Über das Lachen

Montag, der erste Tag nach den Osterferien – es war warm und strahlend hell. Ich öffnete die Fenster in meinem Wartezimmer einen Spaltbreit und ging vor die Tür, um die letzte Patientin des Morgens hereinzubitten. Lily stand auf, sobald sie mich kommen hörte. »Wie schön, wieder hier zu sein«, sagte sie. »Ich hatte zu Hause eine verrückte Zeit.«

Lily war gerade von einer Kurzreise nach New York zurückgekehrt, wo sie mit der neun Monate alten Tochter Alice ihre Eltern besucht hatte. Der Flug von London war schrecklich gewesen. Und nachdem sie es mit Alice und all dem Gepäck endlich durch den New Yorker Flughafen geschafft hatte, traf sie ihre Mutter draußen auf dem Bürgersteig. »Sie hat mich umarmt, wie sie mich immer umarmt«, sagte Lily. »Sie schließt die Augen und klopft mir auf den Rücken – als ob ich Flöhe hätte.«

Ihre Mutter öffnete die Wagentür, und Monty, der schlabbernde, fünfzig Pfund schwere Golden Retriever sprang nach draußen. »Er schob mir die Nase in den Schritt meiner Jeans, was ich ziemlich peinlich fand. Und dann habe ich mich gefragt, wieso sie den Hund mit zum Flughafen nimmt – schließlich fährt sie keinen Kombi. Mom meinte: ›Ich dachte, so kann ich euch am besten miteinander bekannt machen.‹ Also saß Alice hinten im Kindersitz, ich neben ihr, und Monty hockte vorn auf dem Beifahrersitz.«

Während ihres gesamten Besuches zeigten sich Lilys Eltern kaum an ihrem Leben interessiert. Die beiden Fernseher blieben den ganzen Tag voll aufgedreht, und sie aßen eng zusammengedrängt am Küchentresen. Der Vater stellte meist seinen Laptop neben den Teller.

»Am letzten Abend sagte ich meinen Eltern nach drei Gläsern Wein, dass ich ihnen tausend Fotos von Alice schicken würde, sobald ich wieder in London sei. Sie müssen nämlich wissen, dass es in ihrem Haus Fotos in jedem Zimmer gibt. Allein auf dem Flügel steht eine ganze Sammlung, aber nirgendwo ist auch nur ein einziges Foto ihres ersten Enkelkindes zu sehen.

Und meine Mom sagte: ›Ach du meine Güte, hast du es denn nicht gesehen? Das ist mein absolutes Lieblingsbild!‹ Und sie ging ins Schlafzimmer, durchwühlte die Schublade ihrer Kommode und fischte eine Aufnahme von Alice heraus. Sie lächelte und erklärte: ›Oh ja, ich liebe dieses Bild‹; daraufhin mein Dad: ›Oh ja, ich liebe dieses Bild.‹ Und ich sagte: ›Oh ja, ich liebe es auch.‹ Aber insgeheim dachte ich: Was soll der Scheiß? Glaubt sie, ich hätte den Röntgenblick?«

Ich musste ein Lächeln unterdrücken.

Lily schwieg einen Moment. »In dieser letzten Nacht hatte ich einen seltsamen Traum, einen Albtraum. Was geschah, war eigentlich sehr schlimm, nur fand ich es nicht schlimm.«

Im Traum stand Lily in einer Gruppe an einem See. Sie sah einem kleinen Mädchen zu, das hinaus zu einem Holzfloß schwamm – das Mädchen gab sich Mühe, schaffte es und zog sich hoch. Ein Blitz zuckte über den Himmel; es donnerte. Das Mädchen war in Gefahr, nur schien das niemanden zu kümmern – wo war die Mutter des kleinen Mädchens, wo der Vater? Lily bat ihre Eltern, auf Alice aufzupassen, und schwamm zu dem kleinen Mädchen. Der See war schwarz und aufgewühlt; Lily hatte Mühe, den Kopf des Mädchens über Wasser zu halten. Als sie an Land kamen, trug sie die Kleine aus dem Wasser und merkte dann, dass ihre Eltern allein waren – Alice war nirgendwo zu sehen.

Lily nahm an, dass sich der letzte Teil – Alice war nirgendwo zu sehen – auf das in der Schublade vergrabene Foto bezog. Was aber war mit dem Rest des Traums?

»Erinnert er Sie an irgendwas?«, fragte ich.

