaum noch einen »Unfall« gehabt. Sie waren mir sehr dankbar, hielten es aber für das Beste, mit der Therapie aufzuhören. Ich war anderer Ansicht und erklärte, dass wir noch gar nicht wüssten, warum Emily so schlecht in der Schule und so chaotisch war. Sie aber beharrten auf ihrem Entschluss, und Emily kam nicht mehr. Vier Tage später riefen die Eltern an, um mich zu fragen, ob Emily nicht erneut zu mir kommen könne. Sie habe wieder ihre »Unfälle«.

In ihrem Therapiejahr kam es dreimal dazu – und zwar immer dann, wenn ihre Eltern es für richtig hielten, mit der Therapie aufzuhören –, dass Emily wieder einen »Unfall« hatte. Ich glaube nicht, dass sie diese »Unfälle« absichtlich inszenierte, vielmehr scheinen sie mir eine unwillkürliche Reaktion zu sein, Emilys Art, sich gegen ein Ende unserer Gespräche zu wehren.

Nach dem dritten Mal kam Emily zu ihrer Stunde und malte ein Bild. Sie begann damit, ein großes altes Haus zu zeichnen. Wie ein Puppenhaus war es zur Vorderseite offen, so dass man in die einzelnen Zimmer schauen konnte. Danach malte Emily einen Lastwagen und ein Motorrad, die vor dem Haus hielten. Der Lastwagen war voller Soldaten. Während sie ein Hakenkreuz auf den Lastwagen malte, sagte sie: »Das sind die Nazis.« Und dann zeichnete sie zwei weitere Gestalten: »Wir sind hier, versteckt in der Dachkammer. Da sind wir sicher.«

Wir trafen uns tatsächlich in einem kleinen Praxisraum im obersten Stock eines viktorianischen Hauses, in dem das Anna-Freud-Zentrum untergebracht ist. Emily sagte, ihr Vater hätte erzählt, wie Anna Freud mit ihrem Vater vor den Nazis fliehen musste und so nach England gekommen war. Sie sagte, sie wisse alles über Anna Freud – in der Schule hätten sie Auszüge aus ihrem Buch gelesen. So wusste sie auch, dass Anna Freud zu ihrem dreizehnten Geburtstag von den Eltern ein Tagebuch geschenkt bekommen hatte; und dieses Tagebuch hatte ihr Trost gespendet und sei ihr eine Stütze gewesen. Noch während sie redete, blätterte Emily zurück zur ersten Seite ihres Zeichenblocks und schrieb unter ihrem Namen: »Wer hätte je gedacht, dass so viel in der Seele eines jungen Mädchens vor sich geht?« Beim Schreiben erklärte sie: »Anna Freud hat diese Worte auch in ihr Tagebuch geschrieben.«

Emily und ich trafen uns ein Jahr lang. Während sie Bilder malte, redeten wir über ihre Gedanken und Gefühle – über die Schule, über ihr Zuhause und über die Welt. Ich fand, dass Emily die Geschichten von Anna Freud und Anne Frank vermengte, sagte allerhand darüber aus, wie sie unsere Sitzungen fand, auch dass die Bilder auf dem Zeichenblock, unsere Stunden selbst, ihr Tagebuch waren, ihr Trost gaben und für sie eine Stütze waren.

Am Ende des Jahres kamen Emilys Eltern und ich überein, dass die Therapie zu Ende gehen konnte. Emily machte sich gut in der Schule und schien überhaupt besser zurechtzukommen. Die verblüffendste Änderung aber konnte ich selbst nicht sehen. Jemand anderes musste mich darauf aufmerksam machen.

Als ich einmal im Wartezimmer stand, wenige Wochen vor dem Ende der Therapie, sah ich Emily nach, wie sie mit ihrer Mutter und dem älteren Bruder die Klinik verließ, als die Praxishilfe sagte: »Mir gefällt Emilys neue Frisur.« Ich pflichtete ihr bei. »Was glauben Sie, was mit dem Rest der Familie passiert ist?«, fragte sie. Ich erwiderte, ich verstünde nicht recht, was sie meine.

Sie erklärte, ihr sei aufgefallen, dass Emily im Laufe des letzten Jahres immer besser ausgesehen habe, die übrige Familie dagegen immer unordentlicher und sogar schmuddliger geworden sei. »Das passiert hier oft«, fuhr sie fort, »wenn es den Kindern bessergeht, verändert sich auch die übrige Familie.«

Die Beobachtung der Praxishilfe ließ mich den Fall in neuem Licht sehen. Ich war der Ansicht, dass meine Arbeit Emily geholfen hatte, ein klareres Bild von sich zu gewinnen – von ihren Fähigkeiten und dem, wozu sie in der Lage war –, und dass dieses Bild sich von den niedrigen Erwartungen unterschied, die die Eltern an sie gerichtet hatten. Emily konnte sich nun der Rolle besser widersetzen, die ihr unbewusst zugewiesen worden war. Jetzt aber begriff ich, dass Emilys Eltern – ohne es zu wissen oder willentlich zu wünschen – ihre Tochter zum Problem erklärt hatten, damit sie sich nicht mit ihren eigenen Problemen befassen mussten. Als sich Emily änderte, musste sich folglich auch die Familie ändern.

Eine Woche vor meiner letzten Sitzung mit Emily fand auch das letzte Treffen mit ihren Eltern statt. Gegen Ende unseres Gesprächs begannen sie, von sich zu erzählen, davon, wie schwierig die Dinge in den letzten Monaten geworden waren – und ob ich glaubte, dass ihnen eine Ehetherapie helfen könne.

Die Frau, die nicht lieben wollte und andere wahre Geschichten über das Unbewusste
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