Warum Eltern ihre Kinder beneiden

Vor einigen Jahren hatte ich eine Patientin, die ich Amira nennen will. Als Amira siebenundzwanzig Jahre alt war, hatte sie einen schweren Autounfall – ihr Wagen schleuderte auf den Mittelstreifen der Autobahn M1. Körperlich blieb sie unversehrt, emotional aber war sie ein Wrack.

Zwei Jahre nach dem Unfall begann Amira, ihr Leben wieder in Ordnung zu bringen, doch fiel es ihr zunehmend schwer, ihrer Mutter davon zu erzählen, wie sehr sich ihr Leben wieder besserte. »Ich ertrage ihre ’Masha’Allahs’ einfach nicht mehr«, sagte Amira. »Masha’Allah heißt ›Gott will es so‹. Meine Mutter sagt es, sobald mir etwas Gutes widerfährt. Und sie sagt es, um den ›bösen Blick‹ abzuwehren – sagt es, um mich vor dem Neid der Menschen zu schützen –, und sie macht mich damit verrückt.«

Amira beschrieb eine Unterhaltung mit ihrer Mutter über die Vorkehrungen, die sie und ihr Verlobter für die Hochzeitsreise getroffen hatten. »Ich sagte, wir hätten beschlossen, nach Paris zu fahren: ’Masha’Allah.’ Ich fing an, ihr das von uns ausgesuchte Hotel zu beschreiben, ’Masha’Allah’, und versuchte, ihr von unserer Suite und unseren Plänen zu erzählen: ’Masha’Allah’, ’Masha’Allah,’ ’Masha’Allah.’ Am liebsten hätte ich das Handy aus dem Fenster geworfen«, berichtete Amira. »Mein Glück ist nicht allein Gottes Werk – zumindest für einen Teil davon bin ich selbst verantwortlich.«

Mir schien, der Wunsch von Amiras Mutter, die Tochter vor dem Neid anderer Leute beschützen zu wollen, wurzelte in ihrem eigenen Neid. Amira fand diesen Gedanken überraschend, doch wurde ihr bald klar, dass ihre Mutter sich vermutlich nach einer anderen Zeit zurücksehnte. Einmal hatte sie erzählt, das erste Jahr ihrer Ehe, als sie mit Amiras Vater in Frankreich lebte, sei die glücklichste Zeit ihres Lebens gewesen. »Es kann nicht leicht für sie sein«, gab Amira zu. »Ich freue mich auf die Ehe und auf Kinder, sie dagegen ist eine Witwe, die zurückschaut.« Später fragte sich Amira, ob sie unsensibel gewesen sei oder gar unwillentlich versucht hatte, ihre Mutter eifersüchtig zu machen.

Wir beneiden unsere Kinder oft um ihre Schätze – um ihre wachsende physische und geistige Kraft, ihre Lebenslust, ihre Freude und den materiellen Komfort. Vor allem aber beneiden wir sie um ihr Potential. Robert B., ein fünfundfünfzig Jahre alter Beamter, schilderte mir einmal einen seiner Träume: »Ich bin auf einem Berg. Meine toten Großeltern sind ganz oben, über den Wolken. Sie ruhen sich in einer kleinen Holzhütte aus und warten auf meine Eltern, die gleich unterhalb des Gipfels sind. Ich bin viel weiter unten als meine Eltern. Und meine Kinder sind ganz am Fuße des Bergs; sie haben gerade erst das Basislager verlassen. Ich verstecke mich hinter einem Fels, und meine Kinder gehen vorbei. Als ich wieder auf den Pfad trete und sie hoch über mir entdecke, bin ich überglücklich.«

Roberts Traum zeigt unter anderem sein Bild vom Leben als einer Wanderung von der Geburt zum Tod, von der Wiege (dem Basislager) zum Grab (kleine Holzhütte). Der Traum stellt auch seinen unbewussten Wunsch dar, aus der Zeit zu treten, den Platz mit den Kindern zu tauschen, so dass sich seine Zukunft weiter vor ihm erstreckt als die seiner Kinder.