Er erinnerte sie an den See unweit von ihrem alten Internat. Jeden Herbst wurden ein, zwei neue Schüler von den älteren Schülern in den See geworfen. Meist suchten sie sich die frechsten Jungs und die schönsten Mädchen aus. In diesen ersten Wochen im Internat – als sie noch Heimweh hatte – gefiel es ihr, dass sie ausgewählt wurde.

In den folgenden Wochen hatten es einige der älteren Mädchen in ihrem Schlafsaal auf sie abgesehen. Sie stichelten, machten sexuelle Anspielungen und versuchten sie zu überreden, zu einem der älteren Jungen ins Zimmer zu gehen. Lily war vierzehn und hatte noch nie einen Jungen geküsst.

Eines Abends nahm eines der älteren Mädchen Lily mit auf die Toilette und brachte ihr bei, wie man sich übergibt, indem man sich einen Finger in den Hals steckt. »Ist wie beim Blasen, mach einfach den Mund auf und schieb ihn rein«, sagte das Mädchen.

Die Zeit im Internat wurde immer unerträglicher. Lily tröstete sich mit dem Gedanken, dass sie klug war und sich schon durchsetzen würde, dass sie in ein, zwei Jahren einen Freund kennenlernen und sich verlieben, dass sich schon alles finden würde. Aber so war es nicht. Lily aß und schlief schlecht. Sie versäumte zwar nie den Unterricht, wurde aber immer panischer. »Ich war nicht deprimiert, nur lief alles irgendwie ständig schneller ab. Die Welt ging aus den Fugen – ich konnte den Kopf nicht über Wasser halten.«

»Also sind Sie das Mädchen im Traum«, sagte ich.

»Aber wenn ich das bin, wie kann ich mich da um Alice kümmern?«

»Vielleicht geht es in diesem Traum genau darum.«

Lily gab zu, dass es ihr bei den Eltern tatsächlich schwergefallen war, auf Alice aufzupassen. Während ihrer Zeit dort wurde sie wieder zum Kind, fühlte sich weniger erwachsen, immer weniger wie die Mutter, die sie war. »Wissen Sie, ich habe mich wie eine jener Entführten gefühlt, die anfangen, die Welt draußen zu vergessen und wie ihre Entführer zu denken. Das Stockholm-Syndrom.«

Mir fiel auf, dass Lily den Besuch bei den Eltern in eine Art Comicserie verwandelte. Bei jeder Wendung ihrer Geschichte, bei der ich damit rechnete, sie würde gleich sagen, wie verletzt sie sich fühlte, wie wütend sie war, kam sie mit einer punchline, einer Pointe – als ob ich Flöhe hätte; glaubt sie, ich hätte den Röntgenblick?

Durchs offene Fenster hörte man auf dem Bürgersteig Kinder lärmen, die auf dem Weg zum nahen Spielplatz lauthals kreischten und lachten. Während Lily und ich darauf warteten, dass die Kinder vorübergingen, ertappte ich mich dabei, wie ich über das Wort punchline nachdachte, das doch eigentlich Schlagzeile bedeutet – die Gewalt darin ist so unüberhörbar. Stammte punchline vom Kasperltheater Punch und Judy? Einige Monate zuvor, kurz vor Weihnachten, hatte eines der großen Geschäfte in der Nähe ein Kasperletheater gemietet, eine Punch and Judy Show. Mit meinen Kindern stand ich da und sah zu: Judy ging aus dem Haus und überließ es Mr Punch, sich um das Baby zu kümmern. Wie immer vergaß der chaotische Mr Punch das Baby, setzte sich drauf, biss es schließlich sogar. Als Judy zurückkam, wurde der Stock vorgeholt, und der Klamauk begann. Ich fror und wollte nach Hause; meine Kinder aber waren völlig gebannt. Wir blieben bis zum Schluss.

»Eines der Probleme bei Ihren Scherzen besteht darin, dass wir glauben können, wir hätten über das geredet, was Ihnen zu schaffen macht – etwa Ihre Ankunft am Flughafen oder Alices Foto in der Schublade –, und wir haben ja auch darüber geredet, nur haben wir uns eigentlich nicht damit auseinandergesetzt.«

»Wenn ich darüber nicht lachen könnte, wäre ich die meiste Zeit bloß noch wütend.«

»Ihre Scherze sind aggressiv, Sie bekommen Ihre Rache, und Sie fühlen sich ein bisschen besser. Der Humor scheint zu wirken: Hinterher tut es nicht mehr so weh. Nur scheinen Sie auch jeden Antrieb verloren zu haben, Ihre Lage besser verstehen zu wollen.«

»Die Scherze entschärfen meine Wut, sie entschärfen sie allerdings so weit, dass ich mich mit dem Verhalten meiner Eltern abfinde. Ich höre auf, darüber nachzudenken.«

»Ganz genau«, erwiderte ich.

