Ein sicheres Versteck

»Einen Moment«, sagte er, »ich habe vergessen, das Bitte-nicht-stören-Schild an die Tür zu hängen.«

Ich höre, wie mein Patient den Apparat beiseitelegt, durchs Zimmer geht und eine Tür öffnet und wieder schließt. Als er mit gedämpften Schritten zurückkommt, stelle ich ihn mir in seinem Hotelzimmer vor und rechne mir dann aus, wie spät es in Brüssel ist – früher Abend, viertel vor sechs.

Er greift wieder nach dem Telefon. »Tut mir leid. Das hätte ich tun sollen, ehe ich Sie anrief. Ich habe an was anderes gedacht.«

Ich höre, wie er einen Schluck Tee oder Kaffee nimmt und die Tasse wieder auf die Untertasse stellt.

»Wissen Sie, was ein Safe House ist?«, fragt er und erzählt mir dann, er hätte auf BBC eine Sendung über Amerikaner gesehen, die sich einen Schutzraum oder gar ein Deluxe-Safe-House bauen. »Sie können sich den abfälligen, anti-amerikanischen Ton der Sendung vorstellen: ›Jetzt sieh sich einer an, wofür diese abgedrehten Amerikaner neuerdings ihr Geld ausgeben.‹ Bloß hatten die Bilder auf mich eine ganz andere Wirkung, als es von den Machern der Sendung offenbar beabsichtigt war. Ich fühlte mich zutiefst aufgewühlt.

Eine Szene ergriff mich besonders – ein Vater saß mit seinem Sohn, einem Jungen im Teenageralter, auf dem Boden im elterlichen Schlafzimmer. Der Vater zeigte dem Jungen ein paar Dinge, die er in einem Schuhkarton unterm Bett aufbewahrte, darunter einen Satz Wasserfilter, ein batteriebetriebenes Funkgerät mit mehreren Kanälen sowie eine Rolle Angelschnur. Er erzählte seinem Sohn, dass es nach der Apokalypse keinen Supermarkt mehr geben würde, in dem man Fisch kaufen könne.«

Mein Patient fühlt sich diesem Mann sehr nahe. Der Vater gibt all sein Gespartes für den Schutz der Familie aus. Er möchte sich sicher fühlen. »Das ist verrückt, der Kerl ist verrückt – aber ich kann ihn verstehen.« Mein Patient vertraut mir an, dass er fürchtet, wie dieser Vater zu sein und sich ständig auf irgendeine Katastrophe vorzubereiten.

Ich höre, wie er noch einen Schluck Tee nimmt. »Ich bin genauso verrückt, denke ständig an mein Haus in Frankreich«, sagt er. »Davon habe ich Ihnen noch nie erzählt.«

Als Erstes gibt er mir zu verstehen, dass es sich dabei um kein großartiges Anwesen handelt – eigentlich ist es sogar nur ein Bauernhaus inmitten von Wald und Wiesen. Es strahlt jene tiefe Stille aus, wie man sie auch in Schottlands Wäldern findet – das genaue Gegenteil von London. Es gibt keinen Lärm, nichts, was stört. Und er braucht auch nicht auf die großen Bankiershäuser seiner Nachbarn zu schauen.

Vor wenigen Wochen erhielt er übrigens ein Schreiben von der Stadt London, in dem es um seine Nachbarn ging, die ihr bereits vulgäres, völlig überdimensioniertes Wohnhaus noch weiter ausbauen wollen. Er war so wütend, dass er nicht einmal den Gedanken daran ertrug. Natürlich hätte er der Stadt schreiben und sich beschweren sollen, »aber ich war dazu einfach nicht in der Lage. Meine Frau musste das übernehmen. Ich konnte nur an unser Haus in Frankreich denken – das hat mich beruhigt.«

Und dann gibt es Momente – wie erst vor wenigen Minuten, als seine Frau das Hotelzimmer kurz vor Beginn der Sitzung verließ – Momente, in denen er allein ist und sich ausmalt, in seinem Haus in Frankreich zu sein. »Noch bleibt Zeit bis zum Anruf, ein Zeitloch, eine Lücke, und dann weiß ich nur noch, dass ich fort bin – verloren in meinem verrückten Bau.«

Ich frage ihn, was er mit verrückt meint.

Er sagt, verrückt ist für ihn das ewige Verbessern und Umräumen. Er denkt ans Dekorieren, ans Umbauen – Zimmer, Türen, Fenster werden hinzugefügt. »Wie wäre die Aussicht, wenn ich diese Zimmerwände umstelle, das Haus um sich selbst drehe oder es auf die Kuppe eines nahen Hügels versetze? Solche Sachen male ich mir oft aus; und dann ist da noch das Verhandeln.«

Er sagt, es falle ihm schwer, darüber zu reden – viel schwerer, als sich über seine Depression oder seine Panikattacken auszulassen. Es überrascht ihn auch nicht, dass er mir während einer Telefonsitzung davon erzählt – so ist es leichter, nicht so peinlich.