Der Neid, den ich beschreibe, ist größtenteils unbewusst: verschwiegen und resistent gegenüber Untersuchungen oder Beweisführungen. In unseren Träumen erhaschen wir darauf einen Blick, auch in unseren Fauxpas oder Versprechern. Ich kannte eine Mutter, die in Armut aufgewachsen und stolz darauf war, ihrer Tochter ein Wollkostüm von Prada kaufen zu können, doch nur Stunden nach dem Kauf steckte sie das Kostüm aus Versehen in die Waschmaschine, wodurch es ruiniert wurde. Neid tarnt sich oft auch als Korrektur – ein Vater bremst sein begeistertes Kind, indem er es »vorwitzig« oder »altklug« nennt; eine Mutter beklagt sich, ihr Kind sei undankbar: »Du weißt gar nicht, wie gut du es hast.« »Ich habe nie so etwas wie dieses oder jenes gehabt.« Wenn wir unsere Kinder beneiden, machen wir uns selbst etwas vor – wir denken zu schlecht von ihnen und zu gut von uns.

Man muss auch nicht Vater oder Mutter sein, um diesen besonderen Neid zu kennen. Ein Trainer beneidet seinen Athleten, ein Lehrer seinen Schüler und – es wäre unfair, dies nicht zu erwähnen – ein Analytiker seinen Patienten. Manchmal sind unsere Patienten jünger, klüger und finanziell erfolgreicher als wir. Und es ist gar nicht ungewöhnlich, dass ein Analytiker einem Patienten hilft, ein Problem zu lösen, mit dem er selbst sich erfolglos sein Leben lang herumgeschlagen hat. »Eltern« jeglicher Ausprägung können in diese besondere Neidfalle tappen.

Die Frage lautet: Können wir uns daraus befreien, indem wir uns selbst und unseren Platz innerhalb der Zeit so zu akzeptieren lernen, dass es uns gelingt, die Freuden und Erfolge unserer Kinder zu genießen? Denn im Extrem ist Neid auf unser Kind ein großes psychologisches Unglück, durch das uns nicht nur der Verlust unseres geistigen Gleichgewichts, sondern auch der unserer Kinder droht.

Stanley P., ein siebenundsiebzig Jahre alter Witwer und Vater von vier Kindern, wurde mir vor zehn Jahren von seinem Hausarzt überwiesen. Er hatte seine Aktivitäten immer weiter eingeschränkt – auf diese Weise, so fand ich bald heraus, vermied er es, neidisch auf andere Menschen zu werden. Er reiste nicht mehr und gab sich nur noch mit Leuten ab, die er verachten konnte – etwa jene, die hin und wieder gewisse Aufgaben für ihn übernahmen. Mit seinen Kindern verstand er sich nicht, beschwerte sich bei jedem über die anderen – über ihren Mann, ihre Frau, über die Geburtstagsgeschenke oder die viel zu seltenen Telefonanrufe. Stanley bewirkte mit seinem Verhalten, dass sich die Kinder immer weiter aus seinem Leben zurückzogen – was ihm wiederum nur bestätigte, wie egoistisch sie waren.

Eines Tages beschrieb Stanley einen Besuch von seiner Tochter, die früher mehrmals im Jahr ihren Mann und ihre Kinder mitgebracht hatte, jetzt aber höchstens noch einmal im Jahr kam, und dann allein. Als Stanley erzählte, wie er sich von ihr verabschiedete und in einem Flughafencafé ihre Hand hielt, kamen ihm die Tränen. Er musste daran denken, wie sie noch klein gewesen war und er vor ihrer Schlafzimmertür gestanden hatte, während sie ihrem Teddybär The Tale of Mrs Tiggy-Winkle vorzulesen versuchte. Doch die Erinnerung und sein Gefühl zärtlicher Trauer wichen bald wieder einer langen Reihe von Klagen – dass ihr Besuch zu kurz, ihr Abschiedsgeschenk so billig gewesen war. Und damit verlor er sie aufs Neue. Was ihm an Liebe für sein Kind geblieben war, besaß kaum eine Chance gegen die große Erzählung, die ihm der Neid geschrieben hatte.

Die Frau, die nicht lieben wollte und andere wahre Geschichten über das Unbewusste
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