Lily schwieg einen Moment und sagte dann, sie wäre sich nicht so sicher. Sie dächte durchaus über die Situation mit ihren Eltern nach – das sei ein Albtraum, nur könne sie nichts daran ändern.

Das Wort »Albtraum« erinnerte mich an ihren Traum. Ich sagte, ich müsse an die Worte denken, mit denen sie die Erzählung ihres Traums eingeleitet hatte: ›Was geschah, war eigentlich sehr schlimm, nur fand ich es nicht schlimm.‹

Ich sagte: »Zweck Ihres Traumes könnte es gewesen sein, Ihnen die Gewissheit zu vermitteln, dass Sie einen Albtraum durchleben können, ohne etwas dabei zu empfinden. Dass Sie nicht nur den Kopf über Wasser halten, sondern sich auch gegen das mangelnde Interesse Ihrer Eltern abschotten können.«

»Haben Sie eine Vorstellung davon, was passiert, falls ich mich nicht abschotte?«, fragte sie. »Wenn meine Eltern herausfänden, was ich wirklich denke, wäre dies das Ende von dem bisschen Beziehung, das uns noch geblieben ist. Ich kann mit ihnen einfach nicht über das reden, was mich beschäftigt. Das ginge schief. Und meine Mom würde leugnen, irgendwas aggressiv zu meinen – sie würde sagen: ›Aber es ist doch nur ein Foto, Honey.‹« Lily verstummte. »Das funktioniert, Mr Grosz – es funktioniert.«

Am Anfang der Analyse war mir aufgefallen, dass Lily die Stimme zum Satzende auch dann hob, wenn sie keine Frage stellte. Mit dieser Tonveränderung verstärkte sie den Druck auf mich, möglichst bald zu antworten. Damals fanden wir heraus, dass sie mein Schweigen unangenehm fand und wollte, dass ich rasch weiterredete, damit sie an meiner Stimme merkte, ob ich mit ihr übereinstimmte oder nicht.

Ich sagte Lily, meiner Vermutung nach wolle sie mich aus ähnlichen Gründen zum Lachen bringen. Mein Lachen hieß, dass wir einer Meinung waren – dass wir die Guten und ihre Eltern die Bösen waren. Mein Lachen sprach sie von aller Schuld frei – sie brauchte dann kein schlechtes Gewissen zu haben, wenn sie sich über ihre Eltern lustig machte.

Sie erwiderte, es sei tatsächlich eine Erleichterung, wenn ich lachte; darauf verstummte sie. Eine Zeitlang redeten wir beide kein Wort. Ich nahm an, dass Lily auf ihre Armbanduhr geschaut und beschlossen hatte, für heute Schluss zu machen, da uns sowieso nur noch wenige Minuten blieben. Es war, als hätte sie das Zimmer bereits verlassen.

Und dann sagte sie: »Ich musste an meinen Nervenzusammenbruch im Internat denken, daran, wie ich zu Hause angerufen hatte, von einem Münztelefon hinterm Schlafsaal, mitten in der Nacht; Motten umschwirrten die Neonröhre. Ich habe wie ein Schlosshund geheult und gesagt: ›Bitte, darf ich nach Hause kommen, bitte, darf ich?‹, woraufhin die Antwort kam: ›Nein, darfst du nicht.‹ Und obwohl es im Internat immer schlimmer wurde, zwang ich mich zu bleiben. Irgendwas aber war für mich anders geworden. Mein Zusammenbruch hatte wie ein Schmelzofen funktioniert und jeden Glauben an meine Gefühle in mir weggebrannt.«

Während ich ihrer Erinnerung zuhörte, kam mir der Traum wieder in den Sinn: Das Mädchen war in Gefahr, doch schien es niemanden zu kümmern – wo war die Mutter des kleinen Mädchens, wo der Vater?