Als Anna, seine Frau, an diesem Abend das Zimmer verließ und er auf den Beginn unserer Sitzung wartete, hatte er sich zum Beispiel vorgestellt, sein ganzes Geld auszugeben, um das Haus perfekt zu gestalten. Er wollte auf das Haus in London verzichten und auf seine gesamte Habe, vielleicht sogar auf seine Stellung in der Regierung, dafür aber hätte er dann Folgendes: ein Einkommen von 500 Pfund die Woche und das Haus genauso, wie er es sich wünschte.

Das Ziel dieser Verhandlungen ist es nicht, am Ende etwas Luxuriöses zu besitzen, ganz im Gegenteil – Freunde würden sich fragen, warum er sich mit einem derart schlichten Haus auf dem französischen Land zufriedengab. Warum verzichtete er auf den gewohnten Komfort? »Wir würden unauffällig leben, bescheiden – würden zu Leuten, die man überhaupt nicht beneidete.«

Ich höre ihn einen weiteren Schluck nehmen.

»Es ist mein Safe House, mein sicheres Versteck«, sagt er. Wenn er in irgendwelchen sinnlosen Meetings festsitzt, allein in irgendeinem miserablen Hotel hockt – oder wenn er in London ist und Anna mal eben einkaufen geht – stellt er sich vor, in diesem Haus in Frankreich zu sein, oder er überlegt sich ein paar weitere Veränderungen.

Ich sage, von Anna getrennt oder abgeschnitten zu sein, mache ihn offenbar nervös und zornig – Trennung verunsichert ihn. Vielleicht denkt er an das Haus in Frankreich, um sein inneres Gleichgewicht zurückzugewinnen.

Ich höre, wie er noch einen Schluck nimmt und die Tasse wieder auf den Unterteller stellt. »Ich hatte angenommen, Sie würden sagen, dass ich an mein Haus in Frankreich denke, wenn ich meine Wirklichkeit unerträglich finde«, sagte er, »aber es stimmt, Trennung verunsichert mich tatsächlich.«

Nach dem Studium in Oxford, fuhr er fort, und ehe er nach Harvard ging, hatte er mit Anna einen Sommer in Italien verbracht. Das Herumreisen von Stadt zu Stadt machte ihn nervös; irgendwie wurde er das unangenehme Gefühl nicht los, er könnte Anna verlieren, könnte sich umdrehen und sie wäre nicht mehr da. Jeden Morgen, ehe sie die pensione verließen, musste Anna ihm versprechen, dass sie, sollten sie einmal getrennt werden, sich sofort auf den Weg zur Stadtmitte und zu den Stufen der Kathedrale machte. Das war ihr Treffpunkt. »Wenn ich an das Haus in Frankreich denke, sehe ich Anna im Wohnzimmer sitzen und auf mich warten – das ist unser Treffpunkt, genau wie die Kathedrale.«

Ich kann hören, wie er im Zimmer umherwandert. »Keine Sorge, Mr Grosz, ich schenke mir nur noch etwas Tee ein. Ich bin nicht im Bad.«

An manchen Tagen, bekennt er, müsse er ununterbrochen ans Haus denken, stelle sich für dieses Zimmer einen anderen Anstrich vor, für jenes Zimmer einen größeren Durchbruch. Er skizziert Grundrisse und Innenansichten. Heute hatte er während einer Sitzung eine Fluransicht vom Hauseingang bis zur Küche gezeichnet. Würde ich ihn fragen, was in der Speisekammer ist, könnte er mir jeden einzelnen Gegenstand auf den Regalen nennen. Meist aber denkt er an die Zimmer, an einen Umbau, an die Proportionen. Es ist lächerlich, sagt er, aber in dem Haus kenne ich mich viel besser aus als in meinem Haus in London.

Es handle sich bestimmt um eine Flucht vor der realen Welt, sagt er. Das Haus in Frankreich müsse mit einer Phantasiewelt zusammenhängen, die er sich als Kind schuf. Er hat die Streitereien seiner betrunkenen Eltern gehasst, die Tobsuchtsanfälle seiner Mutter, ihr explosives Temperament. »Ich war immer in einem Buch oder einem Tagtraum versunken und habe versucht, dem Lärm ihrer Auseinandersetzungen zu entfliehen. Sie werden mir vermutlich sagen, ich hätte versucht, dem Lärm und meinem Hass auf die Eltern zu entfliehen – und hätten damit recht.«

Er sagt, es sei ihm peinlich und es beschäme ihn, dass er nicht wie ein normaler Mensch ein paar Minuten allein in einem Hotelzimmer sitzen könne. »Ich verstehe es nicht«, fährt er fort. »Ich fürchte, mein Haus untergräbt meinen Realitätssinn.«