Sie fuhr fort: »Selbst heute fällt es mir schwer, meinen Gefühlen zu vertrauen. Wenn Sie aber lachen, heißt das, Sie glauben meinen Gefühlen, glauben meiner Realität. Wenn Sie lachen, weiß ich, dass Sie die Dinge genauso sehen wie ich – dass Sie nicht ›Nein‹ gesagt hätten; Sie hätten mich nach Hause kommen lassen.«

Die Frau, die nicht lieben wollte und andere wahre Geschichten über das Unbewusste
titlepage.xhtml
CR!63PT0N8K7D2J99VDB8KEN6ARBNPE_split_000.html
CR!63PT0N8K7D2J99VDB8KEN6ARBNPE_split_001.html
CR!63PT0N8K7D2J99VDB8KEN6ARBNPE_split_002.html
CR!63PT0N8K7D2J99VDB8KEN6ARBNPE_split_003.html
CR!63PT0N8K7D2J99VDB8KEN6ARBNPE_split_004.html
CR!63PT0N8K7D2J99VDB8KEN6ARBNPE_split_005.html
CR!63PT0N8K7D2J99VDB8KEN6ARBNPE_split_006.html
CR!63PT0N8K7D2J99VDB8KEN6ARBNPE_split_007.html
CR!63PT0N8K7D2J99VDB8KEN6ARBNPE_split_008.html
CR!63PT0N8K7D2J99VDB8KEN6ARBNPE_split_009.html
CR!63PT0N8K7D2J99VDB8KEN6ARBNPE_split_010.html
CR!63PT0N8K7D2J99VDB8KEN6ARBNPE_split_011.html
CR!63PT0N8K7D2J99VDB8KEN6ARBNPE_split_012.html
CR!63PT0N8K7D2J99VDB8KEN6ARBNPE_split_013.html
CR!63PT0N8K7D2J99VDB8KEN6ARBNPE_split_014.html
CR!63PT0N8K7D2J99VDB8KEN6ARBNPE_split_015.html
CR!63PT0N8K7D2J99VDB8KEN6ARBNPE_split_016.html
CR!63PT0N8K7D2J99VDB8KEN6ARBNPE_split_017.html
CR!63PT0N8K7D2J99VDB8KEN6ARBNPE_split_018.html
CR!63PT0N8K7D2J99VDB8KEN6ARBNPE_split_019.html
CR!63PT0N8K7D2J99VDB8KEN6ARBNPE_split_020.html
CR!63PT0N8K7D2J99VDB8KEN6ARBNPE_split_021.html
CR!63PT0N8K7D2J99VDB8KEN6ARBNPE_split_022.html
CR!63PT0N8K7D2J99VDB8KEN6ARBNPE_split_023.html
CR!63PT0N8K7D2J99VDB8KEN6ARBNPE_split_024.html
CR!63PT0N8K7D2J99VDB8KEN6ARBNPE_split_025.html
CR!63PT0N8K7D2J99VDB8KEN6ARBNPE_split_026.html
CR!63PT0N8K7D2J99VDB8KEN6ARBNPE_split_027.html
CR!63PT0N8K7D2J99VDB8KEN6ARBNPE_split_028.html
CR!63PT0N8K7D2J99VDB8KEN6ARBNPE_split_029.html
CR!63PT0N8K7D2J99VDB8KEN6ARBNPE_split_030.html
CR!63PT0N8K7D2J99VDB8KEN6ARBNPE_split_031.html
CR!63PT0N8K7D2J99VDB8KEN6ARBNPE_split_032.html
CR!63PT0N8K7D2J99VDB8KEN6ARBNPE_split_033.html
CR!63PT0N8K7D2J99VDB8KEN6ARBNPE_split_034.html
CR!63PT0N8K7D2J99VDB8KEN6ARBNPE_split_035.html
CR!63PT0N8K7D2J99VDB8KEN6ARBNPE_split_036.html
CR!63PT0N8K7D2J99VDB8KEN6ARBNPE_split_037.html
CR!63PT0N8K7D2J99VDB8KEN6ARBNPE_split_038.html
CR!63PT0N8K7D2J99VDB8KEN6ARBNPE_split_039.html
CR!63PT0N8K7D2J99VDB8KEN6ARBNPE_split_040.html
CR!63PT0N8K7D2J99VDB8KEN6ARBNPE_split_041.html
CR!63PT0N8K7D2J99VDB8KEN6ARBNPE_split_042.html
CR!63PT0N8K7D2J99VDB8KEN6ARBNPE_split_043.html
CR!63PT0N8K7D2J99VDB8KEN6ARBNPE_split_044.html
CR!63PT0N8K7D2J99VDB8KEN6ARBNPE_split_045.html