»Vielleicht«, erwidere ich. »Es könnte aber auch sein, dass Ihnen das Haus hilft, Ihren Realitätssinn zu bewahren. Sie denken ja nicht ständig an Ihre Zuflucht in Frankreich, vielmehr scheinen Sie es vor allem dann zu tun, wenn Sie allein und von allen anderen getrennt sind, wenn Sie sich fürchten oder zornig sind.«

»Das ist eine sehr wohlwollende Interpretation dessen, was ich zu beschreiben versuche, nur bin ich mir nicht sicher, ob sie stimmt. Sie erklärt nicht meine unaufhörliche Lust zum Dekorieren, mein absurdes Feilschen – das: ›Ich gebe alles her, wenn ich dafür … was auch immer haben kann.‹«

Nein, erwidere ich, diese Tauschgeschäfte erklärt es nicht. »Das scheint mir eher etwas zu sein, was ein verängstigtes Kind macht.«

Ich höre wieder, wie er sich bewegt, vermutlich aufsteht.

Er sagt, es gebe da eine Geschichte von Joyce, sicher in Dubliner, die habe er während seines ersten Studienjahres gelesen, seither aber keinen Blick mehr hineingeworfen – das Ende sei zu erschütternd, zu verstörend. Zum Schluss der Geschichte kommt der Vater nach Hause – er hat getrunken – und stellt fest, dass seine Frau in der Kirche ist und sein Sohn das Feuer ausgehen ließ. Der Vater muss also auf sein Abendessen warten, und der kleine Junge versucht, ihn zu besänftigen. Er sagt dem Vater, er mache ihm das Abendessen, aber damit gibt der sich nicht zufrieden. Er holt den Spazierstock, krempelt die Ärmel auf und beginnt, seinen kleinen Jungen zu verdreschen. Es gibt kein Entkommen. Immer wieder schlägt der betrunkene Vater auf den kleinen Jungen ein. Blut fließt. Der kleine Junge bittet, fleht ihn an, dann wird aus dem Bitten ein Feilschen: »Schlag mich nicht, Papa! Ich sag … ich sag auch ein Ave Maria für dich … Ich sag ein Ave Maria für dich, Papa, wenn du mich nicht schlägst …«[2]  

So hat es sich angefühlt, wenn seine Mutter ihn schlug und verprügelte – »Hau mich nicht, Mummy, ich will auch lieb sein, will ein lieber Junge sein, Mummy.« Und wenn das nicht wirkte, »habe ich Gott angefleht – ›lieber Gott mach, dass sie aufhört, mach, dass sie aufhört. Ich gebe dir alles, was ich habe, wenn du dafür sorgst, dass ich mich sicher fühle. Bitte, lieber Gott, bitte.‹«

Ich höre ihn atmen. Ich habe das Gefühl, dass er versucht, nicht zu weinen. Er sagt: »Mr Grosz?«

»Ja?«

»Mein Haus hat eine magische Tür.«

»Eine magische Tür?«

Vor einem Jahr befand sich Mr N. auf einem Langstreckenflug mit Zwischenhalt in Hongkong. Eine Stunde nach dem Abflug aus Hongkong gab es einen Knall, dann fegte der Wind durchs Flugzeug. Die Sauerstoffmasken fielen herab. Aus zehntausend Metern Höhe sank die Maschine im Sturzflug. Er meinte, sterben zu müssen. »Ich dachte, wenn ich nur aufstehen und die Cockpittür öffnen könnte, dann betrete ich mein Haus. Ich wäre daheim und sicher. Ich wollte mir schon die Sauerstoffmaske abreißen und den Sitzgurt öffnen, als sich die Maschine wieder fing.«

Eine steckengebliebene U-Bahn, ein Verkehrsstau – er kann aufstehen und durch eine Tür in sein Haus gehen. Er denkt oft an diese magische Tür – was muss er hergeben, um sie zu bekommen? »Das ist verrückt«, sagt er, »nicht?«

Ich sage ihm, ich halte es nicht für verrückt. Ein kleiner Junge, der verprügelt wird, würde alles für eine magische Tür geben.

»Ich denke nicht oft an meine Kindheit. Und wenn, dann erinnere ich mich nicht an besonders viel. Es scheint mir alles so lang her zu sein, so tot. Ich sage mir, das war meine Kindheit – nicht, das ist meine Kindheit. Sie ist in mir nicht lebendig.«

Keiner von uns sagt ein Wort. Nach einer Minute fürchte ich plötzlich, die Leitung könnte tot sein.

»Ich bin noch da«, sagt er und schweigt wieder einen Moment. »Laut meiner Uhr ist unsere Zeit fast um. Ich mag jetzt nichts mehr sagen. Und morgen gibt es eine Cocktailparty, weshalb ich eine Viertelstunde früher aufhören muss. Tut mir leid.«

»Danke, dass Sie mir Bescheid gesagt haben.«

»Mr Grosz?«

»Ja?«

»Eigentlich habe ich gar kein Haus in Frankreich. Das wissen Sie doch, oder?«

Die Frau, die nicht lieben wollte und andere wahre Geschichten über das Unbewusste
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